10/12/23

Eine Ideologiekritik des Neoliberalismus – Reimer: „Der absurde Kapitalismus“

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Rezension von Thomas Barth

Kann der Marxismus heute noch zu einer Kritik der Netzgesellschaften beitragen? Jürgen-Michael Reimer meint ja und legt eine philosophisch-politökonomische Analyse der Absurdität unseres digitalisierten Kapitalismus vor. Bei Marx, Adorno und Camus sucht er nach Antworten für unsere Krise und deren Unsichtbarkeit in Medien, Netzen und Denken.

Bestellen wir die Apokalypse bei Amazon?

Immer wieder, so Reimer einleitend, tauche in Gesprächen über die Klimakrise ein absurder Gedanke auf: Wir könnten uns heute in unseren westlichen Gesellschaften zwar das Ende der bewohnbaren Welt vorstellen, nicht aber das Ende des Kapitalismus. Thema des Buchs ist folgerichtig die Absurdität unseres Wirtschaftssystems, insbesondere des heutigen neoliberalen Kapitalismus. Der habe sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertige, er habe ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus habe er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruhe, und in diesem Sinne sei er absurd. Dieser Kritikansatz ziele nicht auf ethische oder moralische Verfehlungen des Neoliberalismus, sondern auf seine Dysfunktionalität.

Prof. em. Jürgen-Michael Reimer, studierte Sozialwissenschaften in Hamburg und Göttingen, lehrte „Human Ressource Management“ an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg und erweist sich im vorliegenden Buch als origineller Vertreter einer marxistischen Politökonomie auf der Höhe der Zeit was Digitalisierung, sogenannte „Soziale Medien“ und Plattformkonzerne wie Apple, Microsoft, Facebook, Google oder Amazon angeht.

Besagte Verheißungen, mit denen sich der neoliberale Kapitalismus rechtfertigt, erweisen sich Reimers Analyse als pure PR: Wohlstand für alle und Gerechtigkeit werden in absurder Weise konterkariert, Bildungs- und Gesundheitswesen ausgehungert, Natur und Klima verwüstet und selbst mit dem“ liberalen Markenkern“ der Freiheit ist es nicht weit her. Im Gegenteil, neoliberale Regime bedienen sich ausgiebig modernster digitalisierter Massenmanipulation: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen“ (S.93).

Es etabliere sich eine neoliberale „Marketinggesellschaft“, die auf großflächige Manipulation des Bewusstseins setze und uns mit kulturellen und affektiven Gütern abspeise. Digitale Plattformen stellen dabei etwa über Influencerinnen Märkte der Eitelkeiten und des Sozialprestige bereit, wo mit Selfies und Partnerbörsen um Aufmerksamkeit gebuhlt würde und Luxusgüter immer größeren Raum einnehmen. „So treffen zwei unvereinbare Imperative -Lohnverzicht und unbegrenzter Konsum- im Individuum aufeinander. Das große Paradox!“ (S.102) Ergebnis sei sich ausbreitende Entfremdung, die zunächst klassisch marxistisch erläutert und dann auf den Neoliberalismus bezogen wird: „Auch das Absurde lässt sich als Entfremdung deuten“ (S.108) Die „Auswüchse des auf Algorithmisierung beruhenden digitalen Kapitalismus“ sieht Reimer schon bei Horkheimer/Adorno und ihrer „Dialektik der Aufklärung“ vorausgeahnt.

