03/7/24

Digitale Mündigkeit

Leena Simon

Computer sind komplex. Sie bis ins letzte Detail zu verstehen, grenzt an Unmöglichkeit. Doch wer Wert auf ein freies und selbstbestimmtes Leben legt, kommt um ein Mindestmaß an Computerverständnis nicht umhin. Denn die Digitalisierung würfelt unsere Gesellschaft ganz schön durcheinander. Damit wir für die technischen Entwicklungen als Gesellschaft Verantwortung übernehmen können, sollten wir unabhängig davon entscheidungsfähig sein. Um mündig zu sein ist es nicht nötig, alles immer und in jedem Augenblick perfekt zu machen. Digitale Mündigkeit bedeutet Verantwortung für das eigene Handeln im digitalen Raum selbst zu tragen.

Was ist digitale Mündigkeit?

„Mündigkeit“ ist zunächst ein Rechtsbegriff. Er bedeutet, dass ein Mensch verantwortlich für sein Leben ist. Historisch leitet er sich ab von altdeutsch Munt, der Bezeichnung für die Verantwortung des früheren Hausherren über seine Frau, Kinder und Gesinde. Mündig konnten damals nur Männer werden, nämlich dann, wenn sie aus der Munt des Vaters heraustraten und für ihr eigenes Leben Verantwortung übernahmen. Frauen gingen über von der Munt des Vaters in die Munt des Ehemannes. Heute ist Mündigkeit vor allem ein rechtlicher Status, der einem Menschen z.B. das Wahlrecht oder das Recht, die Ehe einzugehen, zuspricht.

Mündig sein bedeutet Verantwortung für das eigene Leben zu tragen.

Neben der rechtlichen Bedeutung gibt es auch eine philosophische Definition von Mündigkeit. Immanuel Kant griff den rechtlichen Begriff auf und wendete ihn auf eine ganze Gesellschaft an. Er vergleicht die Geschichte der Menschheit mit dem Heranreifen eines Kindes. Damit legte die Aufklärung die Grundlagen der modernen Demokratie.

Wir tragen also doppelte Verantwortung: Für unser eigenes Leben und für den Fortbestand unserer Gemeinschaft. Dieser Verantwortung müssen wir uns bewusst sein, vor allem dann, wenn wir uns im Internet bewegen. Denn wir tragen ebenfalls Verantwortung für den Fortbestand unserer Kommunikationsgemeinschaft..

Doch Kant warnte damals schon, dass es nicht möglich sei, ad hoc mündig zu werden, wenn man zuvor noch gar nicht frei war. Mündigkeit ist Übungssache. Auch in der digitalen Welt: Menschen werden mit unfreier und komplizierter Software konfrontiert, die ihnen gar nicht die Möglichkeit bietet, deren Funktionsweise zu studieren. Der Umgang mit dem Computer wird oft nur minimal und oberflächlich antrainiert und später nicht mehr hinterfragt.

Heimliche Entmündigung

Meist nehmen wir gar nicht mehr so deutlich wahr, wo und wie wir überall entmündigt werden. Wenn wir einen Kredit nicht erhalten, weil uns eine Datenbank (anhand der statistischen Eigenschaften unserer Nachbarn) als nicht zuverlässig eingestuft hat, oder einen Job nicht antreten dürfen, weil wir vermeintlich Asthmatiker sind (dabei hatten wir nur für den Vater die Medikamente gekauft): Wir kennen diese Gründe nicht und können daher nicht beurteilen, wie sehr die weltweite Datensammlung schon unseren Alltag beeinflusst. Wie soll man da noch Verantwortung für das eigene Leben übernehmen?

Die Filterblase

Um im großen Datendickicht den Überblick zu wahren, wird im Internet – auch zu unserem Nutzen – vieles für uns personalisiert. Beispielsweise die Suchergebnisse, werden von der Suchmaschine auf uns optimiert. Das ist praktisch, denn so findet man viel schneller das, was man wirklich sucht. Doch es ist auch problematisch, da wir meist nur stets das angezeigt bekommen, was wir schon kennen.

Eli Pariser nennt das die „Filterblase“. Treffer, die unsere Gewohnheiten angreifen, oder eine Gegenposition zu unserer Meinung darstellen, sehen wir immer seltener. Und so bewegen wir uns mehr und mehr in einer Umgebung, die nur scheinbar neutral die Realität darstellt: In Wirklichkeit befinden wir uns in einer Blase, die uns die eigene Weltvorstellung als allgemeingültig vorspielt. Und das ist Gift für einen freien Geist, der sich ständig hinterfragen und neu ausrichten können möchte. In Konflikten liegt großes Wachstumspotential, um das wir uns berauben, wenn wir vor lauter Bequemlichkeit andere Meinungen einfach ausblenden.

Verantwortungsbewusstsein

Gegen Personalisierung und heimliche Entmündigung können wir uns zunächst nicht wehren. Daher ist es besonders wichtig, sich diese Phänomene stets ins Bewusstsein zu rufen. Wer sich dabei erwischt, ein Google-Ergebnis unterbewusst als „neutrale Suche“ verbucht zu haben, ist schon einen Schritt weiter, als wer noch immer glaubt, sie sei tatsächlich neutral.

Der erste und wichtigste Schritt in die digitale Mündigkeit ist Verantwortungsbewusstsein. Verantwortung tragen bedeutet nicht, immer alles richtig zu machen, sondern die richtigen Fragen zu stellen und sich mit den Konsequenzen des eigenen Handelns zu konfrontieren. Machen Sie sich stets bewusst, wie viel Ihnen nicht bewusst ist und verhalten Sie sich entsprechend. Unterstützen und schützen Sie Strukturen, die Transparenz und Offenheit ermöglichen, und hinterfragen Sie Strukturen, die Ihnen vorschreiben wollen, was Sie tun oder denken sollen. Üben Sie sich in Eigenwilligkeit, wenn Ihnen Technik Vorschriften machen möchte. Besonders wichtig dabei: Üben Sie, auch Menschen oder Systeme zu hinterfragen, denen Sie vertrauen. Das ist besonders schwer, aber genau hier sind sie besonders leicht hinters Licht zu führen.

Leena Simon: Digitale Mündigkeit. Wie wir mit einer neuen Haltung die Welt retten können, 336 Seiten, Hardcover, 32,00 EUR, ISBN: 978-3-934636-49-1

Dieses Buch weist Wege in die digitale Mündigkeit und liefert das Rüstzeug zum kritischen Denken und Handeln. Denn mit Mut, Entschlossenheit und Übung können wir wieder mündig sein. Dann finden wir auch die Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit. Online bestellen oder mit der ISBN: 978-3-934636-49-1 im Buchhandel bestellen. Buchvorstellung im Blog von Digitalcourage.

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02/26/24

Rezension – Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet

Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet. Perspektiven der Medien- und Kommunikationswissenschaft, München 2022

Rezensiert von Thomas Barth

Für jüngere Generationen hat es das Fernsehen als dominierendes Leitmedium längst abgelöst: Das Internet ist als digitale Parallelwelt aus dem Alltag vieler Menschen nicht mehr wegzudenken. Bleicher legt den Fokus auf medienhistorische und ästhetische Aspekte der Angebotsstrukturen des Internets und macht damit plastisch, wie das Netz seine Sogwirkung auf die Nutzer stetig erhöhte. Sie scheut dabei auch vor politisch heiklen Aspekten wie der staatlichen Unterdrückung der Whistleblower-Plattform Wikileaks und der juristischen Verfolgung ihres Gründers Julian Assange nicht zurück, bleibt gerade dort aber lückenhaft.

Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher lehrt am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg. 2009 veröffentlichte sie mit „Poetik des Internets: Geschichte, Angebote und Ästhetik“ eine der ersten geisteswissenschaftlichen Gesamtdarstellungen der Netzmedien, 2010 folgte die Kurzfassung „Internet“, die ihre „Poetik“ straffte und systematisierte. Mit dem vorliegenden Band folgt eine stark erweiterte und aktualisierte Fassung. Ein Vorwort, zwölf Kapitel mit je eigenen Literaturlisten und ein Fazit geben eine umfassende Übersicht. Die Orientierung erleichtern ein Register sowie eine vorangestellte „Zeittafel zu Meilensteinen der Entwicklung des Internets“: Von Vannevar Bush’s Memex-Modell 1945, dem ArpaNet 1969 und TCP/IP 1978, über den Start des WWW 1991 und das Vorgehen von Behörden gegen Wikileaks 2010 bis zur Google-KI AlphaGo und TikTok 2016 sowie der Umstellung der Newsfeeds von Facebook auf die Bevorzugung von Beiträgen der Nutzer 2018. Kapitel 1 „Was Sie vorher wissen sollten“ verweist kurz auf die rasante Dynamik der Internetentwicklung, die viele Details schnell überholen und stetig weitere Forschung erfordern wird, sowie auf die brisanten politischen Dimensionen und wachsende Kritik an netzbezogenen Entwicklungen, die sich etwa bei Shoshana Zuboff und ihrer Streitschrift gegen den „Überwachungskapitalismus“ (2018) zeigen.

Kapitel 2 „Einführung in Theorien, Forschungsschwerpunkte und Methoden“ widmet Zuboff gleich den (nach dem basalen Technikbegriff) zweiten der didaktisch knappen „Gut zu wissen“-Kästen, die im Buch Wichtiges einprägsam markieren (S.21). Nach Prosumer-Kultur, Medialität und Privatheit zeigt das Kapitel Bezüge der Netzkultur zum Posthumanismus und betont Donna Haraways „Cyborg Manifesto“, das 1985 die Hybridisierung von Mensch und Maschinenwelten vorwegnahm (S.26). Über Baudrillards „Simulakrum“ (Blendwerk) -Kritik bis zu Politik-, Wirkungs- und Nutzungstheorien führt Bleicher in ihre Darstellung ein.

Kapitel 3 „Internet: Infrastruktur, Lebenswelt und Medium“ zeigt das Internet als Lebenswelt und Kulturraum, als Medium mit neuen Sozialen Medien, warnt vor dem Wegfall der bisherigen „Gatekeeper“-Funktion der Leitmedien, die der Verbreitung von Fake News den Boden bereite (S.44). Kapitel 4 „Technische, ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen“ beginnt bei den Netzwerkstrukturen des Internets vom Darknet über Onlinemonopole etwa von Alphabet (Google), Meta (Facebook) und Amazon (S.53). Unter Verweis auf Zuboff kritisiert Bleicher deren Geschäftsmodell des Datenhandels bis hin zum Verkauf von Facebook-Daten an die Skandalfirma Cambridge Analytica (S.58). Sie verweist auf Regulierungsbestrebungen sowie die „Amateur:innenkultur als Gegenbewegung zur Ökonomisierung“ (S.61).

