10/1/25

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus?

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung. Brandes & Apsel, Frankfurt 2024, 199 S., 29,90 EUR

Rezension von Thomas Barth

Investigativ-Journalismus ist bedeutsam für das Selbstbild des Journalismus und der westlichen Gesellschaften, als Kampf um Wahrheit im Namen der Demokratie. Nur wenn das Wahlvolk auch über zweifelhafte Machenschaften der eigenen Regierungen und Mächtigen informiert ist, kann man von wirklich demokratischen Wahlen sprechen. Die Freiheit der Medien und damit der Wahlen wird regelmäßig in nicht-westlichen, autokratischen Ländern angezweifelt, von denen sich der Westen gerne abgrenzt. Umso schwerer wiegt Kritik an mangelhafter Freiheit unserer westlichen Medien, zumal wenn sie von renommierten Insidern kommt wie dem berühmten ARD-Mann Wolfgang Landgraeber. Er dokumentiert Manipulation, Überwachung und Verfolgung, denen unsere Medien seitens der Mächtigen ausgesetzt sind und schrieb selbst Mediengeschichte als Mitautor des Buches „Das RAF-Phantom. Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen brauchen“. Landgraeber beschreibt im vorliegenden Buch, wie er (und viele andere) während der Recherchen zu bzw. der Publikation von „Das RAF-Phantom“ Ziel von Bespitzelung, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen und Strafverfolgung wurden. Er schreckte bei Recherchen nie vor Spuren zurück, die in Richtung von Geheimdiensten auch des eigenen Landes führten, was viele Vertreter seiner Zunft zu sofortigem Verstummen bzw. zur Flucht in vernebelnde Narrative von angeblichen „Verschwörungstheorien“ geführt hätte. An zahlreichen weiteren, wenn auch meist weniger bedeutenden Enthüllungen werden staatliche Eingriffe in die Pressefreiheit dokumentiert, von denen Medienkonsumenten meist wenig oder gar nichts erfahren haben dürften.

Autor, Gastbeiträger und Hintergrund

Wolfgang Landgraeber studierte Sozialwissenschaften, Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik, war vielfach preisgekrönter Redakteur bei den seinerzeit bedeutsamen ARD-Polit-Magazinen „Monitor“ (1976-88, Grimme-Preis 1985) und „Panorama“ (1988-93), oft mit Rüstungs-, Militär- und Geheimdienstkritik (etwa „Die Zerstörung der RAF-Legende“, ARD 1992), in seinem mit Ekkehard Sieker und Gerhard Wisnewski verfassten Buch „Das RAF-Phantom. Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen brauchen“ wurde die offizielle Geschichte der Terrorgruppe „Rote Armee Fraktion“ in Frage gestellt: Ab der sog. „3.Generation der RAF“ (80er Jahre) sei sie als unterwandert bzw. von deutschen Behörden und verbündeten Geheimdiensten (CIA) instrumentalisiert zu betrachten; ihre Terroranschläge seien im Zusammenhang mit anderen infiltrierten Terrorgruppen und dem geheimen „Stay-Behind-Netzwerk“ der Nato zu sehen, aufgeflogen 1990 als „Gladio“-Skandal. Das Buch und das daran anschließende Nachfolgewerk „Operation RAF“ wurden Bestseller und sogar als Polit-Thriller „Das RAF-Phantom“ verfilmt –was leider zur Mystifizierung der Thematik beitrug. Viele Schlussfolgerungen und Verdachtsmomente erwiesen sich jedoch im weiteren Verlauf der Aufklärung von „Gladio“ als stichhaltig.Später beförderte die ARD Landgraeber zum WDR-Leiter für Kultur- und Naturdokumentationen; ferner war Landgraeber von 1982-2022 Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen. Seine Gastbeiträger sind die ebenfalls investigativ-sozialkritischen Dokumentarfilmer Peter Heller und Gert Monheim ( Ex-WDR-Redakteur).

Inhalt

Das Buch gliedert sich in Vorwort und 15 Kapitel in historischer Reihenfolge, die zumeist der Biografie Landgraebers folgen. Im Vorwort relativiert Landgraeber aktuelle Aufregungen um rechtsradikale Attacken auf Journalisten, die etwa von Demonstrationen gegen Migration berichten und dabei beleidigt, angespuckt und geschlagen wurden. Dies sei „alles schon mal dagewesen“, 1977 sei etwa ein WDR-Team mit einem angespitzten Baumstamm von Rechtsextremen angegriffen worden (S.7). In Demokratien müsse freier, unabhängiger Journalismus immer gegen Widerstand erkämpft werden. Landgraeber beginnt in Kapitel 1 historisch mit dem Kampf um eine Neuordnung von Presse und Rundfunk nach Nazidiktatur und gleichgeschalteten Medien: 1947 kam Augsteins „Spiegel“, 1950 die ARD. 1960 versuchte der damals bereits elf Jahre regierende CDU-Bundeskanzler Adenauer ein Privatfernsehen zu installieren, mit einem Unterhaltungschef namens Helmut Schreiber, der Hitler und Goebbels nahegestanden haben soll (S.13). SPD-geführte Bundesländer verhinderten dies zwar vor dem Bundesverfassungsgericht, aber Adenauer installierte stattdessen das CDU-nahe ZDF.

Kapitel 2 erörtert die (parteipolitische) Ausgewogenheit der Polit-Magazine: „Report München“ und „ZDF-Magazin“ auf CDU/CSU-Linie, „Kennzeichen D“ und „Monitor“ liberal, „Panorama“ SPD-nah -so war die politische Geometrie des Fernsehens austariert als Landgraeber 1976 bei „Monitor“ startete; dass manche Kollegen bei ARD und ZDF die Karriere ihrem roten oder schwarzen Parteibuch verdankten, war bekannt (S.146). Man kritisierte Bayerns CSU-Chef und Verteidigungsminister Franz Josef Strauss und seine Starfighter-Affäre (116 Piloten starben bei Abstürzen des mangelhaften Kampfjets der Bundeswehr): Eine „Frühform des Investigativjournalismus im Deutschen Fernsehen“ (S.23). Landgraeber erlebte dort einen Fall von Zensur, als „Monitor“ vom Chefredakteur Theo M.Loch (CDU) genötigt wurde, eine Atomkritikerin aus einem TV-Bericht über die Brokdorf-Demonstrationen zu entfernen; Loch wurde danach jedoch selbst schnell aus dem Amt geworfen, weil jemand recherchiert hatte, dass er bei Einstellung seine Mitgliedschaft in Hitlers Waffen-SS verschwiegen hatte (S.25).

Kapitel 3 „Selbst erlebte Beispiele staatlicher Eingriffe in die Medienfreiheit“ beschreibt drastisch, wie Landgraeber selbst Ziel von Strafverfolgung wurde, eine frühmorgendliche Razzia nebst Beschlagnahme von Recherche-Material erlebte, Hausdurchsuchungen auch bei seinen Co-Autoren Ekkehart Sieker und Gerhard Wisnewski sowie beim WDR, der Vorwurf: „Beihilfe zum Geheimnisverrat“. Dem Autorentrio gelang u.a. den Kronzeugen der Anklage gegen die RAF im Fall des Mordes am Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen zu interviewen; Siegfried Nonne , ein depressiver Drogenabhängiger, dementierte vor ihrer Kamera, je Mitglied oder Helfer der RAF gewesen zu sein, vielmehr hätten Agenten des hessischen Verfassungsschutzes ihn durch eine „verhüllte Morddrohung“ zu dem falschen Geständnis genötigt (S.33). Die Staatsanwaltschaft verteidigte ihre Ermittlungen gegen die Autoren vor der empörten Presse damit, Deckung durch die hessischen Innen- und Justizminister zu haben. Die Strafverfolgung wurde eingestellt. „Auch gegen den angeblichen Kronzeugen Siegfried Nonne wurde wegen Beihilfe zum Mord nicht weiter ermittelt. Er ist inzwischen verstorben.“ (S.34)

Auch Kapitel 4 dokumentiert, wie Mächtige in Staat, Politik und Rundfumkanstalten die Medienfreiheit behindern, im Kontext der Barschel –Affäre wurde etwa in die Wohnung Landgraebers eingebrochen, seine Akten durchwühlt (S.38); Parteipolitiker drangsalierten und zensierten kritische Sendungen. Kapitel 5 „Filmemacher unter dem Druck von Großkonzernen“ bringt die beiden Gastbeiträge: Peter Heller kritisiert den Fast-Food-Konzern McDonald’s der gegen eine Kampagne von Greenpeace klagte, die seinen Film „Dschungelburger“ verwendet hatte; Gert Monheim berichtete unter Attacken seitens CDU-Politikern über gefährliche Giftmülldeponien und Chemikalien der Unternehmen Bayer und BASF.

