10/12/23

Ideologiekritik: Neoliberalismus – Reimers „Der absurde Kapitalismus“

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Rezension von Thomas Barth

Kann der Marxismus heute noch zu einer Kritik der Netzgesellschaften beitragen? Jürgen-Michael Reimer meint ja und legt eine philosophisch-politökonomische Analyse der Absurdität unseres digitalisierten Kapitalismus vor. Bei Marx, Adorno und Camus sucht er nach Antworten für unsere Krise und deren Unsichtbarkeit in Medien, Netzen und Denken.

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Immer wieder, so Reimer einleitend, tauche in Gesprächen über die Klimakrise ein absurder Gedanke auf: Wir könnten uns heute in unseren westlichen Gesellschaften zwar das Ende der bewohnbaren Welt vorstellen, nicht aber das Ende des Kapitalismus. Thema des Buchs ist folgerichtig die Absurdität unseres Wirtschaftssystems, insbesondere des heutigen neoliberalen Kapitalismus. Der habe sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertige, er habe ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus habe er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruhe, und in diesem Sinne sei er absurd. Dieser Kritikansatz ziele nicht auf ethische oder moralische Verfehlungen des Neoliberalismus, sondern auf seine Dysfunktionalität.

Prof. em. Jürgen-Michael Reimer, studierte Sozialwissenschaften in Hamburg und Göttingen, lehrte „Human Ressource Management“ an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg und erweist sich im vorliegenden Buch als origineller Vertreter einer marxistischen Politökonomie auf der Höhe der Zeit was Digitalisierung, sogenannte „Soziale Medien“ und Plattformkonzerne wie Apple, Microsoft, Facebook, Google oder Amazon angeht.

Besagte Verheißungen, mit denen sich der neoliberale Kapitalismus rechtfertigt, erweisen sich Reimers Analyse als pure PR: Wohlstand für alle und Gerechtigkeit werden in absurder Weise konterkariert, Bildungs- und Gesundheitswesen ausgehungert, Natur und Klima verwüstet und selbst mit dem“ liberalen Markenkern“ der Freiheit ist es nicht weit her. Im Gegenteil, neoliberale Regime bedienen sich ausgiebig modernster digitalisierter Massenmanipulation: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen“ (S.93).

Es etabliere sich eine neoliberale „Marketinggesellschaft“, die auf großflächige Manipulation des Bewusstseins setze und uns mit kulturellen und affektiven Gütern abspeise. Digitale Plattformen stellen dabei etwa über Influencerinnen Märkte der Eitelkeiten und des Sozialprestige bereit, wo mit Selfies und Partnerbörsen um Aufmerksamkeit gebuhlt würde und Luxusgüter immer größeren Raum einnehmen. „So treffen zwei unvereinbare Imperative -Lohnverzicht und unbegrenzter Konsum- im Individuum aufeinander. Das große Paradox!“ (S.102) Ergebnis sei sich ausbreitende Entfremdung, die zunächst klassisch marxistisch erläutert und dann auf den Neoliberalismus bezogen wird: „Auch das Absurde lässt sich als Entfremdung deuten“ (S.108) Die „Auswüchse des auf Algorithmisierung beruhenden digitalen Kapitalismus“ sieht Reimer schon bei Horkheimer/Adorno und ihrer „Dialektik der Aufklärung“ vorausgeahnt.

Der neoliberale Kapitalismus hat sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertigt, er hat ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus hat er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruht. In diesem Sinne ist er absurd. Die in dem Essay entfaltete Kritik am Neoliberalismus ist funktionalistisch und macht diesen als interessengeleitete Ideologie kenntlich.“ (Klappentext, PapyRossa Verlag)

Die Entwicklung des Geistes des Kapitalismus in der vorindustriellen Zeit wird vom Reimer beginnend bei Aristoteles bis zu Marx, Weber und Sombart nachgezeichnet. Letzterer sah den Luxus als Bedingung der Entstehung des kapitalistischen Geistes, wobei mit Weber (protestantische) Askese als weitere Wurzel dazu gedacht werden muss. Die Vorgeschichte des Neoliberalismus wird in marxistischer Begrifflichkeit analysiert und als ihre Folge die Pervertierung heutiger Lebenswelt herausgearbeitet:

„Als seine zentralen Merkmale werden sowohl die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation als auch deren Ausuferung zu einer ‚gesellschaftlichen Grammatik‘ herausgestellt, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränkt.“ (Klappentext)

Neoliberalismus, Staatsverachtung und machtbesoffene Konzerne

Seit den 1970er und -80er Jahren trat der neoliberale Kapitalismus seinen Siegeszug an, da mit Überproduktion und Legitimationsverlusten Krisenerscheinungen zu überwinden waren. Diese wurden der Akkumulationslogik im Sinne des Nutzens einer kleinen Minderheit von Kapitaleignern immer gefährlicher. Bereits in der Ideologie des Kapitalismus verschleierte der Liberalismus die ökonomischen Kerninteressen dieser Minderheit mit dem hehren Wert der Freiheit. Die liberalen Wurzeln des Neoliberalismus zielen auf Marktfreiheit, die eine Reduktion staatlicher Macht ins Zentrum rückt. Milton Friedman habe vertreten, dass Freiheit da beginne, wo die Politik aufhöre. Hannah Arendt habe dem entschieden widersprochen, Freiheit sei der Sinn von Politik, den der neoliberal erstrebte „Minimalstaat“ (Hayek, Nozik) schwerlich einlösen könne.

