10/5/25

Rezension: Zeitdiebstahl & Kapitalismus

Ole Nymoen/Olga Prader: Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit. Vom Zwang, für Geld zu arbeiten oder: Der größte Raubzug der Geschichte, MaroHeft, Maro Verlag Augsburg 2025

Thomas Barth

Digitalisierung und Netztechnologien sparen viel Zeit -aber wo bleibt die eigentlich? Muße und entspannte Lebensführung findet man weder online noch offline in weiter Verbreitung. Viele von uns führen geradezu ein gehetztes Leben. Gerecht geht es dabei auch nicht zu. Bei allen Effizienzgewinnen, steigenden Profiten und märchenhaftem Reichtum gerade bei den Big-Tech-Baronen erlebt doch eine Mehrheit sinkende Lebensqualität. Viele von uns arbeiten hart und werden dennoch, wie man zynisch dazu sagt, „abgehängt“. Andere werden daran krank, einige sogar obdachlos und viele landen am Lebensende in der Altersarmut. Schon Kinder wachsen in bitterer Armut auf. Wie kann das sein?

Unsere westlichen Volkswirtschaften wachsen immer weiter, das jährliche BIP klettert in schwindelerregende Höhen, doch bei den meisten Menschen kommt immer weniger vom gemeinsam produzierten Reichtum an. Im Gegenteil: Reallöhne sinken, Lebenshaltung wird teurer und der Druck auf die Arbeitenden steigt. Unternehmen und Politik fordern zudem, dass immer mehr und immer länger gearbeitet wird -mit dem Effekt, dass gewaltige Multimilliarden-Vermögen entstehen. Deren Besitzer sehen sich keineswegs in der Verantwortung für die Menschen, die diesen Reichtum erarbeitet haben. Und schon gar nicht für die Unglücklichen, die aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen im Arbeitsprozess nicht (mehr) verwertbar sind, die Armen, die Alten und die Kranken. Muss das alles so sein?

Was machen die Menschen eigentlich den lieben langen Tag? Und vor allem, warum? Erst quälen sie sich aus dem Schlaf, dann schuften sie stundenlang für den Reichtum anderer – und in der „Freizeit“ erledigen sie die Aufgaben, die ihnen von Staat und Patriarchat (Care-Arbeit!) auferlegt werden. Das Jubiläums-MaroHeft Nr. 20 zeigt auf, woran die meisten Menschen leiden – und wie viel lebenswerter die Welt sein könnte.“ (Verlagstext)

Gutes Leben versus Telematische Bewusstseinssteuerung

Es handelt sich um den pädagogisch angelegten Monolog eines offenbar allein lebenden Ich-Erzählers mit seinen beiden Katzen. Deren vom Erzähler imaginierte Sicht auf den Menschen bringt einen naiven Blick von außen auf uns, wie wir ihn aus Kultbüchern wie „Der Papalagi“ oder „Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland“ des von Faschisten ermordeten Sozialisten Hans Paasche (1881-1920) kennen.

„Manchmal, ganz manchmal“, so beginnt das Buch, habe er Angst, an dieser modernen Welt „verrückt zu werden“. Er blicke auf das Elend der Bettler und Obdachlosen, die ihr Essen aus dem Müll klauben müssen, auf die Banker auf der anderen Seite, „dazwischen Werbeplakate, die ein goldenes Zeitalter vorgaukeln“. (S.3) Es geht um Ungerechtigkeit, falsche Verteilung des Reichtums und die Bewusstseinssteuerung, die dies möglich macht. Da die Angst, verrückt zu werden oder für verrückt erklärt zu werden, ihn daran hindert, seine Frustration anderen Menschen mitzuteilen, wendet er sich in einem Monolog an seine beiden Katzen. Denn die feiern „den Müßiggang wie zwei echte Hedonisten“. (S.5)