Der neoliberale Kapitalismus hat sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertigt, er hat ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus hat er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruht. In diesem Sinne ist er absurd. Die in dem Essay entfaltete Kritik am Neoliberalismus ist funktionalistisch und macht diesen als interessengeleitete Ideologie kenntlich.“ (Klappentext, PapyRossa Verlag)

Die Entwicklung des Geistes des Kapitalismus in der vorindustriellen Zeit wird vom Reimer beginnend bei Aristoteles bis zu Marx, Weber und Sombart nachgezeichnet. Letzterer sah den Luxus als Bedingung der Entstehung des kapitalistischen Geistes, wobei mit Weber (protestantische) Askese als weitere Wurzel dazu gedacht werden muss. Die Vorgeschichte des Neoliberalismus wird in marxistischer Begrifflichkeit analysiert und als ihre Folge die Pervertierung heutiger Lebenswelt herausgearbeitet:

„Als seine zentralen Merkmale werden sowohl die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation als auch deren Ausuferung zu einer ‚gesellschaftlichen Grammatik‘ herausgestellt, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränkt.“ (Klappentext)

Neoliberalismus, Staatsverachtung und machtbesoffene Konzerne

Seit den 1970er und -80er Jahren trat der neoliberale Kapitalismus seinen Siegeszug an, da mit Überproduktion und Legitimationsverlusten Krisenerscheinungen zu überwinden waren. Diese wurden der Akkumulationslogik im Sinne des Nutzens einer kleinen Minderheit von Kapitaleignern immer gefährlicher. Bereits in der Ideologie des Kapitalismus verschleierte der Liberalismus die ökonomischen Kerninteressen dieser Minderheit mit dem hehren Wert der Freiheit. Die liberalen Wurzeln des Neoliberalismus zielen auf Marktfreiheit, die eine Reduktion staatlicher Macht ins Zentrum rückt. Milton Friedman habe vertreten, dass Freiheit da beginne, wo die Politik aufhöre. Hannah Arendt habe dem entschieden widersprochen, Freiheit sei der Sinn von Politik, den der neoliberal erstrebte „Minimalstaat“ (Hayek, Nozik) schwerlich einlösen könne.

Die Haupttugenden einer freiheitlichen Gesellschaft seien nach John Rawls, so Reimer, Wahrheit und Gerechtigkeit, wobei jeder gleiche Grundfreiheiten habe und wirtschaftliche Ungleichheit so zu gestalten sei, dass sie dem Gemeinwohl diene. Dem stehen die Doktrinen des Neoliberalismus entgegen, die ausgehend von der Mont Pèlerin Society (Hayek, Popper, Friedman u.a. 1947), 1973 in der Pinochet-Diktatur in Chile erstmals umgesetzt wurden. In USA und UK folgten Thatcher und Reagan diesem Beispiel und 1989 wurden im Washington Consensus die neoliberalen Leilinien festgelegt, an denen sich auch IWF, WTO und Weltbank orientiert hatten: Reduktion der Staatsquote, Steuersenkung, Privatisierung von Staatsbetrieben, Deregulierung vor allem der Finanzmärkte, Investorenschutz. Diese Doktrinen finden sich in Austeritätsprogrammen im Euroraum unter Stichworten wie Fiskalpakt, Schuldenbremse, Privatisierung. Neoliberaler Marktradikalismus und Antikollektivismus (wurzelnd in der antikommunistischen McCarthy-Bewegung der USA) laufen damit auf eine Schwächung des Staates hinaus, deren Hauptmethode die Privatisierung sei. Zu ihrer Rechtfertigung diene die Krise der Staatsfinanzen, deren Ursache nicht in neoliberalen Steuersenkungen gesehen, sondern als „Demokratieversagen“ umgedeutet werde.

Die unermüdliche Lobbyarbeit des neoliberalen Kapitals ziele hierzulande vor allem auf die Privatisierung von Post, Verkehr, Bildung, Gesundheit, Wohnen und Daseinsvorsorge. Der Ausverkauf des Staates erfolge auch durch ppp (public privat partnership -eine Erfindung der bereits vor der Jahrtausendwende zunehmend neoliberal agierenden Grünen in ihrer ersten Regierungsbeteiligung unter Schröder. Manipuliert werde durch subtiles deep lobbying, etwa mit der Platzierung von Leihbeamten aus Privatunternehmen in Ministerien (hier waren ebendiese Grünen ebenfalls federführend und schufen Querverbindungen von Großkapital und Ökopartei-Spitzenpolitiker:innen), staatlicher Beauftragung privater Berater, Formulierung von Gesetzen durch Anwaltskanzleien usw.