Im Kapitel 5 „Historische Entwicklung des Internets“ finden wir eine (zumindest in der deutschen Medienwissenschaft) selten kritische Darstellung der Sozialen Medien, in der die öffentlich nahezu tabuisierte Whistleblower-Plattform Wikileaks gewürdigt wird:

„2006 erfolgte die Gründung der Enthüllungsplattform Wikileaks mit dem Ziel der Veröffentlichung von Dokumenten, die der staatlichen Geheimhaltung unterliegen. Diese Dokumente und Videos verdeutlichten den Machtmissbrauch und die Verletzung von Menschenrechten. Aufgrund von Regulierungen ist seit 2010 ein Datentransfer zu Wikileaks nicht mehr möglich. Der Mitbegründer Julian Assange wurde juristisch verfolgt und flüchtete in eine Botschaft, in der er 2019 festgenommen wurde und noch Anfang 2022 in der Abschiebehaft auf seine Auslieferung wartete.“ (S.79) (Hier ist die Autorin offenbar leitmedialer Falschdarstellung aufgesessen: Wikileaks war auch nach den US-Angriffen 2010, die es kurzfristig lahmlegten, weiterhin aktiv. Zahlreiche weitere Enthüllungen wurden jedoch medial totgeschwiegen, unten mehr dazu).

Kapitel 6 zeigt „Ästhetik und Design des Internets“ Einflüsse von Medienkunst, Netzkunst und digitaler Bildästhetik, Webdesign, Seitenstruktur bis hin zu eingebundener Bewegtbildästhetik und Sound. Über Meme und Selfieästhetik, Mashup, Podcast und Online-Werbung zeigt Bleicher traditionelle Medieneinflüsse sowie neue Qualitäten der Netzmedien auf.

Ordnungsmodelle des Internets

Kapitel 7 „Ordnungsmodelle des Internets“ versucht das Kaleidoskop der Netzkultur zu systematisieren, wobei die technische Basis, Unternehmensstrukturen, Sortierungsprinzipien der Inhalte (Flow, Stream, Raster, Raum) sowie Navigations- und Distributionsmodelle dafür Ansatzpunkte liefern. Beginnend mit dem „Dispositiv Internet“, mit dem Knut Hickethier 1995 an Michel Foucaults Diskurstheorie anknüpfend die Angebotsstrukturen analysierte (S.110), über Hypertext und Hypermedia, die Distributionsmodelle der Plattformen bis zu den bedeutsamen Raummodellen.

Diese begannen mit dem Begriff des „Cyberspace“ aus William Gibsons SF-Roman „Neuromancer (1984), der eine „virtuelle Gegenwelt“ bezeichnete (S.119), die sich in von Avataren bevölkerten Online-Welten wie Second Life und den Kultur- und Spielräumen Sozialer Medien manifestiert.

Navigations- und Orientierungsangebote liefern Suchmaschinen, Spider, Crawler und Robots (Programme, die im Netz Inhalte, Quellen und Links erkennen und indizieren, S.126).

Die Kapitel 8-11 zeigen Angebotsschwerpunkte des Internet wie Information, Dokumentation, Wissen, Unterhaltung (Musikvideos, Comedy, Spiele, Sport, Pornografie), Kultur („Grenzgänge zwischen Fakten, Fiktion, Literatur, Theater, Kunst“) sowie den Angebotsschwerpunkt Werbung, PR, politische Kommunikation, Influencer:innen-Marketing. Dort warnt ein „Gut zu wissen“-Kasten vor Cookies und ihrem uns ausspionierenden Profiling: „Sie durchsuchen Festplatten der Nutzer:innen nach relevanten Daten über Interessen und Konsumverhalten. Auch Posts in sozialen Medien liefern Verhaltensdaten, die an werbetreibende Unternehmen verkauft werden (vgl. Zuboff).“ (S.175)

Kapitel 12 erörtert abschließend die „Nutzungs- und Wirkungspotenziale des Internets“ ausgehend von neuen Potentialen zur Nutzerpartizipation durch individuelle Medienproduktion im Internet. Die virtuelle Identitätskonstruktion im Netz erlaubt veränderliche Selbstkonzepte und als „posthumane Akteur:innen agieren und kommunizieren Bots, Trolle und Influencer:innen-Avatare“ (S.188). Ist das Internet der Öffentlichkeitsraum der digitalen Gesellschaft? Wenn ja, dann kein ungefährlicher: „Gezielte Desinformation etwa in Form von Fake News oder Verschwörungsmythen gilt als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Demokratie… Propagandistische, antidemokratische Bewegungen versuchen in sozialen Medien und Messengerdiensten wie Telegram durch gezielte Fake News (wie etwa kriminelle Aktivitäten von Flüchtlingen) die Demokratiefeindlichkeit der Bevölkerung zu fördern.“ (S.189) Auf der anderen Seite gibt es Ansätze zu E-Democracy und die „Weisheit der Masse“, die sich etwa bei Wikipedia entfaltet und im Sinne einer Informationsgesellschaft „den fast unbegrenzten Zugang ihrer Mitglieder zu Informations- und Wissensbeständen aller Art“ verspricht (S.194). Unter „Probleme der Globalisierung“ zeigt Bleicher die digitale Spaltung, die sozial benachteiligte Menschen, Länder und ganze Kontinente aus der Wissenskultur ausgrenzt; bezüglich der „Konflikt- und Problempotenziale des Internets“ warnt sie vor Wirklichkeitsverlust, Suchtverhalten, Manipulation, Urheberrechtsverletzungen, Datenhandel, Hass- und Onlinekriminalität. Sie beschreibt die politischen Probleme der Regulierung und verweist auf die Macht der digitalen Großunternehmen, Google lehne eine Regulierung etwa ab, neoliberale Politik habe deren Machtzuwachs gefördert: „Deregulierungen ermöglichten u.a. in Großbritannien und den USA die Ausweitung des digitalen Kapitalismus bei gleichzeitig wachsender sozialer Ungleichheit. Ideologien wie der Neoliberalismus erklären diese Ungleichheit durch individuelle anstelle von gesellschaftlicher Verantwortung.“ (S.199) Ökonomismus und eingeschränkte Regulierung zeitige nicht zuletzt auch Onlinekriminalität, was große Herausforderungen an die Medienethik bringe. Denn das Internet erweise sich als Katalysator gesellschaftlicher und kultureller Dynamik in der immer mehr dominierenden Digitalisierung unseres Lebens (S.205).

Diskussion

Joan Kristin Bleicher scheut wie schon in ihrer „Poetik des Internets“ nicht die Hybris, ein in rasanter Entwicklung prosperierendes Medienfeld in seiner Gesamtheit zu analysieren und übergeht auch kritische Themen nicht völlig. Eine breite Quellenrezeption geht zuweilen mit mangelnder Rezeptionstiefe einher, so scheint Bleichers Darstellung von Felix Stalders Theorie einer Kultur der Digitalität unzulässig verkürzend: Stalders Theorie sehe diese Kultur „auf Grundlage einer einheitlichen digitalen Speicherung“ (S.23). Stalder verwahrte sich jedoch in seinem Buch gerade gegen eine Fixierung der Perspektive auf die (digitalen) Technologien und Medien (siehe Rezension von T.Barth). Stalders Prinzip der Referenzialität, ein Kern der Kultur der Digitalität, mit Mashup und Remix als ästhetische Prinzipien, scheint Bleicher so sehr überzeugt zu haben, dass sie es gleich mit zwei „Gut zu wissen“-Textboxen zu „Mashup-Ästhetik“ würdigt (S.94, 104), aber ohne Referenz auf Stalder. Bleicher selbst zeigt Mashup virtuos auf Textebene durch Remix von Textschnipseln aus ihren beiden vorgängigen Internet-Monografien im vorliegenden Band. Der Hinweis etwa auf Donna Haraway „Die Neuerfindung der Natur“ fand sich in der „Poetik des Internets“ (Bleicher 2009) auf S.174 im Kapitel „Wirkungspotentiale“ unter Wissensgesellschaft; in „Internet“ (Bleicher 2010) taucht Haraway bereits im Eingangskapitel „Rahmenbedingungen und Funktionsweisen“ auf (S.10); in „Grundwissen Internet“ 2022 bringt es Haraway sogar auf eine „Gut zu wissen“-Box zu ihrem Cyborg-Manifesto im Kapitel „Theorien, Forschungsschwerpunkte und Methoden“ unter Posthumanismus (S.26) sowie auf eine Erwähnung im Kapitel „Infrastruktur, Lebenswelt und Medium“ unter Medientheorie (S.47). Besser lässt sich die von ihr beschriebene Mashup-Kombination von „Material zu neuen Bedeutungseinheiten“ (S.104) kaum demonstrieren.

Leider bleibt politisch Brisantes an wichtigen Punkten eher weichgezeichnet (vor allem verglichen mit Stalder), das Stichwort „Datenschutz“ fehlt im Register ebenso wie „Privatheit“ und „Propaganda“. Bleichers Darstellung von Wikileaks erweckt sogar den falschen Eindruck, die Plattform wäre 2010 „aufgrund von Regulierungen“ stillgelegt worden (S.79). Damals gab es Angriffe durch Geheimdienste auf Wikileaks, die aber nur zu zeitweise eingeschränkter Aktivität führten (vgl. Rueger 2011). In den Leitmedien wurden allerdings den medial gehypten Irak- und Afghanistan-Leaks folgende Enthüllungen verschwiegen. Auch die mediale Denunzierung von Assange lässt Bleicher aus, obgleich sie nach der Untersuchung von Nils Melzer (2021) als konstruierte Hetzkampagne gelten können: Der diffamierende „Vergewaltigungsverdacht“ gegen Assange erwies sich dem UNO-Experten Melzer nach als Justizintrige. Unscharf blieb auch der Cambrigde Analytica-Skandal: Bleicher erwähnt nicht, dass Donald Trump den Internet-Manipulationen zumindest teilweise seinen Wahlsieg 2016 verdanken dürfte. Auch Bleichers Verweise auf Zuboffs Überwachungskapitalismus sind ausbaufähig, dort liegt das Potential einer völlig neuen Palette von Ordnungsmodellen des Internets, die auf diverse und stetig wachsende Kontrollmöglichkeiten reflektieren.

Fazit

Das systematisch und didaktisch durchdachte Buch stellt zentrale Aspekte der Medialität des Internets umfassend dar. Im Fokus stehen Rahmenbedingungen, historische Entwicklung und Angebotsschwerpunkte, beleuchtet werden theoretische Fragen, Ästhetik, Nutzungs- und Wirkungspotenziale des Internets sowie Regulierungsansätze. Mit seinem einführenden Charakter richtet sich das Buch primär an Studierende der Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaften, aber auch an Interessierte anderer Fachrichtungen.

Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet. Perspektiven der Medien- und Kommunikationswissenschaft, utb, UVK Verlag, München 2022, 230 S., 26,90 Euro. ISBN: 9783825259099

Nils Melzer: Der Fall Assange. Geschichte einer Verfolgung, München 2021.

Gerd Rueger: Julian Assange -Die Zerstörung von Wikileaks, Hamburg 2011.

Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwchungskapitalismus, Frankfurt/NY 2018.

11/15/23

Brüssel: Aktivistischer Besuch

Petition gegen die Chatkontrolle überreicht

Konstantin Macher

Wir waren im Oktober mit Aktivist.innen der Kampagne „Stop Scanning Me“ aus 13 europäischen Ländern in Brüssel und haben Europaabgeordneten Unterschriften gegen die Chatkontrolle überreicht.