Die Haupttugenden einer freiheitlichen Gesellschaft seien nach John Rawls, so Reimer, Wahrheit und Gerechtigkeit, wobei jeder gleiche Grundfreiheiten habe und wirtschaftliche Ungleichheit so zu gestalten sei, dass sie dem Gemeinwohl diene. Dem stehen die Doktrinen des Neoliberalismus entgegen, die ausgehend von der Mont Pèlerin Society (Hayek, Popper, Friedman u.a. 1947), 1973 in der Pinochet-Diktatur in Chile erstmals umgesetzt wurden. In USA und UK folgten Thatcher und Reagan diesem Beispiel und 1989 wurden im Washington Consensus die neoliberalen Leilinien festgelegt, an denen sich auch IWF, WTO und Weltbank orientiert hatten: Reduktion der Staatsquote, Steuersenkung, Privatisierung von Staatsbetrieben, Deregulierung vor allem der Finanzmärkte, Investorenschutz. Diese Doktrinen finden sich in Austeritätsprogrammen im Euroraum unter Stichworten wie Fiskalpakt, Schuldenbremse, Privatisierung. Neoliberaler Marktradikalismus und Antikollektivismus (wurzelnd in der antikommunistischen McCarthy-Bewegung der USA) laufen damit auf eine Schwächung des Staates hinaus, deren Hauptmethode die Privatisierung sei. Zu ihrer Rechtfertigung diene die Krise der Staatsfinanzen, deren Ursache nicht in neoliberalen Steuersenkungen gesehen, sondern als „Demokratieversagen“ umgedeutet werde.

Die unermüdliche Lobbyarbeit des neoliberalen Kapitals ziele hierzulande vor allem auf die Privatisierung von Post, Verkehr, Bildung, Gesundheit, Wohnen und Daseinsvorsorge. Der Ausverkauf des Staates erfolge auch durch ppp (public privat partnership -eine Erfindung der bereits vor der Jahrtausendwende zunehmend neoliberal agierenden Grünen in ihrer ersten Regierungsbeteiligung unter Schröder. Manipuliert werde durch subtiles deep lobbying, etwa mit der Platzierung von Leihbeamten aus Privatunternehmen in Ministerien (hier waren ebendiese Grünen ebenfalls federführend und schufen Querverbindungen von Großkapital und Ökopartei-Spitzenpolitiker:innen), staatlicher Beauftragung privater Berater, Formulierung von Gesetzen durch Anwaltskanzleien usw.

Die neoliberale Finanzialisierung der Märkte hätte etwa in Finanz- und Griechenlandkrise (2008 ff.) großes Unheil bewirkt, neoliberale Digitalisierung hätte unsere Daten in kognitive Güter verwandelt, Überwachung dabei die Freiheitsrechte ausgehöhlt (Zuboff) und Leitunternehmen wie Google, Apple, Facebook, Amazon wären inzwischen zu proprietären Märkten (in Privatbesitz) geworden. Der neoliberal regierte Staat habe die Besitzenden und Unternehmen „gepampert“, durch „mehrfache und deutliche Reduzierung des Spitzensteuersatzes der Einkommenssteuer. Die hätten sich durch immer weitergehende Steuervermeidung selbst der niedrigen Steuern bedankt, bis hin zu den „extremen Cum-Ex-Skandalen“, wo kriminelle Bereicherung die Staatskasse 10 bis 30 Milliarden Euro gekostet habe (S.80). Was den Autor zur Frage führt, wie lange wir uns den Kapitalismus noch leisten können.

Die Legitimierung und Einhegung wirtschaftlicher Macht durch demokratischer Prozesse sei im Neoliberalismus nicht erwünscht (der Leser wird an die erste Anwendung neoliberaler Dogmen in der Pinochet-Diktatur erinnert). Sogar die Märkte selbst gerieten bei digitalen Plattformkonzernen in das Eigentum des Kapitals. Folge sei eine Entmachtung der Arbeitnehmerseite im Wirtschaftsprozess, eine Senkung der Lohnquote im BIP und die Demokratisierung betrieblicher Entscheidungen „steht nicht einmal zur Diskussion“ (S.94).

