12/28/24

Isabella Hermann: Science-Fiction-Einführung

Isabella Hermann: Science-Fiction zur Einführung, Hamburg 2023, Junius Verlag

Buchkritik von Thomas Barth

Isabella Hermann fragt sich in ihrer hochinstruktiven Einführung, wie SF-Literatur und -Filme neue Technologien, sozialpolitische Wertesysteme, globale Politik reflektieren und inwiefern wir dies nutzen können. Die Einleitung beginnt augenzwinkernd mit einem Blick in die aktuelle Animationsserie „Love, Death & Robots“, wo die selbstverschuldete Apokalypse der Menschheit nur Roboter überdauert haben; die nehmen es mit Humor, dass auch auf dem Mars keine Menschen, sondern nur intelligente Katzen überlebten; typische Heilsversprechen des Silicon Valley werden dabei schwarzhumorig entlarvt. Isabella Hermann schreibt keine Genre- oder Mediengeschichte, ihr geht es um die Inhalte der SF in unserer „Welt, die durch ständigen Fortschritt geprägt ist.“ (S.10) Als Politikwissenschaftlerin interessieren sie SF-Werke „in einem diskursanalytischen Sinn“ als Texte, die durch sozialpolitische Aussagen und intertextuelle Verbindungen auf Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft hinweisen.

Kapitel 1 Was ist Science-Fiction und was kann man damit machen? SF vermittelt Ideen, Werte, Ängste und Hoffnungen, ermöglicht Reflexion und Gedankenspiele. Hermann modelliert SF „als ein Kontinuum zwischen dem tatsächlich Möglichen und dem Metaphorischen“ (S.14). Das Mögliche ist dabei künftig wissenschaftlich-technisch denkbar und sozialpolitisch realisierbar, SF mithin auch „narrative Technikfolgenabschätzung“; das Metaphorische sei demgegenüber Bild, Projektionsfläche und Gedankenexperiment, „die Zukunft selbst im Grunde eine Metapher“; z.B. versinnbildliche im dystopischen Film „Blade-Runner“ (1982) die geniale Filmkulisse des düsteren L.A. einen damals schon zeitgenössischen „unmenschlichen Hyperkapitalismus“ (S.18). Vermittelt würden implizite wie explizite Werturteile über aktuelle Trends und Ereignisse, gesellschaftspolitische Aspekte, Sehnsüchte und Ängste des Menschseins sowie philosophische und ethische Fragen (S.22). Sie sieht SF als Teil der Tradition utopischer Literatur von Morus‘ „Utopia“ über Mary Shelleys „Frankenstein“ bis zu „Star Trek“ und grenzt sie von Horror und Fantasy ab, die jedoch SF sein können, „wenn die Geschichten nach plausiblen Kriterien begründet werden. (S.31) Hermann zitiert den SF-Autor und –Experten Dietmar Dath, der SF von Religion, Mythos, Märchen und Sage abgrenzt. Mit dem Horrorgenre sieht Hermann Überschneidungen wie das „Alien-Franchise“ (seit 1979) oder Zombie-Filme. In ihrer Einführung will sie den Fokus auf Themen legen, die „gerade vermeintlich oder tatsächlich die Gegenwart einholen: Künstliche Intelligenz, Eroberung des Weltraums und Klimawandel“ (S.38). In den folgenden drei thematischen Kapiteln praktiziert sie diese politologische Diskursanalyse jeweils an etlichen Werken, meist Romanen, Filmen, Serien und erörtert dabei politische Strukturen, Werte und Weltanschauungen in und hinter der SF-Story.