Stop Scanning Me-Kampagne

Im Rahmen der „Stop Scanning Me“-Kampagne (Übersetzt in etwa: Hört auf, mich zu scannen) hat unser europäischer Dachverband EDRi (European Digital Rights) die Reise von Freiwilligen aus ganz Europa zu einer Aktion im Europäischen Parlament ermöglicht. Drei Tage lang trafen sich Aktivist.innen aus Griechenland, Italien, der Tschechischen Republik, Österreich, Schweden, Finnland, Norwegen, Portugal, Dänemark, Rumänien, Deutschland, Spanien und Frankreich mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Wir sprachen über die Chatkontrolle (sogenannte CSA-Verordnung) und die schwerwiegenden Folgen, welche das vorgeschlagene Überwachungsgesetz für Menschen haben würde.

Zivilgesellschaft in Brüssel

Die Diskussionen im Oktober fanden vor dem Hintergrund der Veröffentlichung einer investigativen Recherche von europäischen Medienhäusern statt. Journalist.innen hatten aufgedeckt, dass Teile der Europäischen Kommission mit ihrem Gesetzesvorschlag zur Chatkontrolle Interessen einer KI-Lobby vertreten haben. Wenig später wurde außerdem bekannt, dass die für die Chatkontrolle zuständige EU-Innenkommissarin versucht hat, Druck auf kritische Regierungen auszuüben. Dafür soll sie Menschen anhand ihrer religiösen und politischen Ansichten auf Sozialen Medien gezielt mit Desinformation ins Visier genommen haben, um die öffentliche und politische Meinung in den Mitgliedstaaten zu manipulieren, in denen sich die Regierungen dem Gesetz widersetzen.

Angesichts dieser schockierenden Enthüllungen und vor der Abstimmung des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten (LIBE) des Europäischen Parlaments über den Chatkontrolle-Vorschlag war es besonders wichtig, der Zivilgesellschaft eine Stimme in Brüssel zu geben. Aus diesem Grund hat unser Dachverband EDRi einer Gruppe von Menschen ermöglicht, nach Brüssel zu kommen, um ihre Bedenken zu diesem Gesetz direkt mit ihren gewählten Abgeordneten zu diskutieren. Mit dabei waren sowohl erfahrene, als auch neue Aktivist.innen, die sich gemeinsam bei den Abgeordneten für den Schutz unserer Grundrechte eingesetzt haben.

Dabei gelang es unserer Gruppe, sich mit mehreren Dutzend Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu treffen. Viele der Abgeordneten zeigten sich alarmiert über die Risiken der Chatkontrolle und über die enthüllten Skandale der zuständigen Innenkommissarin Ylva Johansson.

Neben den Advocacy-Treffen, die wir mit den Abgeordneten des Europäischen Parlaments hatten, überreichten wir und die anderen Aktivist.innen die über 200.000 Unterschriften von Menschen, welche die Chatkontrolle ablehnen. Die Unterschriften wurden durch mehrere Petitionen gesammelt, z.B. in Europa von EDRi und in Deutschland von uns gemeinsam mit Campact. Darin bringen viele Menschen ihre Sorgen zur Gefahr durch die Chatkontrolle zum Ausdruck und fordern, Verschlüsselung zu schützen.
Zu den Abgeordneten, die die Unterschriften entgegennahmen und ihre Unterstützung für Verschlüsselung zum Ausdruck brachten, zählten Saskia Bricmont (Grüne/EFA), Patrick Breyer (Piratenpartei, Grüne/EFA), Tiemo Wolken (S&D) Birgit Sippel (S&D) und Alex Agius Saliba (S&D).

reblogged von https://digitalcourage.de/blog/2023/chatkontrolle-petition-bruessel

Mehr zur Chatkontrolle auf unserer Themenseite

10/12/23

Eine Ideologiekritik des Neoliberalismus – Reimer: „Der absurde Kapitalismus“

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Rezension von Thomas Barth

Kann der Marxismus heute noch zu einer Kritik der Netzgesellschaften beitragen? Jürgen-Michael Reimer meint ja und legt eine philosophisch-politökonomische Analyse der Absurdität unseres digitalisierten Kapitalismus vor. Bei Marx, Adorno und Camus sucht er nach Antworten für unsere Krise und deren Unsichtbarkeit in Medien, Netzen und Denken.

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Immer wieder, so Reimer einleitend, tauche in Gesprächen über die Klimakrise ein absurder Gedanke auf: Wir könnten uns heute in unseren westlichen Gesellschaften zwar das Ende der bewohnbaren Welt vorstellen, nicht aber das Ende des Kapitalismus. Thema des Buchs ist folgerichtig die Absurdität unseres Wirtschaftssystems, insbesondere des heutigen neoliberalen Kapitalismus. Der habe sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertige, er habe ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus habe er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruhe, und in diesem Sinne sei er absurd. Dieser Kritikansatz ziele nicht auf ethische oder moralische Verfehlungen des Neoliberalismus, sondern auf seine Dysfunktionalität.

Prof. em. Jürgen-Michael Reimer, studierte Sozialwissenschaften in Hamburg und Göttingen, lehrte „Human Ressource Management“ an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg und erweist sich im vorliegenden Buch als origineller Vertreter einer marxistischen Politökonomie auf der Höhe der Zeit was Digitalisierung, sogenannte „Soziale Medien“ und Plattformkonzerne wie Apple, Microsoft, Facebook, Google oder Amazon angeht.

Besagte Verheißungen, mit denen sich der neoliberale Kapitalismus rechtfertigt, erweisen sich Reimers Analyse als pure PR: Wohlstand für alle und Gerechtigkeit werden in absurder Weise konterkariert, Bildungs- und Gesundheitswesen ausgehungert, Natur und Klima verwüstet und selbst mit dem“ liberalen Markenkern“ der Freiheit ist es nicht weit her. Im Gegenteil, neoliberale Regime bedienen sich ausgiebig modernster digitalisierter Massenmanipulation: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen“ (S.93).

Es etabliere sich eine neoliberale „Marketinggesellschaft“, die auf großflächige Manipulation des Bewusstseins setze und uns mit kulturellen und affektiven Gütern abspeise. Digitale Plattformen stellen dabei etwa über Influencerinnen Märkte der Eitelkeiten und des Sozialprestige bereit, wo mit Selfies und Partnerbörsen um Aufmerksamkeit gebuhlt würde und Luxusgüter immer größeren Raum einnehmen. „So treffen zwei unvereinbare Imperative -Lohnverzicht und unbegrenzter Konsum- im Individuum aufeinander. Das große Paradox!“ (S.102) Ergebnis sei sich ausbreitende Entfremdung, die zunächst klassisch marxistisch erläutert und dann auf den Neoliberalismus bezogen wird: „Auch das Absurde lässt sich als Entfremdung deuten“ (S.108) Die „Auswüchse des auf Algorithmisierung beruhenden digitalen Kapitalismus“ sieht Reimer schon bei Horkheimer/Adorno und ihrer „Dialektik der Aufklärung“ vorausgeahnt.

Der neoliberale Kapitalismus hat sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertigt, er hat ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus hat er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruht. In diesem Sinne ist er absurd. Die in dem Essay entfaltete Kritik am Neoliberalismus ist funktionalistisch und macht diesen als interessengeleitete Ideologie kenntlich.“ (Klappentext, PapyRossa Verlag)

Die Entwicklung des Geistes des Kapitalismus in der vorindustriellen Zeit wird vom Reimer beginnend bei Aristoteles bis zu Marx, Weber und Sombart nachgezeichnet. Letzterer sah den Luxus als Bedingung der Entstehung des kapitalistischen Geistes, wobei mit Weber (protestantische) Askese als weitere Wurzel dazu gedacht werden muss. Die Vorgeschichte des Neoliberalismus wird in marxistischer Begrifflichkeit analysiert und als ihre Folge die Pervertierung heutiger Lebenswelt herausgearbeitet:

„Als seine zentralen Merkmale werden sowohl die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation als auch deren Ausuferung zu einer ‚gesellschaftlichen Grammatik‘ herausgestellt, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränkt.“ (Klappentext)

Neoliberalismus, Staatsverachtung und machtbesoffene Konzerne

Seit den 1970er und -80er Jahren trat der neoliberale Kapitalismus seinen Siegeszug an, da mit Überproduktion und Legitimationsverlusten Krisenerscheinungen zu überwinden waren. Diese wurden der Akkumulationslogik im Sinne des Nutzens einer kleinen Minderheit von Kapitaleignern immer gefährlicher. Bereits in der Ideologie des Kapitalismus verschleierte der Liberalismus die ökonomischen Kerninteressen dieser Minderheit mit dem hehren Wert der Freiheit. Die liberalen Wurzeln des Neoliberalismus zielen auf Marktfreiheit, die eine Reduktion staatlicher Macht ins Zentrum rückt. Milton Friedman habe vertreten, dass Freiheit da beginne, wo die Politik aufhöre. Hannah Arendt habe dem entschieden widersprochen, Freiheit sei der Sinn von Politik, den der neoliberal erstrebte „Minimalstaat“ (Hayek, Nozik) schwerlich einlösen könne.

Die Haupttugenden einer freiheitlichen Gesellschaft seien nach John Rawls, so Reimer, Wahrheit und Gerechtigkeit, wobei jeder gleiche Grundfreiheiten habe und wirtschaftliche Ungleichheit so zu gestalten sei, dass sie dem Gemeinwohl diene. Dem stehen die Doktrinen des Neoliberalismus entgegen, die ausgehend von der Mont Pèlerin Society (Hayek, Popper, Friedman u.a. 1947), 1973 in der Pinochet-Diktatur in Chile erstmals umgesetzt wurden. In USA und UK folgten Thatcher und Reagan diesem Beispiel und 1989 wurden im Washington Consensus die neoliberalen Leilinien festgelegt, an denen sich auch IWF, WTO und Weltbank orientiert hatten: Reduktion der Staatsquote, Steuersenkung, Privatisierung von Staatsbetrieben, Deregulierung vor allem der Finanzmärkte, Investorenschutz. Diese Doktrinen finden sich in Austeritätsprogrammen im Euroraum unter Stichworten wie Fiskalpakt, Schuldenbremse, Privatisierung. Neoliberaler Marktradikalismus und Antikollektivismus (wurzelnd in der antikommunistischen McCarthy-Bewegung der USA) laufen damit auf eine Schwächung des Staates hinaus, deren Hauptmethode die Privatisierung sei. Zu ihrer Rechtfertigung diene die Krise der Staatsfinanzen, deren Ursache nicht in neoliberalen Steuersenkungen gesehen, sondern als „Demokratieversagen“ umgedeutet werde.

Die unermüdliche Lobbyarbeit des neoliberalen Kapitals ziele hierzulande vor allem auf die Privatisierung von Post, Verkehr, Bildung, Gesundheit, Wohnen und Daseinsvorsorge. Der Ausverkauf des Staates erfolge auch durch ppp (public privat partnership -eine Erfindung der bereits vor der Jahrtausendwende zunehmend neoliberal agierenden Grünen in ihrer ersten Regierungsbeteiligung unter Schröder. Manipuliert werde durch subtiles deep lobbying, etwa mit der Platzierung von Leihbeamten aus Privatunternehmen in Ministerien (hier waren ebendiese Grünen ebenfalls federführend und schufen Querverbindungen von Großkapital und Ökopartei-Spitzenpolitiker:innen), staatlicher Beauftragung privater Berater, Formulierung von Gesetzen durch Anwaltskanzleien usw.