Der Industriekapitalismus brachte bedeutende Treiber der Produktivitätssteigerung wie Arbeitsteilung, Massenproduktion und technische Innovationen, aber auch eine industrielle Reservearmee von Arbeitslosen. Deren Verdammung zur „unfreiwilligen Askese“ der Elendsviertel diene zur Disziplinierung der Arbeiterschaft. Diese Drohkulisse zeige sich bis heute im Neoliberalismus, etwa in der Programmatik des „Forderns und Förderns“ bei Hartz IV, die Verwerfungen des Arbeitsmarktes der Eigenverantwortung des undisziplinierten Subjekts zuschreibe. Global komme in einer Privatisierung der Macht (vgl. Krysmanski) es zugleich zum Übergang einer geopolitischen zu einer geoökonomischen Ordnung, deren neoliberales Finanzregime von OECD, IWF, WTO und Weltbank unter dem Schlagwort einer „global governance“ den Charakter einer „vierten, monetativen Gewalt“ annehme (S.47). Angesichts globaler Macht ist die Demokratie in Gefahr (vgl. Barth) und auch durch bis in die intimsten Bereiche der Lebenswelt vordringende digitale Technologien sind die Menschen heute einer absurden gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesetzt, deren Lebensperspektive sich für die Mehrheit auf ein zunehmend prekäreres muddling through beschränke (S.99). Absurd in einer Gesellschaft die unsagbaren Reichtum produziert, sich selbst für rational hält und Freiheit und Individuum zu ihren höchsten Zielen erklärt.

Soziale Medien, Propaganda, Konformismus

Eine vom Liberalismus proklamierte Freiheit werde für die meisten Menschen zur zynischen Illusion, die sich nur die oberen 20 Prozent in der steiler werdenden Einkommenspyramide noch wirklich finanzieren können. Menschliches Leben würde vielmehr zwischen wachsender Unfreiheit im digitalisierten Arbeitsleben, Konsumismus und unfreiwilliger Askese des Prekariats zerrieben. Der neoliberal gepriesene Wettbewerb bringe am Ende auf dem Markt nur wenige Sieger hervor: The winner takes all. Ein absurder Effekt, weil der Wettbewerb so seine eigenen Voraussetzungen zerstört. Besonders absurd sei der Glaube, der Markt könne die Gesellschaft mit heute öffentlichen Gütern versorgen. Der Markt habe keine Lösungen in den Krisen der Umwelt, der Pandemie, der Energieversorgung oder des Ukrainekrieges erbracht. (S.75) Bei Privatisierungen sei die Effizienzsteigerung nicht eingelöst worden, Leistungen wurden teurer, die Versorgung schlechter und in der öffentlichen Infrastruktur sei hierzulande ein Investitionsstau von 450 Milliarden Euro zu verzeichnen. Der neoliberale „Schlanke Staat“ sei in Wahrheit ein Ausverkauf des Staates zu Ramschpreisen gewesen. Staatliche Behörden sind zwar für Umweltschutz, Bildung, Gesundheitswesen zuständig, aber der Medien, Parteien und Öffentlichkeit dominierende Neoliberalismus untergrabe mit seiner Forderung nach dem Rückzug des Staates seine eigenen Grundlagen.

Ein absurder Trick des Neoliberalismus sei seine Selbstdarstellung als Verteidiger der Freiheit bezüglich tatsächlicher Machtausübung: „Neoliberale Argumentationen schweigen in der Regel die Macht des Kapitals tot, eine für Ideologien typische Form selektiver Wahrnehmung. Neoliberale Manager bzw. Kapitaleigner bestreiten häufig, Macht auszuüben. Sie geben vor, mit ihren Entscheidungen der invisible hand des Marktes zu folgen.“ (S.91)

Unseren Gehorsam sichern sich neoliberale Regime auch durch (zunehmend digitalisierte) Erziehung und Propaganda vor allem durch Mobilisierung von Voreingenommenheit: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen.“ (S.93)

Camus, das Absurde und die liberale „Freiheit“

„Die Vorstellungen zur Absurdität sind dem literarischen und philosophischen Werk von Albert Camus entlehnt. Bei ihm führt das Absurde, die Begegnung des sinnsuchenden Menschen mit einer sinnlosen Welt, nicht in eine hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr bietet das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“ (Klappentext)

Die manipulative Macht der neoliberale Ideologen veranlasst auch jene Menschen, die im Neoliberalismus benachteiligt werden, zu einer unbewussten und freiwilligen Unterwerfung. Die Entfremdung der Menschen wachse im digitalen Kapitalismus, den der Neoliberalismus entlang der Dogmen des Washington Consensus durchsetze. Im so durch wachsende Entfremdung immer absurderen Dasein der Menschen kann der Neoliberalismus die von ihm aufgerissene Lücke der Sinngebung nicht füllen. Mit dem existenzialistischen Philosophen und Schriftsteller Albert Camus könne man sich nur durch Bewusstmachung des Absurden auf Freiheit, Leidenschaft und Auflehnung besinnen, um die absurden Auswüchse des Neoliberalismus in demokratischen Prozessen zu thematisieren und einzuhegen.

Dies führe nach Camus jedoch nicht, so Reimer, in hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr biete das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Reimer will der Auflehnung ein Ziel geben und macht deshalb den Neoliberalismus als interessengeleitete Ideologie kenntlich. Deren zentralen Merkmale wären die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation sowie deren Ausuferung zu einer „gesellschaftlichen Grammatik“, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränken würde.

