10/5/25

Rezension: Zeitdiebstahl & Kapitalismus

Ole Nymoen/Olga Prader: Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit. Vom Zwang, für Geld zu arbeiten oder: Der größte Raubzug der Geschichte, MaroHeft, Maro Verlag Augsburg 2025

Thomas Barth

Digitalisierung und Netztechnologien sparen viel Zeit -aber wo bleibt die eigentlich? Muße und entspannte Lebensführung findet man weder online noch offline in weiter Verbreitung. Viele von uns führen geradezu ein gehetztes Leben. Gerecht geht es dabei auch nicht zu. Bei allen Effizienzgewinnen, steigenden Profiten und märchenhaftem Reichtum gerade bei den Big-Tech-Baronen erlebt doch eine Mehrheit sinkende Lebensqualität. Viele von uns arbeiten hart und werden dennoch, wie man zynisch dazu sagt, „abgehängt“. Andere werden daran krank, einige sogar obdachlos und viele landen am Lebensende in der Altersarmut. Schon Kinder wachsen in bitterer Armut auf. Wie kann das sein?

Unsere westlichen Volkswirtschaften wachsen immer weiter, das jährliche BIP klettert in schwindelerregende Höhen, doch bei den meisten Menschen kommt immer weniger vom gemeinsam produzierten Reichtum an. Im Gegenteil: Reallöhne sinken, Lebenshaltung wird teurer und der Druck auf die Arbeitenden steigt. Unternehmen und Politik fordern zudem, dass immer mehr und immer länger gearbeitet wird -mit dem Effekt, dass gewaltige Multimilliarden-Vermögen entstehen. Deren Besitzer sehen sich keineswegs in der Verantwortung für die Menschen, die diesen Reichtum erarbeitet haben. Und schon gar nicht für die Unglücklichen, die aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen im Arbeitsprozess nicht (mehr) verwertbar sind, die Armen, die Alten und die Kranken. Muss das alles so sein?

Was machen die Menschen eigentlich den lieben langen Tag? Und vor allem, warum? Erst quälen sie sich aus dem Schlaf, dann schuften sie stundenlang für den Reichtum anderer – und in der „Freizeit“ erledigen sie die Aufgaben, die ihnen von Staat und Patriarchat (Care-Arbeit!) auferlegt werden. Das Jubiläums-MaroHeft Nr. 20 zeigt auf, woran die meisten Menschen leiden – und wie viel lebenswerter die Welt sein könnte.“ (Verlagstext)

Gutes Leben versus Telematische Bewusstseinssteuerung

Es handelt sich um den pädagogisch angelegten Monolog eines offenbar allein lebenden Ich-Erzählers mit seinen beiden Katzen. Deren vom Erzähler imaginierte Sicht auf den Menschen bringt einen naiven Blick von außen auf uns, wie wir ihn aus Kultbüchern wie „Der Papalagi“ oder „Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland“ des von Faschisten ermordeten Sozialisten Hans Paasche (1881-1920) kennen.

„Manchmal, ganz manchmal“, so beginnt das Buch, habe er Angst, an dieser modernen Welt „verrückt zu werden“. Er blicke auf das Elend der Bettler und Obdachlosen, die ihr Essen aus dem Müll klauben müssen, auf die Banker auf der anderen Seite, „dazwischen Werbeplakate, die ein goldenes Zeitalter vorgaukeln“. (S.3) Es geht um Ungerechtigkeit, falsche Verteilung des Reichtums und die Bewusstseinssteuerung, die dies möglich macht. Da die Angst, verrückt zu werden oder für verrückt erklärt zu werden, ihn daran hindert, seine Frustration anderen Menschen mitzuteilen, wendet er sich in einem Monolog an seine beiden Katzen. Denn die feiern „den Müßiggang wie zwei echte Hedonisten“. (S.5)