Die neoliberale Finanzialisierung der Märkte hätte etwa in Finanz- und Griechenlandkrise (2008 ff.) großes Unheil bewirkt, neoliberale Digitalisierung hätte unsere Daten in kognitive Güter verwandelt, Überwachung dabei die Freiheitsrechte ausgehöhlt (Zuboff) und Leitunternehmen wie Google, Apple, Facebook, Amazon wären inzwischen zu proprietären Märkten (in Privatbesitz) geworden. Der neoliberal regierte Staat habe die Besitzenden und Unternehmen „gepampert“, durch „mehrfache und deutliche Reduzierung des Spitzensteuersatzes der Einkommenssteuer. Die hätten sich durch immer weitergehende Steuervermeidung selbst der niedrigen Steuern bedankt, bis hin zu den „extremen Cum-Ex-Skandalen“, wo kriminelle Bereicherung die Staatskasse 10 bis 30 Milliarden Euro gekostet habe (S.80). Was den Autor zur Frage führt, wie lange wir uns den Kapitalismus noch leisten können.

Die Legitimierung und Einhegung wirtschaftlicher Macht durch demokratischer Prozesse sei im Neoliberalismus nicht erwünscht (der Leser wird an die erste Anwendung neoliberaler Dogmen in der Pinochet-Diktatur erinnert). Sogar die Märkte selbst gerieten bei digitalen Plattformkonzernen in das Eigentum des Kapitals. Folge sei eine Entmachtung der Arbeitnehmerseite im Wirtschaftsprozess, eine Senkung der Lohnquote im BIP und die Demokratisierung betrieblicher Entscheidungen „steht nicht einmal zur Diskussion“ (S.94).

Der Industriekapitalismus brachte bedeutende Treiber der Produktivitätssteigerung wie Arbeitsteilung, Massenproduktion und technische Innovationen, aber auch eine industrielle Reservearmee von Arbeitslosen. Deren Verdammung zur „unfreiwilligen Askese“ der Elendsviertel diene zur Disziplinierung der Arbeiterschaft. Diese Drohkulisse zeige sich bis heute im Neoliberalismus, etwa in der Programmatik des „Forderns und Förderns“ bei Hartz IV, die Verwerfungen des Arbeitsmarktes der Eigenverantwortung des undisziplinierten Subjekts zuschreibe. Global komme in einer Privatisierung der Macht (vgl. Krysmanski) es zugleich zum Übergang einer geopolitischen zu einer geoökonomischen Ordnung, deren neoliberales Finanzregime von OECD, IWF, WTO und Weltbank unter dem Schlagwort einer „global governance“ den Charakter einer „vierten, monetativen Gewalt“ annehme (S.47). Angesichts globaler Macht ist die Demokratie in Gefahr (vgl. Barth) und auch durch bis in die intimsten Bereiche der Lebenswelt vordringende digitale Technologien sind die Menschen heute einer absurden gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesetzt, deren Lebensperspektive sich für die Mehrheit auf ein zunehmend prekäreres muddling through beschränke (S.99). Absurd in einer Gesellschaft die unsagbaren Reichtum produziert, sich selbst für rational hält und Freiheit und Individuum zu ihren höchsten Zielen erklärt.