Kapitel 6 „Journalisten-Blocker“ erwähnt „die Enthüllungsplattform Wikileaks“ (nur ein einziges Mal im ganzen Buch, obgleich sie im investigativen Mediensektor eine immense Rolle spielt) im Fall der Schweizer Großbank Julius Bär; deren Whistleblower Rudolf Elmer konnte bei deutschsprachigen Medien nirgends Gehör finden mit seiner Enthüllung von Geldwäsche auf den Caymans, wurde von seinem Arbeitgeber und der Polizei verfolgt, saß unschuldig 220 Tage in U-Haft (S.85). Erst Wikileaks brachte seine Entlastung durch Publikation der geleakten Bank-Dokumente von Elmer; weitere Enthüllungen folgten in den „Suisse Secrets“-Leaks diverser Medien (nur nicht denen der Schweiz). Bank-, Firmen- und Militärgeheimnisse seien wichtige Hindernisse für freien Journalismus.

In den Kapitel 7-9 berichtet Landgraeber von eigenen Enthüllungserfolgen gegen Rüstungsfirmen, Biowaffen, Argentiniens Militärjunta (getarnt als Militärhistoriker Leutnant Landgraeber), um in Kapitel 10 zum „Abhörfall Günter Wallraff“ zu kommen. Herausragender Akteur seiner Zunft ist der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff, nachdem man sogar vom „Wallraffen“ spricht und damit besonders gewagtes Recherchieren meint: Undercover Einsätze, maskiert, mit falscher Biografie. Wallraff entlarvte deutschen Alltagsrassismus in der Rolle eines türkischen Gastarbeiters oder Schwarzafrikaners, deckte skrupellose Methoden der „Bild“-Zeitung auf –und wurde Ziel auch von illegalen Lauschangriffen. Ob Geheimdienste der „Bild“ gegen Wallraff halfen, bleibt unaufgeklärt; Wallraffs Kronzeuge für das Abhören, der „Bild“-Redakteur Heinz Willmann wurde vom Springer-Verlag gefeuert weil er auspackte, danach noch mehrfach von Unbekannten zusammengeschlagen und schließlich 1980 tot in seiner Wohnung aufgefunden. „’Natürliche Todesursache‘ stand im Obduktionsbericht. Wallraff hielt Willmanns Tod dagegen für Mord.“ (S.141) Kapitel 11 widmet sich Journalisten, „die sich kaufen lassen oder mit Geheimdiensten kungeln“, allen voran der „Quick“- und „Focus“-Reporter Wilhelm Dietl, der als Experte für Terrorismus und Geheimdienste auftrat, aber zugab, dass er lange auch im Sold des BND stand (S.149) und dessen dubiose Rolle schon im Buch „Das RAF-Phantom“ kritisiert wurde. BND-Mann Dietl kommentierte im Fernsehen auch Terrorakte der RAF, hinter denen Landgraeber et al. den BND vermuteten. Jahrelang bespitzelt wurde dagegen der unbestechliche Geheimdienst-Experte Erich Schmidt-Eenboom, was Landgraeber durch eigene Erfahrungen mit „Knacklauten“ im Telefon im Rahmen seiner eigenen „RAF-Phantom“-Recherchen unterstreicht (S.150).

Kapitel 12 „Wenn Propagandalügen große Kriege auslösen“ arbeitet sich durch die Historie von Bismarck und Wilhelm Zwo zu Hitler und Vietnamkrieg; dann folgen die „Brutkastenlüge“ vom Ersten Golfkrieg und das „Märchen von den irakischen Massenvernichtungswaffen“ vom Zweiten Golfkrieg, um zu Putins (von Jelzin begonnenen) Tschetschenienkrieg zu kommen, dessen Wiederaufnahme durch vier tschetschenische Bombenanschläge mit Hunderten Opfern gerechtfertigt wurde –russische Geheimdienste, Militärs und Rüstungsfirmen kämen aber als Hintermänner in Betracht; danach geht es um die „Lüge von den Faschisten in der Ukraine, die Russland zum Verteidigungskrieg zwingen“ (S.176), ob diese Faschisten nicht existieren oder sie lediglich Putin nicht zum Krieg gezwungen haben, bleibt bei Landgraeber unklar; Soziale Medien würden Propaganda verbreiten, aber etwa die investigative Plattform „Bellingcat“ habe auch russische Fakenews bekämpft. Landgraeber holt dann weiter aus, um die Geschichte der „false flag“-Operationen zu erörtern; 1998 seien Dokumente der CIA und des US-Militärs ans Licht gekommen, die den Plan eines General Lemnitzer enthüllten, 1962 in der Kuba-Krise Terrorangriffe auf das eigene Land auszuführen; durch politische Morde, die den Kommunisten angehängt werden sollten, wollte man die US-Öffentlichkeit kriegsbereit gegen Kuba bomben, doch Präsident Kennedy lehnte dies ab (S.179ff.). Kapitel 13-15 beschreiben die „Medienfreiheit in Gefahr“ durch zunehmende Überwachung (unter knappem Verweis auf die Leaks von Edward Snowden sowie die „erkennungsdienstliche Behandlung bei uns Autoren des Buches Das RAF-Phantom“, S.185) und Gewalt, etwa Fußtritte in Berlin und Sachsen oder tödlichen Beschuss durch israelisches Militär im Libanon (S.190); abhelfen könnten heute jedoch auch Recherche-Netzwerke wie GN-STAT (Global Net Stop the Arms Trade) oder ICIJ (International Consortium of Investigatve Journalists) die gegen Waffenhandel und sonstige Wirtschafts- und Steuerkriminalität ermitteln (S.195).

Diskussion

Paradebeispiel für unerschrockenen Journalismus ist (nicht nur) für Landgraeber der berühmte Reporter Günter Wallraff . Der kettete sich z.B. 1974 todesmutig als „Fabrikarbeiter Hans Wallraff“ in Athen an und protestierte gegen die dortige Militär-Diktatur (vgl. Spoo/Wallraff S.67), und ist auch hier ein kämpferisches Vorbild. Auch Landgraeber beklagt sich zu Recht und wohlbegründet über zunehmende Gängelung der Medien, doch klaffen in seiner Darstellung doch auch einige Lücken. Sehr engagiert kritisiert Landgraeber verdeckte Krieg und Putsche, für die die CIA verantwortlich zu machen ist, in Guatemala, Iran, Chile. „Insgesamt waren es 211 Umstürze und verdeckte Krieg allein in Lateinamerika.“ (S.181) Doch scheint Landgraeber nie von der „Jakarta-Mehode“ gehört zu haben, nach der dieser Staatsterrorismus seit 1965 weltweit organisiert wird (vgl. Vincent Bevins 2023). Auch was die in diesem strategischen Zusammenhang in Europa aktiven „Gladio“-Strukturen angeht, ist Landgraeber wohl nicht mehr auf dem neuesten Stand, was seine Bücher und Dokumentarfilme zum „RAF-Phantom“ noch in Anspruch nehmen konnten (vgl. Ganser).

Was die juristische Seite des Journalismus angeht, lobt Landgraeber zwar die Entschärfung des für Enthüllungs-Reporter gefährlichen Paragrafen 353b StGB (Dienstgeheimnis/Beihilfe zum Geheimnisverrat) anno 2010 (S.35), übersieht jedoch die Verschärfung von 130 StGB (Volksverhetzung), die –freilich öffentlich kaum beachtet- am 20.10.2022 den Bundestag passierte: Sie stellt neben dem bisherigen Tatbestand des Anstachelns von Hass und Pogromen im Inland nunmehr auch „das öffentliche Billigen, Leugnen und gröbliche Verharmlosen“ von Völkermord und Kriegsverbrechen unter Strafe; laut dem Kritiker Stefan Luft zielt das Gesetz auf „das Leugnen von Verbrechen im Ukraine-Krieg“ worin der Strafrechtler Gerhard Strate die Gefahr einer gefährlich schwammigen „Gesinnungsjustiz“ sieht, die womöglich Gegenstimmen zu Nato-Narrativen über Russland disziplinieren soll -und damit einer dringend nötigen Entspannungspolitik entgegen steht (Luft S.312).