Die Moritat auf die industrielle Moderne beginnt mit Marx und „Momo“: „Heute, Genossen, geht es um den größten Raubzug der Geschichte. Ich werde euch davon erzählen, wie den Menschen die Zeit gestohlen wird. (…) Keineswegs geht es um böse graue Herren, die den Menschen ihre Stunden und Tage abluchsen, die Zigarren rauchen und Mädchen jagen, wie es in manchem Kinderbuch steht.“ (So der dezente Hinweis auf die grauen Zeitdiebe aus Michael Endes Kinderbuchklassiker „Momo“.) Der Raubzug, auf den Nymoens Kritik ziele, sei dagegen unspektakulär, weshalb auch die wenigsten merken würden, „wie ihnen geschieht“. (S.6) Olga Prader steuert hierzu zwei kleine, in den Text eingestreute Zeichnungen bei, die eine fast abgelaufene Sanduhr und einen Springteufel zeigen, doch statt des aus dem Kasten springenden Teufelskopfes sehen wir auf der Sprungfeder eine Hand, die am Handgelenk eine Armbanduhr trägt. Solche mal humorvolle, mal verblüffende oder nachdenklich stimmende Bilder begleiten und bereichern den gesamten Text.

Es fängt schon mit dem Wecker an, der die Menschen frühmorgens aus dem viel zu knappem Schlaf reißt. Der erbitterte Kampf gegen die eigene Natur beginne, denn „die Arbeit ruft!“ (S.8) Die Katzen dagegen lassen sich nicht stören, ihre Vorfahren, die Säbelzahntiger, hätten die Menschen noch gefressen. Der Ich-Erzähler, der mit seinen beiden Katzen über den Wahnsinn der modernen Welt sinniert, startet einen Ausflug in die Geschichte der Menschwerdung. Vor drei Millionen Jahren hätte auch der Mensch noch mühsam Tiere totschlagen müssen, heute aber könnten ein paar Dutzend von uns tausende Andere ernähren. Dummerweise gehörten heute aber auch die Produktionsmittel ein paar wenigen Leuten, die anderen Menschen müssten denen ihre Lebenszeit verkaufen. Die Menschen teilten sich daher in die Gruppen der Eigentümer und der Arbeiter. (S.12) Die Yachtbesitzer stünden jenen gegenüber, die ihre kostbare Lebenszeit als Lohnarbeit verkaufen müssten, für Geld. Die Reichen sind nie reich genug, denn der Bedarf nach Geld sei nie gedeckt. Deshalb sei es „für die Reichen auch wunderbar, wenn möglichst viel gearbeitet wird. (…) Die Besitzenden wollen möglichst viel fremde Zeit der anderen beanspruchen und dafür möglichst wenig bezahlen.“ Es sei ein dauerndes Ringen darum, wie viel gearbeitet werden müsse, „am Tag, in der Woche, im Leben“ (S.14) Dabei sei die Arbeit längst so effizient, dass die geschaffenen Güter für alle ausreichen würden. Soweit ein kindgerechter Kommentar auch zur derzeitigen, von Bundeskanzler und Arbeitgeberverbänden losgetretenen Debatte um eine angeblich notwendige Verlängerung von Arbeitszeiten.

Müde schleppt man sich also zur täglichen Tretmühle der immer längeren, meist stupiden Arbeit. Nur ganz wenige hätten „das Glück, etwas Aufregendes zu tun und prächtig daran zu verdienen.“ (S.22) Die meisten Menschen rackern dagegen, bis sie an Körper und Geist zerschunden seien, dabei noch ständig überwacht und zur gegenseitigen Konkurrenz angetrieben. Wenn die Plackerei wenigstens sinnvollen Zwecken dienen würde. „Aber das alles bloß, um den Reichtum einiger weniger zu vergrößern? Gaga!“ (S.24)

Sogar das Leben, Wohnen und Aufziehen der eigenen Kinder werde dabei deformiert, als Care-Arbeit an die entmenschlichende Entfremdung angeglichen. Aufbegehren gegen den Wahnsinn sei verboten, werde absurderweise selber als Verrücktheit verfolgt und an den Pranger gestellt (die Absurdität unseres inzwischen auch noch digitalisierten Kapitalismus spart sich Nymoen vielleicht noch für eine Fortsetzung auf). Das dafür verantwortliche Menschenbild, zwinge die Menschen in die Tretmühle der Arbeit, die ihre Zeit unablässig vernichte. Nymoen wird angesichts dessen, was als „normal“ oder gar als menschliche Natur von Politik, Medien und sogar im Bildungswesen propagiert wird geradezu sarkastisch:

„Dass man so früh aufsteht, dass man kaum gerade gehen und erst recht nicht denken kann: Die einzig wahre Menschennatur! Dass die einen in Palästen hausen, während die anderen unter Brücken schlafen: Die einzig wahre Menschennatur! Dass wir uns millionenfach ausbeuten und abschlachten lassen: Die einzig wahre Menschennatur!“ (S.25)

Geld sei vielen Menschen das Maß aller Dinge, das Leben bleibe auf der Strecke, denn trotz Modernität und Maschinen bleibe an freier Zeit eigentlich nichts. Der Ich-Erzähler schwankt zwischen Auflehnung und Anpassung. Manchmal, so Ole Nymoen, breite sie sich auch in ihm aus: „Die Gewalt und die Verächtlichkeit, die er beim Blick aus dem Fenster und in den Fernseher geboten bekommt…“ Dann wolle er „alles abreißen, abfackeln, abwracken“; (S.28) aber manchmal spüre er auch den entgegengesetzten Impuls, begeistert mitzumachen, aufzugehen in dieser Welt, „sich einzurichten und hübsches Kapital daraus zu ziehen.“ Aber wenn er dann in stillen Momenten ehrlich zu sich sei, finde er doch „dass beide Reaktionen gleichermaßen feige sind.“ (S.29) Vielleicht sei es an der Zeit, seine Katzen nicht länger „vollzutexten… mit der Gruselstory vom größten Raubzug der Geschichte“, überzeugen müsse man „die Menschen da draußen, die den ganz alltäglichen Wahnsinn als alternativlos ansehen.“ (S.32) Von Thatchers „there is no alternative“ bis Merkels „alternativlos“ bringt Nymoen hier den Neoliberalismus in seiner argumentativen Erbärmlichkeit zur Sprache.

Diesen Menschen müsse er klar machen, dass unser Leben ganz anders aussehen könne. Die Lösung hatte er vorher schon prägnant auf den Punkt gebracht: Wir brauchen einfach mehr Zeit für die Menschen. Seine Erzählung sei eine Einladung in eine andere, menschlichere Welt. Und wenn er Glück habe, würden viele andere Menschen ihm helfen, sie weiter zu schreiben. Sein Schlusssatz klingt wie ein Hilferuf: „Das kann er nämlich nicht alleine.“

Eine Moritat auf die kapitalistische Moderne

Ole Nymoen und Olga Prader greifen in ihrer teils erheiternden, teils anrührenden Moritat auf die kapitalistische Moderne bedeutsame Fragen der Gegenwart auf. Die Digitalisierung, soziale Netze und Mobilphones bleiben jedoch ausgespart -man bewegt sich auf dem Niveau der Fernseh-Gesellschaft, vermutlich eine künstlerisch gewählte Vereinfachung. Der etwas unreflektierte Umgang mit der Bezeichnung als „verrückt“ wird dadurch tolerabel, dass die Lebensweise der „Normalen“ im Kapitalismus ebenso als verrückt gekennzeichnet wird, wie sich auch der Ich-Erzähler bewusst ist, dass seine Kritik und Lösungsvorschläge von diesen „Normalen“ sicherlich als „verrückt“ abgestempelt würden (vielmehr jetzt werden dürften). Die besondere Diskriminierung psychisch Kranker in der hektisch digitalisierten und disziplinierten Arbeitsgesellschaft wird nicht thematisiert, schwebt aber im Umgang mit dem Prädikat „verrückt“ bedrohlich über dem Protagonisten.