Die neoliberale Finanzialisierung der Märkte hätte etwa in Finanz- und Griechenlandkrise (2008 ff.) großes Unheil bewirkt, neoliberale Digitalisierung hätte unsere Daten in kognitive Güter verwandelt, Überwachung dabei die Freiheitsrechte ausgehöhlt (Zuboff) und Leitunternehmen wie Google, Apple, Facebook, Amazon wären inzwischen zu proprietären Märkten (in Privatbesitz) geworden. Der neoliberal regierte Staat habe die Besitzenden und Unternehmen „gepampert“, durch „mehrfache und deutliche Reduzierung des Spitzensteuersatzes der Einkommenssteuer. Die hätten sich durch immer weitergehende Steuervermeidung selbst der niedrigen Steuern bedankt, bis hin zu den „extremen Cum-Ex-Skandalen“, wo kriminelle Bereicherung die Staatskasse 10 bis 30 Milliarden Euro gekostet habe (S.80). Was den Autor zur Frage führt, wie lange wir uns den Kapitalismus noch leisten können.

Die Legitimierung und Einhegung wirtschaftlicher Macht durch demokratischer Prozesse sei im Neoliberalismus nicht erwünscht (der Leser wird an die erste Anwendung neoliberaler Dogmen in der Pinochet-Diktatur erinnert). Sogar die Märkte selbst gerieten bei digitalen Plattformkonzernen in das Eigentum des Kapitals. Folge sei eine Entmachtung der Arbeitnehmerseite im Wirtschaftsprozess, eine Senkung der Lohnquote im BIP und die Demokratisierung betrieblicher Entscheidungen „steht nicht einmal zur Diskussion“ (S.94).

Der Industriekapitalismus brachte bedeutende Treiber der Produktivitätssteigerung wie Arbeitsteilung, Massenproduktion und technische Innovationen, aber auch eine industrielle Reservearmee von Arbeitslosen. Deren Verdammung zur „unfreiwilligen Askese“ der Elendsviertel diene zur Disziplinierung der Arbeiterschaft. Diese Drohkulisse zeige sich bis heute im Neoliberalismus, etwa in der Programmatik des „Forderns und Förderns“ bei Hartz IV, die Verwerfungen des Arbeitsmarktes der Eigenverantwortung des undisziplinierten Subjekts zuschreibe. Global komme in einer Privatisierung der Macht (vgl. Krysmanski) es zugleich zum Übergang einer geopolitischen zu einer geoökonomischen Ordnung, deren neoliberales Finanzregime von OECD, IWF, WTO und Weltbank unter dem Schlagwort einer „global governance“ den Charakter einer „vierten, monetativen Gewalt“ annehme (S.47). Angesichts globaler Macht ist die Demokratie in Gefahr (vgl. Barth) und auch durch bis in die intimsten Bereiche der Lebenswelt vordringende digitale Technologien sind die Menschen heute einer absurden gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesetzt, deren Lebensperspektive sich für die Mehrheit auf ein zunehmend prekäreres muddling through beschränke (S.99). Absurd in einer Gesellschaft die unsagbaren Reichtum produziert, sich selbst für rational hält und Freiheit und Individuum zu ihren höchsten Zielen erklärt.

Soziale Medien, Propaganda, Konformismus

Eine vom Liberalismus proklamierte Freiheit werde für die meisten Menschen zur zynischen Illusion, die sich nur die oberen 20 Prozent in der steiler werdenden Einkommenspyramide noch wirklich finanzieren können. Menschliches Leben würde vielmehr zwischen wachsender Unfreiheit im digitalisierten Arbeitsleben, Konsumismus und unfreiwilliger Askese des Prekariats zerrieben. Der neoliberal gepriesene Wettbewerb bringe am Ende auf dem Markt nur wenige Sieger hervor: The winner takes all. Ein absurder Effekt, weil der Wettbewerb so seine eigenen Voraussetzungen zerstört. Besonders absurd sei der Glaube, der Markt könne die Gesellschaft mit heute öffentlichen Gütern versorgen. Der Markt habe keine Lösungen in den Krisen der Umwelt, der Pandemie, der Energieversorgung oder des Ukrainekrieges erbracht. (S.75) Bei Privatisierungen sei die Effizienzsteigerung nicht eingelöst worden, Leistungen wurden teurer, die Versorgung schlechter und in der öffentlichen Infrastruktur sei hierzulande ein Investitionsstau von 450 Milliarden Euro zu verzeichnen. Der neoliberale „Schlanke Staat“ sei in Wahrheit ein Ausverkauf des Staates zu Ramschpreisen gewesen. Staatliche Behörden sind zwar für Umweltschutz, Bildung, Gesundheitswesen zuständig, aber der Medien, Parteien und Öffentlichkeit dominierende Neoliberalismus untergrabe mit seiner Forderung nach dem Rückzug des Staates seine eigenen Grundlagen.

Ein absurder Trick des Neoliberalismus sei seine Selbstdarstellung als Verteidiger der Freiheit bezüglich tatsächlicher Machtausübung: „Neoliberale Argumentationen schweigen in der Regel die Macht des Kapitals tot, eine für Ideologien typische Form selektiver Wahrnehmung. Neoliberale Manager bzw. Kapitaleigner bestreiten häufig, Macht auszuüben. Sie geben vor, mit ihren Entscheidungen der invisible hand des Marktes zu folgen.“ (S.91)

Unseren Gehorsam sichern sich neoliberale Regime auch durch (zunehmend digitalisierte) Erziehung und Propaganda vor allem durch Mobilisierung von Voreingenommenheit: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen.“ (S.93)

Camus, das Absurde und die liberale „Freiheit“

„Die Vorstellungen zur Absurdität sind dem literarischen und philosophischen Werk von Albert Camus entlehnt. Bei ihm führt das Absurde, die Begegnung des sinnsuchenden Menschen mit einer sinnlosen Welt, nicht in eine hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr bietet das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“ (Klappentext)

Die manipulative Macht der neoliberale Ideologen veranlasst auch jene Menschen, die im Neoliberalismus benachteiligt werden, zu einer unbewussten und freiwilligen Unterwerfung. Die Entfremdung der Menschen wachse im digitalen Kapitalismus, den der Neoliberalismus entlang der Dogmen des Washington Consensus durchsetze. Im so durch wachsende Entfremdung immer absurderen Dasein der Menschen kann der Neoliberalismus die von ihm aufgerissene Lücke der Sinngebung nicht füllen. Mit dem existenzialistischen Philosophen und Schriftsteller Albert Camus könne man sich nur durch Bewusstmachung des Absurden auf Freiheit, Leidenschaft und Auflehnung besinnen, um die absurden Auswüchse des Neoliberalismus in demokratischen Prozessen zu thematisieren und einzuhegen.

Dies führe nach Camus jedoch nicht, so Reimer, in hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr biete das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Reimer will der Auflehnung ein Ziel geben und macht deshalb den Neoliberalismus als interessengeleitete Ideologie kenntlich. Deren zentralen Merkmale wären die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation sowie deren Ausuferung zu einer „gesellschaftlichen Grammatik“, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränken würde.

Eine Abkehr vom absurden Neoliberalismus wäre nur durch ergebnisoffene demokratische Diskurse möglich: „Dieser Diskurs darf aber nicht den Meinungsmachern im Dienst des Kapitals überlassen bleiben. Auf dem Weg dahin dürften sich Versuche lohnen, die absurden Auswüchse des Neoliberalismus zu thematisieren und einzuhegen.“ (Schlusssätze S.119)

Reimer ist nicht der erste Altmarxist, der auch beim französischen Existenzialismus nach Antworten suchte. Bereits Wolfgang Fritz Haug befasste sich in seiner Doktorarbeit „Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden“ (1965) mit existenzialistischer Gesellschaftskritik, deren Kreisen um das Absurde er ebenfalls in der Entfremdung und Vereinzelung begründet fand. Seine Kritik am Kult leerer Freiheit bei Sartre, aber insbesondere bei Camus war, dass dieser sich, in elitärer Ferne zur Gesellschaft, eher darin gefiel, „das Absurde“ auszuhalten, als aktiv gegen die kapitalistische Entfremdung vorzugehen. Haug zitiert Hannah Arendt, die Camus Fatalismus und Schicksalsergebenheit zuschrieb (Haug 1991, S.40f., S.190f.), eine Einschätzung, die selbst konservative Philosophiehistoriker bis heute teilen (vgl. etwa Steenblock 2002, S.326f.). Reimers funktionalistische Kritik an Neoliberalismus und digitalem Kapitalismus wird dadurch jedoch nicht geschmälert. (Thomas Barth)

Quellen:

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Barth, Thomas: Controlling statt Demokratie? In: ders. Hg.: Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S.101-111.

Haug, Wolfgang Fritz: Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden, 3.Aufl., Argument-Verlag, Hamburg 1991 (Or.1966).
Krysmanski, Hans: Die Privatisierung der Macht, in: Altvater, Elmar u.a.: Privatisierung und Korruption: Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S.25-37.
Steenblock, Volker: Kleine Philosophiegeschichte, Stuttgart 2002.

08/30/23
Total vernetzt - Nur wer sich anschließt wird nicht ausgeschlossen.

Rezension: Braches-Chyrek u.a. (Hg.): Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale

Thomas Barth
Was bedeuten die rasanten medialen und digitalen Transformationen für das Leben von Kindern? Diese Frage wurde „in der deutschsprachigen Kindheitsforschung bislang wenig untersucht“ (Klappentext). Das Handbuch thematisiert zentrale Zusammenhänge und interdisziplinäre Diskurse über Gesellschaft, Technik und Kindheit mit dem Ziel, emanzipatorische Bildungs- und Lernprozesse zu fördern.
Die Herausgeber*innen kommen aus den Bereichen Pädagogik, Sozialpädagogik und Soziologie, ebenso die meisten der insgesamt 26 Beiträger*innen unter denen acht aus Digitalisierungs- oder Medienwissenschaften stammen. Charlotte Röhner und Heinz Sünker, beide emiritiert, sind Nestor*innen der deutschen Kindheitsforschung, Sünker ist zudem Adorno-Experte und sein Blick auf das Digitale geprägt von der Kritischen Theorie der freudomarxistischen Frankfurter Schule. Überwiegend aus dieser kritischen Perspektive diskutiert der erste von vier Teilen des Bandes „Technik und Gesellschaft“, also die sozialen, kulturellen, pädagogischen und politischen Folgen der Digitalisierung. „Welche neuen Zugriffsmöglichkeiten auf kindliche Subjektivität ergeben sich aus der Techniknutzung und welche Widerstandspotentiale (Adorno, Erziehung zur Mündigkeit)? Welche veränderten Konzeptualisierungsansätze von Kindheitspolitik ergeben sich?“ (Verlagstext).
Soziale Aufgaben wie Wert schätzen, Bindung schaffen, Trennung verarbeiten, Grenzen setzen, Identität und Autonomie gewinnen, sie alle unterliegen durch allgegenwärtige Digitalmedien neuen Risiken, etwa prekärer Datensicherheit, leicht zugänglichen jugendgefährdenden Inhalten oder Cybermobbing. Doch das Handbuch thematisiert auch neue Chancen der Digitalmedien. Im zweiten Teil „Digitalisierung und Mediatisierung von Kindheit“ wird die Sozialisation und Kinder als Akteur*innen thematisiert. Der dritte Teil „Digitales Konstruieren, Spielen und Handeln“ legt den Fokus auf die früher meist negativ bewerteten Computer-, Video- und heute auch Online-Spiele, sucht nach kreativen Potentialen, warnt aber auch, etwa vor unreflektiertem Konsum gewalthaltiger Spiele. Der letzte Teil „Digitalisierung und digitale Bildung in Institutionen“ nimmt Probleme und Lösungsansätze in Kitas und Schulen des Elementar- und Primarbereichs in den Blick.
Technologie, Adoption und Pflegefamilien
Prof. Rita Braches-Chyrek war 2010 Mitherausgeberin des Bandes „Kindheit in Pflegefamilien“, doch dieser Aspekt der Kindheitsforschung klingt im vorliegenden Handbuch nur in zwei Beiträgen an: 1. Die Afrikanistin Konstanze N‘Guessan streift mit „Verwandtschaft und Kindheit im Zeitalter assistierter Reproduktion – Einblicke in die ethnographische Erforschung des doing family“ das Thema Adoption und Islam. 2. Der Beitrag „Beobachtung der Beobachteten: Technologie, Schutz und Fürsorge an einem Tag im Leben von Jasmine“ von Rachel Thomson und Ester McGeeney, berichtet aus einer „alternativen Erziehungseinrichtung für Jugendliche, die keinen Zugang zur Regelschule haben“; sie beobachten dort den Medienalltag der fünfzehnjährigen Mutter Jasmine, die in einer Pflegefamilie untergebracht ist (s.u.2.).
1. Verwandtschaft, Kindheit und Technologie
Der Beitrag von N‘Guessan ist der einzige des Bandes, der nicht von digitalen Medien handelt -dafür aber biotechnologische Bezüge zum Transhumanismus aufweist, indem dessen Biologismus auf den Boden der sozialen, kulturellen und psychologischen Tatsachen zurückgeholt wird. Im Fokus stehen medizinische Technologien der assistierten Reproduktion und die kulturelle Herstellung von Verwandtschaft und Familie in verschiedenen Kulturen. Ihre Ausgangsfragen sind: „Was ist Familie und wer gehört dazu? Welche Dimensionen hat Eltern-Sein und wie wird Abstammung kulturell konzeptualisiert?“ Solche Fragen stellt die Ethnologie der „New Kinship Studies“, die seit den 1980er-Jahren die Verwandtschaftsforschung „von der Biologie befreit, die durch euroamerikanische Prägung entstanden sei.“
Verwandtschaft wird und wurde immer kulturell gemacht -und dieser Entstehungsprozess oft mit Biologismen wie „Blut ist dicker als Wasser“ verborgen, was oft schon den Status von Adoptivkindern kompliziert habe. Neue Reproduktionstechniken (NRT) lassen die biologische Simplifizierung heute vielerorts ins Schwimmen geraten. Denn es sind dabei nicht nur zwei, sondern bis zu fünf Personen im engeren Kreis einer konstruierbaren Elternschaft vorhanden: Mutter, Vater, Eispenderin, Samenspender und Leihmutter. Dazu kämen im weiteren Umfeld noch diverse Medizintechniker*innen, die etwa mit ihren Händen unter dem Mikroskop die Eizelle besamen. „NRT und Adoption konstituieren einen Möglichkeitsraum, auf den sich unterschiedlichste Akteur*innen in ihren Überlegungen und Praxen beziehen. Durch die Linse der NRT lässt sich Verwandtschaft als Ergebnis von Handlungen verstehen.“
Konstanze N‘Guessan erläutert an diversen afrikanischen und islamischen Kulturen Praktiken des Verwandt-Machens -und ist mit dieser interkulturellen Perspektive in diesem Handbuch einmalig. Wir erfahren von einem „Unfruchtbarkeitsgürtel“ in Zentral- und Südafrika, wo NRT trotz der hohen Kosten stark gefragt sind und auf andere als die euroamerikanischen Verwandtschafts-Praktiken treffen. In matrinlinearen Gesellschaften, etwa den Macao in Mozambik, können Vaterpflichten und -privilegien auf den Mutterbruder übergehen; in anderen Kulturen gibt es die „Geist- oder Frauenheirat“, wo Vater- bzw. Schwangerschaft durch Zahlung eines Brautpreises auf einen Ahnen oder eine Frau übertragen werden.
In islamischen Kulturen ist entscheidend, ob diese schiitisch oder sunnitisch sind: Bei Sunniten kann schon die Adoption verboten sein, im weniger restriktiven Schiismus bleiben Adoptivkinder zumindest von der patrilinearen Erbfolge ausgeschlossen; seit einer permissiven Fatwa von Ayatolla Khomeini sind in Iran und Libanon NRT-Kinder erlaubt und Adoptierten gleichgestellt. „Die Frage, wie ‚fremde‘ Kinder durch soziale Praktiken und diskursive Rahmungen der Familie zugehörig gemacht werden stellt sich nicht nur bei NRT-Kindern, sondern immer“, so N‘Guessan, denn Verwandtschaft sei eine „biologisch wie sozial unterdeterminierte, gestaltungsoffene wie gestaltungsnotwendige soziale Ordnung“.
2.Technologie, Schutz und Fürsorge
Thomson und McGeeney stehen mit ihrem britischen „Kinderalltagsprojekt“ in der Tradition materialistisch-feministischer Methodologie, die ihre Forschungstätigkeit eingehend selbstkritisch reflektiert und nach Möglichkeiten „nachhaltigerer Sorge-Relationalitäten“ sucht:
„Die digitalen Medien haben ganz eigene Möglichkeiten geschaffen, die auch neue Arten von erzieherischer Führung erfordern und neue Gebiet ethischer Untersuchungen eröffnen. (…) Junge Menschen in staatlicher Obhut wurden als eine besondere Risikogruppe identifiziert, einschließlich des Risikos in Bezug auf digitale Kulturen… besonders in den Bereichen Adoption und Pflegefamilien kämpfen Sozialarbeiter*innen darum, die Kinder vor der Aufnahme oder der Fortsetzung von Kontakten mit ihren leiblichen Eltern zu bewahren, wenn diese gerichtlich eingeschränkt worden war.“
Digitale Medien, besonders das allgegenwärtige Smartphone, erschweren diese Aufgabe, denn Kinder und Jugendliche verstehen es, sich der Kontrolle zu entziehen. Im Fall der einen Tag wissenschaftlich beobachteten Jasmine wird klar, dass auch sie und ihre Mitschüler*innen die ihnen auferlegten Regeln für den Mediengebrauch zu unterlaufen wissen: „Die ‚Ein-Tag-im-Leben-Methode‘ hat uns diese Art der dichten, affektiven Geometrien einfangen lassen.“ Die Forscher*innen erfahren, wie vermutlich Instagram und Snapchat von minderjährigen Müttern verwendet werden, um Babyfotos zu posten -schon deren Aufnahme wird von der Einrichtung eigentlich untersagt.
Die Konfliktsituation wird von Thomson und McGeeney aus beiden Perspektiven reflektiert: Die Schutzbefohlenen müssen einerseits „beobachtet, überwacht, geschützt und zensiert werden“, andererseits gibt es auch eine „Kinderöffentlichkeit“ mit „den Imperativen: gesehen werden, sichtbar sein, teilhaben in/an einer digitalen Kultur“. Die Autor*innen stellen fest, dass in dieser neuen Kultur „neue Arten der Subjektivität“ entstehen. „Im Kontext einer Aufmerksamkeitsökonomie können wir das Bedürfnis junger Menschen, gekannt und gesehen zu werden, nicht einfach ignorieren“. Jugendliche Medienpraxis unreflektiert „unterdrücken“ zu wollen, halten die beiden Forscher*innen „für irregehend“.
Der emanzipative Ansatz ist bei Thomson und McGeeney deutlich, doch bei der Reflexion des „Neuen“ an der „neuen Subjektivität“ ist noch Luft nach oben. Denken wir an eine 1950er-Jahre-Werbung für Dosen-Ananas: „Toast Hawaii! Da werden Ihre Nachbarn staunen!“ Foodporn auf Instagram posten ist vielleicht nur überkommene Subjektivierung in digitalisierter Werbeästhetik, die kunstvolle Beleuchtung und Belichtung von damals wird heute durch einen das Foto farblich aufpeppenden digitalen „Filter“ ersetzt.
Fazit
Die emanzipatorische Haltung ist löblich, doch leider gelingt der Transfer der Medienkritik von Adorno ff. auf die Digitalisierung durch die Bank nur ungenügend. Die zweifelhafte Referenz von Heidegger als Paten der Technikkritik überzeugt ebenso wenig wie der gelegentliche, hilflos wirkende Verweis auf neueste Ansätze wie Shoshana Zuboffs „Überwachungskapitalismus“. Dabei wäre bei Kenntnis der kritischen Diskurse zu Computer- und Internetkultur gar nicht nötig, das Rad neu zu erfinden: Der Adorno-Experte Mark Poster etwa kombiniert seit 30 Jahren Freudomarxismus mit postmodernen Ansätzen, etwa den Heidegger implizit weiterführenden Theorien von Michel Foucault, bei seiner Digitalmedienkritik.
Den meisten Beiträgen scheinen auch tiefer gehende Kenntnisse der technologischen und politischen Hintergründe der Digitalisierung zu fehlen, mit den beiden Ausnahmen des Professors für Digital Humanities (Sussex) David M. Berry und des Diplom-Informatikers Marius Melzer, der beim Chaos Computer Club ein Schülerprojekt betreibt. Bei Melzer bleibt die Warnung vor Manipulation im Internet nicht vage, sondern er führt konkret die wohl dramatischste Auseinandersetzung auf diesem Gebiet an:
„Das Beispiel Julian Assange zeigt dies deutlich: Die nach heutigem Wissensstand fingierten Vergewaltigungsvorwürfe (Melzer 2020) führten dazu, dass die vorhergegangene Wikileaks-Veröffentlichung „Collateral Murder“, die zeigte wie US-Soldaten im Irakkrieg lachend aus einem Hubschrauber auf Zivilisten und Journalisten feuerten, in Vergessenheit geriet.“ (S.114)
Die mit nur einem Satz allzu sparsame Erwähnung dieser digitalen Medienschlacht um die (nicht nur Medien-) Geschichte schreibende Enthüllungsplattform Wikileaks brachte einen gravierenden Fehler: In der Literaturliste wurde beim Quellennachweis der Vorname von N.Melzer offenbar zu M.Melzer fehlkorrigiert. Man nahm wohl ein Selbstzitat von Marius Melzer an und kannte nicht den wirklich zitierten weltberühmten Autor Nils Melzer, den UNO-Folterbeauftragten und Schweizer Professor für Völkerrecht. Nils Melzer hatte die gegenwärtige Folter des Wikileaks-Gründers Julian Assange angeprangert, den er als Opfer einer perfiden Intrige sieht. Er hatte in schockierenden Artikeln und seinem Buch „Der Fall Assange“ detailliert enthüllt, wie mutmaßlich Geheimdienste die Regierungen der USA und Großbritanniens sowie die schwedische Justiz den politisch verfolgten Assange als Vergewaltiger abgestempelt hatten. Diese Fakten wurden in westlichen Medien jedoch weitgehend vertuscht, was den Irrtum von Verlag, Lektoren und Korrekturat begründen dürfte. Somit wird dieses Handbuch selbst zu einem Beispiel gelungener Medienmanipulation im Digitalzeitalter.

