700 Menschen aus 60 Ländern verhandelten über Regeln für das Internet, die Mitsprache für alle gesellschaftlichen Gruppen ermöglichen. Doch wie verhält sich NETmundial zu anderen Versuchen, Grundprinzipien des Netzes zu erarbeiten? Und was beschäftigte die Teilnehmer*innen besonders?
23.05.2024 Netzpolitik.org – Anne Roth
Ende April trafen sich in São Paulo, Brasilien, unter dem Motto „Global challenges for the governance of the digital world“ Vertreter*innen aus 60 Staaten zur „NETmundial+10“-Konferenz. Sie fand fast genau zehn Jahre nach der ersten NETmundial-Konferenz statt, die ebenfalls in São Paulo getagt hatte.
Nun sollten die damaligen Prinzipien überprüft und aktualisiert werden. Als Ergebnis verabschiedeten die Teilnehmenden ein „Multistakeholder Statement“. Das erklärte Ziel: „Internet Governance und die digitalpolitischen Prozesse“ stärken.
Anstoß zur ersten Konferenz hatten die Enthüllungen von Edward Snowden seit 2013 gegeben, die das Ausmaß der digitalen Überwachung durch die Geheimdienste der Five-Eyes-Staaten (USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland) deutlich gemacht hatten. Die damalige brasilianische Präsidentin Dilma Roussef war selbst von der Überwachung betroffen gewesen und hatte die Massenüberwachung deutlich kritisiert. 2014 hatte sie daher zum ersten NETmundial eingeladen.
Thema war die internationale Internet Governance und damit verbunden die Frage, wie die Dominanz der USA in der Kontrolle der Infrastruktur des Internets zurückgedrängt und wie diese demokratisiert werden konnte. Das formulierte Ziel war auch damals ein Konsens über universell akzeptierte Internet-Governance-Prinzipien und ein besserer institutioneller Rahmen dafür.
Das São Paulo Multistakeholder-Statement
Die Teilnehmer*innen kamen aus vielen verschiedenen Bereichen: Sie repräsentierten Regierungen, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, internationale Organisationen, IT-Community und Unternehmen. Wolfgang Kleinwächter, Internet-Governance-Experte und Mitglied des NETmundial+10 High-Level Executive Committee, beschrieb die Gründung des NETmundial als Reaktion auf die Snowden-Enthüllungen so:
Als Reaktion auf dieses Ereignis kam die Weltgemeinschaft zusammen und sagte: Wir sollten das Internet nicht in den Händen der Regierung lassen. Wir müssen den Multistakeholder-Ansatz stärken. Das Internet braucht keinen Anführer.
Stattdessen, so Kleinwächter, brauche es die Zusammenarbeit aller. „Die Regierungen müssen eine wichtige Rolle spielen, aber sie sind nicht mehr die einzige Band in der Stadt.“
Die vor zehn Jahren vereinbarten Internet-Governance-Prinzipien bezogen sich auf Menschenrechte und Diversität. Es sollte ein gemeinsames und ungeteiltes Internet sein, das den freien Fluss von Informationen ermöglicht, offene Standards genauso wie Sicherheit und Stabilität bietet und eine Umgebung für Innovation und Kreativität sein soll.
Dazu kamen die zehn Process Principles, also Grundregeln, wie die Internetverwaltung geregelt sein soll. Hier steht das Multistakeholder-Prinzip an erster Stelle, gefolgt etwa von Offenheit, Partizipation, Transparenz, Barrierefreiheit und Agilität.
Kritik gab es von verschiedenen Seiten. So bemängelten zivilgesellschaftliche Akteur*innen, dass Massenüberwachung nicht klar verurteilt wurde. Heftige Auseinandersetzungen gab es auch um Netzneutralität und Providerhaftung.
Zehn Jahre später
Beim diesjährigen Treffen ging es darum, die damaligen Prinzipien noch einmal anzuschauen, zu prüfen und gegebenenfalls zu erneuern. Wieder kamen die verschiedenen Gruppen zusammen, insgesamt nahmen über 700 Menschen aus über 60 Staaten vor Ort und online teil.
Die deutschen Teilnehmer*innen vor Ort waren Jeanette Hofmann und Wolfgang Kleinwächter (Wissenschaft), beide Mitglieder des High-Level Executive Committee von NETmundial+10. Außerdem die „Interledger Foundation“ und der „Sovereign Tech Fund“ (Zivilgesellschaft), das Ministerium für Digitales und Verkehr (Bundesregierung) und für die technische Community Nathalia Sautchuk von der Hochschule Karlsruhe sowie Peter Koch von der DENIC eG.
Dass die deutsche Zivilgesellschaft kaum vertreten war, ist für Jeanette Hofmann, Professorin für Internetpolitik und Forschungsdirektorin des Humboldt-Instituts für Internet und Gesellschaft, vermutlich auch der Grund, warum „das Event hier weitgehend unbekannt geblieben ist“.
Priorität des diesjährigen Treffen waren die Prozesse der Internet Governance. Diese Verfahrensfragen zielten darauf ab, die Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen sowie geografischer Regionen an den Entscheidungsprozessen zu verbessern. Für Mallory Knodel, Chief Technology Officer der NGO „Center for Democracy & Technology“, hat das auch eine politische Bedeutung:
2014 haben Leute versucht, einen Prozess zu zeigen, der vom Globalen Süden angeführt wurde. Kein G-irgendwas, kein UN-irgendwas. Wir machen es selbst und wir bringen dazu alle zusammen. Und das hat geklappt. Es war wirklich großartig.