Die Moritat auf die industrielle Moderne beginnt mit Marx und „Momo“: „Heute, Genossen, geht es um den größten Raubzug der Geschichte. Ich werde euch davon erzählen, wie den Menschen die Zeit gestohlen wird. (…) Keineswegs geht es um böse graue Herren, die den Menschen ihre Stunden und Tage abluchsen, die Zigarren rauchen und Mädchen jagen, wie es in manchem Kinderbuch steht.“ (So der dezente Hinweis auf die grauen Zeitdiebe aus Michael Endes Kinderbuchklassiker „Momo“.) Der Raubzug, auf den Nymoens Kritik ziele, sei dagegen unspektakulär, weshalb auch die wenigsten merken würden, „wie ihnen geschieht“. (S.6) Olga Prader steuert hierzu zwei kleine, in den Text eingestreute Zeichnungen bei, die eine fast abgelaufene Sanduhr und einen Springteufel zeigen, doch statt des aus dem Kasten springenden Teufelskopfes sehen wir auf der Sprungfeder eine Hand, die am Handgelenk eine Armbanduhr trägt. Solche mal humorvolle, mal verblüffende oder nachdenklich stimmende Bilder begleiten und bereichern den gesamten Text.

Es fängt schon mit dem Wecker an, der die Menschen frühmorgens aus dem viel zu knappem Schlaf reißt. Der erbitterte Kampf gegen die eigene Natur beginne, denn „die Arbeit ruft!“ (S.8) Die Katzen dagegen lassen sich nicht stören, ihre Vorfahren, die Säbelzahntiger, hätten die Menschen noch gefressen. Der Ich-Erzähler, der mit seinen beiden Katzen über den Wahnsinn der modernen Welt sinniert, startet einen Ausflug in die Geschichte der Menschwerdung. Vor drei Millionen Jahren hätte auch der Mensch noch mühsam Tiere totschlagen müssen, heute aber könnten ein paar Dutzend von uns tausende Andere ernähren. Dummerweise gehörten heute aber auch die Produktionsmittel ein paar wenigen Leuten, die anderen Menschen müssten denen ihre Lebenszeit verkaufen. Die Menschen teilten sich daher in die Gruppen der Eigentümer und der Arbeiter. (S.12) Die Yachtbesitzer stünden jenen gegenüber, die ihre kostbare Lebenszeit als Lohnarbeit verkaufen müssten, für Geld. Die Reichen sind nie reich genug, denn der Bedarf nach Geld sei nie gedeckt. Deshalb sei es „für die Reichen auch wunderbar, wenn möglichst viel gearbeitet wird. (…) Die Besitzenden wollen möglichst viel fremde Zeit der anderen beanspruchen und dafür möglichst wenig bezahlen.“ Es sei ein dauerndes Ringen darum, wie viel gearbeitet werden müsse, „am Tag, in der Woche, im Leben“ (S.14) Dabei sei die Arbeit längst so effizient, dass die geschaffenen Güter für alle ausreichen würden. Soweit ein kindgerechter Kommentar auch zur derzeitigen, von Bundeskanzler und Arbeitgeberverbänden losgetretenen Debatte um eine angeblich notwendige Verlängerung von Arbeitszeiten.

Müde schleppt man sich also zur täglichen Tretmühle der immer längeren, meist stupiden Arbeit. Nur ganz wenige hätten „das Glück, etwas Aufregendes zu tun und prächtig daran zu verdienen.“ (S.22) Die meisten Menschen rackern dagegen, bis sie an Körper und Geist zerschunden seien, dabei noch ständig überwacht und zur gegenseitigen Konkurrenz angetrieben. Wenn die Plackerei wenigstens sinnvollen Zwecken dienen würde. „Aber das alles bloß, um den Reichtum einiger weniger zu vergrößern? Gaga!“ (S.24)

Sogar das Leben, Wohnen und Aufziehen der eigenen Kinder werde dabei deformiert, als Care-Arbeit an die entmenschlichende Entfremdung angeglichen. Aufbegehren gegen den Wahnsinn sei verboten, werde absurderweise selber als Verrücktheit verfolgt und an den Pranger gestellt (die Absurdität unseres inzwischen auch noch digitalisierten Kapitalismus spart sich Nymoen vielleicht noch für eine Fortsetzung auf). Das dafür verantwortliche Menschenbild, zwinge die Menschen in die Tretmühle der Arbeit, die ihre Zeit unablässig vernichte. Nymoen wird angesichts dessen, was als „normal“ oder gar als menschliche Natur von Politik, Medien und sogar im Bildungswesen propagiert wird geradezu sarkastisch:

„Dass man so früh aufsteht, dass man kaum gerade gehen und erst recht nicht denken kann: Die einzig wahre Menschennatur! Dass die einen in Palästen hausen, während die anderen unter Brücken schlafen: Die einzig wahre Menschennatur! Dass wir uns millionenfach ausbeuten und abschlachten lassen: Die einzig wahre Menschennatur!“ (S.25)