Kapitel 2 Roboter und Künstliche Intelligenz beginnt mit der Google-KI LaMDA, die vom deshalb suspendierten Google-Mitarbeiter Blake Lemoine für ein tatsächlich über Bewusstsein verfügendes Wesen gehalten wurde. (Falls dies ein Marketingtrick war, scheint der bislang nicht aufgeflogen zu sein.) Schon der Kino-SF-Klassiker „2001: A Space Odyssee“ (1968) hatte mit „HAL 9000“ eine KI an Bord, deren Bewusstsein sie morden ließ, aus Furcht, abgeschaltet zu werden. Hermann diskutiert KI und Robotik, Asimov’s Robotergesetze, und den Facebook-Algorithmus, der zwecks Profitmaximierung Hassrede förderte, bis hin zu Mr.Data, einem Androiden aus Star Trek, der seine Rechte höchstrichterlich einklagen kann. Anhand des Kinofilms „Ex Machina“ (2014) geht es um Gyndroids, Fembots, Sexismus und Genderfragen, wobei der beseelte Sexroboter „Ava“ für Frauenbefreiung stehe, während das KI-Sprachsystem GPT-3 von OpenAI zu frauenfeindlichen und rassistischen Äußerungen tendierte (S.65). Solche fehlerhaften KI widersprechen der Idee des „Solutionismus“ aus dem Silicon Valley, der alle Probleme mit Big Data lösen wolle und dabei laut SF-Dystopien wie in The Circle (2013) oder im Film Zero (2021) zu totalitären Regimen führen könne. Die Terminator- und Matrix-Franchises behandeln den Überlebenskampf der Menschheit gegen selbstgeschaffene KI. Unter „Cyberpunk und digitale Welten“ verweist Hermann auf William Gibsons genrebildende Romantrilogie „Neuromancer“ (1984) sowie die Matrix-Filme; sie verweist in der Realität das Projekt „Metaverse“ von Mark Zuckerberg, das eine Digitalwelt entwickeln will, sowie auf Elon Musk, der mit „Neuralink“ Schnittstellen zwischen Hirn und Computer bauen will –wie bei Gibson beschrieben. Transhumanistische Cyberpunk-Ideen eines mit Technik verschmolzenen und optimierten Menschen sieht sie als Metaphern für eine „Real zunehmende Digitalisierung der Welt“. Gegenentwurf zum Cyberspace der digitalen Welt sei „der Weltraum als grenzenloser Sehnsuchtsort“ (S.84).

Kapitel 3 Die Eroberung des Weltraums startet bei Elon Musk der mit seiner Firma SpaceX 2017 öffentlich die baldige Besiedelung des Planeten Mars proklamierte, Amazon-Milliardär Jeff Bezos schiele realistischer auf einen beginnenden Weltraum-Tourismus für Multimillionäre. Literarisch dienten Marsbewohner als Prototyp des meist feindseligen Aliens in der SF Tradition, von H.G.Wells „“Krieg der Welten“ (1898) bis zur SF-Satire „Mars Attacks!“ (1996). Krieg gegen Aliens berge jedoch ein die Menschheit einendes politisches Potential, wie schon 1965 Susan Sontag erkannt hätte und heutige Politikwissenschaft weiterverfolge; so wird „dem Kontakt mit dem Weltraum die Kraft zugeschrieben, die Menschheit einen zu können.“ (S.97) Dies zeige sich auch in SF-Ideen zur Kooperation der USA mit China oder Russland. Das Star-Trek-Franchise hat ein eigenes Kapitel, das erörtert ob seine politische Ausrichtung wirklich ungetrübt liberale Demokratie und Menschenrechte propagiere und die kommunistische Utopie einer nicht-kapitalistischen Welt materiellen Überflusses zeichne. Dagegen stehe die militärisch-hierachische Organisation der im Zentrum stehenden „Sternenflotte“ und eine milde-imperialistische „Föderation der Planeten“, mit den (sehr US-amerikanisch agierenden) Menschen an der Spitze. Star Trek habe jedoch viele Meriten durch frühes Überwinden von sexistischen und rassistischen Diskriminierung, besonders in den USA. In neueren Space Operas habe besonders der deutsche Autor Dietmar Dath in seinen Romanen „Venus siegt“ (2015) und „Neptunation“ (2019) „gewaltige marxistische Ideenfeuerwerke“ für die Selbstbestimmung der Menschen gezündet, für ihre Befreiung von Ausbeutung und für individuelle Rechte auf ein erfülltes Leben (S.114). Tarkowskis Verfilmung des gleichnamigen Romans von Stanislaw Lem „Solaris“ (1972), gelte als sowjetisches Gegenstück zu Kubricks schon erwähntem Film „2001“, beide zeigten exemplarisch den „Sense of Wonder“, der SF-Konsumenten eine Art von Bewusstseinserweiterung bescheren könne.