Rita Braches-Chyrek, Jo Moran-Ellis, Charlotte Röhner, Heinz Sünker (Hrsg.): Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2021. 422 S., 69,90 Euro.

07/8/23
Mitadlndem Finger werden die ausgeschlossen, die sich nicht an Faceook verkaufen wollen

Neue Arbeitsgruppe: AG Eltern & Schulsoftware

Jessica Wawrzyniak 06.07.2023

Ein Austauschkanal für Eltern, die rechtlich gegen datensammelnde Software an Schulen vorgehen möchten, und für Jurist.innen, die dabei helfen möchten.

Immer wieder erreichen uns Anfragen von Eltern, die nicht mehr weiter wissen, weil die Schule ihrer Kinder nicht von datensammelnder, rechtlich bedenklicher Schulsoftware abrücken möchte. Während einige Eltern der Schule noch gut zureden und Argumente für den Einsatz freier Software sammeln, kontaktieren uns andere bereits, um sich wegen erster rechtlicher Schritte zu erkundigen. Einige Eltern sind schon weitergegangen und haben bereits Kontakt zu Anwält.innen aufgenommen, um den Klageweg zu beschreiten.

Es ist kein Wunder, dass sich Eltern für den juristischen Weg entscheiden. Bei Schulträgern und Ministerien finden sie kein Gehör oder die Schule behauptet, die Entscheidung zu Microsoft Teams oder Zoom sei in Absprache mit dem Datenschutzbeauftragten erfolgt, als unbedenklich eingestuft worden und schon allein aus praktischen Gründen nicht mehr zu ändern. Manchen Eltern hat die Schule sogar gedroht, den Schulvertrag zu kündigen, wenn sie der Nutzung der Schulsoftware nicht zustimmen, und diese sei nun einmal Microsoft 365. Das geht zu weit! Dass Behörden widerwillig auf Kritik und Veränderungen reagieren und immer mal wieder den falschen Weg einschlagen, ist nicht neu. Doch an einzelnen Schulen erreicht das Thema mit Erpressung, dem Verstoß gegen datenschutzrechtliche Grundsätze und der Missachtung von Grundrechten ein neues Niveau.

Wir möchten Sie als Eltern mit Ihren Sorgen nicht alleine lassen. Argumente, die gegen den Einsatz datensammelnder Software an Schulen sprechen, stellen wir auf unserer Website zur Verfügung. Wir erarbeiten dazu immer wieder neues Informationsmaterial und schaffen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene Aufmerksamkeit für die Problematik. Digitalcourage hat jedoch nicht die Ressourcen, Sie juristisch zu beraten oder an fachkundige Anwält.innen zu verweisen. Wir möchten Betroffene aber vernetzen und dabei unterstützen, einander zu helfen, zum Beispiel indem sie sich gegenseitig berichten, welche juristischen Maßnahmen bereits Erfolg hatten und was ihre Anwältinnen und Anwälte ihnen empfohlen haben.

In der AG Eltern und Schulsoftware finden Sie Eltern, die bereits juristisch gegen den Einsatz von Microsoft 365, Zoom, Google und anderen datensammelnden Programmen an ihrer Schule vorgegangen sind oder dies noch vorhaben. Auch wenn Sie gegen die Entscheidung eines Schulträgers oder eines Ministeriums vorgehen möchten, sind Sie hier richtig. Herzlich eingeladen sind außerdem Juristinnen und Juristen, die sich dieses Themas bereits angenommen haben und betroffene Eltern ehrenamtlich unterstützen möchten. Wenn Sie sich für die Teilnahme an der AG interessieren, melden Sie sich bitte per E-Mail bei uns (mail@digitalcourage.de).

Die Gruppe wird durch die Teilnehmenden selbst geleitet. Digitalcourage moderiert den Austausch nur geringfügig, um den thematischen Fokus nicht aus dem Blick zu verlieren.

Die AG Eltern und Schulsoftware bietet explizit Eltern und Jurist.innen einen Austauschkanal. Pädagogische Fachkräfte aus der (vor)schulischen und außerschulischen Bildung, die sich aktiv für Datenschutz und Grundrechte in der digitalen Bildung einsetzen möchten und beispielsweise bereits auf freie Materialien und freie Software setzten, sind herzlich eingeladen, sich in einer anderen Arbeitsgruppe von Digitalcourage einzubringen: in der AG Pädagogik.

(reblogged von https://digitalcourage.de/blog/2023/ag-eltern-und-schulsoftware)

12/13/21

Rezension Nils Melzer: Der Fall Julian Assange

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, Piper Verlag 2021

Hermine Humboldt

Hat die schwedische Justiz Beweise gefälscht und Zeugenaussagen manipuliert, um einen Vergewaltigungsverdacht gegen Julian Assange zu konstruieren? Der UNO-Menschenrechtsexperte Prof. Nils Melzer war anfangs kein Assange-Unterstützer, aber er nutzte sein diplomatisches Mandat für eigene Ermittlungen im Fall Assange.

Was hat der Fall Assange mit Netzphilosophie zu tun? Der Schweizer Netzphilosoph Felix Stalder wies schon 2016 in seinem bahnbrechenden Buch „Die Kultur der Digitalität“ auf eine westliche Machtelite hin, die er als „den inneren Kern des postdemokratischen Systems“ bezeichnete, „bestehend aus den Spitzen der Wirtschaft, der Politik und der Geheimdienste“ (Stalder 2016, S.230). Der Begriff „Postdemokratie“ markiert eine Kritik an westlichen Ländern, die von einer schleichenden Entdemokratisierung und Herrschaft von Technokraten ausgeht, die sich ausgeklügelter medialer Massenmanipulation bedient.

„Die Grenzen zwischen postdemokratischen Massenmedien und staatlichen Nachrichtendiensten sind fließend. Wie inzwischen bekannt ist, bestehen zwischen beiden Bereichen personelle Kontinuitäten und inhaltliche Gemeinsamkeiten.“ (Stalder 2016, S.234)

In seinem Buch „Der Fall Assange“ bestätigt Nils Melzer die Analyse seines Schweizer Landsmanns Felix Stalder in spektakulärer Weise: Denn der Fall Assange ist zweifellos einer der größten Justizskandale die wir kennen (sollten). Den jedoch die wenigsten in voller Tragweite zur Kenntnis nehmen können, denn es ist auch ein eklatanter Fall von Medienversagen der westlichen „freien Presse“. An deren tatsächliche Freiheit kann man angesichts ihrer äußerst desolaten (Nicht-) Berichterstattung zu weiten Teilen dieser Story höchstens noch eingeschränkt glauben -wie auch der Philosoph Stalder gut begründet argumentiert hatte. 2010 wurde Julian Assange zum „Staatsfeind Nr.1“ für die USA und Großbritannien und geriet ins Fadenkreuz der mächtigsten Geheimdienste der Welt: Der CIA, NSA, FBI (und der ca. 30 weiteren US-Geheimdienste) sowie der Britischen MI5, MI6 und GCHQ. Diese Dienste warfen, so muss man annehmen, angesichts der Wikileaks-Enthüllungen ihre ganze Macht in die Waagschale. Dazu gehört auch die Macht über Massenmedien, Politik und Justiz vieler Länder -ganz offensichtlich hier der Justiz in Schweden und England.

Mit dem „Afghan War Diary“ veröffentlicht WikiLeaks 2010 das größte Leak der US-Militärgeschichte, mitsamt Beweisen für Kriegsverbrechen und Folter. Kurz danach verdächtigt Schweden WikiLeaks-Gründer Julian Assange der Vergewaltigung, und ein geheimes US-Schwurgericht ermittelt wegen Spionage. Als ihn Ecuador nach jahrelangem Botschaftsasyl der britischen Polizei überstellt, verlangen die USA sofort seine Auslieferung und drohen mit 175 Jahren Haft. Nils Melzer, UNO-Sonderberichterstatter für Folter, will sich zunächst gar nicht auf den Fall einlassen. Erst als er Assange im Gefängnis besucht und die Fakten recherchiert, durchschaut er das Täuschungsmanöver der Staaten und beginnt den Fall als das zu sehen, was er wirklich ist: die Geschichte einer politischen Verfolgung. An Assange soll ein Exempel statuiert werden – zur Abschreckung aller, die die schmutzigen Geheimnisse der Mächtigen ans Licht ziehen wollen. Dieses packende Buch erzählt erstmals die vollständige Geschichte von Nils Melzers Untersuchung. (Piper-Verlagstext)

Der UNO-Menschenrechts- und Folterexperte Prof. Nils Melzer war anfangs kein Assange-Unterstützer. Melzer ist ein Anwalt der Menschenrechte, berufen von der UNO, und er nutzte sein diplomatisches Mandat für eigene Ermittlungen im Fall Assange -angefangen bei dem angeblichen „Vergewaltigungsverdacht“ an zwei Schwedinnen, den uns die Medien seit zehn Jahren vor jeder Erwähnung von Julian Assange präsentierten. Kritiker wie der Rezensent oder der Buchautor Gerd R. Rüger haben diese Bezichtigungen niemals geglaubt und immer von einer CIA-Intrige gegen Assange gesprochen -sie wurden dafür als „Verschwörungstheoretiker“ denunziert. Nun zeigt sich, dass wir Recht hatten: Es war eine Justiz-Geheimdienstintrige gegen Assange. Denn Prof. Melzer findet, wie er entsetzt feststellen muss, manipulierte schwedische Justizakten, und schreibt in seinem Buch über „die behördliche Nötigung der beiden Frauen zur Anpassung ihrer Aussagen an das offiziell forcierte Vergewaltigungsnarrativ“ (S.149).

Wikileaksgründer im britischen Guantánamo

London, Juni 2021. Im bestbewachten Knast Ihrer Majestät, dem Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, dem „britischen Guantánamo“, wird Julian Assange gefangen gehalten. Der wohl bislang bedeutendste Journalist des 21. Jahrhunderts ist auch inhaftiert, weil er die Foltermethoden des berüchtigten US-Gefangenenlagers Guantánamo enthüllte, jenem US-Gulag also, den der ehemalige US-Präsident Barack Obama eigentlich schließen wollte. Aber nicht die Verantwortlichen in den USA, sondern Assange wurde angeklagt: wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente – gutes Recht von Enthüllungsjournalisten – und wegen angeblicher Verstöße gegen das Anti-Spionage“-Gesetz, eines Relikts aus Zeiten des Ersten Weltkriegs. Der Schauprozess dauert an, das Unrechtsregime in London hat gerade, wie erwartet, den US-Anklägern die Auslieferung des politisch Verfolgten genehmigt.

Unsere Medien ARD, ZDF usw. betreiben eine systematisch verwirrende Berichterstattung über die Der-Fall-Assange-Enthüllungen von Nils Melzer, so droht der Kern seiner Botschaft unterzugehen: Die schwedische Justiz hat 2010 gezielt Beweise gefälscht und Zeugenaussagen manipulierte, um einen Vergewaltigungsverdacht gegen Julian Assange überhaupt erst zu konstruieren.