Geld sei vielen Menschen das Maß aller Dinge, das Leben bleibe auf der Strecke, denn trotz Modernität und Maschinen bleibe an freier Zeit eigentlich nichts. Der Ich-Erzähler schwankt zwischen Auflehnung und Anpassung. Manchmal, so Ole Nymoen, breite sie sich auch in ihm aus: „Die Gewalt und die Verächtlichkeit, die er beim Blick aus dem Fenster und in den Fernseher geboten bekommt…“ Dann wolle er „alles abreißen, abfackeln, abwracken“; (S.28) aber manchmal spüre er auch den entgegengesetzten Impuls, begeistert mitzumachen, aufzugehen in dieser Welt, „sich einzurichten und hübsches Kapital daraus zu ziehen.“ Aber wenn er dann in stillen Momenten ehrlich zu sich sei, finde er doch „dass beide Reaktionen gleichermaßen feige sind.“ (S.29) Vielleicht sei es an der Zeit, seine Katzen nicht länger „vollzutexten… mit der Gruselstory vom größten Raubzug der Geschichte“, überzeugen müsse man „die Menschen da draußen, die den ganz alltäglichen Wahnsinn als alternativlos ansehen.“ (S.32) Von Thatchers „there is no alternative“ bis Merkels „alternativlos“ bringt Nymoen hier den Neoliberalismus in seiner argumentativen Erbärmlichkeit zur Sprache.

Diesen Menschen müsse er klar machen, dass unser Leben ganz anders aussehen könne. Die Lösung hatte er vorher schon prägnant auf den Punkt gebracht: Wir brauchen einfach mehr Zeit für die Menschen. Seine Erzählung sei eine Einladung in eine andere, menschlichere Welt. Und wenn er Glück habe, würden viele andere Menschen ihm helfen, sie weiter zu schreiben. Sein Schlusssatz klingt wie ein Hilferuf: „Das kann er nämlich nicht alleine.“

Eine Moritat auf die kapitalistische Moderne

Ole Nymoen und Olga Prader greifen in ihrer teils erheiternden, teils anrührenden Moritat auf die kapitalistische Moderne bedeutsame Fragen der Gegenwart auf. Die Digitalisierung, soziale Netze und Mobilphones bleiben jedoch ausgespart -man bewegt sich auf dem Niveau der Fernseh-Gesellschaft, vermutlich eine künstlerisch gewählte Vereinfachung. Der etwas unreflektierte Umgang mit der Bezeichnung als „verrückt“ wird dadurch tolerabel, dass die Lebensweise der „Normalen“ im Kapitalismus ebenso als verrückt gekennzeichnet wird, wie sich auch der Ich-Erzähler bewusst ist, dass seine Kritik und Lösungsvorschläge von diesen „Normalen“ sicherlich als „verrückt“ abgestempelt würden (vielmehr jetzt werden dürften). Die besondere Diskriminierung psychisch Kranker in der hektisch digitalisierten und disziplinierten Arbeitsgesellschaft wird nicht thematisiert, schwebt aber im Umgang mit dem Prädikat „verrückt“ bedrohlich über dem Protagonisten.

Nicht in jedem Detail ist die Analyse sattelfest, so endet etwa die Geschichte der Jäger und Sammler sicher nicht bei den frühen Hominiden vor drei Millionen Jahren. Doch die Moritat überzeugt mit Sprachbildern und bleibt in ihrer Aussage ebenso prägnant wie nachvollziehbar. Marxistisch inspirierte Kapitalismuskritik wird beinahe kindgerecht veranschaulicht und mit aktueller Kulturphilosophie und Soziologie verbunden.

Beschleunigungsgesellschaft und Entfremdung

Der bekannte Soziologe Hartmut Rosa kritisierte etwa die heutige „Beschleunigungsgesellschaft“ in der die Produktivkraft von Zeitdruck und ständiger Verfügbarkeit ausgenutzt wird, um immer schneller immer mehr Profit zu generieren. Entfremdung wird nicht nur individuell erlebt, denn Institutionen, Arbeitswelten, digitale Medien und urbane Strukturen tragen dazu bei, dass sich Menschen wie Zahnräder in einem größeren System fühlen. Rosa fordert, Entfremdung nicht nur als individuelles Misslingen, sondern als strukturelles Phänomen zu sehen und argumentiert, dass moderne Gesellschaften durch zunehmende Temporalität und Beschleunigung gekennzeichnet sind. Die manifestieren sich in Arbeit, Technologie, Kommunikation und hektischer Mobilität der immer disponibler gemachten Arbeitenden bzw. in ihrer so gesteigerten Entfremdung.