Nicht in jedem Detail ist die Analyse sattelfest, so endet etwa die Geschichte der Jäger und Sammler sicher nicht bei den frühen Hominiden vor drei Millionen Jahren. Doch die Moritat überzeugt mit Sprachbildern und bleibt in ihrer Aussage ebenso prägnant wie nachvollziehbar. Marxistisch inspirierte Kapitalismuskritik wird beinahe kindgerecht veranschaulicht und mit aktueller Kulturphilosophie und Soziologie verbunden.

Beschleunigungsgesellschaft und Entfremdung

Der bekannte Soziologe Hartmut Rosa kritisierte etwa die heutige „Beschleunigungsgesellschaft“ in der die Produktivkraft von Zeitdruck und ständiger Verfügbarkeit ausgenutzt wird, um immer schneller immer mehr Profit zu generieren. Entfremdung wird nicht nur individuell erlebt, denn Institutionen, Arbeitswelten, digitale Medien und urbane Strukturen tragen dazu bei, dass sich Menschen wie Zahnräder in einem größeren System fühlen. Rosa fordert, Entfremdung nicht nur als individuelles Misslingen, sondern als strukturelles Phänomen zu sehen und argumentiert, dass moderne Gesellschaften durch zunehmende Temporalität und Beschleunigung gekennzeichnet sind. Die manifestieren sich in Arbeit, Technologie, Kommunikation und hektischer Mobilität der immer disponibler gemachten Arbeitenden bzw. in ihrer so gesteigerten Entfremdung.

Entfremdung entsteht laut Rosa, wenn Beziehungen zu Menschen, Orten und Dingen nicht mehr in einer sinnhaften, resonanten Weise erlebt werden. Die von ihm propagierte Haltung der „Resonanz“ bedeutet dagegen eine gelingende, wechselseitige, lebendige Verbindung. In einer beschleunigten Welt bricht diese Qualität oft ab, weil Aufmerksamkeit zerfällt, Nähe zu den Mitmenschen abnimmt und Dinge nur noch als Mittel dienen. Entfremdung sieht Rosa somit nicht primär als Leiden einzelner Subjekte, sondern als Fehlverhältnisse in den Bezügen zu Zeit, Ort, anderen Menschen und Dingen. Es geht um die Qualität der Verbindungen, nicht nur um innere Zustände. Er argumentiert, dass moderne Gesellschaften durch strukturelle Beschleunigung soziale Räume auf Distanz halten.

Die Beschleunigung erzeuge ein permanentes Gefühl des Verdrängens und der Zeitnot, wodurch Individuen sich entfremden von sich selbst, anderen Menschen und der Welt. Motiv der Moderne ist das Versprechen einer umfassenden Weltbeherrschung, die auch das Glück des Subjekts garantieren müsste. Jedoch sieht auch Rosa, dass die Beherrschung des Anderen letztendlich kein Glück hervorbringt, sondern ins Gegenteil umschlägt, und beklagt, systematische Eskalationstendenz veränderten „das menschliche Weltverhältnis durch Dynamisierung in diesem Steigerungssinn“.

Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit erreicht vielleicht nicht die Analysetiefe der Theorien von Rosa, findet dafür aber verständlichere Worte für diese Misere. Und weist auch klarer auf eine mögliche (aber für „verrückt“ oder „extremistisch“ erklärte) Lösung hin: Schluss damit, den Interessen der Besitzenden in den Medien nach dem Munde zu reden und in der Politik ihren Profit auf Kosten der Mehrheit zu steigern.

Abschließende Bewertung

Das Werk besteht aus einem Heft nebst eingelegtem DIN A3-Poster, welches das Titelbild und den Text begleitende Zeichnungen aufgreift: Die Karikatur eines emsigen Menschen mit vier hektisch tätigen Armen wird schlangenförmig umkreist durch einen Ring von aneinander geknüpften Armbanduhren, der selbst wieder von Symbolbildern eines „Guten Lebens“ umgeben ist. Stilsicher dem Text zugedacht bebildern Olga Praders Zeichnungen die von Ole Nymoen entwickelte Lehr-Moritat zur modernen Lebens- und Zeitempfindungslage. Meist einzeln oder zu zweit in den Text eingestreut, zuweilen ganz- oder doppelseitig bilden sie die visuelle Gliederung des durchgehenden, sonst nicht weiter unterteilten Textes.