Kapitel 4 Klimawandel und Umweltkatastrophen beginnt mit der Klimaaktivistin Greta Thunberg, zitiert ihre Reden vor UNO und Weltwirtschaftsforum. Extremwetter, Dürren, Ressourcenkriege, Anstieg des Meeresspiegels und Welthungers infolge Klimawandel seien schon Realität geworden. Die SF-Literatur reagiere heute verstärkt mit einem neuen Subgenre, der Climat Fiction (CliFi), habe jedoch schon in zahlreichen Dystopien davor gewarnt, jeweils auf dem Stand der Klimaforschung. Warnte die Wissenschaft in den 1950ern vor einer neuen Eiszeit, speziell nach einem Atomkrieg vor dem nuklearen Winter, so sah sie seit den 1970ern eine Hitzekrise kommen. Der Bericht an den Club of Rome (1972), die Gründung des IPCC durch die UNO 1988 machten Hitze-, Dürre- und Überschwemmungs-Szenarien zu Themen der SF, letztere etwa im Kevin-Kostner-Film „Waterworld“ (1995), Umweltzerstörung und Überbevölkerung zeigte etwa schon der Ökothriller „Soylent Green“, dt. „2022 – Die überleben wollen“.

Viel Raum nimmt der Roland-Emmerich-Blockbuster „The Day after Tomorrow“ (2004) ein, wo die Hitzekrise den Golfstrom kollabieren und die USA schockartig einfrieren lässt. Der Film habe auf das „Versagen der Klimapolitik unter US-Präsident G.W.Bush jr.“ hingewiesen, der „sich geweigert hatte, das 1997 ausgehandelte Kyoto-Protokoll umzusetzen“ (S.142). Übersehen wird im Buch der mindestens ebenso wichtige Film „The Day After“ (1983), an dessen Namen sich Emmerich anlehnte: In diesem viel beachteten Atom-Schocker wurde der Tag nach dem nuklearen Schlagabtausch in quälenden Bildern von radioaktivem Siechtum und Tod der US-Bevölkerung gezeigt; der amtierend US-Präsident Ronald Reagan, selbst Schauspieler und rechtskonservativer Hardliner, soll erst nach diesem Film von seinem konfrontativen Kurs gegenüber der UdSSR abgerückt sein. Bis dahin wollte seine Regierung einen auf Europa begrenzten Atomkrieg riskieren, um die Sowjets totzurüsten oder per Erstschlag zu „Enthaupten“; die Nato-“Nachrüstung“, gegen die in Westdeutschland eine breite Friedensbewegung unter Führung der damaligen Grünen (!) massiv auf die Straße ging, sollte mit Pershing-Raketen diese Drohpolitik durchsetzen. Reagans Einlenken mit Gorbatschow könnte also auf „The Day After“ zurückgehen -ein schöner Beleg für Hermans Thesen vom politischen Einfluss der SF.

Wie „Blade Runner“ und „Alien“ den Neoliberalismus für Privatisierung, Lohndumping und Sozialabbau kritisierten, gerät heute dessen profitgesteuerte Klima- und Umweltzerstörung ins Visier der SF. Das neue Subgenre „Solarpunk“ stelle den Krisen des Kapitalozäns (Donna Haraway 2016) Optimismus entgegen: utopische Solartechnologie und queere-punkiger Widerstand gegen Konzerne.

Schluss: Science-Fiction als Bildung betont den auch pädagogischen Nutzen des SF-Genres. Depressionen bei jungen Menschen nehmen zu und ein wichtiger Grund dafür sind Zukunftsängste. Kriege, Inflation, Armut und speziell die immer bedrohlicher werdende Öko- und Klimakrise verdichten sich zu einer „Multi-Krise“. Das Genre der Science-Fiction (SF) bietet nicht nur Eskapismus durch gute Unterhaltung, sondern befasst sich auch mit Zukunftsängsten sowie hoffnungsvollen Utopien. Dystopische SF-Szenarien warnen vor künftigen Gefahren, prangern aber auch gegenwärtige Probleme an, etwa Kriegstreiberei, Profitgier, Umweltzerstörung, koloniale Ausbeutung. Auch im Schulunterricht wird das SF-Genre gerne genutzt, als Inspiration für Gedankenexperimente, Projektionsraum für Zukunftsängste und -hoffnungen und als sozialpolitischer Gegenwartskommentar, vielleicht sogar als Anregung zur philosophischen Reflexion über die Bedingungen des Menschseins.