Der UN-Sonderberichterstatters zum Thema Folter ist Schweizer, aber Nils Melzer spricht auch fließend Schwedisch ein sagenhafter Glücksfall in der Sache Assange. Melzer arbeitete sich durch die schwedischen Akten zum Fall Assange. Doch sein bahnbrechendes Fazit wollte in unseren Leitmedien kaum jemand hören. Erst mühsam kämpfte er sich durch Netzmedien (!) wenigstens an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit. Jetzt legte er ein Buch vor, das seine Arbeit akribisch beschreibt, „Der Fall Julian Assange: Geschichte einer Verfolgung“, und folgert

Der eigentliche Zweck der Verfolgung von Assange ist nicht in erster Linie die persönliche Bestrafung von Assange, sondern die Etablierung eines Präzedenzfalles mit globaler Abschreckungswirkung für andere Journalisten, Publizisten und Aktivisten, um künftig weltweit jeden strafrechtlich verfolgen zu können, der es wagen sollte, die schmutzigen Geheimnisse der Regierungen ans Licht der Öffentlichkeit zu ziehen.“ Melzer S.230

Prof. Nils Melzer kritisiert die Leitmedien. Zwar würden einige Meinungsbeiträge halbherzig Partei für Assange ergreifen und auch die Gefahr für die Pressefreiheit anerkennen, „doch kein einziges Medienhaus protestiert gegen die den ganzen Fall durchziehende Justizwillkür“ (S.312). Die Justizwillkür zeige sich in der britischen Willfährigkeit gegenüber der US-Anklage vor dem Londoner Gericht:

Schritt für Schritt wurden auch die abwegigsten Argumente der USA kritiklos bestätigt. Gleichzeitig, fast wie im Vorbeigehen, wischte Bezirksrichterin Baraitser sowohl die rechtlichen Einwände als auch die entlastenden Gutachten und Zeugenaussagen der Verteidigung ohne viel Federlesens vom Tisch.“Melzer S.318

Prof. Nils Melzer kommt in seinem Bericht, der sich wie ein Justizthriller liest, also zu Schlussfolgerungen, die sich weitgehend mit dem decken, was Assange-Anhänger seit zehn Jahren skandalisieren: Der WikiLeaks-Gründer wurde Opfer einer Intrige, einer gnadenlosen Rufmordkampagne sowie politischer Verfolgung.

Bei dieser großangelegten Intrige handelt es sich demnach um Staatsverbrechen, für die die Verantwortlichen der beteiligten Staaten – mindestens der USA, Großbritannien, Schweden und zuletzt auch Ecuador – eigentlich vor Gericht gehören würden. Gegen Assange konnten die USA vor Gericht, anders als die Londoner Richterin in ihrem Urteil behauptet, aus Melzers Sicht nichts strafrechtlich Relevantes vorweisen. In einem rechtsstaatlichen Verfahren wäre er schon lange ein freier Mann. Das läuft schließlich auf den Vorwurf der Justizwillkür hinaus.

Westliche Massenmedien als Mittäter

Prof. Nils Melzer zeigt sich in seinem Buch überzeugt, die westlichen Medien hätten sich mit ihrer willfährigen Beteiligung an der Anti-Assange-Rufmordkampagne zu Gehilfen einer perfiden psychischen Folter gemacht – er spricht von „öffentlichem Mobbing“ (S.109). Der UNO-Experte kritisiert auch das anhaltende Ausbleiben medialer Aufmerksamkeit für den Fall Assange. Würden westliche Leitmedien die Justizwillkür angemessen skandalisieren, so seine These, würde das windige Verfahren rasch eingestellt: „Denn wenn Regierungen eines fürchten, dann ist es das gebündelte Scheinwerferlicht und die kritischen Fragen der Massenmedien.“ (S.312)

Beides bleibt jedoch aus. Stattdessen greifen westliche Leitmedien Nils Melzer an, den Überbringer der unbequemen Botschaft: Der skandalösen Botschaft, dass im Westen ein Dissident gefoltert wird, von den eigenen Regierungen, nicht im feindlichen Ausland. Unsere Leit- und Netzmedien ignorieren Melzers Erkenntnisse und berichten lieber noch kleinste und selbst konstruierte Verfehlungen von Julian Assange (wie seine angeblich hungernde Katze im Botschaftsasyl) zehn Jahre mehrheitlich breitgetreten und ihn zu einem Außenseiter stigmatisiert. Rückgratlose Leitmedien sehen bei Melzer nun wohl ihre eigene Erbärmlichkeit bestätigt -von derart autorisierter Stelle, dass sie nur peinliches Schweigen darüber breiten möchten. Melzers Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen, besonders unter Freunden der Netzphilosophie.

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, (Mitautor: Oliver Kobold ), Piper Verlag 2021, 336 Seiten, 22,00 Euro. https://www.piper.de/buecher/der-fall-julian-assange-isbn-978-3-492-07076-8

04/23/20

Graphic Novel-Rezension: Transgender Digitalkultur

Hermine Humboldt

Peer Jongeling: „Hattest du eigentlich schon die Operation?“, Berlin 2020.

Als 2016 der Kulturphilosoph Felix Stalder seine „Kultur der Digitalität“ entwarf, begann er seinen Ausflug ins 21.Jahrhundert mit dem ESC 2014, den die glamouröse Diva mit Bart, Conchita Wurst, souverän gegen alle sexistischen Anfeindungen gewann. Damals galt es ein Zeichen zu setzen für Diversität und das Recht des Individuums, sich selbst zu definieren. Ein Zeichen gegen das immer aggressivere Maulen und Pöbeln der Homophobie-geschüttelten Reaktionäre, der braunen Brüder und Nationalisten mit ihrem Geraune über angeblichen Kulturverfall, Dekadenz und ein drohendes „Gayropa“. Wenn Trump und Putin etwas verbindet -außer dubiosen Immoblien-Deals in Moskau-, dann wohl die Kunst, auf diesen dunklen Ängsten des Mainstreams ihre Propaganda-Tarantella zu spielen. Felix Stalder sieht hier die Wurzel einer Vielfalt feiernden „Kultur der Digitalität“, deren Netzmedien und Digitalkultur der Diversität nur technologisch zum Durchbruch verhalfen.

Was ist aber mit unserer Conchita und allen anderen Queer- und Trans-Menschen? Heteronormalos genießen die Kulturvielfalt auf Sofa, Smartphone usw., selbst im träge-konservativen ZDF-Krimi tummeln sich inzwischen einige homosexuelle, farbige oder sonst nicht „Normale“ in der hölzernen Handlung. Aber bis das ESC-Spektakel wirklich in der zwischenmenschlichen Alltagskultur Schule macht, ist noch ein langer Weg. Peer Jongeling geht ihn und widmet dem heißen Thema ein sozialkritisches Comic, umschifft dabei heikle Fallgruben. Es geht um Erotik und Körperlichkeit, doch die tonnenförmig an Pinguine erinnernden Figuren lassen auch bei Sexszenen kaum voyeuristische Blickweisen aufkommen. Und karikaturhaft-humoristische Pointen lockern die ernste Story auf.

Ein Himmel voller Gender-Sternchen

Immer noch regen sich manche KritikerInnen über Schreiber*innen auf, die diese oder jene Gender-Schreibweise bevorzugen, derweil haben reale Transgender ernstere Probleme: Anfeindungen, Diskriminierung, Outing, Kleiderkauf, Namensänderung bis hin zur Frage nach der operativen Geschlechtsumwandlung. „Ari, Lilly, Paul und Ray erzählen aus ihrem Leben als Transgender“, erklärt das grellrote Backcover, verziert mit blaugrün-floralen Ornamenten, aus denen sich menschliche Arme schlängeln. Autorin Peer Jongeling tritt einleitend selbst auf:

„Hallo ich bin Peer! In diesem Heft habe ich mehrere Kurzgeschichten zum Thema Transidentität zusammengefasst. Sie basieren auf wahren Gegebenheiten und verarbeiten sowohl Erfahrungen von Trans-Personen als auch persönliche Erlebnisse. Die Protagonisten sind frei erfunden und stellen keine echten Personen dar. Ebenso sind sie individuelle Charaktere und keine verallgemeinernde Repräsentation von transidenten Menschen. Tschüss und viel Spass.“

Die Story beginnt lehrbuchartig: „Mein Name ist Paul. Auf diesen Seiten werden ein paar wichtige Begriffe erklärt,“ verkündet eine der Hauptpersonen für die erste von zwei Doppelseiten mit Erklärungs-Sprechblasen, die aus quasi vom Einband her herüber wuchernden Pflanzen sprießen. Von „Transgender, Trans, Transident: Personen, die sich mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht identifizieren können.“ über „Misgendern: Als ein Geschlecht adressiert werden, welches nicht der Identität entspricht.“ und „Dysphorie: Das Unwohlsein mit dem eigenen Körper. Für Trans-Personen oft auf Geschlechtsmerkmale bezogen.“ bis zu „Passing: Trans-Menschen, die aussehen ‚wie‘ ihr angestrebtes Geschlecht. Kritisierter Begriff, da impliziert wird, dass sie nur so aussehen.“ So werden neun Genderbegriffe erklärt.

Dann geht es los -mit dem tränenreichen Outing: „Mama ich bin keine Frau und ich möchte ab jetzt als Mann leben. Ich bin Transgender.“ „Was ist denn Transgender?“ Beim folgenden „Shopping mit Lilly“ geht’s um den Kleiderkauf, wo neben unpassenden Größen auch andere KundInnen nerven: „Mama, was ist das da?“ – „Ich bin kein ‚Dasda‘, ich bin eine Frau.“ „Und wieso ist deine Stimme so tief?“ – „Das geht dich nichts an!“ Beim Bezahlen nörgelt der Kassierer über die Kreditkarte: „Da steht ein Männername drauf, Sie können nur mit ihrer eigenen Karte zahlen.“

Noch unangenehmer wird es für den männlichen Trans-Menschen bei der gynökologischen Untersuchung seiner zu Identität und Aussehen (noch?) nicht passenden Unterleibsorgane. Nicht viel einfacher ist die amtliche Vornamens- und Personenstandsänderung, bei der eine psychologische Begutachtung mit sehr intimen Fragen ansteht: „Und wie oft masturbieren Sie im Monat?“. Harmloser ist das Trans-Bettgeflüster und die Besuche von Party oder Fitness-Club. Ein pädagogisch wertvoller Einblick in die Mensch*innen hinter dem Gender-Sternchen, der z.B. die Frage aufwirft, ob die standardmäßig gestellte Frage nach dem Geschlecht seitens Behörden, Arbeitgebern, Firmen usw. noch zeitgemäß ist. Nach unserer „Rasse“ fragt uns schließlich auch keiner mehr (hoffentlich bleibt das auch so). Die Kultur der Digitalität braucht Diversität und Hybridisierung, die zuletzt auch unsere Körper erfasst. Vorsicht und Rücksicht sind dabei die wichtigsten Forderungen.