Nicht nur als bibliophiles Schmuckstück zeigt das Maro-Heft die Absurdität moderner Wirtschafts- und Arbeitsorganisation, auch die ungerechte Verteilung der Güter wird ironisierend infrage gestellt. Was uns im Alltag kaum je bewusst wird, führt Ole Nymoen hier sprachlich bilderreich vor Augen, unterstützt durch bezaubernde Zeichnungen von Olga Prader. Empfehlenswert für Schulen als auflockerndes Unterrichtsmaterial und für uns alle bei Frustration über Hektik, Schlaf- und Zeitmangel.

Ole Nymoen/Olga Prader: Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit. Vom Zwang, für Geld zu arbeiten oder: Der größte Raubzug der Geschichte. Ein hedonistisches Heft, Maro Verlag Augsburg 2025, 36 Seiten, fadengeheftet, 16,00 Euro, ISBN 978-3-87512-635-8

Olga Prader ist frz.-schweizerische Illustratorin und Grafikdesignerin, arbeitete für das „Zeit“-Magazin, das Schauspielhaus Zürich und das MoMA. Ole Nymoen ist Journalist und Buchautor, publizierte 2025 das Buch „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde. Gegen die Kriegstüchtigkeit“, hostete mit Wolfgang M. Schmitt den Podcast „Wohlstand für alle“. Das Werk erschien in der Reihe „MaroHefte“, wo laut Maro Verlag Essays auf Illustrationen treffen „zu Themen, die uns unter den Nägeln brennen, zu Politischem, Feministischem und Tabubehaftetem. Jedes Heft wird besonders gestaltet und mit Originaldruckgraphiken mit bis zu 5 Sonderfarben gedruckt, fadengeheftet.“ Der Maro Verlag bewegt sich zwischen Sozialpolitik, Kunst und Literatur und publizierte Bücher von Künstlern und Autoren wie Charles Bukowski, Jörg Fauser, Manfred Ach oder Klaus Groh sowie Fachbücher zu Textildesign, Sozialpädagogik, Sozialpolitik und Umweltökonomie.

Rezension: Ole Nymoen/Olga Prader: Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit. Vom Zwang, für Geld zu arbeiten oder: Der größte Raubzug der Geschichte, Maro Verlag Augsburg 2025

12/10/16

Rezension: Hartmut Rosa „Resonanz“

Gerd Peter Tellurio

Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung bietet eine fundierte, zugleich poetisch-schärfende Analyse der modernen Lebensbedingungen. Das Backcover umreißt mit dem programmatischen Satz „Resonanz bleibt das Versprechen der Moderne, Entfremdung aber ist ihre Realität“ das Problemfeld. Der zentrale Begriff der Resonanz wird als künstlerischer, politischer und alltäglicher Modus der Beziehung zur Welt entfaltet. Nicht bloß Verstehen oder Beherrschen, sondern eine wechselseitige, befreiende Schwingung zwischen Subjekt und Umwelt ist angesprochen. Rosa kritisiert auch in diesem Buch die „Beschleunigungsgesellschaft“ als eine Gesellschaft, die Effekte der Vernetzung, die Produktivkraft von Zeitdruck und ständige Verfügbarkeit ausnutzt, um Effizienz zu generieren. Resonanz ist demgegenüber eine Form des Sich-Ansprechens, Sich-Überraschens und Sich-Mitteilens, die Erfahrung von Relevanz, Zugehörigkeit und Sinn stiftet.