Die populärkulturelle Darstellung imaginärer Ereignisse bildet für viele gerade jüngere Menschen einen Zugang zu Debatten um aktuelle Zukunftsfragen. SF-Blockbuster erreichen und bewegen Millionen, vermitteln ihnen Wertaussagen über wissenschaftlich-technischen, aber auch gesellschaftlichen Fortschritt. So ließen sich „Zukunftssorgen und Climate Anxiety“ in Bildern und Texten reflektieren und durch „positive Zukunftswerte wie im Solarpunk“ lindern (S.171). Ein weiterer pädagogischer Pluspunkt bildet den Schlusssatz: „SF vermag beim Nachdenken zugleich wunderbar zu unterhalten.“ (S.173)

Diskussion

Isabella Hermann hat in ihrer emphatischen Einführung ein anno dazumal noch als Schund abgekanzeltes Genre in vielen wichtigen Aspekten instruktiv dargestellt. Ihre zielsicheren Einschätzungen stellen zahlreiche treffende Bezüge von SF und Politik dar, die ihr Modell zwischen dem metaphorischen oder prognostischen Pol verortet, wobei sie vielleicht den Spuren der strukturalen Analyse des SF-Theoretikers und –Autors Stanislaw Lem folgt (vgl. Lem 1979). Diesen lehnt sie allerdings mit Dietmar Dath eher als Misanthropen ab (S.79) –Roda Becher nannte Lems SF den Traum eines Kybernetikers, der alles Regelkreisen unterwerfen wolle, aber zur kritischen Sicht auf die Naturwissenschaft unfähig sei (Becher 1983 S.104f.). Die strukturalen Abgrenzungen, die der Fantastik-Theoretiker Todorov weiter trieb, überwindet Daniel Lüthi, um der „postmodernen Fragmentierung“ und mit Foucault einer netzförmigen Welterfahrung anstelle von linearen Polaritäten den Vorzug zu geben (Lüthi 2017 S.159).

Angesichts des monumentalen Themas und der bewältigten Literaturmassen bleibt es nicht aus, dass sich kleine Ungenauigkeiten einschleichen. Für technische SF-Erfindungen, etwa eine Zeitmaschine, habe, so Hermann, der SF-Kritiker Darko Suvin den Begriff „Novum“ geprägt (S.23); leider sind die Quellen (Suvin 1976), und vier Seiten später (Suvin 1979) ohne Seitenangabe, die Suvin-Texte fehlen zudem im Literaturverzeichnis; vermutlich ist Suvins einschlägige „Poetik der Science Fiction“ (1979) gemeint, wo dieser jedoch betont, dass er den Begriff „Novum“ bei Ernst Bloch entlehnt habe, und dieser bei Suvin nicht „in erster Linie wissenschaftliche Tatsachen“ (Suvin 1979 S.95) betreffe, sondern sich auf das beziehe, „was Bloch die ‚Frontlinie des historischen Fortschritts‘ nannte“ (Suvin 1979 S.113). Bei der Erörterung von Cyberpunk, Transhumanismus und (technischem) Posthumanismus anhand des Junius-Einführungsbandes von Janina Loh (S.82), vermisst man schmerzlich den Hinweis auf den von Loh (2018) gegenüber dem „technischen“ präferierten „kritischen Posthumanismus“, dessen an der Postmoderne-Bewegung orientierte Anthropozentrismus-Kritik in wichtigen Aspekten den postmodern-dekonstruktiven Cyberpunk eher betrifft (vgl. Gözen 2012, S.130 ff.). Diese kleinen Fragezeichen schmälern jedoch nicht den Wert des Buches, sie regen eher zum Weiterlesen und –denken an.