Peer Jongeling: „Hattest du eigentlich schon die Operation?“, Berlin: Jaja-Verlag 2020, 40 S., 11,00 Euro, https://www.jajaverlag.com/autoren/peer-jongeling/

www.peerjongeling.de

03/23/20

Graphic Novel-Rezension: Gen Z Subjekt Bewusstseinsstrom

Hermine Humboldt

Paulina Stulin: Bei mir zu Hause, Berlin 2020

Der Einband zeigt aus der Perspektive einer Taube das Dach des im Titel genannten Hauses. Des Daches, unter dem die Comicautorin lebt. Sie selbst sitzt mit einer Kaffeetasse im offenen Klappfenster und lässt ihren Geist die heutige Subjektivität erkunden -in den Bildern einer Graphic Novel, die ein Graphic Diary ist.

Der Ziegelstein von Comic-Book liegt 615 Seiten schwer in der Hand wie ein Lexikon. Oder wie der Ulysses von James Joyce. Dessen Erzählweise im Bewusstseinsstrom eifert das grafische Tagebuch von Paulina Stulin teilweise nach. Für eine Künstlerin ist es jedoch ein realistisch-bodenständiges Bewusstsein, das da in Bildern auf die Leserin einströmt. Oder ist das nur wieder eines der uns allen andressierten Klischees, gegen die Paulina tapfer ankämpft? Die verträumte Fantastin mit der Feder der Muse? Welcher Muse? Wohl weniger Thalia (Komödie) als Kalliope (Epos), am ehesten vielleicht doch Melpomene (Tragödie). Es geht weniger um Träume als um gelebte Politik der streitbaren Frau, um Rassismus, Kapitalismus und die sexistische Zurichtung von Frauen, um dümmliche Zeitgenossen, AfD-Propagandisten, auch den Kampf gegen die eigene Bequemlichkeit als relativ privilegierte Bohemienne, einen Kampf mit den Verlockungen fetter Speisen und schlanker Jünglinge. Dabei schont sich die Autorin nicht, es ist keine Chronik verlogener Selfies, die eitel Sonnenschein vorspiegeln sollen.

Augen Blicke Perspektiven

Der Einband zeigt, vielleicht aus der Perspektive einer auf einem Erker hockenden Taube, das Dach des im Titel genannten Hauses, des Hauses, unter dem die Comicautorin lebt. Sie selbst sitzt in schwarzer Jeans und gleichfarbigem Trägerhemd mit der Kaffeetasse im offenen Klappfenster. Weniger verträumt als energisch schaut sie über die mit vier- bis fünfstöckigen Mietshäusern bebaute Straße hinweg in einen hellblauen Himmel, den ein kleiner Möwenschwarm bevölkert. Das dachziegelrote Backcover beantwortet die selbst gestellte Frage: „Wie fühlt es sich an, in den späten Zehnerjahren des 21.Jahrhunderts auf der Welt zu sein? Auf diese Frage gibt es 7 Milliarden Antworten. Eine davon ist dieses Comic.

Lässt frau unter einigem Kraftaufwand die gut 600 Seiten als Daumenkino noch einmal passieren, überwiegen Schwarz und dunkle gedeckte Farben, unterbrochen von hellen Passagen mit viel nackter Haut und einigen rot-orangenen Einsprengseln von Lagerfeuerromantik, Party oder Drogenrausch. Obwohl mich anfangs die Normalität, um nicht zu sagen Banalität der Ereignisse leicht irritierte, hat mich die Story schnell gepackt, ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen. Das erste Bild zeigt das schöne braune Auge der Künstlerin, einen weiblichen Blick, sehr offen, vielleicht staunend, vielleicht nachdenklich. Frau blättert um und sieht, was sie sieht: Eine Taube auf einem Mauervorsprung durch das Dachfenster ihrer Studentinnenbude. Darunter: Ihr Gesicht ab Nase abwärts, eine Zigarette in sexy geschwungenen Lippen wird entzündet. Nächste Seite: Ihr Blick auf den Rauch der zur Zimmerdecke strömt. Ihr Finger schnippt Glut in den Aschenbecher. Dann ihre Augen, diesmal als Augenpaar, mit müdem Blick, desillusioniert.

Nächste Seite: Die Rauchende sitzt auf dem Bett, jetzt trauriger, fast verzweifelter Blick. Sie zieht. Rauch steigt auf. Nächste Seite: Ein Bärtiger, ebenfalls traurig rauchend. Acht schweigende Seiten, wir ahnen dass die beiden Gegenübersitzenden Probleme haben. Er spricht zuerst: „Komisch, ich hätte nicht gedacht, dass es so abgeklärt mit uns zu Ende geht.“ Aha. Wir sind in einer Trennungsszene. Die zieht sich über acht Seiten, mit einigen Sprechblasen voller Vorwürfe, aber es bleibt bei einer Vernunfttrennung. Dann vier Seiten sie allein beim schmollen, Musikhören, putzen, Joga, am Computer. Dann 17 Seiten schwarzer Tönung: Sie trifft ihn abends wieder beim Imbiss, diesmal wird der Streit lauter, endet in gemeinsamem Schweigen. Nächster Morgen: Sonnenaufgang über den Dächern von Darmstadt, sieben Seiten Stadtlandschaft, dann sind wir beim Titelbild des Bandes, etwas verschobener Bildausschnitt, und verstehen nun den entschlossenen Blick der Kaffeetrinkerin: Es muss sich etwas ändern. Aber erst wird Bilanz gezogen: „Dreizehn Jahre wohne ich nun schon hier. Meine Höhle in der Höhe. Mein Elfenbeinturm. Hier ist der sicherste Ort der Welt.“ Von dem aus sich Paulina ins Leben stürzt.

Politik Argumente Schwächen

Die Bilder entfalten Sogwirkung. Sie trifft Freunde, schleppt sich Lover ab, nimmt Drogen, OP nach Fahrradunfall, Urlaub in Spanien mit Exibitionist am Strand und Magic Mushrooms, heiße Diskussionen auf Parties, bei denen sie mit ihren Ansichten aneckt, als „Linksradikale“ angebrüllt wird. Bei solchen Partie-Polit-Diskussionen offenbart Paulina Stulin leider argumentative Schwächen, die wohl zeigen, dass sie sich -obwohl erklärte Linke- sich nicht wirklich aus linken Medien informiert. Was sie vorbringt ist ein durch linke Sichtweise gefilterter Mainstream, der dort gegen einen rechtsgefilterten Mainstream steht: Es entsteht eine inhaltlich flache Debatte adressatlosen Moralisierens, die als Minimalkonsens nur die Gefahr des Neofaschismus kennt. Kritik an westlichen Herrschenden, ob politische oder ökonomische Machteliten, wird dadurch wie in orwellscher Big-Brother-Hirnwäsche unmöglich gemacht. Ein Dialog der Protagonistin mit einem Party-Normalo:

„Pauli, du willst mit doch jetzt nicht erzählen, dass du ernsthaft glaubst, dass wir ganz Syrien nach Deutschland holen können!“ „Was willst du sonst machen, wenn Menschen versuchen, die Grenzen zu passieren? Sie abknallen?“ „Ich will gar nichts!“ (Der Typ schreit mit wutverzerrtem Gesicht.) „Also ja?“ (Paulina guckt erst mit offenem Mund, fängt dann an zu weinen.) „“Na sehr schön, jetzt leg noch ein paar Tränen drauf, um mir reinzudrücken, wie fies und gemein ich bin… Du geilst dich doch grad nur an deiner eigenen Betroffenheit auf, sonst nichts!“ (Andere Partygäste intervenieren, man fühlt sich im Vergnügen unangenehm belästigt.) „Ey, ihr beiden, macht euch mal locker!“ Paulina verlässt die Party, geht einsam und frustriert nach Hause (S.447-58).

Paulina hat leider das Scheinargument „Wir können doch nicht alle ins Land lassen“ nicht als solches erkannt: Aus „wir können nicht alle“ folgt nicht logisch, dass wir die ein oder zwei Millionen, die jetzt noch kommen könnten, draußen lassen müssen. Aus: „Du kannst ja nicht die ganze Luft in diesem Raum einatmen“ folgt schließlich auch nicht, dass du jetzt ersticken musst. Außerdem: Diese zwei Millionen könnten wir relativ leicht aufnehmen und integrieren -eine linke Umverteilungspolitik nebst Reichen- und Erbschaftssteuern und neu geschaffenen Arbeitsplätzen vorausgesetzt. Auch so etwas zu fordern fällt Paulina nicht ein -trotzdem wird sie vom „Party-Normalo“ als „linksradikale“ Ideologin angepöbelt.

Auf die Frage nach den Fluchtursachen besagter Syrer kommt Paulina auch nicht, also auf die von Westmachthabern, -Geheimdiensten, -Konzernen überall angezettelten Kriege, Bürgerkriege und Wirtschaftskriege -wie etwa in Irak, Venezuela, hier: Syrien, wo die ersten Unruhen gegen Assad von Außen gesteuert waren. Es waren nur in unseren Leitmedien ein paar Jugendliche allein, die Assad mit Graffiti ärgerten, verschwiegen werden immer wieder gewaltsame Terrorakte gegen Polizisten, die Gegengewalt provozieren sollten. Warum? Um den Nato-Staaten einen Kriegsgrund zu liefern, um die Abramowitz-Doktrin der USA umzusetzen, eine Hauptaufgabe der CIA. Nachlesbar wäre das in Medienkritik an unserem Mainstream, in der Enthüllung seiner Propaganda (z.B.MH17), in Geschichtsbüchern nicht westregime-treuer Historiker wie Daniele Ganser.

Aber all das wird täglich totgeschwiegen eben vom Medien-Mainstream, den Paulina überwiegend zu konsumieren scheint -also hat sie z.B. auch ökonomisches Unrecht oder  WikiLeaks und Julian Assange  eher nicht auf ihrem Schirm… Bücherlesen gehört laut ihrem Graphic Diary leider eher nicht zu ihren Aktivitäten und linke Politblogs wohl auch eher nicht -die Mainstream-Medien-Hypnose, von der Nobelpreisträger Harold Pinter in seiner Nobelspeech sprach, wirkt eben auch auf viele Menschen, die mit dem Herzen links stehen. Sie werden desinformiert, verwirrt und von wirksamer Politik nachhaltig abgelenkt. Darum sind die Machtverhältnisse bei uns so, wie sie sind.

Da bleibt Paulina mangels Argumenten oft nur der Gefühlsausbruch, aber oft auch die herzerfrischende Aktion: Auf der Straße, es ist wohl gerade Wahlkampfzeit, greift sich Paulina am AfD-Stand alle Broschüren und rennt weg, sie fetzt AfD-Aufkleber von Laternenmasten. Sie brüskiert auch bourgeoise Bürgerinitiativler, die Unterschriften für eine Umgehungsstraße sammeln, reißt ihnen die Liste mit schon gesammelten Namen weg und zerfetzt sie: Umgehungsstraßen produzieren nur neuen Autoverkehr! Baut lieber Verkehrsberuhigungen und fördert den ÖPNV!

Großstädtischer Alltag, mit Arbeit, Leute treffen, Einsamkeit, Fressorgien, gefolgt von Diät und Abspecken, Demos für Solidarität mit Flüchtlingen und gegen die Klimaverbrechen unserer Zeit. Ein ganz normales Leben eben. In einem empfehlenswerten Comic.

Paulina Stulin: Bei mir zu Hause, Berlin: Jaja-Verlag 2020, 615 S., 35,00 Euro