Ex-Gesundheitsminister Spahn bei zweifelhaften Geschäften anzuprangern mag politisch relevant sein (S.155), aber dafür übersieht Landgraeber das zweifelhafte mediale Agieren des damaligen CDU-Steuerexperten und heutigen Kanzlers Friedrich Merz im Sinne der Finanzkonzerne in der Finanzkrise 2008 (vgl. Barth 2009). Die wachsende Dominanz privater Medien als Blocker für Aufklärung und Medienfreiheit kommt ebenfalls zu kurz (vgl. Spoo 2006). Auch ein hochmotivierter Journalist kann zwar nicht alles wissen, aber einige Lücken Landgraebers verblüffen doch: Darf man heute noch über die abnehmende Glaubwürdigkeit unserer Qualitätsmedien räsonieren, ohne ein einziges Mal den Relotius-Skandal zu erwähnen? Kein ARD-Polit-Magazin oder Investigativ-Recherche-Netzwerk kam den massenhaften, vielfach mit Journalismus-Preisen überhäuften Lügen auf die Schliche, sondern der von Relotius unkollegial behandelte Ko-Autor einer Reportage, Juan Moreno (vgl. Moreno 2019). Oder den ARD-Framing-Skandal um die Manipulations-Expertin Elisabeth Wehling, die für ein fünfstelliges Honorar der ARD erklärte, wie sie ihre Zuschauer noch effektiver mit „Narrativen“ einwickeln kann? (Anstatt sie auf Basis sauberer Recherche mit ausgewogener Information zu versorgen.) Und wenn man zwar anhand des Geheimdienst-Experten Erich Schmidt-Eenboom die Verwicklung von Journalisten in Geheimdienste kritisiert, darf man dann aber dessen einschlägiges Buch verschweigen: „Geheimdienst, Politik und Medien. Meinungsmache UNDERCOVER“ (2004), wo über diese für Landgraebers Thema so fundamental wichtige Problematik doch umfassend aufgeklärt (!) wird?

Wenn Landgraeber die Digitalisierung mit zunehmender Überwachung und Drangsalierung von Journalisten verbunden sieht (S.157), liegt er richtig, hätte aber genauer über die Verbindung des von ihm herbei zitierten Edward Snowden (S.183) mit Wikileaks recherchieren sollen; dessen Team hatte u.a. Snowdens Flucht ins russische Asyl organisiert. Insbesondere entgeht Landgraeber überhaupt die für Aufklärungs-Journalismus enorme Bedeutung von Wikileaks (WL), wenn er einzig die Julius-Bär-Enthüllung nennt; die wurden 2008 hierzulande aber kaum wahrgenommen. Wichtiger wären ohnehin WL-Enthüllungen zum Toll-Collect-Skandal und der Kaupting Bank gewesen, die während der Finanzkrise 2009 in Reykjavik eine Regierung stürzten. Erst am 5.April 2010 kam Wikileaks bekanntlich erstmals in die ARD-„Tagesschau“, mit kurzen Auszügen aus dem Video „Collateral Murder“, das WL-Gründer Julian Assange weltberühmt machte. Es zeigt den kaltblütigen Mord an Journalisten in Bagdad durch Beschuss aus einem US-Kampfhubschrauber und den hinterhältigen Angriff auf eine Familie mit kleinen Kindern, die den Opfern zu Hilfe kommen wollten: Bilder, die die Welt ähnlich erschütterten wie in den 1970ern das kleine von Napalm verbrannte Mädchen als Symbol der Brutalität des Vietnamkriegs.

Landgraeber aber erwähnt „Collateral Murder“ nicht, obwohl diese historische Sternstunde des Enthüllungs-Journalismus durchaus in sein Kapitel über Tötungen von Reportern gepasst hätte. Weitere Leaks aus Militärdaten zu Kriegsverbrechen v.a. der USA in Irak und Afghanistan folgten bei WL (eigentlich in bester Landgraeber-Manier). Sie wurden begleitet von einer politischen Hetzjagd auf Assange, basierend auf falschen Beschuldigungen und der Konstruktion eines „Vergewaltigungsverdachts“ –eine Geheimdienst-Justizintrige, wie später zwar herauskam, aber durch fadenscheinige Nicht-Berichterstattung von unseren Medien bis heute verschleiert wird. All dies hätte einem Buch über Investivjournalismus sehr gut angestanden, aber Landgraeber unterliegt hier leider der Verdunkelungstaktik unserer Medien und übergeht eine Richtigstellung des jahrelangen medialen Rufmordes an seinem Enthüller-Kollegen Julian Assange; vgl. Nils Melzer (Jura-Professor und langjähriger UNO-Beauftragter für Folter), der 2021 eine weitgehend ahnungslose deutsche Öffentlichkeit über diese besonders heimtückische Intrige gegen den vielleicht bislang erfolgreichsten Enthüllungs-Journalisten umfassend aufklären (!) wollte. Melzer wurde aber medial derart totgeschwiegen bzw. angefeindet, dass seine akribischen Recherchen im „Fall Assange“ bis heute bislang nahezu unbekannt blieben.

Dies mag einerseits auf den Einfluss von Geheimdiensten auf unsere Medien, wie z.B. von Schmidt-Eenboom beschrieben zurückgehen; andererseits verdunkeln unsere Medien dabei auch ihre eigene Mitverantwortung. Denn der UNO-Folter-Experte Melzer begründet ausführlich, warum die von unseren Medien weitgehend kritiklos (Ausnahme vgl. etwa Rueger) transportierte Rufmord-Kampagne gegen Assange als Teil der an ihm verübten seelischen Folter zu bewerten ist (vgl. Melzer S.90ff.). Damit wäre auch jede ARD-Meldung zu Assange, die seinen Namen mit dem geheimdienstlich konstruierten „Vergewaltigungsverdacht“ verbindet, nicht nur Teil der politischen Verfolgung eines Journalistenkollegen, sondern sogar Teil der an ihm begangenen Folter (verständlich, dass man diese Kritik lieber totschweigen möchte). Ziel war aber nicht nur die psychische Zerstörung von Julian Assange, sondern auch die mediale Zerstörung von Wikileaks und die Neutralisierung seiner Enthüllungen (von denen viele der Öffentlichkeit auch unbekannt blieben): Es geht also bei Melzer um genau die Art von geheimdienstlicher Manipulation der Öffentlichkeit, die Landgraeber in seinem vorliegenden Buch angeprangert hat.

Fazit

Landgraeber sieht den kritischen Journalismus als unverzichtbare Säule der Demokratie und plädiert für mehr Mut, Unabhängigkeit und Aufklärung. Sein Buch dokumentiert die Einmischung staatlicher, politischer und wirtschaftlicher Akteure, um kritischen Journalismus zu verhindern -leider nur unter bestenfalls nebelhafter Andeutung des diesbezüglich bedeutsamsten Falles: Julian Assange und Wikileaks. Es richtet sich an Medienschaffende und alle, die sich für die Zukunft der demokratischen Meinungsbildung interessieren.

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung, Brandes & Apsel (Frankfurt) 2024. 199 Seiten. ISBN 978-3-95558-376-7. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

19.403 Zeichen, vgl. Landgraeber-Rezension von Arnold Schmieder, socialnet 20.12.2024 (Umfang 20.023 Zeichen), die nahezu alle kritischen Enthüllungen von Landgraeber ausspart, sich der Bedeutung von „Das RAF-Phantom“ scheinbar nicht bewusst ist und sich stattdessen über den Begriff „Aufklärung“ und der Philosophie Immanuel Kants verbreitet (nichts gegen Kant, aber hier wirkt das wie entpolitisierende Ablenkung vom regierungskritischen Kern der Arbeit Landgraebers).

Quellen

Barth, Thomas: Finanzmafia, Lobby und ihr medialer Nebelschirm, in: Elmar Altvater: Privatisierung und Korruption. Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S.75-81.

Bevins, Vincent: Die Jakarta Methode. Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt, Köln 2023.

Ganser, Daniele: NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, Zürich 2018 (14.Aufl., Original 2005).

Landgraeber, Wolfgang, Ekkehard Sieker, Gerhard Wisnewski: Das RAF-Phantom. Neue Ermittlungen in Sachen Terror, München 1992.

Landgraeber, Wolfgang: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung, Frankfurt/M. 2024.

Luft, Stefan: Deutschland und der Krieg, in: Sandra Kostner und Stefan Luft: Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, Frankfurt/M. 2023, S.309-329.

Melzer, Nils: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung, München 2021.

Moreno, Juan: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus, Berlin 2019.

Rueger, Gerd R.: Julian Assange – Die Zerstörung von Wikileaks, Hamburg 2011.

Schmidt-Eenboom, Erich: Geheimdienst, Politik und Medien. Meinungsmache UNDERCOVER, Berlin 2004.

Spoo, Eckart, Günter Wallraff: Unser Faschismus nebenan. Erfahrungen bei Nato-Partnern, Reinbek 1982.

Spoo, Eckart: Pressekonzentration und Demokratie, in: Thomas Barth (Hg.), Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S.23-48.

12/6/24

Michel Foucault: Philosophie Diskurs Netz

Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie, Suhrkamp, Berlin 2024, 349 S.