Fazit

Das kleine, gut lesbare Buch gibt einen Überblick über SF-Literatur, Filme und Serien. Isabella Hermann zeigt die politische, kulturelle und soziale Wirkung dieses beliebten Genres, reflektiert Inhalte, deren metaphorische Deutung und die Vermittlung von Werten zu aktuellen Themen wie KI, Klimakrise, Kolonialismus. Die Einführung richtet sich an Studierende der Literatur, generell an Menschen, die sich Gedanken über die Zukunft machen, und explizit auch an Pädagogen, die Science-Fiction-Werke zu Bildungszwecken verwenden wollen.

Isabella Hermann: Science-Fiction zur Einführung, Hamburg 2023, Junius Verlag, 208 Seiten, 15,90 Euro, ISBN 978-3-96060-321-4

Dr. Isabella Hermann ist Politikwissenschaftlerin, Ko-Direktorin des Berlin Sci-fi Filmfestes, Analystin und Speakerin im Feld der Science-Fiction, Mitglied im Vorstand der Stiftung Zukunft Berlin.

Literatur

Becher, Martin Roda: Der kybernetische Denker: Stanislaw Lem, in: An den Grenzen des Staunens: Aufsätze zur phantastischen Literatur, Frankfurt/M. 1983, Suhrkamp, S.101-105.

Gözen, Jire Emine: Cyberpunk Science Fiction: Literarische Fiktionen und Medientheorie, Bielefeld 2012, transcript Verlag.

Hermann, Isabella: Science-Fiction zur Einführung, Hamburg 2023, Junius Verlag.

Lem, Stanislaw: Science Fiction –strukturalistisch gesehen, in: Rottensteiner, F. (Hg.), ‚Quarber Merkur‘: Aufsätze zur Science Fiction, Frankfurt/M. 1979, Suhrkamp, S.17-32.

Loh, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, Hamburg 2018, Junius Verlag.

Lüthi, Daniel: Jenseits der Todorovschen Grenze: Versuch eines Brückenschlags zwischen Fantastik und Fantasy, in:Klimek, Sonja u.a. (Hg.): Funktionen der Fantastik. Neue Formen des Weltbezugs von Literatur und Film nach 1945, Heidelberg 2017, Universitätsverlag Winter, S.155-171.

Suvin, Darko: Poetik der Science Fiction, Frankfurt/M. 1979, Suhrkamp.

09/1/22
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Transhumanismus, Triefnase & Digitalisierung

Thomas Barth

Transhumanistische Aktivisten und Philosophen schwelgen in Visionen einer digitalen Zukunft. Das Paradies soll uns spätestens nach dem Upload in die Virtual Reality einer bewohnbaren Cloud erwarten, wenn unser Geist sich digitalisiert selbst simulierend im Himmelreich der Matrix wiederfindet. Doch hienieden warten einstweilen noch ein paar Hindernisse, besonders hierzulande, wo selbst das stinknormale Internet dem 16 bleierne Jahre währenden Merkel-Staat als „Neuland“ galt.

Das irdische Elend der Digitalisierung wie auch die Schwächen des cishumanen Mängelwesens Mensch zeigten sich am 4. Oktober 2019 im Tagungszentrum der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Die Kirche wollte den Transhumanismus erörtern und hatte neben dem Theologen Hoff dafür den Religionsphilosophen Professor Göcke und den „bekanntesten deutschsprachigen Transhumanisten“ Professor Sorgner eingeladen. Pech war, Sorgner kam stark vergrippt, Göcke stark verspätet, weil mit der offenbar fehldigitalisierten Deutschen Bahn.

Was ist der Mensch?

Was ist der Mensch? Was soll er glauben, worauf soll er hoffen? Diese Fragen bewegen Denker und Philosophen, Theologen wie Transhumanisten: „Der Transhumanismus geht davon aus, dass sich der Mensch als ein Produkt der biologischen Evolution auch selbstständig technisch bis hin zu einem neuen Mensch-Maschine-Wesen oder einer Cyberspace-Entität weiterentwickeln kann und sollte.