Soziale Medien, Propaganda, Konformismus

Eine vom Liberalismus proklamierte Freiheit werde für die meisten Menschen zur zynischen Illusion, die sich nur die oberen 20 Prozent in der steiler werdenden Einkommenspyramide noch wirklich finanzieren können. Menschliches Leben würde vielmehr zwischen wachsender Unfreiheit im digitalisierten Arbeitsleben, Konsumismus und unfreiwilliger Askese des Prekariats zerrieben. Der neoliberal gepriesene Wettbewerb bringe am Ende auf dem Markt nur wenige Sieger hervor: The winner takes all. Ein absurder Effekt, weil der Wettbewerb so seine eigenen Voraussetzungen zerstört. Besonders absurd sei der Glaube, der Markt könne die Gesellschaft mit heute öffentlichen Gütern versorgen. Der Markt habe keine Lösungen in den Krisen der Umwelt, der Pandemie, der Energieversorgung oder des Ukrainekrieges erbracht. (S.75) Bei Privatisierungen sei die Effizienzsteigerung nicht eingelöst worden, Leistungen wurden teurer, die Versorgung schlechter und in der öffentlichen Infrastruktur sei hierzulande ein Investitionsstau von 450 Milliarden Euro zu verzeichnen. Der neoliberale „Schlanke Staat“ sei in Wahrheit ein Ausverkauf des Staates zu Ramschpreisen gewesen. Staatliche Behörden sind zwar für Umweltschutz, Bildung, Gesundheitswesen zuständig, aber der Medien, Parteien und Öffentlichkeit dominierende Neoliberalismus untergrabe mit seiner Forderung nach dem Rückzug des Staates seine eigenen Grundlagen.

Ein absurder Trick des Neoliberalismus sei seine Selbstdarstellung als Verteidiger der Freiheit bezüglich tatsächlicher Machtausübung: „Neoliberale Argumentationen schweigen in der Regel die Macht des Kapitals tot, eine für Ideologien typische Form selektiver Wahrnehmung. Neoliberale Manager bzw. Kapitaleigner bestreiten häufig, Macht auszuüben. Sie geben vor, mit ihren Entscheidungen der invisible hand des Marktes zu folgen.“ (S.91)

Unseren Gehorsam sichern sich neoliberale Regime auch durch (zunehmend digitalisierte) Erziehung und Propaganda vor allem durch Mobilisierung von Voreingenommenheit: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen.“ (S.93)

Camus, das Absurde und die liberale „Freiheit“

„Die Vorstellungen zur Absurdität sind dem literarischen und philosophischen Werk von Albert Camus entlehnt. Bei ihm führt das Absurde, die Begegnung des sinnsuchenden Menschen mit einer sinnlosen Welt, nicht in eine hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr bietet das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“ (Klappentext)

Die manipulative Macht der neoliberale Ideologen veranlasst auch jene Menschen, die im Neoliberalismus benachteiligt werden, zu einer unbewussten und freiwilligen Unterwerfung. Die Entfremdung der Menschen wachse im digitalen Kapitalismus, den der Neoliberalismus entlang der Dogmen des Washington Consensus durchsetze. Im so durch wachsende Entfremdung immer absurderen Dasein der Menschen kann der Neoliberalismus die von ihm aufgerissene Lücke der Sinngebung nicht füllen. Mit dem existenzialistischen Philosophen und Schriftsteller Albert Camus könne man sich nur durch Bewusstmachung des Absurden auf Freiheit, Leidenschaft und Auflehnung besinnen, um die absurden Auswüchse des Neoliberalismus in demokratischen Prozessen zu thematisieren und einzuhegen.

Dies führe nach Camus jedoch nicht, so Reimer, in hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr biete das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Reimer will der Auflehnung ein Ziel geben und macht deshalb den Neoliberalismus als interessengeleitete Ideologie kenntlich. Deren zentralen Merkmale wären die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation sowie deren Ausuferung zu einer „gesellschaftlichen Grammatik“, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränken würde.