Eine Abkehr vom absurden Neoliberalismus wäre nur durch ergebnisoffene demokratische Diskurse möglich: „Dieser Diskurs darf aber nicht den Meinungsmachern im Dienst des Kapitals überlassen bleiben. Auf dem Weg dahin dürften sich Versuche lohnen, die absurden Auswüchse des Neoliberalismus zu thematisieren und einzuhegen.“ (Schlusssätze S.119)

Reimer ist nicht der erste Altmarxist, der auch beim französischen Existenzialismus nach Antworten suchte. Bereits Wolfgang Fritz Haug befasste sich in seiner Doktorarbeit „Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden“ (1965) mit existenzialistischer Gesellschaftskritik, deren Kreisen um das Absurde er ebenfalls in der Entfremdung und Vereinzelung begründet fand. Seine Kritik am Kult leerer Freiheit bei Sartre, aber insbesondere bei Camus war, dass dieser sich, in elitärer Ferne zur Gesellschaft, eher darin gefiel, „das Absurde“ auszuhalten, als aktiv gegen die kapitalistische Entfremdung vorzugehen. Haug zitiert Hannah Arendt, die Camus Fatalismus und Schicksalsergebenheit zuschrieb (Haug 1991, S.40f., S.190f.), eine Einschätzung, die selbst konservative Philosophiehistoriker bis heute teilen (vgl. etwa Steenblock 2002, S.326f.). Reimers funktionalistische Kritik an Neoliberalismus und digitalem Kapitalismus wird dadurch jedoch nicht geschmälert. (Thomas Barth)

Quellen:

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Barth, Thomas: Controlling statt Demokratie? In: ders. Hg.: Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S.101-111.

Haug, Wolfgang Fritz: Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden, 3.Aufl., Argument-Verlag, Hamburg 1991 (Or.1966).
Krysmanski, Hans Jürgen: Die Privatisierung der Macht, in: Altvater, Elmar u.a.: Privatisierung und Korruption: Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S.25-37.
Steenblock, Volker: Kleine Philosophiegeschichte, Stuttgart 2002.

08/18/20

Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius

Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus, Rowohlt Verlag, Berlin 2019, 287 Seiten, 18,00 Euro, ISBN 978-3-7371-0086-1

Rezension von Thomas Barth 18.08.2020

Juan Moreno, der Whistleblower, der den Relotius-Skandal aufdeckte, berichtet von seinem nervenaufreibenden Einsatz gegen die redaktionsinterne Verblendung des Edelpresse-Magazins “Spiegel” und gegen ein Fälscher- und Betrügergenie, das die komplette deutsche Medienwelt mit Charme und Sensations-Reportagen eingewickelt hatte. Relotius hatte in der Endphase der bereits mehrfach gescheiterten Enthüllung alles daran gesetzt, Morenos Ruf, seine Karriere, seine ganze Existenz gnadenlos zu vernichten; den Ruf eines 15 Jahre älteren, erfahrenen und für das schmale Salär des freien Journalisten schwer schuftenden Kollegen. Moreno, der Familienvater von vier Töchtern, hatte erstmals mit Relotius zusammen gearbeitet, dabei verdächtige Manöver von Relotius bemerkt und dies seinem Ressortleiter gemeldet. Mit weiteren Lügen, Fälschungen und Intrigen hätte Relotius es jedoch fast geschafft, seinen Ko-Autor Moreno als den Fälscher und Betrüger hinzustellen, der den gemeinsam verfassten Artikel versaut hatte. Das Buch beschreibt dies detailliert und wie die Redaktionsführung einfach nicht glauben wollte, dass ihr Superstar Relotius ein raffinierter Blender war.

Am Ende ließ nur die drohende Enthüllung des Skandals die “Spiegel”-Redaktion nachgeben, der Enthüllung durch die Journalistin Tay Wiles vom linken Traditionsmagazin “Mother Jones”, so Moreno. Gerade noch rechtzeitig konnten sie vor die Weltöffentlichkeit treten und behaupten, der “Spiegel” habe selbst einen Hochstapler in den eigenen Reihen entdeckt. Moreno hatten sie wochenlang zittern lassen, er würde demnächst gefeuert, wegen seiner angeblich aus purem Neid verbreiteten Verschwörungstheorien über ihren geliebten Relotius. Kurz darauf platzte die Skandal-Bombe international, etwa beim Guardian.

Moreno schrieb sein Buch selbst im mitreißenden Reportage-Stil, den Relotius nicht zuletzt in der renommierten Henry-Nannen-Schule und beim “Stern” lernte. Auch deren Ruf dürfte durch den Skandal gelitten haben. Allein den hinter den Nobelmagazinen stehenden Medienkonzern Bertelsmann wagte bislang niemand in den Reigen der Schande aufzunehmen. In dieser Rezension geschieht auch das, wie einzig angemessen, natürlich im den Leser wohlig einwickelnden Reportagestil. Aber nicht ohne auch Moreno zu hinterfragen, der die Schuld für ein verengtes Meinungsspektrum der Medien nicht beim führenden Meinungsmedium des Landes, bei seinem “Spiegel”, suchen will. Vielmehr sind es die Extremisten im Netz, die “brüllenden Ränder”, die Moreno, dem braven Reporter der Mitte und Mittelschicht, “Kopfschmerzen machen”.