Entfremdung entsteht laut Rosa, wenn Beziehungen zu Menschen, Orten und Dingen nicht mehr in einer sinnhaften, resonanten Weise erlebt werden. Die von ihm propagierte Haltung der „Resonanz“ bedeutet dagegen eine gelingende, wechselseitige, lebendige Verbindung. In einer beschleunigten Welt bricht diese Qualität oft ab, weil Aufmerksamkeit zerfällt, Nähe zu den Mitmenschen abnimmt und Dinge nur noch als Mittel dienen. Entfremdung sieht Rosa somit nicht primär als Leiden einzelner Subjekte, sondern als Fehlverhältnisse in den Bezügen zu Zeit, Ort, anderen Menschen und Dingen. Es geht um die Qualität der Verbindungen, nicht nur um innere Zustände. Er argumentiert, dass moderne Gesellschaften durch strukturelle Beschleunigung soziale Räume auf Distanz halten.

Die Beschleunigung erzeuge ein permanentes Gefühl des Verdrängens und der Zeitnot, wodurch Individuen sich entfremden von sich selbst, anderen Menschen und der Welt. Motiv der Moderne ist das Versprechen einer umfassenden Weltbeherrschung, die auch das Glück des Subjekts garantieren müsste. Jedoch sieht auch Rosa, dass die Beherrschung des Anderen letztendlich kein Glück hervorbringt, sondern ins Gegenteil umschlägt, und beklagt, systematische Eskalationstendenz veränderten „das menschliche Weltverhältnis durch Dynamisierung in diesem Steigerungssinn“.

Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit erreicht vielleicht nicht die Analysetiefe der Theorien von Rosa, findet dafür aber verständlichere Worte für diese Misere. Und weist auch klarer auf eine mögliche (aber für „verrückt“ oder „extremistisch“ erklärte) Lösung hin: Schluss damit, den Interessen der Besitzenden in den Medien nach dem Munde zu reden und in der Politik ihren Profit auf Kosten der Mehrheit zu steigern.

Abschließende Bewertung

Das Werk besteht aus einem Heft nebst eingelegtem DIN A3-Poster, welches das Titelbild und den Text begleitende Zeichnungen aufgreift: Die Karikatur eines emsigen Menschen mit vier hektisch tätigen Armen wird schlangenförmig umkreist durch einen Ring von aneinander geknüpften Armbanduhren, der selbst wieder von Symbolbildern eines „Guten Lebens“ umgeben ist. Stilsicher dem Text zugedacht bebildern Olga Praders Zeichnungen die von Ole Nymoen entwickelte Lehr-Moritat zur modernen Lebens- und Zeitempfindungslage. Meist einzeln oder zu zweit in den Text eingestreut, zuweilen ganz- oder doppelseitig bilden sie die visuelle Gliederung des durchgehenden, sonst nicht weiter unterteilten Textes.

Nicht nur als bibliophiles Schmuckstück zeigt das Maro-Heft die Absurdität moderner Wirtschafts- und Arbeitsorganisation, auch die ungerechte Verteilung der Güter wird ironisierend infrage gestellt. Was uns im Alltag kaum je bewusst wird, führt Ole Nymoen hier sprachlich bilderreich vor Augen, unterstützt durch bezaubernde Zeichnungen von Olga Prader. Empfehlenswert für Schulen als auflockerndes Unterrichtsmaterial und für uns alle bei Frustration über Hektik, Schlaf- und Zeitmangel.