Eine Abkehr vom absurden Neoliberalismus wäre nur durch ergebnisoffene demokratische Diskurse möglich: „Dieser Diskurs darf aber nicht den Meinungsmachern im Dienst des Kapitals überlassen bleiben. Auf dem Weg dahin dürften sich Versuche lohnen, die absurden Auswüchse des Neoliberalismus zu thematisieren und einzuhegen.“ (Schlusssätze S.119)

Reimer ist nicht der erste Altmarxist, der auch beim französischen Existenzialismus nach Antworten suchte. Bereits Wolfgang Fritz Haug befasste sich in seiner Doktorarbeit „Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden“ (1965) mit existenzialistischer Gesellschaftskritik, deren Kreisen um das Absurde er ebenfalls in der Entfremdung und Vereinzelung begründet fand. Seine Kritik am Kult leerer Freiheit bei Sartre, aber insbesondere bei Camus war, dass dieser sich, in elitärer Ferne zur Gesellschaft, eher darin gefiel, „das Absurde“ auszuhalten, als aktiv gegen die kapitalistische Entfremdung vorzugehen. Haug zitiert Hannah Arendt, die Camus Fatalismus und Schicksalsergebenheit zuschrieb (Haug 1991, S.40f., S.190f.), eine Einschätzung, die selbst konservative Philosophiehistoriker bis heute teilen (vgl. etwa Steenblock 2002, S.326f.). Reimers funktionalistische Kritik an Neoliberalismus und digitalem Kapitalismus wird dadurch jedoch nicht geschmälert. (Thomas Barth)

Quellen:

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Barth, Thomas: Controlling statt Demokratie? In: ders. Hg.: Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S.101-111.

Haug, Wolfgang Fritz: Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden, 3.Aufl., Argument-Verlag, Hamburg 1991 (Or.1966).
Krysmanski, Hans: Die Privatisierung der Macht, in: Altvater, Elmar u.a.: Privatisierung und Korruption: Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S.25-37.
Steenblock, Volker: Kleine Philosophiegeschichte, Stuttgart 2002.

09/1/22
CC-by-sa-Gnsin

Transhumanismus, Triefnase & Digitalisierung

Thomas Barth

Transhumanistische Aktivisten und Philosophen schwelgen in Visionen einer digitalen Zukunft. Das Paradies soll uns spätestens nach dem Upload in die Virtual Reality einer bewohnbaren Cloud erwarten, wenn unser Geist sich digitalisiert selbst simulierend im Himmelreich der Matrix wiederfindet. Doch hienieden warten einstweilen noch ein paar Hindernisse, besonders hierzulande, wo selbst das stinknormale Internet dem 16 bleierne Jahre währenden Merkel-Staat als „Neuland“ galt.

Das irdische Elend der Digitalisierung wie auch die Schwächen des cishumanen Mängelwesens Mensch zeigten sich am 4. Oktober 2019 im Tagungszentrum der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Die Kirche wollte den Transhumanismus erörtern und hatte neben dem Theologen Hoff dafür den Religionsphilosophen Professor Göcke und den „bekanntesten deutschsprachigen Transhumanisten“ Professor Sorgner eingeladen. Pech war, Sorgner kam stark vergrippt, Göcke stark verspätet, weil mit der offenbar fehldigitalisierten Deutschen Bahn.

Was ist der Mensch?

Was ist der Mensch? Was soll er glauben, worauf soll er hoffen? Diese Fragen bewegen Denker und Philosophen, Theologen wie Transhumanisten: „Der Transhumanismus geht davon aus, dass sich der Mensch als ein Produkt der biologischen Evolution auch selbstständig technisch bis hin zu einem neuen Mensch-Maschine-Wesen oder einer Cyberspace-Entität weiterentwickeln kann und sollte.

Der durchaus transhuman geneigte Göcke beginnt so die Einleitung zu seinem Buch „Designobjekt Mensch: Die Agenda des Transhumanismus auf dem Prüfstand“. Da kommt digitale Technologie wie gerufen, etwa als Hirn-Chip, als Big-Gene-Data, KI oder in fernerer Zukunft als virtueller Lebensraum ganz entkörperlichter Menschen (brain uploading). Bedeutsamer Zankapfel der Digitalisierung ist der Datenschutz, der nach Meinung Prof.Sorgners leider auch transhumanem Streben nach kybernetischer wie genetischer Verbesserung des Menschen im Weg steht.