Eine Soziologie des guten Lebens

Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung. So lautet die Kernthese des Buches von Hartmut Rosa, das als Gründungsdokument einer Soziologie des guten Lebens gelesen werden kann. Anstatt Lebensqualität in der Währung von Ressourcen, Optionen und Glücksmomenten zu messen, müssen wir unseren Blick auf die Beziehung zur Welt richten, die dieses Leben prägt. Dass diese Beziehung immer häufiger gestört ist, hat viel mit der Steigerungslogik der Moderne zu tun, und zwar auf individueller wie kollektiver Ebene. „Beschleunigung“ und „Entfremdung“ sind Begriffe, die zahlreiche Phänomene der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten zweihundert Jahre erklären können. Rosa nimmt die großen Krisen der Gegenwart in den Blick und weist einer resonanztheoretischen Erneuerung der Kritischen Theorie den Weg.

Entfremdung wird nicht nur individuell erlebt, denn Institutionen, Arbeitswelten, digitale Medien und urbane Strukturen tragen dazu bei, dass sich Menschen wie Zahnräder in einem größeren System fühlen. Rosa fordert, Entfremdung nicht nur als individuelles Misslingen, sondern als strukturelles Phänomen zu sehen. Lösungsansätze müssen daher rhythmisierende, resonanzförderliche Praktiken umfassen. Gegen Entfremdung plädiert Rosa für eine „Resonanzordnung“ oder eine Gesellschaft, in der Zeitpolitik, räumliche Gestaltung, Bildung und Kultur Räume schaffen, in denen Menschen wieder sinnstiftend, verbunden und aufmerksam leben können. Die Gegenstrategie ist eine Struktur der Resonanz – Räume, Zeiten und Praktiken, die Nähe, Verbindlichkeit und sinnstiftende Verknüpfungen ermöglichen. Dabei plädiert Roas nicht für eine simple „Entschleunigung“ als Lösung des Problems, dies verkenne die Dynamik der Moderne: „Man kann (…) den Beschleunigungsprozess auch verstehen als unaufhebbare Eskalationstendenz, die ihre Ursache darin hat, dass sich die gesellschaftliche Formation der Moderne nur dynamisch stabilisieren kann.“ (Rosa, S.13) Die Menschen der Moderne bleiben in ihrem Leben nicht unberührt von der Beschleunigung, denn ihr Dasein, ihre Fähigkeit zur Resonanz wird zunehmend gestört und untergraben:

„Diese systematische Eskalationstendenz verändert aber die Art und Weise, in der Menschen in die Welt gestellt sind, sie ändert das menschliche Weltverhältnis in grundlegender Form. Dynamisierung in diesem Steigerungssinn bedeutet, dass sich unsere Beziehung zum Raum und zur Zeit, zu den Menschen und zu den Dingen, mit denen wir umgehen, und schließlich zu uns selbst, zu unserem Körper und unseren psychischen Dispositionen, fundamental verändert.“ (Rosa, S.14)

Resonanz als Gegenmodell zu Distanz und Verflüchtigung

Die vier Teile des Buches behandeln 1. Grundelementen menschlicher Weltbeziehung, 2.Resonanzsphären und Resonanzachsen, 3.die Moderne als Zeit des Weltverstummens und 4. eine kritischen Theorie der Weltbeziehung. Ausgangspunkt ist die Diagnose einer entzauberten, entfremdeten Moderne; darauf aufbauend entfaltet Rosa das Konzept der Resonanz als Gegenmodell zu Distanz und Verflüchtigung; schließlich entwickelte er Kriterien und Formen, wie Resonanz in Alltag, Politik, Bildung und Kultur geübt werden kann (vgl. Inhaltsverzeichnis/Einleitung des Buches).