Rezension von Thomas Barth

Der Netzphilosoph Michel Foucault begann nicht erst mit seiner Theorie der Machtnetze in Netzstrukturen zu denken, wie das vorliegende Buch zeigt: Schon seine Diskursanalyse und Archäologie zielten auf das „Netz des philosophischen Diskurses“ als Teil eines Diskursuniversums. Denn Kultur sei ein Netz von Beziehungen, das Sprechakte und Diskurse, aber auch Objekte, Materialien und Institutionen zu einem Diskurs-Archiv verbinde. Der „fröhliche Positivist“ nahm lockere 50 Jahre den heute postulierten „material turn“ der Geisteswissenschaften vorweg. Alphabete, Bibliotheken, Buchdruck schufen demnach neue Netzwerke der Zirkulation der Diskurse, die sich, wie der 1966 von Foucault verfasste Text bereits andeutete, in Daten-, Computer- und Kommunikationsnetzen fortsetzen würden.

Ausgangspunkt ist eine nietzscheanische Philosophie der Zeitdiagnostik, und viele sagen ja auch, unsere Gesellschaft, unsere Kultur, unsere Zeit seien krank. Doch welchen Arzt können wir für sie rufen? Foucault erklärt uns: Den Philosophen. Denn schon seit Beginn der griechischen Philosophie laute deren Daseinsberechtigung „interpretieren und heilen“ (S.14). Dies überrascht, gilt Foucault doch als harscher Kritiker der Humanwissenschaften und Heilberufe, insbesondere der Kriminologie, Psychologie und Psychiatrie. In jungen Jahren selbst psychiatrisiert, entwickelte er eine Machttheorie, die neben Justiz und Strafvollzug besonders vordergründig wohlmeinende Zugriffe der Gesellschaft auf das Subjekt kritisiert. Dafür erarbeitete Foucault einen ganz eigenen methodisch-theoretischen Zugang über die (post-) strukturalistische Analyse gesellschaftlicher und kultureller Diskurse. Seine Konzepte sind heute ein fester Bestandteil unterschiedlichster Disziplinen und Ansätze in den Geisteswissenschaften, etwa Queer- und Genderstudies, Pädagogik, Pflege-, Sozial- und Medienwissenschaften, Disability Studies (Kammler/Parr 2007).

Autor und Hintergrund

Michel Foucault (1926-1984) lehrte ab 1970 am renommierten College de France in Paris, war sozialpolitisch engagiert und gilt heute zunehmend als einer der wichtigsten Denker des 20.Jahrhunderts. In Deutschland jahrzehntelang nur schleppend rezipiert, wird er heute in den meisten Geisteswissenschaften immer mehr wahrgenommen. Seine (Ideen-) Geschichten des Wahnsinns, der Medizin, des Gefängnisses sowie sein vierbändiges Werk „Sexualität und Wahrheit“ sind Meilensteine der Sozialphilosophie. Foucault lehnte jedoch disziplinäre Zuordnungen ebenso ab, wie Bekenntnisse zu Denkschulen oder –richtungen wie dem Poststrukturalismus oder der Postmoderne. Das vorliegende, schon 1966 verfasste Buch wurde von Foucault nie publiziert, posthume Publikationen hatte er testamentarisch untersagt. Seine Erben und Nachlassverwalter setzen sich seit Jahren darüber hinweg und im Suhrkampverlag erschienen diverse posthume Werke, etwa Sammlungen von transkribierten Tonbandmitschnitten seiner Vorlesungen. Das vorliegende Buchmanuskript fällt zwischen Foucaults bahnbrechendes Buch „Die Ordnung der Dinge“, das ihn international auch als Widersacher Sartres berühmt machte, und dessen Fortsetzung „Die Archäologie des Wissens“.

Aufbau und Inhalt

Ein Vorwort von Francois Ewald, editorische Anmerkungen, 15 Kapitel mit je eigenen Fuß- und Endnoten bilden den Kern des Textes. Ein Anhang mit Notizen Foucaults, die dem Text verbunden erschienen, und einer einordnenden und zusammenfassenden „Situierung“ durch Orazio Irrera und Daniele Lorenzini lassen den Leser an der editorischen Arbeit des anfangs elfköpfigen Redaktionskomitees (Daniel Defert verstarb während des Projekts) teilnehmen. Fußnoten dokumentieren Probleme mit dem Text, etwa die Ergänzung fehlender oder unleserlicher Wörter, sowie seltener falscher Angaben Foucaults, auch von ihm durchgestrichene Passagen werden hier dokumentiert und zeigen Varianten des Textes, die der Autor erwogen hatte. Die teilweise umfangreichen Endnoten der Kapitel liefern hilfreiche Anmerkungen der Herausgeber und erklären biographische, zeitgeschichtliche, theoretische Hintergründe.

1. Die Diagnose führt die Philosophie als diagnostisches Unternehmen ein, nach Nietzsche solle sie „Arzt der Cultur“ sein (S.17), könne aber nicht heilen, sondern nur „sagen, was ist“ (ebd.).

2. Jetzt erklärt das „Heute“ des Philosophen, der in der Triade des „Ich-Hier-Jetzt“ den Alltagsdiskurs überschreitet und sich von Literatur und Wissenschaft abgrenzt. Endnote 2 ordnet Foucaults Ansatz theoretisch zwischen Philosophie und Philologie ein (Roman Jakobson, de Saussure, Levi-Strauss, Althusser, Lacan, Husserl, Sartre, Merleau-Ponti, Todorov).

3. Der philosophische Diskurs und der wissenschaftliche Diskurs grenzt Philosophie von Wissenschaft ab, deren Erkenntnisse nicht so eng an das sprechende Subjekt gebunden seien. Für den Wahrheitsgehalt der Wissenschaft sei nur wichtig was gesagt würde, aber nicht wo, wann und von wem; Philosophie bedürfe des „Ich-Hier-Jetzt“, weshalb „von Descart bis Kant und von Kant bis Husserl das gleiche Projekt von Neuem begonnen“ (S.35) und „die Frage des Subjekts so hartnäckig“ (S.40) gestellt wurde.

4. Fiktion und Philosophie grenzt Philosophie von Literatur bzw. Fiktion ab, deren Werke zwar auch an das sprechende (zuweilen fiktive) Subjekt gebunden seien, aber nicht dazu bestimmt, wahr zu sein (S.52); Philosophie ziele vordringlich auf Wahrheit, Vernunft und insbesondere auf das Wesen des Subjekts (S.60).

5. Die Philosophie und der Alltag grenzt Philosophie vom Alltagsdiskurs ab, da sie eine kritische Funktion ausübe, alles „was stumm ist“ in eine Rede übertrage, zur „Kritik allen Wissens“ werde, zum „Diskurs aller anderen Diskurse“ (S.77).

6. Die Geburt des philosophischen Diskurses vertieft die These der Singularität des philosophischen Diskurses seit Descartes, auch anhand der neuen Diskursmodi seit Cervantes und Galilei: Literatur, Wissenschaft und Gott selbst hätten „anders zu sprechen“ begonnen (S.96), der philosophische Diskurs hätte den Anspruch erhoben, „durch die Wahrheit des Jetzt, das ihn trägt, zur Wahrheit zu gelangen“ (S.100).

7. Die allgemeine Anordnung des philosophischen Diskurses entwickelt dessen vier Grundaufgaben und Funktionen (Begründung, Interpretation, Kritik, Kommentar) und entlang dieser Hauptlinien das „gesamte Netz des philosophischen Diskurses“ (S.105); die alten metaphysischen Fragen nach Gott, Welt und Seele werden insofern neu beantwortet, als Gott nun optional würde, die zuvor beseelte Welt nur noch leerer Raum nebst relativer Zeit sei und von der unsterblichen Seele ein geistiges Prinzip, „ein reines Subjekt“ mit Innerlichkeit und Körper verbleibe (S.115), was man aber „nicht mit dem Ende der Metaphysik verwechseln“ dürfe (S.116); Kant habe Gott, Seele und Welt als Illusionen betrachtet und der Metaphysik eine neue Ontologie entgegengesetzt.

8. Die zwei Modelle des Diskurses zeigt zwei philosophische Serien von Wahlmöglichkeiten auf: 1. Enthüllung, Ursprung, Schein, Enzyklopädie sowie 2. Manifestation, Bedeutung, Unbewusstes, Gedächtnis; die jeweiligen Entscheidungen dekliniert Foucault anhand seiner vier Diskursfunktionen: So kann etwa die Funktion der Begründung des Diskurses durch eine Theorie der Enthüllung oder der Manifestation ausgeübt werden; Modell Eins begründet sich als Enthüllung der Wahrheit, interpretiert dies als Entdeckung ihres Ursprungs, kritisiert mittels einer Theorie des überwundenen Scheins und kommentiert den Logos der Welt in enzyklopädischer Form; Modell Zwei begründet sich als Manifestation der Wahrheit in den Phänomenen des Hier und Jetzt des Subjekts, das nicht nach deren Ursprung, sondern nach ihrer Bedeutung fragt und die Kritikfunktion gegen sein eigenes Unbewusstes richtet; kommentiert wird hier nicht mehr als Enzyklopädie der Wahrheit, sondern als Gedächtnis, das die „Versöhnung der Erfahrung mit dem, was in ihr fremd ist“ festhält, also das, was Foucault als „Ent-Entfremdung“ bezeichnet (S.139f.). Modell Eins steht für Philosophie, die sich auf dem Weg linearen Fortschritts zu universalen Wahrheiten und aufgeklärten Werten glaubt; Modell Zwei eröffnet in den „Beziehungen des Subjekts und der Geschichte ein unendliches Labyrinth“ und eine „unaufhörliche Unruhe“ (S.141f.).