Augstein-Motto: “Schreiben, was ist”

Juan Moreno, freier Journalist beim “Spiegel”, hat den nicht nur seiner Meinung nach größten Medienskandal seit den gefälschten Hitler-Tagebüchern aufgedeckt. Das von Henry Nannen gegründete Magazin “Stern”, Flaggschiff des Bertelsmann Konzerns, war auf Tagebücher hereingefallen, die ihnen ein professioneller Fälscher verkaufte. Claas Relotius schrieb dagegen jahrelang und sogar als Festangestellter für den “Spiegel” und wurde bereits im zarten Alter von 32 als Jahrhundertgenie des Reportage-Journalismus gehandelt. Doch wie Moreno am Ende nachwies, hatte Relotius die meisten seiner angeblich brillanten Texte nicht grandios recherchiert, sondern weitgehend frei erfunden. Er war nicht durch einfühlsame Psychologie, raffinierte Scharaden, hartnäckiges Klinkenputzen an Interviews mit verschlossenen, publikumsscheuen Berühmtheiten gelangt, hatte seine Fakten nicht mühsam in gefährlichen Slums, auf übelriechenden Müllkippen, in Kriegsgebieten kriechend durch heißen Wüstensand aufgetrieben. Relotius hatte sich die sensationellen “Fakten” mit etwas Googeln bequem im Hotelzimmer auf “Spiegel”-Spesenrechnung aus den manikürten Fingern gesaugt.

Und dies geschah ausgerechnet beim “Spiegel”. Der sah sich, spätestens nach dem Hitler-Fiasko des “Stern”, als unangefochten führendes Qualitätsmedium Deutschlands. Das legendäre Augstein-Motto “Schreiben, was ist” begründete den Stolz des “Spiegel”, dazu kam die weltweit einmalige Abteilung “Dokumentation”, die, organisatorisch völlig unabhängig von den Redaktionen, angeblich jede einzelne Zeile des Magazins, jedes publizierte Faktum auf Richtigkeit überprüft. Insbesondere glänzte das Ressort “Gesellschaft”, dessen Leitung der junge Relotius hätte übernehmen sollen, denn die dort gepflegte Textform der Reportage galt als Königsdisziplin des Journalismus (nach Relotius jetzt eher nicht mehr). Ihre Elite wird jährlich beim deutschen Reporterpreis versammelt, vor einer Jury aus den bedeutendsten Größen der Medienwelt: Chefredakteure, Ressortleiter, Starjournalisten von Netz, Print und Funk. Der junge Nachwuchsschreiber Relotius gewann vier dieser höchstrenommierten Reporterpreise, so viel wie niemand vor ihm. Er war ein brillanter Blender und durch sein Auffliegen ließ die spitze Feder von Moreno das aufgeblasene Ego einer ganzen Kaste von selbsternannten Edelfedern platzen.

Einer arroganten Kaste, nebenbei gesagt, die angewidert auf die “Unberührbaren” aus den freien Netzmedien herabschaut, auch Moreno selbst. Wenn er in seinem Buch allgemein über den Niedergang des Journalismus schwadroniert, jammert er zwar über sinkende Auflagen. Aber selbstkritisch wird er dabei kaum, wenn er stöhnt, die Leser wollten nicht mehr für klare Information zahlen, nur anrührendes Storytelling könne sie noch  locken. Sonst würden sie irgendwelchen Netztrollen nachlaufen, die für lau ihre Katzenvideos und Fakenews von rechts oder  links anbieten. Dass sein “Spiegel” erst massiv von den Wikileaks-Enthüllungen im Netz profitierte und sich dann an einer hemmungslosen Hetzkampagne gegen Julian Assange beteiligte, ist Moreno keine Zeile wert. Dass Assange politisch verfolgt wird, weil er sagte “was ist”, aber vom Mainstream verschwiegen wurde, weckt bei Moreno an keiner Stelle kollegiale Solidarität. Auch keine Neigung zu Selbstkritik am Versagen des sich wohlig in der “Mitte der Gesellschaft” einrichtenden Journalismus. “Mitte” im Sinne einer Mittelschicht, die frei nach Eliten-Kritiker Krysmanski für die Oberschicht eine wachsende Unterschicht unter Kontrolle zu halten hat. Auch mittels eines Journalismus, der alles was die Oberschicht stört, also insbesondere linke Forderungen nach gerechter Reichtumsverteilung, als extremistisch stigmatisiert und in diffamierender Absicht mit den Rechtsextremen gleichsetzt.