Rosa argumentiert, dass moderne Gesellschaften durch zunehmende Temporalität und Beschleunigung gekennzeichnet sind, sich manifestierend in Technologie, Arbeit, Kommunikation, Mobilität. Diese Beschleunigung erzeugt ein permanentes Gefühl des Verdrängens und der Zeitnot, wodurch Individuen sich entfremden von sich selbst, anderen Menschen und der Welt. Motiv der Moderne ist das Versprechen einer umfassenden Weltbeherrschung, die auch das Glück des Subjekts garantieren müsste. Jedoch sieht Rosa, dass die Beherrschung des Anderen letztendlich kein Glück hervorbringt, sondern ins Gegenteil umschlägt. Herrschaft, Effizienz, Kontrolle usw. verhindern Gelassenheit oder Loslassen und hier liegen die Potenziale der Resonanz. So bilden die Achsen der Resonanz in ihren positiven Ausprägungen Gegengifte gegen eine umfassende Sinnentleerung der Welt, die durch Planung, Kontrolle und Herrschaft nicht herstellbar sind. Horizontale Resonanzachsen wären dabei die „Familie als Resonanzhafen in stürmischer See“, Freundschaft und die Politik mit ihren Stimmen der Demokratie; Diagonale Resonanzachsen umfassen die Objektbeziehungen zu den Dingen, die Arbeit, weil dort „das Material zu antworten beginnt“, die Schule als Resonanzraum sowie Sport und Konsum als „Versuche, sich zu spüren“; Vertikale Resonanzachsen nennt Rosa schließlich die „Verheißung der Religion“, die „Stimme der Natur“, die „Kraft der Kunst“ und den „Mantel der Geschichte“.

Individuen im Netzwerk der Normen

Entfremdung entsteht laut Rosa, wenn Beziehungen zu Menschen, Orten und Dingen nicht mehr in einer sinnhaften, resonanten Weise erlebt werden. Resonanz bedeutet hier eine gelingende, wechselseitige, lebendige Verbindung. In einer beschleunigten Welt bricht diese Qualität oft ab, weil Aufmerksamkeit zerfällt, Nähe zu den Mitmenschen abnimmt und Dinge nur noch als Mittel dienen. Entfremdung sieht Rosa somit nicht primär als Leiden einzelner Subjekte, sondern als Fehlverhältnisse in den Bezügen zu Zeit, Ort, anderen Menschen und Dingen. Es geht um die Qualität der Verbindungen, nicht nur um innere Zustände. Er argumentiert, dass moderne Gesellschaften durch strukturelle Beschleunigung soziale Räume auf Distanz halten. Dinge, Ereignisse und Menschen sind ständig „in der Nähe“ (technisch, logistischer, informationeller Zugriff), doch diese Nähe verhindert echte Resonanz (echtes Verstehen, Anteilnahme, Zugehörigkeit). Durch Globalisierung, Verwaltung, Marktlogik und Bürokratie werden Lebenswelten fragmentiert.

Individuen erleben sich in einem Netzwerk von Erwartungen, Normen und Funktionslogiken, die Distanz statt Verknüpfung herstellen. Rosa kritisiert eine Orientierung an Verfügbarkeit, Effizienz und Kontrolle. Stattdessen fordert er eine Öffnung für andere, zuhörende Begegnungen, in denen sich Menschen gegenseitig zu sich hingezogen fühlen und sich gemeinsam von der Welt ansprechen lassen. Die Entfremdung wird weder rein subjektiv (nur individuelles Unwohlsein) noch ausschließlich systemisch (nur Strukturen) erklärt. Er betont die Wechselwirkung: Strukturen beeinflussen Subjekte, Subjekte wiederum verändern Strukturen, wodurch sich ein „Krisenpfad“ öffnet oder geschlossen bleibt. Gegen Entfremdung plädiert Rosa für eine Praxis der Resonanz – aufmerksam zu sein, sich auf andere einzulassen, Zeit und Raum für gemeinschaftliche Sinnstiftung. Das bedeutet auch politische und kulturelle Rahmenbedingungen, die solche Begegnungen ermöglichen (z. B. kommunale Räume, gemeinschaftliche Rituale, Bildungskulturen).