9. Philosophie, Metaphysik, Ontologie erörtert die beiden Modelle in ihren Beziehungen zu Ontologie und Metaphysik; 1. die vorkantische Philosophie der Enthüllung als Metaphysik der Repräsentation und Ontologie innerhalb des Diskurses; 2. die nachkantische Philosophie der Manifestation als Anthropologie und Ontologie außerhalb des Diskurses; im 1. Modell enthüllt sich dem Subjekt des Philosophen die Existenz der Seele, deren Analyse „offenbart, dass Gott existiert, …der die Ordnung der Welt garantiert“ (S.155); im 2.Modell kann das Subjekt „nur als phänomenale Manifestation erscheinen… weit davon entfernt, auf eine tiefere Existenz zu verweisen“ entdeckt es nicht die Ordnung der Natur, sondern nur die Bedeutungen, die der Mensch ihr zuschreibt, entdeckt es „nur das Sein des Menschen, das über all die Dinge der Welt und die Ereignisse der Geschichte zum Ausdruck kommt“; dieser „anthropologische Zirkel“ führe zu zwei gegensätzlichen Philosophien: Der Positivismus sucht im biologischen, sozialen und psychologischen Sein des Menschen Aufschluss „über das Sein der Phänomene“; die anderen Philosophen wollen „das Sein der Endlichkeit von all den Bedingungen, die ihm auf der Ebene der Phänomene zugewiesen werden können, lösen“, um ein grundlegenderes Fundament zu finden. Diese Philosophen sehen sich selbst in ihrem Sein „zu einem Phänomen der Geschichte geworden“ (S.156f), das Sein der Geschichte wird sichtbar in philosophischen Diskursen, die sich selbst „unaufhörlich die Frage nach ihrem Verhältnis zur Geschichte“ stellen; erst die kantische Kritik brachte die „systematische Verschiebung der Elemente“ vom ersten zum zweiten Modell (S.158). Nun wurde deutlich, warum Foucault in seinem 7.Kapitel Kants Werk als „den Gravitationspunkt der gesamten abendländischen Philosophie“ sah (S.116).

Kant, dem –was Foucault nicht erwähnt– auch bedeutende Einsichten der Astrophysik zuzurechnen sind, etwa dass sich das Sonnensystem überhaupt entwickelt haben könnte, dass dies Milliarden Jahre gedauert haben könnte (Kants zeitgenössische Physiker bezifferten das Alter der Erde eher mit Zehntausenden von Jahren) sowie dass dies in einer Scheibenform geschah, standen die Erkenntnisfortschritte der Physik vor Augen, „während die Metaphysik endlos weiter dieselben Debatten führte“ (S.159); folgerichtig strebte Kant nach besserer Legitimation der Philosophie durch Suche nach Methoden und Formen der Erkenntnis: „Die Idee von einer Dialektik als Analyse der Bedingungen und Notwendigkeiten der Täuschung tritt an die Stelle der Idee einer Enzyklopädie der Wahrheit.“ (S.160)

Damit stehe Kants Werk „genau im Zentrum, im Gleichgewichtspunkt der gesamten abendländischen Philosophie“, womit Kant für den philosophischen Diskurs, „wie die Logiker sagen würden, eine neue Semantik gefunden“ habe (ebd.). Weiterentwicklungen sieht Foucault bei Fichte in der Lehre vom absoluten Ich mit reiner Subjektivität sowie in der Phänomenologie von Hegel bis Husserl, die transzendentale Subjektivität an den impliziten Horizont der empirischen Inhalte zu binden“ suche (S.167 Fn 12). Tatsächlich könne, so Foucault, der philosophische Diskurs nach der „Zerstörung der Metaphysik“ nur durch eine „Theorie der Repräsentation“ oder „mittels einer Analyse des Seins des Menschen eine Beziehung zum Sein haben.“ (S.165)

10. Beschreibung der Philosophie zeigt vier Haupttypen der Philosophiegeschichte als funktionale Elemente des philosophischen Diskurses und grenzt Foucaults eigenen Ansatz davon ab, der die Philosophiegeschichte in seiner funktionalen Beschreibung der Philosophie als Teil derselben einbezieht (S.185); die Philosophiegeschichte wendet sich als Teil des philosophischen Diskurses in der Funktion der Legitimation den Systemen zu, im Kommentar der Erfahrung, in der Kritik der Ideologie, in der Interpretation der Entzifferung einer Philosophie; für die Ideologisierung der Philosophie bedeutet dies, „dass die Philosophie tatsächlich… selbst eine Praxis darstellt und dass sie das Gesicht der Welt wirklich verändern kann, allerdings unter der Bedingung, dass sie demselben Diskursmodus angehört wie die politischen oder alltäglichen Aussagen.“ (S.183) Foucault geht es aber darum, den philosophischen Diskurs von außerhalb einzelner Werke zu analysieren (S.188).

11. Der neue Wandel fragt nach der Legitimation des Ansatz von Foucault selbst, die Philosophie als nur „eine Diskursform unter anderen“ (S.199) und verweist dabei auf die Krise der Philosophie, die, ihrer Gegenstände, Konzepte und Methoden beraubt, nur noch sich selbst in Frage stellen könne; mit Friedrich Nietzsche könne die Philosophie sich jedoch statt an der Wissenschaft an der Poesie orientieren, eine „Zersplitterung des philosophierenden Subjekts, seine multiple Existenz, seine Zerstreuung in alle Winde des Diskurses“ (S.216) lege nahe, „den Philosophen als reale Figur zu entlassen und aus seiner inhaltsleeren Identität eine Vielheit von Masken oder Gesichtern hervorgehen zu lassen“ (S.213), um von nun an „jeden Wahnsinn“ auch danach zu befragen „was er in seinem Abgrund an Philosophie aussagen kann“ (S.218).

12. Denken nach Nietzsche erörtert die postnietzscheanische Neuordnung der Diskurse; der logische Empirismus wolle aus dem philosophischen Diskurs alles als metaphysisch ausschließen, was nicht mit den Mitteln der Wissenschaft verifizierbar sei; eine politisch verstandene Philosophie wolle dagegen alles als metaphysisch verwerfen, was seinen Praxisbezug nur aus Kritik des Scheins oder des Impliziten herstelle und sich in Freiheit, Aktivität und Geschichte der Menschen involvieren (S.229f); postnietzscheanisch sei Husserls Phänomenologie aufgrund ihres radikalen Vorhabens, „zu den Sachen selbst zurückzukehren“, jedoch zugleich „die komplexeste, historisch überladenste Organisation, die man in den letzten drei Jahrhunderten aufkommen sah“ (S.240).

13. Das Archiv stellt die Frage nach der Sprache und postuliert die Konstituierung eines integralen Archivs als kultureller Form der Auswahl, Aufbewahrung und Zirkulation der Diskurse; der gegenwärtige Wandel unserer Kultur lässt sich anhand des Interesses an der Sprache charakterisieren, daran, dass formale Systeme, wie Sprachen, aus Symbolen mit Regeln bestehen (S.246), dass Literatur, Musik, Kunst sich entsprechend formaler Möglichkeiten entfalten, in einem neu organisierten Diskursuniversum; Kultur ist ein Netz von Beziehungen, das Sprechakte, Formen des Diskurses, Objekte, Materialien, Institutionen zu einem Diskurs-Archiv verbindet; es bildet ein System der Zwänge von Sprache und Geschichte, seine Gesetze untersucht die Disziplin der Archäologie (S.262).

14. Die Geschichte des Diskurs-Archivs verdeutlicht die Unmöglichkeit für jede Kultur, aus dem System ihres eigenen Diskurs-Archivs auszubrechen; die Archäologie als „Analyse des Diskurs-Archivs fungiert als eine Art immanente Ethnologie“ unserer Kultur, „dessen was als Bedingung, Element und Raum für alles dient, was wir sagen und denken können“ (267); Alphabete, Bibliotheken, Buchdruck schufen neue Netzwerke der Zirkulation der Diskurse, zahlreiche Brüche machen es unmöglich, „eine Gesamtgeschichte des Diskursarchivs“ zu schreiben (S.278); Endnote 15 konkretisiert durch Zitat aus Foucaults Buch „Die Archäologie des Wissens“: das Archiv umfasse also „ein privilegiertes Gebiet: gleichzeitig uns nahe, aber von unserer Aktualität abgehoben… es ist das, was uns außerhalb von uns begrenzt“ (S.281).