Big-Data-Firmen lieben die Transhumanisten, wie etwa die Super-KI-Forscher des Machine Intelligence Research Institute , mehr als Datenschützer. Google etwa hat mit Ray Kurzweil einen prominenten Transhumanisten zum Forschungsdirektor gemacht, Tesla-Milliardär Elon Musk will mit seiner neuen Firma Neuralink Hirnimplantate entwickeln. Bei Facebook treibt Mark Zuckerberg persönlich transhumane Projekte voran, etwa die Worterkennung per Hirnscan. Das dabei angestrebte Brain-Diktaphon würde nebenbei dem maschinellen Gedankenlesen etwas näher kommen, das der NSA bei ihrer Totalüberwachung noch schmerzlich fehlt. Auch deutsche Transhumane scheinen Belangen der IT-Wirtschaft nicht abgeneigt, wie die Diözese Rottenburg auf oben erwähnter Tagung feststellen konnte.

Prof. Sorgner ließ es sich dort nicht nehmen, die Debatte mit einem Bonmot der IT-Industrie zu bereichern: „Daten sind das neue Öl!“ Unter dieser Parole hatte die Industrielobby bekanntlich versucht, die neue EU-Datenschutzverordnung zu torpedieren, wie eine Polit-Dokumentation zeigte. Aus Angst davor, die EU könnte von China digital abgehängt werden, tritt Sorgner dafür ein, ein europäisches Social-Credit-System nach chinesischem Vorbild einzuführen, inklusive einer personalisierten Dauerüberwachung der kompletten EU-Bevölkerung:

Warum es für uns keine realistische Position ist, die Datenerfassung zu unterlassen: Der zentrale politische Grund für eine umfassende Datensammlung ist, dass wir in einer globalisierten Welt leben und das Daten das ‚Neue Öl‘ sind, wie viele Experten betonen: Öl bedeutet Macht und finanzielles Florieren. Angesichts dieser Erkenntnis ist es keine realistische Option, keine personalisierten Daten zu sammeln… In China wird ab 2020 ein Sozialkreditsystem flächendeckend angewendet werden. Die Menge an digitalen Daten, die auf diese Weise erhoben wird, ist kaum zu unterschätzen. Je mehr digitale Daten verfügbar sind, desto mehr Macht und Geld kann realisiert werden. Europa dagegen hat Datenschutzbestimmungen institutionalisiert, die einer hilfreichen Erfassung digitaler Daten entgegenstehen.“ Prof. Stefan Lorenz Sorgner 

Damit wäre Sorgner wohl ein transhumaner Extremist, sogar aus Sicht der 2015 gegründeten Transhumanistischen Partei Deutschlands (TPD). Die pocht in den Leitlinien ihres Parteiprogramms Version 2.0 gleich an erster Stelle auf die Grundrechte der Menschenwürde und der informationellen Selbstbestimmung. Sorgner übergeht dagegen in seinem Redebeitrag den möglichen Einwand, dass blinde Gier nach Macht und Geld geradewegs in einen digitalen Totalitarismus führen könnte. Auch an seinem Buch mit dem reißerischen Titel „Transhumanismus: ‚Die gefährlichste Idee der Welt‘!?“ (2016), fällt auf, dass kaum Bedenken, Zweifel oder Kritik an Technologien vorkommen. Dabei haben insbesondere Eingriffe in das menschliche Gehirn eine dunkle Geschichte -man denke an Militär- und Geheimdienst-Projekte wie das Zimbardo-Experiment, LSD-Forschung, Gehirnwäsche oder MKUltra. Der Transhumanismus muss sich außerdem angesichts lobbyistischer Verfilzungen und enormer Geldsummen, die auf dem Spiel stehen, auch fragen, wer und warum ihn finanziert.