Kritik

Anton Schlittmaier, Professor für Philosophie und Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Dualen Hochschule Sachsen, kritisiert an Rosa, das „In-Resonanz-Sein“ sei möglicherweise ein „Wohlfühlkonzept“, denn es sei ein immanentes Konzept von Glück. Auch der Bezug zur Transzendenz wird sozialwissenschaftlich als Vorstellung eines Bezugs zu einer antwortenden Welt gesehen. So würde vorausgesetzt, dass die Transzendenz immer nur eine Vorstellung sei. Dies widerspricht aus Schlittmaiers Sicht Konzepten, die Rosa im Sinne seiner eigenen Argumentation anführt, etwa dem von Martin Heidegger. Das Sein ist sei bei Heidegger gerade nicht das nur gedachte Sein, sondern das Unverfügbare: Das Sein, „das mich in die Verantwortung ruft, wobei diese Verantwortung definitiv nicht nur etwas ist, was ich mir als Subjekt ausgedacht habe.“ Anderen zu helfen, als durchaus erstrebenswertes und sinngebendesLebensziel, könne z.B. zu extremen Einbußen im Wohl-Sein führen. In diesem Zusammenhang habe Immanuel Kant gelehrt, dass wir auf eine ausgleichende Gerechtigkeit (im Sinne von Wohl-Sein als Lohn für Moralität) zwar hoffen können, es jedoch keinerlei Garantie dafür gibt. Bei Rosa gewinne man jedoch den Eindruck, „dass alles, was man richtigerweise tut, immer gleich durch das Glück des In-Resonanz-Seins entschädigt wird“. Dies verdecke eine Tendenz zum Hedonismus mit einer postulierten Übereinstimmung zwischen dem Guten und dem Glück. Schlittmaiers Kritik ist nicht ganz von der Hand zu weisen, doch knüpft Rosa an traditionelle Vorstellungen einer Tugendethik an, die er um originelle Aspekte der Resonanz ergänzt und auf die moderne Welt anwendet. Und sein bei Adorno entliehenes Eingangszitat verweist auf die Kraft der Ästhetik für Hoffnung auf Verwandlung (Zitat hier stark gekürzt, zuvor voran gestellt wurde noch ein Zitat von Heinrich Heine):

„Nichts kann unverwandelt gerettet werden, nichts, das nicht das Tor seines Todes durchschritten hätte. Ist Rettung der innerste Impuls jeglichen Geistes, so ist keine Hoffnung als die der vorbehaltlosen Preisgabe: des zu Rettenden wie des Geistes, der hofft. (…) Was von endlichen Wesen über Transzendenz gesagt wird, ist deren Schein, jedoch, wie Kant wohl gewahrte, ein notwendiger. Daher hat die Rettung des Scheins, Gegenstand der Ästhetik, ihre unvergleichliche metaphysische Relevanz.“

Theodor W. Adorno, Negative Dialektik

Fazit

Kurz gesagt: Entfremdung wird bei Rosa als Dynamik der Distanz durch Beschleunigung, Bürokratisierung und Funktionslogiken verstanden, die echte Verbindung und Zugehörigkeit verhindern. Die Gegenentschrift ist eine Praxis der Resonanz: offen sein für andere, Zeiten schaffen für Gelassenheit und gemeinsames Sinn-Stiften. Für Kritik und eine neue theoretische Perspektive auf Gesellschaft und Subjektivität bietet das Buch damit zahlreiche Anknüpfungspunkte: Es reflektiert über die Qualität unserer Beziehungen, über Zeitgestaltung, über die Bedeutung von Gemeinschaft und über die Rolle von Ästhetik und Sinnstiftung in der Gegenwartsgesellschaft. Als Fazit bleibt also ein philosophischer Diskurs und die Utopie, Resonanz praktisch zu gestalten, etwa durch achtsame Kommunikation, kulturelle Praxis, politische Bildung und persönliche Lebensführung. Wer eine scharfe Diagnose der Moderne sowie eine normative Vision für eine menschlichere Welt sucht, wird in Rosas „Resonanz“ eine anregende, oft inspirierende Lektüre finden.

Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2016. 500 Seiten, 32,95 EUR. ISBN 978-3-518-58626-6. 

Hartmut Rosa (*1965) promovierte 1997 bei Herfried Münkler und Axel Honneth und ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt. Bei Suhrkamp erschienen: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit (2013) und Beschleunigen wir die Resonanz! Bildung und Erziehung im Anthropozän. Gespräche mit Nathanaël Wallenhorst. Aus dem Französischen von Christine Pries, Suhrkamp, Berlin 2024.