AfD frohlockt über Relotius und Unwort “Lügenpresse”

Den letzten Reporterpreis bekam Relotius am 3.Dezember 2018, wo der Skandal in der Redaktion längst hätte bekannt sein müssen –wie der Whistleblower Juan Moreno in seinem Buch nun akribisch nachzeichnet. Doch seine Chefs hatten ihm, dem freien Schreiber, der grauen Maus, nicht geglaubt, sondern sich vom strahlenden Ruhm ihres Stars Relotius blenden lassen, der neben den vier Reporterpreisen mit 40 weiteren Pressepreisen glänzen konnte. So blieb der versammelten Creme de la Creme des deutschen Qualitätsjournalismus auch diese letzte Blamage nicht erspart. Sie erreichte ihren Gipfel als Ines Pohl, Chefredakteurin des (nach eigener Ansicht nichtstaatlichen) Senders “Deutsche Welle”, dem wie immer bescheiden auftretenden Relotius seinen vierten Reporterpreis übergab. Relotius’ saubere Recherche sei bestmöglicher Journalismus, sein Text die Antwort der Branche auf Fake-News- und “Lügenpresse”-Vorwürfe. So zitiert Moreno sie in seiner Einleitung, um 200 Seiten weiter das Zitat eines AfD-Bundestagsabgeordneten nachzulegen, der auf Relotius‘ 2014 erschlichenen CNN-Award verwies: “Im selben Jahr, in dem das Wort ‘Lügenpresse’ zum Unwort des Jahres gewählt wurde, wurde Relotius von CNN zum Journalisten des Jahres gewählt.” (S.236)

Moreno dokumentiert, wie Relotius mit seiner Masche Insiderwissen kriminell ausnutzte, um sein eigenes Magazin genauso zu betrügen wie diverse andere Medien im In- und Ausland. Relotius Beförderung auf die begehrte Pfründe eines Ressortleiters  stand unmittelbar bevor, seinem Aufstieg zum dann wohl jüngsten “Spiegel”-Chefredakteur und perspektivisch Blattmacher und Herausgeber des bedeutendsten Qualitätsmediums des Landes hätte nichts mehr im Wege gestanden. Eine spätere Enthüllung wäre unwahrscheinlich gewesen, denn schon bald hätte Relotius nicht mehr fälschen müssen, sondern hätte nur noch schreiben lassen, so Moreno. Doch seine absehbar letzte Reportage hatte Relotius mit einem Kollegen schreiben müssen, der sich nicht so leicht blenden ließ wie alle anderen im Medienhause Augstein, wie Moreno in aller Bescheidenheit für sich in Anspruch nimmt.

Jaegers Grenze” – Trumps martialische Hillbillies

Der gemeinsame Moreno-Relotius-Artikel erschien als “Jaegers Grenze” im “Spiegel” vom 27.11.2018. Moreno, der die Veröffentlichung nicht mehr verhindern konnte, gibt ihn als 3.Kapitel seines Buches in voller Länge wieder. Es ist eine typische “Spiegel”-Story im Relotius-Stil: Kitschig, voller Klischees, ideologisch hochaufgeladen, wenn auch in rührende Human-touch-Tragödien verpackt. Nachdem Donald Trump 2016 Präsident wurde und dabei war sein rassistisches Projekt einer Mauer gegen Latino-Migranten zu verwirklichen, war das passende Narrativ das von den Trump-wählenden faschistoiden Hinterwäldnern. Relotius hatte dazu bereits eine Fake-Story geliefert, über die US-Kleinstadt Fergus Falls. Nun war er angeblich innerhalb einer Woche in eine Paramilitär-Gruppe eingedrungen, die an der mexikanischen Grenze ihre Great Nation mit Waffengewalt gegen die Invasion von Bohnenfressern verteidigen wollte. Solche Leute gibt es wirklich, aber sie sind nicht so wie das Klischee von ihnen, das der “Spiegel” sich von Relotius präsentieren ließ.

Der spanisch-stämmige und –sprechende Juan Moreno war seit Wochen auf der anderen Seite der Grenze mit einem Treck Flüchtlinge unterwegs, die zu Fuß Richtung USA wanderten. Er sollte für den rührseligen Teil des Elaborats sorgen und begleitete eine junge Frau mit kleiner Tochter. Dass dies die ideale Besetzung der Opferrolle für Propaganda-Darstellungen ist, hinterfragt Moreno übrigens nicht. Die üblen Burschen auf der US-Seite zeichnete Relotius wie man sie aus Filmen kennt, untersetzt, bärtig, schwer bewaffnet und dumm. Die Typen hatte er irgendwo gegoogelt, einen sogar kontaktiert, ohne ihn aber wirklich zu treffen, und ihnen klischee-konforme Attribute angedichtet. Etwa nicht existente Gewalt-Tatoos auf den Fäusten –Moreno suchte den Kerl dann wirklich in Arizona auf und ließ ihn seine untätowierten Knöchel in die Kamera halten. Aber erst, nachdem er geschworen hatte, diesen Relotius nie gesehen zu haben –geschweige denn mit ihm, wie im “Spiegel” geschildert, an der Grenze auf Migranten geschossen zu haben.

Spiegel”-Chefs hielten Moreno für den Fälscher

Morenos Chefs aber argwöhnten angesichts des stetig wachsenden Berges seiner mühsam recherchierten Beweise gegen Relotius, er, Moreno, sei der Fälscher; Moreno hätte seine Zeugen bestochen und die Videos manipuliert. Er hätte nur neidisch den armen Kollegen Claas bezichtigen wollen, diese ehrliche Haut. Sie kamen nicht auf die Idee, selber nachzurecherchieren. Sie leiteten alle Beweise umgehend an Relotius weiter, der seine Story eilig mit immer weiteren Fälschungen zu retten versuchte, und gegen Moreno hetzte, der für den gemeinsamen Artikel angeblich nur Mist beigetragen habe.