Thomas Hobbes und Bioshock

Hinter Sorgners transhumanem Bejahen des technischen Fortschritts, das geradezu von einer Euphorie in die nächste taumelt, verbirgt sich jedoch ein zutiefst pessimistisches Menschenbild: Der „Mensch als des Menschen Wolf“ des Frühaufklärers Thomas Hobbes, wie man es im „Bioshock“-Computerspiel in einer transhumanen Welt der Gen-Mutanten nachspielen kann. Dort werden individuell gestaltete Menschen zu einander bekriegenden Monstren in einer Gesellschaft, die nach den darwinistisch-libertären Grundsätzen von Ayn Rand konzipiert ist (so Weber in Weber/Zoglauer 2015 S.55,69).

Als Begründer der modernen politischen Philosophie empfahl Hobbes zur Überwindung der angeblich menschlichen Gewaltnatur den frühtotalitären Absolutismus eines staatlichen Leviathans. Angesichts einer Welt voller psychopathischer Wolfsmenschen ist eine an Ethik orientierte Lebenshaltung natürlich nicht ratsam, meint offenbar Sorgner, wenn er sagt:

Moralischer zu sein hingegen, ist ggf. nicht der zentrale Wunsch vieler Menschen. Überspitzt formuliert liegt dies meiner Meinung nach darin begründet, dass Moralität in der Regel im Interesse der nicht-moralischen Menschen ist und moralische Menschen eher ausgenutzt, ausgebeutet und unterdrückt werden.“ Sorgner 2016, S.62

Kritisch sieht Sorgner daher eine von manchen Transhumanisten geforderte gesetzliche Verpflichtung zum „moralischen Enhancement“ (und das ist fast die einzige Technikkritik im ganzen Buch). Dabei ist hier nicht ethische Bildung und Erziehung gemeint, sondern Moral etwa per Hirnimplantat oder Einflößung von Drogen, die analog zur Impfpflicht verordnet werden könnte. Das lehnt Sorgner ab. Aber nicht, weil ein Herumpfuschen an den höchsten Funktionen des menschlichen Gehirns unsere Gesundheit, Freiheit und Würde beeinträchtigen könnte, sondern -ganz im Sinne eines Bioshock-Rechtslibertarismus nach Ayn Rand- wegen des „globalen Wettbewerbs“:

Eine solche Regelung mag zwar praktisch nicht ausgeschlossen sein, jedoch erscheint sie mir in keinem Fall im politischen Interesse des betroffenen Landes zu sein, da ein Land mit einer besonders moralischen Bevölkerung im Kontext des globalen Wettbewerbs sicherlich nicht lange bestehen kann.“ Sorgner 2016, S.63

Janina Loh, die Sorgners „Metahumanismus“ in ihrem Buch „Trans- und Posthumanismus zur Einführung“ in einem kurzen Kapitel analysiert, mag diesen letztlich nicht als eigenständigen Ansatz anerkennen (Loh 2018, S.175). Auch Sorgners duales Theoriesystem von Kohlenstoff- bzw. Siliziumbasiertem Transhumanismus (womit er Bio- von Digitaltechnik trennt) lehnt Loh als zu schematisch und daher nur bedingt brauchbar ab (S.78).Aber Loh schreibt Sorgner auch zu, die von Transhumanisten prognostizierte Unsterblichkeit nur als „rhetorisches Mittel“ zu sehen (S.173), hat dabei jedoch evtl. überlesen, dass Sorgner Unsterblichkeit zwar für unmöglich erklärte, aber nur wegen eines in Milliarden Jahren drohenden kosmologischen Kollaps des Universums (Sorgner 2016 S.11, 2018 S.157).

Bis dahin könnte Sorgners extrem langlebiger (wenn auch im haarspalterisch-philosophischen Sinne nicht völlig unsterblicher) Transhumaner noch eine ganze Menge Neutrinos die Galaxis runterfließen sehen -und evtl. auch eine Revision der schließlich nur auf läppischen 200 Jahren Forschung basierenden Big-Bang-Theorie. Der Kritik am transhumanen Unsterblichkeitsstreben entgeht Sorgner mit seiner kosmologischen Scholastik aber nicht, der Frage nach sozialer Verantwortung hier und heute ebenso wenig.