Ole Nymoen/Olga Prader: Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit. Vom Zwang, für Geld zu arbeiten oder: Der größte Raubzug der Geschichte. Ein hedonistisches Heft, Maro Verlag Augsburg 2025, 36 Seiten, fadengeheftet, 16,00 Euro, ISBN 978-3-87512-635-8

Olga Prader ist frz.-schweizerische Illustratorin und Grafikdesignerin, arbeitete für das „Zeit“-Magazin, das Schauspielhaus Zürich und das MoMA. Ole Nymoen ist Journalist und Buchautor, publizierte 2025 das Buch „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde. Gegen die Kriegstüchtigkeit“, hostete mit Wolfgang M. Schmitt den Podcast „Wohlstand für alle“. Das Werk erschien in der Reihe „MaroHefte“, wo laut Maro Verlag Essays auf Illustrationen treffen „zu Themen, die uns unter den Nägeln brennen, zu Politischem, Feministischem und Tabubehaftetem. Jedes Heft wird besonders gestaltet und mit Originaldruckgraphiken mit bis zu 5 Sonderfarben gedruckt, fadengeheftet.“ Der Maro Verlag bewegt sich zwischen Sozialpolitik, Kunst und Literatur und publizierte Bücher von Künstlern und Autoren wie Charles Bukowski, Jörg Fauser, Manfred Ach oder Klaus Groh sowie Fachbücher zu Textildesign, Sozialpädagogik, Sozialpolitik und Umweltökonomie.

Rezension: Ole Nymoen/Olga Prader: Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit. Vom Zwang, für Geld zu arbeiten oder: Der größte Raubzug der Geschichte, Maro Verlag Augsburg 2025

01/12/17

Rezension Felix Stalder: Kultur, Digitalität & Entmündigung

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag (edition suhrkamp, Bd.2679), Berlin 2016, 283 S., 18,00 Euro, ISBN 978-3-518-12679-0.

Thomas Barth

Felix Stalder ist ein Schweizer Kulturphilosoph, der sich in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ mit der Ko-Evolution von digitalen Technologien, Gesellschaft und Kultur befasst. Er warnt darin unter Berufung auch auf Edward Snowden und Julian Assange vor einer schleichenden Entmündigung, die auf uferlose Überwachung und technokratische Massenmanipulation setzt.

Stalders interdisziplinärer Ansatz verbindet philosophisches Denken mit Soziologie, Medien- und Politikwissenschaft, um Digital- und Internetkultur zu analysieren und das utopische Potential digitaler Commons mit ihren Open-Source-Projekten zu beleuchten. Er blickt dabei auch auf dunkle Wurzeln und Gefahren der Digitalität, die er vor allem in Neoliberalismus, Profitorientierung und bei westlichen (!) Geheimdiensten lokalisiert; dies überrascht, denn sonst kreisen westliche Diskurse über Manipulationen im Internet eher um russische und chinesische Geheimdienste. Stalder warnt vor Gefahren von Algorithmisierung, Überwachung und massenmanipulativer Post-Demokratie, zieht jedoch letztlich ein optimistisches Fazit. Die Commons zeigen trotz heutiger Dominanz der Technokraten mit ihrer neoliberalen TINA-Ideologie („There is no alternative“, Thatcher/Merkel S.206) einen offenen „Raum der Zukunft“ (S.281).

Stalder entwirft ein facettenreiches Bild der digitalen Kultur, die geprägt sei von Fluidität, Vernetzung und stetigem Wandel, bei dem sich unser Verständnis von Raum, Zeit, Identität und Macht grundlegend veränderte. Er stellt die These auf, dass die Digitalität sich nicht in technologischer Innovationen erschöpft, sondern durch neue Formen der Selbstorganisation, des politischen Engagements und der kulturellen Produktion geprägt ist. Katalysator ist dabei das Internet als Medium mit spezifischen Formen des Austauschs. Drei zentrale Formen der Kultur der Digitalität sind die Referentialität (kulturelles Material wird ubiquitär zugänglich und fließt in eine explodierende Produktion von Kulturgütern), die Gemeinschaftlichkeit (kulturelle Ressourcen werden geteilt und Bedeutungen durch stetige Kommunikation stabilisiert) und die Algorithmizität (die Informationsflut wird digital geordnet, aber ebenso werden Gesellschaft und Politik technokratisch entpolitisiert).

Kooperation und der Begriff der Digitalität

Zentrales Anliegen Stalders sind Potenziale der Digitalität für eine demokratische und partizipative Gesellschaft. Er plädiert dafür, bestehende Hierarchien aufzubrechen und neue Formen der Kooperation zu ermöglichen -vor allem in digitalen Commons, deren Wurzeln er in der Open Source und Open Software-Bewegung schon der frühen Internet Communities sieht, etwa den Debian-, GNU- und Linux-Projekten. Darin zeige sich eine digital möglich gewordene Neuverhandlung von gesellschaftlichen Werten und Normen im digitalen Zeitalter: Anstelle staatlicher Hierarchien und Profitorientierung der Konzerne trete die freie Kommunikation der Netze, die auf Meritokratie und Freiwilligkeit basiere. Das Linux-Betriebssystem Ubuntu zeigt in seinem Namen nicht zufällig eine interkulturelle Referenz auf den vielschichtigen Begriff der Bantusprache, der Menschenwürde und vernetzte Gemeinschaftlichkeit verbindet (vgl. Afrotopia von Felwine Sarr).