Der durchaus transhuman geneigte Göcke beginnt so die Einleitung zu seinem Buch „Designobjekt Mensch: Die Agenda des Transhumanismus auf dem Prüfstand“. Da kommt digitale Technologie wie gerufen, etwa als Hirn-Chip, als Big-Gene-Data, KI oder in fernerer Zukunft als virtueller Lebensraum ganz entkörperlichter Menschen (brain uploading). Bedeutsamer Zankapfel der Digitalisierung ist der Datenschutz, der nach Meinung Prof.Sorgners leider auch transhumanem Streben nach kybernetischer wie genetischer Verbesserung des Menschen im Weg steht.

Big-Data-Firmen lieben die Transhumanisten, wie etwa die Super-KI-Forscher des Machine Intelligence Research Institute , mehr als Datenschützer. Google etwa hat mit Ray Kurzweil einen prominenten Transhumanisten zum Forschungsdirektor gemacht, Tesla-Milliardär Elon Musk will mit seiner neuen Firma Neuralink Hirnimplantate entwickeln. Bei Facebook treibt Mark Zuckerberg persönlich transhumane Projekte voran, etwa die Worterkennung per Hirnscan. Das dabei angestrebte Brain-Diktaphon würde nebenbei dem maschinellen Gedankenlesen etwas näher kommen, das der NSA bei ihrer Totalüberwachung noch schmerzlich fehlt. Auch deutsche Transhumane scheinen Belangen der IT-Wirtschaft nicht abgeneigt, wie die Diözese Rottenburg auf oben erwähnter Tagung feststellen konnte.

Prof. Sorgner ließ es sich dort nicht nehmen, die Debatte mit einem Bonmot der IT-Industrie zu bereichern: „Daten sind das neue Öl!“ Unter dieser Parole hatte die Industrielobby bekanntlich versucht, die neue EU-Datenschutzverordnung zu torpedieren, wie eine Polit-Dokumentation zeigte. Aus Angst davor, die EU könnte von China digital abgehängt werden, tritt Sorgner dafür ein, ein europäisches Social-Credit-System nach chinesischem Vorbild einzuführen, inklusive einer personalisierten Dauerüberwachung der kompletten EU-Bevölkerung:

Warum es für uns keine realistische Position ist, die Datenerfassung zu unterlassen: Der zentrale politische Grund für eine umfassende Datensammlung ist, dass wir in einer globalisierten Welt leben und das Daten das ‚Neue Öl‘ sind, wie viele Experten betonen: Öl bedeutet Macht und finanzielles Florieren. Angesichts dieser Erkenntnis ist es keine realistische Option, keine personalisierten Daten zu sammeln… In China wird ab 2020 ein Sozialkreditsystem flächendeckend angewendet werden. Die Menge an digitalen Daten, die auf diese Weise erhoben wird, ist kaum zu unterschätzen. Je mehr digitale Daten verfügbar sind, desto mehr Macht und Geld kann realisiert werden. Europa dagegen hat Datenschutzbestimmungen institutionalisiert, die einer hilfreichen Erfassung digitaler Daten entgegenstehen.“ Prof. Stefan Lorenz Sorgner 

Damit wäre Sorgner wohl ein transhumaner Extremist, sogar aus Sicht der 2015 gegründeten Transhumanistischen Partei Deutschlands (TPD). Die pocht in den Leitlinien ihres Parteiprogramms Version 2.0 gleich an erster Stelle auf die Grundrechte der Menschenwürde und der informationellen Selbstbestimmung. Sorgner übergeht dagegen in seinem Redebeitrag den möglichen Einwand, dass blinde Gier nach Macht und Geld geradewegs in einen digitalen Totalitarismus führen könnte. Auch an seinem Buch mit dem reißerischen Titel „Transhumanismus: ‚Die gefährlichste Idee der Welt‘!?“ (2016), fällt auf, dass kaum Bedenken, Zweifel oder Kritik an Technologien vorkommen. Dabei haben insbesondere Eingriffe in das menschliche Gehirn eine dunkle Geschichte -man denke an Militär- und Geheimdienst-Projekte wie das Zimbardo-Experiment, LSD-Forschung, Gehirnwäsche oder MKUltra. Der Transhumanismus muss sich außerdem angesichts lobbyistischer Verfilzungen und enormer Geldsummen, die auf dem Spiel stehen, auch fragen, wer und warum ihn finanziert.