Am Ende überzeugte die Chefs erst die Vize-Chefin des Gesellschaftsressorts, Özlem Gezer, die eine der hektischen Relotius-Machenschaften aufdeckte: Um seine Lügen verifizierbar zu machen, hatte er einer seiner Fake-Personen einen kompletten Facebook-Account gefälscht, mit Bildern von einem der echten Hillbillies. Die so präsentierte Fake-Biografie hätte vor Morenos Warnungen vielleicht sogar überzeugt, doch Özlem Gezer checkte das Foto-Erstellungsdatum, das man nicht so leicht manipulieren kann. Die Bilder in der angeblich viele Jahre Waffennarren-Leben dokumentierenden Website waren erst Stunden zuvor online gestellt worden –Relotius hatte eine Nachtschicht eingelegt.

Moreno hatte während er auf Rückmeldung wegen der Fälschungen wartete, weiter recherchiert und präsentierte etliche Beweise gegen weitere Fake-Stories von Relotius. Auch er kämpfte um den Rest seiner zu diesem Zeitpunkt ruiniert scheinenden Karriere beim “Spiegel” –auch als “fester Freier” dort gehörte zum Olymp des deutschen Qualitätsjournalismus, wenn auch nicht zur führenden Götterfamilie der Festangestellten wie Relotius.

Eine Studienrätin entlarvt Relotius -fast

Moreno fand sogar eine Beinahe-Enttarnung des Meisterfälschers, die ein halbes Jahr zuvor drohte –durch eine 56jährige Religionslehrerin aus Wiesbaden. Die Studienrätin Gabi Uhl ist engagiert gegen die Todesstrafe in den USA, hat dafür einen Verein und eine Website. Sie las die Relotius-Sensations-Reportage “Die letzte Zeugin” über eine nicht existierende US-Amerikanerin, die von Hinrichtung zu Hinrichtung reist, um die letzten Zuckungen der Verurteilten zu goutieren. Angeblich, so Relotius, weil ihr Sohn und dann noch ihr Enkel ermordet wurden, die Mörder aber durch Verfahrensfehler der gerechten Strafe entkamen. Auf diese absonderliche Weise bewältige die arme Frau ihre Traumata, so der Reporter, der mühsam ihr an der grausamen Welt fast zugrunde gegangenes Vertrauen gewonnen haben wollte. Das tragische Schicksal hinter diesem verstörenden Hobby, dem Relotius bis in Hinrichtungsstätten hinein beigewohnt haben wollte, beschrieb er fantasievoll, mit Anleihen beim Film “Dead Man Walking”, so Moreno.

Gabi Uhl, die wirklich schon Hinrichtungen beigewohnt hatte –um dagegen zu protestieren–, fand zahlreiche Fehler und den Rest schockierend unglaubhaft. Sie sandte Relotius eine E-Mail mit einer akribisch dokumentierten Liste der monierten Fakten. Relotius umgarnte die Pädagogin daraufhin in einem E-Mail-Wechsel, wickelte sie mit seinem Charme ein, schob die Schuld für die gröbsten Lügen auf die Online-Redaktion. Diese Tölpel hätten eine frühere fehlerhafte Version des Textes ins Netz gestellt. Kurzum: Er kam mal wieder mit seiner Münchhausen-Story davon. Wieviele solche Beinahe-Enthüllungen Relotius abbiegen konnte und mit welchen Mitteln, ist unbekannt. Bei Moreno aber lief es anders, bei ihm kam Insiderwissen, journalistische Kompetenz und eine äußerst hohe Motivation zusammen, nachdem ihm klargeworden war, dass seine Chefs ihn ohne handfeste Beweise feuern würden.

Hätte der Jungstar Relotius den älteren Kollegen Morreno während ihrer über Handy geführten Zusammenarbeit etwas weniger schnöselig behandelt, hätte er auf ein paar tolldreist erlogene Pointen verzichtet –Moreno hätte vielleicht seine Zweifel heruntergeschluckt. Und der kometenhafte Aufstieg eines notorischen Lügenbarons zum deutschen Chef-Journalisten wäre unaufhaltsam weitergegangen. Aber Relotius konnte nicht widerstehen, seinen erfundenen Protagonisten Jaeger im Schlusssatz als Knalleffekt sogar noch auf Bewegungen in der Dunkelheit der Wüste ballern zu lassen. Warum auch? Der “Spiegel” und seine Leser hatten ihm doch noch alles geglaubt. Warum also nicht, dass man ihn Zeuge werden ließ, an der brutalen Straftat eines möglichen Mordes an wehrlosen Opfern.