15 Der heutige Wandel beschließt das Buch mit der Einführung des Begriffs eines „integralen Archivs“, das unsere heutige Kultur von ihren Vorgängerinnen unterscheide; unsere Kultur habe sich die Aufgabe gestellt, „im Grunde alles vom Diskurs aufzubewahren“ (282); das Archiv dehne sich immer mehr aus, werde überhäuft, verliere seine Selektivität, es sei „anstatt der Ort der Rekonstruktion von Sprechakten zu sein, nur der Raum für die Aneinanderreihung von Diskursen… ein Netz neutraler Diskurse… Insofern ein Diskurs im Archiv gegeben ist, kann er durch Akte reaktiviert werden, die… dem ursprünglichen Akt absolut fremd sein können (Kommentare, Suche nach einem verborgenen Sinn, linguistische Analyse, Definition und Klassifizierung von Themen, Katalogisierung von Bildern und rhetorischen Figuren, Übersetzung in eine formale Sprache, Zerlegung im Hinblick auf eine statistische Auswertung…)“ (S.284f); die Diskursivität, durch die sich nunmehr die Erfahrung definiere, komme „immer nur dem Diskurs selbst zu“ (S.290); Fußnote a enthält eine offenbar verworfene Variante des letzten Kapitels, die verstärkt auf den Systembegriff setzt und sich abschließend auf Wittgenstein beruft (S.292).

Der Anhang enthält einige Notizen Foucaults, darunter recht instruktive Tabellen seines funktionalen Diskursmodells, und die „Situierung“ von Orazio Irrera und Daniele Lorenzini (S.305-345). Die beiden Editoren bescheinigen Foucault eine „entschieden originelle Antwort“ auf die seinerzeit heiß diskutierte Frage: „Was ist Philosophie?“ (S.309) und ordnen den Text in die damalige Debatte ein, die durch Foucaults Werk „Die Ordnung der Dinge“ befeuert wurde, unter anderem werden Sartre, Althusser, Merloth-Ponty, Derrida und Heidegger genannt. Foucault stelle im vorliegenden Buch die Philosophie als spezifische Art von Diskurs dar, der eine singuläre Beziehung zu seiner eigenen Aktualität unterhalte; der Mythos einer Geschichte, die aus tiefgründiger Bestimmung „von einem geheimen Ursprung zur Klarheit eines Horizonts verläuft“ könne verworfen werden (S.324); einen „blinden Fleck in der Foucaultschen Archäologie“ zeige zwar die Frage, von wo aus denn seine Diskursanalyse die in sich abgeschlossenen Diskursnetze von außen betrachten könne (S.336), doch er habe von Gaston Bachelard die Methode übernommen, Diskurse von ihren marginalisierten Rändern her zu analysieren; es ging Foucault „sein ganzes Leben lang“ darum, so ihr Schlusssatz, „seine eigene Kultur -und uns- in eine Falle zu locken, um die Möglichkeit zu eröffnen, anders zu denken und zu leben.“

Diskussion

Foucault habe wenig über Philosophie geschrieben, seine Themen seien nicht die der Philosophen: der Wahnsinn, das Krankenhaus, das Gefängnis, die Sexualität; so begann 1991 der Foucault-Kritiker Rudi Visker seine Abrechnung mit den Widersprüchen, in die sich Foucault mit seiner Kritik der Humanwissenschaften verwickelt habe. Das „Foucault-Lexikon“ des Wissenschaftstheoretikers Michael Ruoff kennt nur das Stichwort „Philosophie (praktizierte)“, für das es ganze vier Absätze übrig hat und Foucault so zitiert: „vielleicht ist Philosophie die allgemeinste kulturelle Form, in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist.“ Foucault habe die Bezeichnung „Philosoph“ 1970 deutlich abgelehnt, sie sei ein „Professorenberuf“; der späte Foucault, der eine Ethik der Sorge um sich selbst entwickelte, habe in der Philosophie aber jene Form des Denkens entdeckt, welche „die Bedingungen und Grenzen des Zugangs des Subjekts zur Wahrheit zu bestimmen versucht.“ (S.165f)

Das größte Hindernis für die deutsche Foucault-Rezeption war vermutlich die eloquente Polemik, die der staatstragende „Großdenker“ Jürgen Habermas 1985, also ein Jahr nach Foucaults Tod, mit „Der philosophische Diskurs der Moderne“ vorlegte; eine Abrechnung mit der französischen Postmoderne, als deren technokratische Ausgeburt er die Systemtheorie Niklas Luhmanns sah; insbesondere mit Foucaults Machttheorie geht Habermas hart ins Gericht, sucht Foucault in die Nähe des in Deutschland mehr als in Frankreich als Nazi-Philosophen gesehenen Heideggers zu rücken. Der Nachfolger Habermas‘ im Amt des Frankfurter Schuldirektors, Axel Honneth, ließ dort 2001 eine vielbeachtete „Foucault-Konferenz“ stattfinden, die eine differenziertere Sicht zeigte; in seinem Einführungstext zum Tagungsband scheint Honneth Abbitte für Habermas‘ Polemik leisten zu wollen, grenzt Foucault pointiert von Heidegger ab, stellt ihn in die Tradition des späten Wittgenstein. Foucaults Ziel sei die Subversion der gegebenen Gesellschaftsform gewesen, sein Werk habe in den Humanwissenschaften hergebrachte Begriffe des Sozialen, der Macht, des Wissens, des Subjekts tiefgreifend verändert. Foucault habe den „paradigmenbildenden Kern einer Disziplin, sei es die der Psychoanalyse, der Sexualwissenschaft oder der Kriminologie“ in seiner konstitutiven Evidenz entzaubert (S.17). Die Kritische Theorie seiner Frankfurter Schule, so Honneth, hätte bei unvoreingenommener Auseinandersetzung viel früher von den Einsichten Foucaults lernen können. 1988 hatte sich Honneth selbst noch polemisch an Foucault gerieben, dessen Machttheorie habe „am Ende zu einer systemtheoretisch reduzierten Version der Dialektik der Aufklärung verkümmern“ müssen (S.142).

Die von Suhrkamp als „kleine Sensation“ gefeierte Publikation des Diskurs der Philosophie zeigt das ungebrochene Interesse einer immer noch wachsenden Leserschaft an einem Denker, der gegenwärtige Machtregime mit seiner Kritik ins Mark traf und viele Menschen zum Widerstand motivierte. Das Buch, das der „Philosoph mit der Maske“ seinen zeitgenössischen Lesern offenbar vorenthalten wollte, ist unter anderem eine tiefgreifende Begründung seiner Ablehnung jeglicher „Großtheorien“, mit denen „Großdenker“ wie Habermas auf die universale Geltung westlicher Werte und ihrer globalen Normativität pochen. Foucault verweist demgegenüber auf die Verstrickung des erkennenden Subjekts in das Labyrinth seiner eigenen und der Geschichte der Philosophie, der allgemeinsten kulturellen Form, „in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist“. Die vermeintlich ewigen Werte westlicher Aufklärung, ihrer liberalen Demokratien –die er keineswegs ablehnt, sondern nur deren Unwilligkeit zu Analyse und Selbstkritik eigener Machtstrukturen–, verblassen für Foucault hinter „dem Ereignis“, das man vielleicht heute mit den Namen Guantanamo oder Belmarsh (wo man Julian Assange gefangen hielt) bezeichnen könnte.

Fazit

Das nicht einfache, aber elegant formulierte Buch stellt Foucaults Diskursanalyse der Philosophie in die Traditionen Kants und Nietzsches. Michel Foucault scheut sich nicht, die Philosophie im Sinne seines den Strukturalismus weit überschreitenden Ansatzes komplett neu zu denken. Mit seiner auf eine Gegenwartsdiagnostik zielenden Argumentation richtet sich das Buch an Studierende der Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch an Interessierte anderer Fachrichtungen.

Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 349 S., 34,00 Euro. ISBN: 978-3-518-58811-6

Verlagswerbung zum Buch: Was ist Philosophie? Und welche Rolle spielt sie in der Gegenwartsgesellschaft? Zwischen Juli und Oktober 1966, einige Monate nachdem er durch das Erscheinen von Die Ordnung der Dinge schlagartig zum neuen Star der Philosophie aufgestiegen war, gab Michel Foucault in einem sorgfältig durchkomponierten Manuskript seine Antwort auf diese bis heute viel diskutierten Fragen. Im Gegensatz zu denjenigen, die entweder das Wesen der Philosophie enthüllen oder sie gleich für tot erklären wollen, begreift Foucault sie als einen Diskurs, dessen Ökonomie im Vergleich mit anderen Diskursen – wissenschaftlichen, literarischen, alltäglichen, religiösen – herausgearbeitet werden muss. Der Diskurs der Philosophie schlägt somit eine neue Art und Weise der Philosophiegeschichtsschreibung vor, die von der reinen Kommentierung der großen Denker wegführt. Nietzsche nimmt allerdings einen besonderen Platz ein, da er eine neue Epoche einleitet, in der die Philosophie zur Gegenwartsdiagnose wird: Von nun an ist es ihre Aufgabe, einer Gesellschaft zu erklären, was ihr Zeitalter ausmacht. Nirgendwo hat Michel Foucault die Ambitionen seines intellektuellen Programms so deutlich gemacht wie in diesem Werk, das fast 60 Jahre nach seiner Niederschrift nun erstmals veröffentlicht wird. Eine kleine Sensation!