Thomas Hobbes und Bioshock

Hinter Sorgners transhumanem Bejahen des technischen Fortschritts, das geradezu von einer Euphorie in die nächste taumelt, verbirgt sich jedoch ein zutiefst pessimistisches Menschenbild: Der „Mensch als des Menschen Wolf“ des Frühaufklärers Thomas Hobbes, wie man es im „Bioshock“-Computerspiel in einer transhumanen Welt der Gen-Mutanten nachspielen kann. Dort werden individuell gestaltete Menschen zu einander bekriegenden Monstren in einer Gesellschaft, die nach den darwinistisch-libertären Grundsätzen von Ayn Rand konzipiert ist (so Weber in Weber/Zoglauer 2015 S.55,69).

Als Begründer der modernen politischen Philosophie empfahl Hobbes zur Überwindung der angeblich menschlichen Gewaltnatur den frühtotalitären Absolutismus eines staatlichen Leviathans. Angesichts einer Welt voller psychopathischer Wolfsmenschen ist eine an Ethik orientierte Lebenshaltung natürlich nicht ratsam, meint offenbar Sorgner, wenn er sagt:

Moralischer zu sein hingegen, ist ggf. nicht der zentrale Wunsch vieler Menschen. Überspitzt formuliert liegt dies meiner Meinung nach darin begründet, dass Moralität in der Regel im Interesse der nicht-moralischen Menschen ist und moralische Menschen eher ausgenutzt, ausgebeutet und unterdrückt werden.“ Sorgner 2016, S.62

Kritisch sieht Sorgner daher eine von manchen Transhumanisten geforderte gesetzliche Verpflichtung zum „moralischen Enhancement“ (und das ist fast die einzige Technikkritik im ganzen Buch). Dabei ist hier nicht ethische Bildung und Erziehung gemeint, sondern Moral etwa per Hirnimplantat oder Einflößung von Drogen, die analog zur Impfpflicht verordnet werden könnte. Das lehnt Sorgner ab. Aber nicht, weil ein Herumpfuschen an den höchsten Funktionen des menschlichen Gehirns unsere Gesundheit, Freiheit und Würde beeinträchtigen könnte, sondern -ganz im Sinne eines Bioshock-Rechtslibertarismus nach Ayn Rand- wegen des „globalen Wettbewerbs“:

Eine solche Regelung mag zwar praktisch nicht ausgeschlossen sein, jedoch erscheint sie mir in keinem Fall im politischen Interesse des betroffenen Landes zu sein, da ein Land mit einer besonders moralischen Bevölkerung im Kontext des globalen Wettbewerbs sicherlich nicht lange bestehen kann.“ Sorgner 2016, S.63

Janina Loh, die Sorgners „Metahumanismus“ in ihrem Buch „Trans- und Posthumanismus zur Einführung“ in einem kurzen Kapitel analysiert, mag diesen letztlich nicht als eigenständigen Ansatz anerkennen (Loh 2018, S.175). Auch Sorgners duales Theoriesystem von Kohlenstoff- bzw. Siliziumbasiertem Transhumanismus (womit er Bio- von Digitaltechnik trennt) lehnt Loh als zu schematisch und daher nur bedingt brauchbar ab (S.78).Aber Loh schreibt Sorgner auch zu, die von Transhumanisten prognostizierte Unsterblichkeit nur als „rhetorisches Mittel“ zu sehen (S.173), hat dabei jedoch evtl. überlesen, dass Sorgner Unsterblichkeit zwar für unmöglich erklärte, aber nur wegen eines in Milliarden Jahren drohenden kosmologischen Kollaps des Universums (Sorgner 2016 S.11, 2018 S.157).