Stalder definiert den Begriff der Digitalität als eine kulturelle Struktur, die sich durch die Veränderung von Wissen, Macht und Kommunikation in der digitalen Ära auszeichne. Digitale Technologien haben zwar einen tiefgreifenden Einfluss auf verschiedene Aspekte unseres Lebens, vom individuellen Verhalten über soziale Interaktionen bis hin zur politischen Organisation.

Laut Stalder ist Digitalität jedoch keineswegs nur eine technologische Entwicklung, sondern vielmehr eine komplexe kulturelle Dynamik, die unsere Vorstellungen von Wahrheit, Realität und Identität in Frage stellt. Er reklamiert eine „im weitesten Sinne poststrukturalistische Perspektive“, Kultur sei heterogen, hybrid und „von konkurrierenden Machtansprüchen und Machtdispositiven durchzogen“, von „Begehren, Wünschen und Zwängen“ getrieben, Kultur mobilisiere diverse Ressourcen in der Konstituierung von Bedeutung (S.17).

„’Digitalität‘ bezeichnet damit jenes Set von Relationen, das heute auf Basis der Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter sowie der Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird.“ (S.18)

Damit solle jedoch nicht Digitaltechnik ins Zentrum gerückt oder Digitales von Analogem abgegrenzt werden. Analoges würde nicht verschwinden, sondern „neu- und teilweise sogar aufgewertet“. „Digitalität“ verweise vielmehr auf historisch neue Möglichkeiten der Konstitution und Verknüpfung von Akteuren (menschlichen wie nichtmenschlichen):

„Der Begriff ist mithin nicht auf digitale Medien begrenzt, sondern taucht als relationales Muster überall auf und verändert den Raum der Möglichkeiten vieler Materialien und Akteure.“ (S.18)

Stalder knüpft an den Begriff des „Post-Digitalen“ von Florian Cramer an, der damit Praktiken bezeichnet, die sich zwar in Digitalmedien entwickelten, deren offene Interaktionsform sich jedoch immer weiter verbreite. Stalders Begriff der Digitalität vermeide jedoch das missverständliche Präfix „Post-“, das fälschlich so gelesen werden könne, dass „etwas vorbei sei“, und löse sich zugleich von Cramers technikfixiertem Kontext der Medienkunst. Stalder nimmt in diesem Sinne die ganze Gesellschaft in den Blick, denn „…die Präsenz der Digitalität jenseits der digitalen Medien, verleiht der Kultur der Digitalität ihre Dominanz.“ (S.20)

Nicht technologische Entwicklungen allein hätten der Digitalität den Weg gebahnt, sondern auch Politik, Kultur und Ökonomie. Wichtig erscheinen Stalder insbesondere der Aufstieg der Wissensökonomie und der Kritik an Heteronormativität und Postkolonialismus. Die Wissensökonomie habe seit den 1960ern explizit den wachsenden Informations- und Wissensbedarf von Behörden und Konzernen in westlichen Konsumgesellschaften thematisiert. Dazu gehöre die Massenmanipulation durch immer ausgefeiltere Werbung, Propaganda und PR, die der Freud-Neffe Edward Bernays maßgeblich entwickelte:

„Kommunikation wurde zu einem strategischen Feld für unternehmerische und politische Auseinandersetzungen und die Massenmedien zum Ort der Handlung… Eine Medienindustrie im modernen Sinne entstand, die mit dem rasch wachsenden Markt für Werbung expandierte.“ (S.29f.)