Literatur

Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, Suhrkamp Verlag

Honneth, Axel: Foucault und Adorno: Zwei Formen einer Kritik der Moderne, in: Peter Kemper (Hg.): „Postmoderne“ oder der Kampf um die Zukunft. Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988, Fischer Verlag, S.127-144

Honneth, Axel u. Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt/M. 2003, Suhrkamp Verlag

Kammler, Clemens und Rolf Parr: Foucault in den Kulturwissenschaften: Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007, Synchron Verlag

Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1974, Suhrkamp Verlag

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, Suhrkamp Verlag

Foucault, Michel: Der Diskurs der Philosophie, Berlin 2024, Suhrkamp Verlag

Visker, Rudi: „Foucault“: Genealogie als Kritik, München 1991, UTB W.Fink Verlag

07/1/12

Heiner Hastedt: Aufklärung & Technik

Heiner Hastedt: Aufklärung und Technik. Grundprobleme einer Ethik der Technik. Frankfurt, Suhrkamp 1991.

Rezension von Thomas Barth

Der Philosoph Heiner Hastedt sucht in seiner Habilitationsschrift einen nüchternen Weg zu einer aufklärerischen Ethik der Technik, einen Weg zwischen den Wunschträumen eines technokratischen Schlaraffenlandes und dem Pessimismus der Neuen Ethik (Hans Jonas). Dabei will er die „geistesgeschichtliche Klammer zwischen Aufklärung und Technikoptimismus zu lösen“, die ihm in zwei gegensätzlichen Modellen von Aufklärung verwirklicht erscheint: Das Identitätsmodell weist der Aufklärung in der mit ihr identifizierten instrumentellen Vernunft die Schuld an der Misere der Moderne zu und neigt zum Rückgriff auf vormoderne Wertstrukturen; das Überholungsmodell des Technokratismus hält die Ziele der Aufklärung für nunmehr nur noch technische Probleme und möchte sie am liebsten den Ingenieuren überlassen. Gegen beides wendet sich Hastedt und möchte mit seinem Reflexionsmodell von Aufklärung die autonom gewordene Technik wieder der Autonomie des Menschen unterordnen. Kern seines Ansatzes ist die Verknüpfung philosophischer Ethik mit Technikfolgen-Abschätzung (TA) bzw. -Forschung.

New Age und Prinzip Verantwortung?

Die Vertreter des Identitätsmodells glauben in der aufklärungskritischen Tradition der Frankfurter Schule zu stehen (S.155). In der populistischen Variante dieser (falsch verstandenen) Aufklärungs-Kritik, dem „New Age”-Denken z.B. Fritjof Capras (die Hastedt „…nur wegen ihrer großen Verbreitung erwähnt, nicht wegen ihrer sachlichen Diskussionswürdigkeit”), verfallen sie dem einfachen subjektivistischen Irrtum, „…das in der Änderung der privaten Gesinnung automatisch eine Lösung auch der Weltprobleme ..” liege (S.159). Ein -nicht ganz so kurzer- Fehlschluß ist in der ökologischen Neuen Ethik zu sehen, wie an Hans Jonas‘ ”Prinzip Verantwortung” verdeutlicht wird. Hastedt merkt an, „…daß die Popularität von Jonas‘ naturalistischer Position geringer wäre, wenn seine hinter dem wichtigen Titel stehenden Inhalte genauer bekannt geworden wären”. Zu kritisieren sei die teleologische Einordnung des Menschen in die Natur mit der ihr folgenden „Naturalisierung und Objektivierung der Werte”, welche durch das Eingeständnis des naturalistischen Fehlschlusses nicht richtiger werde (S.170). Die postulierte „Heuristik der Furcht” erscheine als apokalyptische Umkehrung der Fortschrittseuphorie und erlaube allenfalls eine rudimentäre (Grenzfragen-) TA, nicht jedoch Technikgestaltung (S.172). Die normativistische Kurzschlüssigkeit neige zum Vernachlässigen der Einzelprobleme und zum adressatlosen Moralisieren -was zu ihrer Beliebtheit unter potentiellen Adressaten beitragen mag-, wenn nicht gar „zur Verharmlosung einer Ökodiktatur” (S.176).

Schlimmer noch bewertet Hastedt die Romantisierung ritueller Tötungspraxis bei Naturvölkern durch den Kleriker Drewermann, der aus Hastedts Sicht endgültig auf anti-humanistische Abwege gerät; aber selbst der „Eurotaoismus” Peter Sloterdijks untergrabe -möge man auch seiner Metapher von der „Mobilmachung” für die gegenwärtige Lage zustimmen- die institutionellen und normativen Errungenschaften der Aufklärung, gefährde letztlich die individuelle Autonomie und Freiheit (S.165). Alles in allem bleiben die Utopien einer „naturgemäßen” Technik undeutlich und der normative Naturalismus ignoriert den Einwand, „…daß die Orientierung an der Natur selbst wiederum nicht ´natürlich´, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen und kulturellen Auffassung ist.” (S.157) Leider versäumt Hastedt in seiner Kritik zu erklären, wie denn richtig verstandene Aufklärungs-Kritik in eine Diskussion der Technikentwicklung einzubeziehen sein könnte. Die diskursive Fassung seiner Ethik erlaubt aber sehr wohl, in den Diskurs auch kritische Positionen einzubeziehen, macht es sogar notwendig.

Das Überholungsmodell von Aufklärung und Technik

Einen ganz anderen Fehlschluß konstatiert Hastedt bei den Vertretern eines Überholungsmodells von Aufklärung und Technik. Ihr epistemologischer Naturalismus versuche, die „…menschliche Gesellschaft, Kultur und Psyche mit den Denkmitteln der Naturwissenschaft zu erklären…”(S.151). Zum Teil handelt es sich dabei um Naturwissenschaftler, die „…nach ihrer Pensionierung auch etwas zu den Problemen der Welt sagen wollen.”(S.184) Ihr Ruf als Spezialwissenschaftler und ihre einfachen Modelle bringen ihnen -auch angesichts der zu komplexen Sozialwissenschaften- die Aufmerksamkeit des Publikums ein. Obschon gesellschaftstheoretisch naiv, füllen sie so ein Vakuum, welches „…die mangelnde öffentliche Berücksichtigung der Sozialwissenschaften hinterläßt.”(S.186)

Eine Affinität zu derartigen Fehlschlüssen besteht aber auch in Kreisen der konservativen Soziologie. Schleichend wandelt sich dort die Analyse der Technisierung zum Technokratismus: „Aus der Diagnose eines Trends wird dann ohne Ausweis der normativen Anteile unversehens das Rezept…” für eine technokratische Handhabung der Gesellschaft (S.190). So etwa beim Alt-Technokraten Schelsky in der naiven Forderung nach rationaler Herrschaft im Sinne eines Managements interesseloser Sachgesetzlichkeiten. Oder auch bei seinem Schüler NiklasLuhmann und dessen Gesellschaftstheorie „…die sich in Ihrer Geschmeidigkeit allerdings auf einem ungleich höheren theoretischem Niveau bewegt als der ältere Technokratismus.”(S.192) Ihr epistemologischer Naturalismus zeige sich vor allem im aus der Biologie importierten Hauptbegriff der Autopoiesis.

Im systemtheoretischen Versuch, die Selbstthematisierung der Thematisierungsweisen im Begriff der Selbstreferentialität wissenschaftlich und technokratisch einzuholen, sieht Hastedt vor allem eine implizite Handlungsentlastung des Theoretikers. Luhmanns technokratischer Verzicht auf den Subjektbegriff übernehme lediglich die philosophische Kritik am einsamen Subjekt der neuzeitlichen Bewußtseinsphilosophie, „…die heute keineswegs mehr als Grundlage für den Reflexions- und Handlungsbegriff genommen werden muß.”(S.194)

Darüber hinaus ergebe sich aus einer gesellschaftstheoretischen Verabschiedung des Subjekts auch kein Grund für die Subjekte selbst, sich in ihren Institutionen nicht für die Realisierung ihrer Reflexionseinsichten einzusetzen -wie Luhmanns Polemik der Gesellschaftskritik nahelegt. Der abstrakte “Flug” über der “geschlossenen Wolkendecke” (Luhmann) fällt somit als systematische Großtheorie wenig überzeugend aus und hinterläßt den Eindruck einer Rechtfertigung für entverantwortlichte Geisteswissenschaftler, so Hastedt.