Bis dahin könnte Sorgners extrem langlebiger (wenn auch im haarspalterisch-philosophischen Sinne nicht völlig unsterblicher) Transhumaner noch eine ganze Menge Neutrinos die Galaxis runterfließen sehen -und evtl. auch eine Revision der schließlich nur auf läppischen 200 Jahren Forschung basierenden Big-Bang-Theorie. Der Kritik am transhumanen Unsterblichkeitsstreben entgeht Sorgner mit seiner kosmologischen Scholastik aber nicht, der Frage nach sozialer Verantwortung hier und heute ebenso wenig.

Unsoziale Weapons of Math Destruction

Die Mathematikerin Cathy O‘Neil, die wirklich etwas von der Technik und dem Code dahinter versteht, fordert etwas mehr „moralisches Vorstellungsvermögen“, denn „Big Data-Prozesse kodifizieren die Vergangenheit und können nicht die Zukunft erfinden“ (S.276). Cathy O‘Neil spricht von Weapons of Math Destruction, also Mathe-Vernichtungswaffen (analog zu Massenvernichtungswaffen), warnt mit Blick auf Google, Amazon und Facebook davor, dass „Daten privatisiert und privat genutzt werden, um Profite zu erzeugen und Macht zu gewinnen“. Man müsse die Digitalisierung und ihre Algorithmen bändigen, indem man sie öffentlicher Aufsicht und die sie betreibenden Firmen mit „verpflichtenden Standards der Rechenschaftslegung“ staatlicher Regulierung unterwirft (S.308). Sie weist darauf hin, dass der Trump-Nestor „Steve Bannon, selbst während er gezielt daran arbeitet, das öffentliche Vertrauen in Wissenschaft zu untergraben, im Verwaltungsrat von Cambridge Analytica sitzt -einer politischen Datenfirma, die behauptet, sie habe Trump zum Wahlsieg verholfen…“ (S.313).

Heiße PR-Luft einer schmuddeligen Dotcom-Firma? Oder die üblichen Wahlmanipulationen im digitalen Kapitalismus, nur leider diesmal aufgeflogen? Manche KI-Kritiker sehen etwa in „lernfähigen neuronalen Netzen“, die aktuell als KI gepriesen werden, eine aufgeblasene Hype. Diese „KI“ wären eher „spreadsheets on steroids“ -Tabellenkalkulation auf Steroiden. So zitiert Schnetker in seiner Kritik der „Transhumanistischen Mythologie“, den DARPA-KI-Experten John Launchbury (Schnetker S.75). Cathy O‘Neil kritisiert die unsozialen Folgen des Einsatzes solcher „KI“ als klassistisch, rassistisch und sexistisch:

„Sie versprechen Effizienz und Gerechtigkeit, manipulieren dabei jedoch die höhere Bildung, verursachen zusätzliche Schulden, fördern massenhaft Gefängnisstrafen, prügeln bei jeder Gelegenheit auf die Armen ein und untergraben die Demokratie.“ (O‘Neil S.270)

Literatur

Göcke, B.P.: Designobjekt Mensch?! Ein Diskursbeitrag über Probleme und Chancen transhumanistischer Menschenoptimierung.“ In: Benedikt Paul Göcke/ Frank Meier-Hamidi (Hg.): Designobjekt Mensch. Der Transhumanismus auf dem Prüfstand. Freiburg i.Br.: Herder 2018, 117-152

Loh, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, Hamburg: Junius 2018

Loh, Janina: Transhumanismus: Den Menschen weiterentwickeln, um ihn besser kontrollieren zu können, Berliner Gazette 15.8.2017

O‘Neil, Cathy: Angriff der Algorithmen, München: Hanser 2017

Schnetker, M.F.J.: Transhumanistische Mythologie: Rechte Utopien einer technologischen Erlösung, Münster: Unrast 2019

Sorgner, S.L.: Transhumanismus: ‚Die gefährlichste Idee der Welt‘!?, Herder: Freiburg 2016

Sorgner, S.L.: Was wollen Transhumanisten? In: Göcke/ Meier-Hamidi (2018) 153-180

Weber, K. u. T. Zoglauer: Verbesserte Menschen: Ethische und technikwissenschaftliche Überlegungen, München: K.Alber 2015