Man sprach in den 1980ern und 90ern von „Informations-“ und später „Netzwerkgesellschaften“, in denen -neben der Digitalisierung- eine Flexibilisierung der Arbeit mit neoliberalem Abbau der Sozialstaaten einherging. Der Freiheitsbegriff wurde dabei von neoliberaler Politik und den seit den 1960ern wachsenden „Neuen Sozialen Bewegungen“ konträr definiert: Neoliberal als Freiheit der Märkte, sozial als persönliche Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen (S.33). Exemplarisch für Letzteres behandelt Stalder die Schwulenbewegung in Westdeutschland, Rosa von Praunheim, den Bonner Tuntenstreit 1974, die Aids-Krise ab 1983. Diversität und Hybridisierung der Kultur der Digitalität wurzele in emanzipativen Bewegungen, deren Erfolg sich spätestens 2014 beim European Song Contest in der breiten Öffentlichkeit manifestierte -mit der Stalder seine Abhandlung eingeleitet hatte: „Conchita Wurst, die glamouröse Diva mit Bart, war die Gewinnerin“ (S.7), sie habe komplexe Geschlechterkonstruktionen „zumindest ansatzweise mainstreamfähig“ gemacht (S.48):

„Conchita Wurst, die bärtige Diva, ist nicht zwischen widerstreitenden Polen zerrissen. Sie repräsentiert vielmehr eine gelungene Synthese, etwas Neues, in sich Stimmiges, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass die Elemente der alten Ordnung (Mann/Frau) sichtbar sind und zugleich transzendiert werden.“ (S.99)

Schattenseiten: Algorithmizität und Post-Demokratie

Die Digitalität ermöglicht laut Stalder neben hybrider Diversität auch neue Formen der Partizipation und Vernetzung, die zur Demokratisierung von Wissen und Kommunikation führen können. Gleichzeitig birgt Digitalität aber auch Risiken, wie die Manipulation durch Algorithmen, Filterblasen und Desinformation. Zugleich seien Algorithmen jedoch prinzipiell unabdingbar, um in einer diversen und hybriden Explosion der Kultur mit ihrer wachsenden Unordnung orientiert zu bleiben. Ohne Suchmaschinen etwa könne heute kein Archiv mehr die digitalen Datenmassen, Texte und Kulturprodukte bewältigen.

Algorithmen automatisieren Kulturtechniken wie die Inhaltsanalyse von Bildern oder das Schreiben von Texten: Der Chef der Firma „Narrative Science“, die automatisierte Sport- und Finanzberichterstattung anbietet, habe 2012 für die nächsten Dekaden eine Ersetzung von neunzig Prozent der Journalisten durch Computer angekündigt. Bedenklich sei, „dass sich auch die CIA für Narrative Science interessiert und über ihre Beteiligungsgesellschaft In-Q-Tel in das Unternehmen investiert hat, ist ein Hinweis darauf, dass bereits heute Anwendungen jenseits des Journalismus entwickelt werden. Zu Propagandazwecken lassen sich mit Algorithmen beispielsweise problemlos massenhaft Einträge in Onlineforen und den sozialen Massenmedien erstellen.“ (S.175)

Dynamische Algorithmen können sich sogar halbautomatisch-eigenständig weiterentwickeln: 2012 habe Google mit solchen „deep learning“-Verfahren die „Gesichtserkennung in unstrukturierten Bildern“ um siebzig Prozent verbessert (S.180). In ausufernder Überwachung greife heute ein „Daten-Behaviorismus“ nach unserer Privatheit, in einem „Revival eines nach wie vor mechanistischen, reduktionistischen und autoritären Ansatzes“. Diese Haltung ungehemmter Kontrolle unseres Verhaltens finde sich bei jenen, die über umfassende Beobachtungsmöglichkeiten verfügen, „dazu gehören neben Facebook und Google auch die Geheimdienste westlicher Länder“ (S.201). Dabei ginge es neben der gern genannten „Serviceverbesserung“ aber auch um soziale Normierung (erprobt in unethischen psychologischen Experimenten, wie man Stalder hier ergänzen könnte) sowie „Profit- oder Überwachungsoptimierung“ (S.202). Anders als viele deutsche Medienwissenschaftler, die an dieser Stelle der Analyse krampfhaft mit den Fingern auf „russische Trolle“ und den chinesischen Überwachungsstaat zeigen, beweist der Schweizer Felix Stalder Rückgrat und kritisiert die eigenen, die westlichen Machteliten (was besagte Kollegen wohl eher nicht aufgreifen dürften).