Knodel glaubt, das sei vor allem erfolgreich gewesen, weil wegen der Snowden-Enthüllungen „alle so wütend auf die Regierungen waren“.
Bruna Santos, brasilianisches Mitglied des High-Level Advisory Committee für die Zivilgesellschaft, sieht als einen der Erfolge des NETmundial, dass mittlerweile eine erkennbare Anzahl an Staaten bereit ist, im Vorfeld von Gesetzesvorhaben nicht nur mit traditionellen Lobbyist*innen, sondern mit ganz unterschiedlichen Stakeholdern und Communitys zu sprechen.
Ziel sei dabei auch, Fairness und Transparenz zu verbessern. Nicht zuletzt in der EU gebe es aber auch noch Raum für Verbesserung:
Wenn wir Verfahren wie die Diskussionen über die Entwürfe des Digital Services Act analysieren, wird deutlich, dass das Europäische Parlament dies noch besser hätte machen können, wenn es klare und transparente Diskussionen zwischen allen Interessenvertreter*innen organisiert hätte, um mehr Input für den Text zu zu bekommen.
Zersplitterung der Governance-Strukturen
Problematisch sei laut Santos aktuell, dass sich Diskussionen über Verfahrensfragen duplizieren könnten, weil derzeit eine ganze Reihe wichtiger Prozesse stattfindet: WSIS+20, CSTD, das neue IGF-Mandat 2025, der Global Digital Compact (GDC) sowie der Summit of the Future.
All diese Formate beschäftigen sich mit der Frage, wie das Internet von morgen aussehen und gestaltet werden soll. Bei manchen diskutieren vor allem Staaten miteinander, bei anderen auch andere Interessensgruppen. Jeanette Hofmann beschreibt eine klare Konkurrenz zwischen den UN und dem von ihnen „ungeliebten“ IGF, die sich auch in der Sprache zeige. Wenn es nämlich darum geht, ob von Internet Governance (IGF) oder Digital Governance (UN) die Rede ist:
Die UN beansprucht eine multilaterale Führungsrolle in Digital Matters, im Bereich Internet Governance herrscht dagegen der Multistakeholder-Ansatz vor und kann auch nicht so leicht aus dem Weg geräumt werden.
Die Zersplitterung der Debatten rund um Internet-Governance-Fragen könnten eine negative Entwicklung befördern, fürchtet Bruna Santos, weil sie nämlich dazu führen könne, dass die Regierungen multilaterale Verhandlungen zwischen den Staaten für den einzig gangbaren Weg halten, um ihre Meinungsverschiedenheiten zu klären.
Mallory Knodel wird noch deutlicher und sagt: „Die UN produzieren keine Ergebnisse.“ Sie verweist auf den Global Digital Compact. Diese Übereinkunft soll Leitlinien formulieren, an denen sich Länder global orientieren: Wie das Internet verwaltet wird, welche Grundprinzipien gelten – ähnlich wie bei NETmundial auch. Aus der technischen und zivilgesellschaftlichen Community kam zum GDC die Kritik, dass der aktuelle Entwurf die bisherige Organisation des Internets zentralisiere.
Knodel sagt:
Der GDC versucht, den Institutionen in Genf die Kontrolle zu entreißen, die tatsächlich Ergebnisse und vereinbarte Standards implementieren – ob es jetzt um das Klima, um nachhaltige Entwicklung oder aber digitale Transformation geht.
Für Bruna Santos ist deswegen wichtig, dass „wir die mögliche Doppelung von Diskussionen und Räumen verhindern müssen, die der GDC womöglich schaffen könnte, oder jedes andere Forum.“ Nicht zuletzt, weil es „ein wirklich nützliches Werkzeug ist, um die Zivilgesellschaft zu schwächen, wenn sie uns auf all diese verschiedenen Orte verteilen“, sagt Mallory Knodel.
Walk the Talk
Zu der Frage, ob das NETmundial+10 seinen eigenen Ansprüchen auf Partizipation und Diversität gerecht wurde, gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Vinicius W. O. Santos ist Mitarbeiter des Brasilianischen Internet-Steuerungsausschusses und des NETmundial+10-Sekretariats, der die Vorbereitung und Durchführung der Konferenz eng begleitet hat. Santos glaubt, dass es angesichts der kurzen Vorbereitungszeit durchaus eine gute Beteiligung gab: „Es war wirklich beeindruckend zu sehen, wie dieses Netzwerk aufgeblüht ist.“
Unterm Strich brauche ein Prozess dieser Größenordnung aber mehr Zeit, um angemessen umgesetzt zu werden, mehr Communitys anzusprechen und um auch die Finanzierung auf mehr Schultern zu verteilen, um mehr Menschen die Anreise zu ermöglichen.
Bruna Santos hält das Ergebnis für ein „wirklich ausgewogenes Ergebnis aller Bedenken, von konstruktiver Kritik und dem Input der sehr diversen Communitys und Gruppen, die in das Entwurfsdokument, die Umfrage im Vorfeld und während der Sessions eingeflossen sind. Das Event dauerte nur zwei Tage, aber die Beteiligung der Stakeholder-Gruppen begann ja viel früher.“
Über die Autor:in
Anne Roth
Anne Roth war bis 2023 netzpolitische Referentin der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag und schreibt und spricht jetzt freiberuflich über netzpolitische Themen. Außerdem bloggt sie gelegentlich über Innenpolitik, Netzpolitik, Medien und Feministisches in ihrem Blog annalist. Kontakt per Mail oder Messenger.https://netzpolitik.org/author/anne/