Moreno und seine “brüllenden Ränder” im Netz

“Schreiben was ist”. Süffig verpackt als Reportage eines ruhmreichen Qualitätsmediums, das sich mit seinen eigenen Narrativen selbst besoffen geschrieben hat. Die Welt ist schlecht. Es gibt keine Hoffnung, schon gar nicht durch linke Reformer, die Reiche besteuern und die Demokratie schützen wollen. Wikileaks, Democracy Now!, Telepolis, Nachdenkseiten, The Intercept -solche Netzmedien kennt Moreno nicht. Seiner Meinung nach ist das “politische Meinungsspektrum der Medienlandschaft” (…) “zusammengeschrumpft, so wie das in der Gesellschaft und der Politik.” (S.273) Wie und warum das geschah? Moreno, der Top-Journalist vom meinungsführenden Magazin, kommt nicht im Traum darauf, das dieses Magazin, das ihm Lohn und Brot gibt,  etwas mit verengten Meinungskorridoren zu tun haben könnte. Er deutet vielmehr an, dass die Netzmedien daran Schuld sein könnten:

“Es gibt eine große, breite, schweigende Mitte, die sich im Wesentlichen einig ist, rechts und links brüllen die Ränder. Einige agitieren gegen Migranten, andere gegen Konzerne. Womöglich sind sogar ein paar gute Vorschläge darunter, aber man hört sie nicht, weil man in der Regel von dem Geplärre Kopfschmerzen bekommt.” Juan Moreno 2019, S.273

Was macht Moreno Kopfschmerzen? Wirklich das “Geplärre” der unablässig in den Netzen und anderswo brüllenden “Ränder”? Ist ein Top-Reporter wirklich damit überfordert herauszufinden, ob die “paar guten Vorschläge”, die er im Netz vermutet, von rechts kommen, wo Rechtspopulisten wie Elsässers Kompact-Magazin und Bannons Breitbart-Portal gegen Migranten hetzen, oder von links, wo “andere gegen Konzerne agitieren”? Andere, die vom Mainstream zu “Extremisten” gestempelt werden, weil sie Konzernkritik wagen und Reiche besteuern wollen: alte sozialdemokratische Forderungen und Tugenden, keine “extremistische Agitation”. So sieht die Welt vielleicht nur aus, wenn man weiter einen üppig bezahlten Job beim größten Medienkonzern Europas, Bertelsmann, haben möchte.

Es gibt also für Moreno keine lesenswerten Medien links des Mainstream. Es gibt nur den “Spiegel” und die anderen großen Medien der Mitte, die mit schnulzigen Reportagen den entpolitisierten Spießern etwas Trost im Jammertal der Welt spenden können. Und ihnen dabei die Ohren mit Regierungspropaganda (Pardon!) vollplärren, um sie mit ihrer Ideologie eines angeblich alternativlosen Neoliberalismus auf dem Sofa festzunageln. Damit die gelegentlich mit medialen Krokodilstränen beweinte „Schere zwischen Arm und Reich“ Jahr um Jahr weiter auseinanderklafft, während Rechtspopulisten die Migranten als Sündenböcke für so geschaffene Probleme hinstellen dürfen. Und von all den „Narrativen“ verwirrte Wutbürger, die links und rechts kaum noch unterscheiden können, sich in ihren aufgepeitschten Hassgefühlen zur AfD hinwenden. Die Großkonzerne oder Millionäre, deren Spenden die AfD ihre prallen Wahlkampfkassen verdankt, freuen sich, wenn Top-Journalisten ihre Meinungsmacht an Linken abreagieren, die „gegen Konzerne agitieren“, so Moreno, der damit konform zur üblichen und inzwischen althergebrachten berufsständischen Position gegenüber neuen Netzmedien (Pardon) agitiert.

Moreno hat die Filmrechte seines Buches nach Spanien verkauft, vermutlich wird eine Telenovella daraus. Und was wird aus Claas Relotius? Sobald etwas Gras über die Sache gewachsen ist, und die Großmedien werden dafür sorgen, dass dies baldmöglichst geschieht, wird er, wenn dann in wenigen Jahren kaum noch einer weiß, worum es bei diesem Relotius-Skandal doch gleich ging, eine neue Karriere starten. Vielleicht im zweiten großen, inzwischen sogar größeren Berufsfeld für Journalisten: In Werbung und PR. Dort wird die Lüge nicht nur ausdrücklich erlaubt, sondern zur hochbezahlten Kunstform geadelt. Eine Ideologie der Zementierung des Status quo der Macht- und Reichtumsverhältnisse versteht sich dort von selbst.

Nachtrag 2023: Deutschlands führende und vielfach preisgekrönte PR- und Werbe-Agentur Jung von Matt, die mit 800 Angestellten ca. 80 Millionen Euro Umsatz macht, hat Claas Relotius eingestellt. Juan Moreno bekam zwar nicht den Chefsessel, den man Relotius geben wollte, aber immerhin die lang ersehnte Festanstellung und 2022 erlebte er die Buchverfilmung von „Tausend Zeilen Lüge„. Der Medien-Mainstream hat nach einer lautstarken, aber sehr kurzen Phase der Entschuldigung für Relotius‘ jahrelange Machenschaften (auch der Hohn von Konkurrenzmedien hielt sich in engen Grenzen) dann so konsequent darüber geschwiegen, dass fünf Jahre später wirklich kaum noch jemand weiß, was dieser Relotius verbrochen hatte.