Die Schrumpfvarianten des Technokratismus

Das Harmoniebedürfnis richtet sich also, laut Hastedt, in der zweiten Variante des Naturalismus nicht auf die Natur, sondern auf die Naturwissenschaft bzw. den industriell-technisch-wissenschaftlichen (Erkenntnis-)Komplex. Eine angesichts der Krisensituation verständliche, aber wenig hilfreiche Reaktion. Übrig bleiben nach dieser Kritik die beiden „Schrumpfvarianten” des Technokratismus, die (1.) naturwissenschaftliche Prinzipien immerhin noch auf technologische Entwicklungen anwenden wollen oder (2.) wenigstens für eine ethische Neutralität der Technik plädieren.

Die erste übersieht jedoch die Ergebnisse zur sozialen Bedingtheit von Technologie, in der zweiten zeige sich nicht viel mehr als die „…bewußte oder unbewußte Zielsetzung einer Neutralisierung der ethischen Verantwortlichkeit für die Technologieentwicklung überhaupt.”(S.200) Dem adressatlosen Moralisieren bzw. technokratischen Entmoralisieren will Hastedt dagegen die Verantwortung des Menschen sowohl für den gesellschaftlich-technischen Gesamtkomplex wie für die zum kulturellen Projekt gewordene Natur entgegensetzen.

Das Projekt der Aufklärung darf sich in laut Hastedt im Reflexionsmodell weder auf eine pauschale Zustimmung zum technischen Fortschritt noch auf seine pauschale Ablehnung festlegen lassen. Erst wenn wir differenziert klären, in welcher Welt mit welchen Technologien wir leben können und wollen, wird entscheidbar, ob und wie eine bestimmte Technologie wünschenswert ist. Die zunehmende Komplexität der Probleme bringe es mit sich, dass „…gleichzeitig mehr empirisches Wissen und mehr normative Orientierung gefordert…” sei (S.105).

Die von Hastedt vorgeschlagene “inklusive” Methode soll daher nicht “…anstatt einer empirischen Technologiefolgenabschätzung betrieben werden (…), sondern unter Zuhilfenahme und in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit der Technologiefolgenabschätzung.”(S.106) Hastedt legt Wert darauf, seine Ethik als „anwendungsorientiert” von der „Praxisorientierung” anderer Ansätze abzugrenzen, da diese sich oft in einer Theorieorientierung an Hegel und Marx erschöpft habe. Trotzdem betont die Ethik Hastedts “bei ihrer Gradwanderung zwischen Grundsatzreflexion und Anwendung im Zweifelsfall die Seite der philosophischen Grundsatzreflexion” da die im Alltag meist angewandte Verkürzung von Problemen nicht von der Philosophie verdoppelt zu werden braucht (S.63). Andererseits gelte es aber auch, den “ideologischen Bedarf” nach Ethik nicht unreflektiert zu befriedigen, wie er aus Gründen der Abschiebung von Verantwortung oder im Rahmen einer Marketing-Strategie entstehe (S.61).

Eine anwendungsorientierte Ethik der Technik

Hastedts “inklusive Methode einer anwendungsorientierten Ethik der Technik” versucht, diesen selbstgestellten Anforderungen gerecht zu werden, indem sie ein Programm der reflexiven Koppelung von ethischer Begründung und Anwendung in der TA entwirft. Markierungspunkt ist dabei Habermas, wobei die „quasi-transzendentalen Argumentationsnormen der Diskursethik” mit ihren nicht einlösbaren Versprechungen jedoch nicht mehr als die Umgrenzung prinzipieller Möglichkeiten zum Diskurs beisteuern dürfen (S.220). Kern des Programms ist die diskursive Prüfung jeweiliger Praxis der TA anhand normativ-inhaltlicher Prinzipien, womit zwischen „…dem Absolutismus der Letztbegründung und dem Relativismus…” der „Mittelweg der relativ vernünftigen Begründung” angestrebt wird (S.213).

Die fünf normativen Prinzipien (1.Vereinbar mit Grundfreiheiten; 2.Förderlich für Grundfreiheiten; 3.Förderlich für soziale Gerechtigkeit; 4.Gleiche Berücksichtigung zukünftiger Generationen; 5.Gutes Leben) ergeben mit den fünf Verträglichkeitsdimensionen ( 1.Gesundheit; 2.Gesellschaft; 3.Kultur; 4.Psyche; 5.Umwelt) die ÒSuchmatrixÓ einer anwendungsorientierten Ethik der Technik als Leitlinie der Methode (S.257). Im Prinzip Nr.5 des guten Lebens sieht Hastedt eine notwendige Erweiterung des liberalen Projektes der Moderne durch die alte anthropozentrische Ethik (S.227), da die bürgerliche Privatisierung dieser Frage den heutigen Menschen zunehmend überfordere.

Diskussion

Die bei aller proklamierten Nüchternheit doch häufig erfrischende Polemik auch bei der Diskussion großer Philosophen und Theoretiker wie Hans Jonas oder Niklas Luhmann macht den Band gut lesbar. Die dabei angestrebte Verbindung von Technologie und Philosophie unter die Federführung der Philosophen stellen zu wollen ist ein verständliches Ansinnen. Zu oft haben selbstherrliche Technokraten ethische Überlegungen gegenüber Effizienzdenken bzw. ökonomischen Motiven hintangestellt.

Punkt 5 der normativen Prinzipien des vorgelegten Programms wirft allerdings die Frage auf, wer diese neuen Grundsätzen für Ògutes Leben” festlegen sollte bzw. ob wir dies uneingeschränkt akademischen Philosophen überlassen können. Deren gutbürgerlich-saturierte Lebenswirklichkeit dürfte allzu weit vom Leben der meisten Menschen entfernt sein. Zumal in einer Gesellschaft, in der die Möglichkeiten und damit Freiheiten von Arm und Reich jedes Jahr weiter auseinander liegen.

Vielleicht sollte man Debatten um das gute Leben lieber hinter eine Arbeit an jenen Mechanismen zurückstellen, welche die Fähigkeit zu einer entsprechenden eigenständigen Suche des Individuums untergraben: Den Technikpaternalismus, der den digitalen Technologien innewohnt, weil ihre Entwickler über eine vom einzelnen Nutzer kaum einholbare Komplexität gebieten. Von den Höhen ihres Wissensvorsprungs herab meinen sie oft, uns viele Wahlmöglichkeiten diktieren zu dürfen bzw. sogar zu müssen. Hastedt gibt uns gute Argumente an die Hand, wenn wir mit den Technologen in eine Diskussion um die digitale Gestaltung der Informationsgesellschaft einsteigen wollen.

Dabei geht es auch um technologische Macht, die sich besonders in digitalisierte Kommunikation einschreibt: Als unsichtbarer Code der gesellschaftlichen Strukturen. Die völlige Abwendung von Luhmanns Systemtheorie, die solche Strukturen untersucht, erscheint dabei zu weit zu gehen. Sinnvoller wäre es, Luhmanns zur Verschleierung von Macht tendierende Systemtheorie kritisch zu erweitern, um sie durch eine kommunikationsorientierte Machttheorie zu ersetzen. Diese sollte den Machtbegriff nicht länger vernebelnd in der Kommunikation auflösen, sondern umgekehrt Machtausübung und soziale Kontrolle in Kommunikationstrukturen erhellen. An Lehrende der Informatik könnte man diese Programmatik noch durch den Rat eines Klassikers ergänzen:

„Und da es in diesem Buch um Computer geht, soll es ein Appell sein, der vor allem an diejenigen gerichtet ist, die in Computerwissenschaft unterrichten. Ich möchte, daß sie meine Behauptung aufgenommen haben, daß der Computer eine mächtige neue Metapher ist, mit der wir viele Aspekte der Welt leichter verstehen können, der jedoch ein Denken versklavt, das auf keine anderen Metaphern und wenige andere Hilfsmittel zurückgreifen kann. Der Beruf des Lehrers …ist…ehrenwert… Aber er muß… mehr als nur eine Metapher lehren…Er muß über die Beschränkungen seiner Werkzeuge ebenso sprechen wie über deren Möglichkeiten.“

Joseph Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, S.361f

Heiner Hastedt: Aufklärung und Technik. Grundprobleme einer Ethik der Technik. Frankfurt, Suhrkamp Verlag 1991, 336 S., hardcover 22,80 Euro; Taschenbuch 22,00 Euro

Rezension erschien zuerst 1993 in PP-Aktuell (nicht digitalisiert).