Assange, Snowden und Entmündigung im libertären Paternalismus

2013 habe, so Stalder, Edward Snowden die „flächendeckende Überwachung des Internets durch staatliche Geheimdienste“ enthüllt (S.233). Felix Stalder zitiert den Wikileaks-Gründer Julian Assange und resümiert: „Die Grenzen zwischen postdemokratischen Massenmedien und staatlichen Nachrichtendiensten sind fließend. Wie inzwischen bekannt ist, bestehen zwischen beiden Bereichen personelle Kontinuitäten und inhaltliche Gemeinsamkeiten.“ (S.234) Die USA hätten seit 2011 z.B. „ein eigenes Programm zu sozialen Massenmedien mit dem Namen ‚Social Media in Strategic Communication‘. (…) seit 2009 vernetzt die Europäische Union im Rahmen des INDECT-Programms Universitäten und Sicherheitsorgane mit dem Ziel ‚Lösungen und Werkzeuge der automatisierten Gefahrenentdeckung zu entwickeln’… Überspitzt könnte man sagen, dass die Missachtung der Grundrechte mit der Qualität der so geschaffenen Dienstleistung ‚Sicherheit‘ legitimiert wird.“ (S.235f.)

Leider sei die Gegenwehr gegen eine in westlichen Gesellschaften so geschaffene soziale Atmosphäre der Angst gering geblieben. Hinter Überwachung und Massenmanipulation stehe in den heutigen Postdemokratien, die demokratische Politik durch technokratisches Gouvernance ersetzen, eine neoliberale Anti-Aufklärung. Obsolet sei heute für die Machteliten „…die aus der Zeit der Aufklärung stammende Annahme, der Mensch könne sich durch den Einsatz seiner Vernunft und die Ausbildung seiner moralischen Fähigkeiten verbessern und sich aus seiner Unmündigkeit durch Bildung und Reflexion selbst befreien.“ (S.227) Eine kybernetische Sicht sehe den Menschen als dressierbare Versuchsratte, die mit subtilen „Nudges“ (Schubsern) zu steuern sei, so Richard Thaler und Cass Sunstein.

Die beiden Neobehavioristen bezeichnen ihr System als „libertären Paternalismus“, der eine „freiheitliche Bevormundung“ anstrebe, was bei den Regierungschefs in Washington und London, Obama und Cameron, so viel Anklang fand, dass sie Thaler und Sunstein in ihre Teams holten (S.228f.). Besonders in den sozialen Massenmedien (also den „sozialen Medien“, Stalder benutzt diesen gängigen Begriff jedoch nicht), ließe sich die mediale Umgebung via Nudging manipulieren. Dies geschehe vor allem im Dienste einer Gruppe, die Stalder als „den inneren Kern des postdemokratischen Systems“ bezeichnet, „bestehend aus den Spitzen der Wirtschaft, der Politik und der Geheimdienste“ (S.230). Viele Mainstream-Konformisten dürften in dieser simplen und analytisch untadelig abgeleiteten politischen Erkenntnis bereits angebliche „Verschwörungstheorie“ oder sogar „-ideologie“ wittern. Denn medial und in der akademischen Forschung werden die von Stalder aufgezeigten Fakten und Zusammenhänge geradezu krampfhaft ignoriert. Es ist zu befürchten, dass genau diese krampfhafte Ignoranz künftig zumindest diese Teile von Stalders Buch betreffen wird. Machtstrukturen dieses Kalibers werden bislang selten öffentlich diskutiert und dies geschieht dann oft nur in künstlerisch verfremdeter Form, wie etwa bei Mark Lombardi.

Stalder ruft im Fazit dazu auf, die Dynamik der Digitalität kritisch zu reflektieren und sich aktiv mit den Auswirkungen digitaler Technologien auf unsere Gesellschaft auseinanderzusetzen. Indem wir die Chancen und Herausforderungen der Digitalität verstehen, können wir Freiheit und Autonomie im digitalen Raum bewahren und weiterentwickeln: Obwohl „die Postdemokratie das Politische selbst abschaffen und alles einer technokratischen Alternativlosigkeit unterordnen will“, beweise die Entwicklung der blühenden Commons das Gegenteil, meint Stalder und schließt sein Buch mit dem Verweis auf utopische Potentiale der Digitalität: „Diese Widersprüchlichkeit der Gegenwart öffnet den Raum der Zukunft.“ Ausbaufähig scheint an Stalders Argumentation die Subjektkonstitution im Netz, die mit der Konzentration auf Kommunizieren, Posten und Liken wohl noch nicht ausreichend erfasst ist, sowie deren Verknüpfung mit Foucaults Konzept des Panoptismus.