Unsoziale Weapons of Math Destruction

Die Mathematikerin Cathy O‘Neil, die wirklich etwas von der Technik und dem Code dahinter versteht, fordert etwas mehr „moralisches Vorstellungsvermögen“, denn „Big Data-Prozesse kodifizieren die Vergangenheit und können nicht die Zukunft erfinden“ (S.276). Cathy O‘Neil spricht von Weapons of Math Destruction, also Mathe-Vernichtungswaffen (analog zu Massenvernichtungswaffen), warnt mit Blick auf Google, Amazon und Facebook davor, dass „Daten privatisiert und privat genutzt werden, um Profite zu erzeugen und Macht zu gewinnen“. Man müsse die Digitalisierung und ihre Algorithmen bändigen, indem man sie öffentlicher Aufsicht und die sie betreibenden Firmen mit „verpflichtenden Standards der Rechenschaftslegung“ staatlicher Regulierung unterwirft (S.308). Sie weist darauf hin, dass der Trump-Nestor „Steve Bannon, selbst während er gezielt daran arbeitet, das öffentliche Vertrauen in Wissenschaft zu untergraben, im Verwaltungsrat von Cambridge Analytica sitzt -einer politischen Datenfirma, die behauptet, sie habe Trump zum Wahlsieg verholfen…“ (S.313).

Heiße PR-Luft einer schmuddeligen Dotcom-Firma? Oder die üblichen Wahlmanipulationen im digitalen Kapitalismus, nur leider diesmal aufgeflogen? Manche KI-Kritiker sehen etwa in „lernfähigen neuronalen Netzen“, die aktuell als KI gepriesen werden, eine aufgeblasene Hype. Diese „KI“ wären eher „spreadsheets on steroids“ -Tabellenkalkulation auf Steroiden. So zitiert Schnetker in seiner Kritik der „Transhumanistischen Mythologie“, den DARPA-KI-Experten John Launchbury (Schnetker S.75). Cathy O‘Neil kritisiert die unsozialen Folgen des Einsatzes solcher „KI“ als klassistisch, rassistisch und sexistisch:

„Sie versprechen Effizienz und Gerechtigkeit, manipulieren dabei jedoch die höhere Bildung, verursachen zusätzliche Schulden, fördern massenhaft Gefängnisstrafen, prügeln bei jeder Gelegenheit auf die Armen ein und untergraben die Demokratie.“ (O‘Neil S.270)

Literatur

Göcke, B.P.: Designobjekt Mensch?! Ein Diskursbeitrag über Probleme und Chancen transhumanistischer Menschenoptimierung.“ In: Benedikt Paul Göcke/ Frank Meier-Hamidi (Hg.): Designobjekt Mensch. Der Transhumanismus auf dem Prüfstand. Freiburg i.Br.: Herder 2018, 117-152

Loh, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, Hamburg: Junius 2018

Loh, Janina: Transhumanismus: Den Menschen weiterentwickeln, um ihn besser kontrollieren zu können, Berliner Gazette 15.8.2017

O‘Neil, Cathy: Angriff der Algorithmen, München: Hanser 2017

Schnetker, M.F.J.: Transhumanistische Mythologie: Rechte Utopien einer technologischen Erlösung, Münster: Unrast 2019

Sorgner, S.L.: Transhumanismus: ‚Die gefährlichste Idee der Welt‘!?, Herder: Freiburg 2016

Sorgner, S.L.: Was wollen Transhumanisten? In: Göcke/ Meier-Hamidi (2018) 153-180

Weber, K. u. T. Zoglauer: Verbesserte Menschen: Ethische und technikwissenschaftliche Überlegungen, München: K.Alber 2015