10/1/25

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus?

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung. Brandes & Apsel, Frankfurt 2024, 199 S., 29,90 EUR

Rezension von Thomas Barth

Investigativ-Journalismus ist bedeutsam für das Selbstbild des Journalismus und der westlichen Gesellschaften, als Kampf um Wahrheit im Namen der Demokratie. Nur wenn das Wahlvolk auch über zweifelhafte Machenschaften der eigenen Regierungen und Mächtigen informiert ist, kann man von wirklich demokratischen Wahlen sprechen. Die Freiheit der Medien und damit der Wahlen wird regelmäßig in nicht-westlichen, autokratischen Ländern angezweifelt, von denen sich der Westen gerne abgrenzt. Umso schwerer wiegt Kritik an mangelhafter Freiheit unserer westlichen Medien, zumal wenn sie von renommierten Insidern kommt wie dem berühmten ARD-Mann Wolfgang Landgraeber. Er dokumentiert Manipulation, Überwachung und Verfolgung, denen unsere Medien seitens der Mächtigen ausgesetzt sind und schrieb selbst Mediengeschichte als Mitautor des Buches „Das RAF-Phantom. Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen brauchen“. Landgraeber beschreibt im vorliegenden Buch, wie er (und viele andere) während der Recherchen zu bzw. der Publikation von „Das RAF-Phantom“ Ziel von Bespitzelung, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen und Strafverfolgung wurden. Er schreckte bei Recherchen nie vor Spuren zurück, die in Richtung von Geheimdiensten auch des eigenen Landes führten, was viele Vertreter seiner Zunft zu sofortigem Verstummen bzw. zur Flucht in vernebelnde Narrative von angeblichen „Verschwörungstheorien“ geführt hätte. An zahlreichen weiteren, wenn auch meist weniger bedeutenden Enthüllungen werden staatliche Eingriffe in die Pressefreiheit dokumentiert, von denen Medienkonsumenten meist wenig oder gar nichts erfahren haben dürften.

Autor, Gastbeiträger und Hintergrund

Wolfgang Landgraeber studierte Sozialwissenschaften, Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik, war vielfach preisgekrönter Redakteur bei den seinerzeit bedeutsamen ARD-Polit-Magazinen „Monitor“ (1976-88, Grimme-Preis 1985) und „Panorama“ (1988-93), oft mit Rüstungs-, Militär- und Geheimdienstkritik (etwa „Die Zerstörung der RAF-Legende“, ARD 1992), in seinem mit Ekkehard Sieker und Gerhard Wisnewski verfassten Buch „Das RAF-Phantom. Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen brauchen“ wurde die offizielle Geschichte der Terrorgruppe „Rote Armee Fraktion“ in Frage gestellt: Ab der sog. „3.Generation der RAF“ (80er Jahre) sei sie als unterwandert bzw. von deutschen Behörden und verbündeten Geheimdiensten (CIA) instrumentalisiert zu betrachten; ihre Terroranschläge seien im Zusammenhang mit anderen infiltrierten Terrorgruppen und dem geheimen „Stay-Behind-Netzwerk“ der Nato zu sehen, aufgeflogen 1990 als „Gladio“-Skandal. Das Buch und das daran anschließende Nachfolgewerk „Operation RAF“ wurden Bestseller und sogar als Polit-Thriller „Das RAF-Phantom“ verfilmt –was leider zur Mystifizierung der Thematik beitrug. Viele Schlussfolgerungen und Verdachtsmomente erwiesen sich jedoch im weiteren Verlauf der Aufklärung von „Gladio“ als stichhaltig.Später beförderte die ARD Landgraeber zum WDR-Leiter für Kultur- und Naturdokumentationen; ferner war Landgraeber von 1982-2022 Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen. Seine Gastbeiträger sind die ebenfalls investigativ-sozialkritischen Dokumentarfilmer Peter Heller und Gert Monheim ( Ex-WDR-Redakteur).

Inhalt

Das Buch gliedert sich in Vorwort und 15 Kapitel in historischer Reihenfolge, die zumeist der Biografie Landgraebers folgen. Im Vorwort relativiert Landgraeber aktuelle Aufregungen um rechtsradikale Attacken auf Journalisten, die etwa von Demonstrationen gegen Migration berichten und dabei beleidigt, angespuckt und geschlagen wurden. Dies sei „alles schon mal dagewesen“, 1977 sei etwa ein WDR-Team mit einem angespitzten Baumstamm von Rechtsextremen angegriffen worden (S.7). In Demokratien müsse freier, unabhängiger Journalismus immer gegen Widerstand erkämpft werden. Landgraeber beginnt in Kapitel 1 historisch mit dem Kampf um eine Neuordnung von Presse und Rundfunk nach Nazidiktatur und gleichgeschalteten Medien: 1947 kam Augsteins „Spiegel“, 1950 die ARD. 1960 versuchte der damals bereits elf Jahre regierende CDU-Bundeskanzler Adenauer ein Privatfernsehen zu installieren, mit einem Unterhaltungschef namens Helmut Schreiber, der Hitler und Goebbels nahegestanden haben soll (S.13). SPD-geführte Bundesländer verhinderten dies zwar vor dem Bundesverfassungsgericht, aber Adenauer installierte stattdessen das CDU-nahe ZDF.

Kapitel 2 erörtert die (parteipolitische) Ausgewogenheit der Polit-Magazine: „Report München“ und „ZDF-Magazin“ auf CDU/CSU-Linie, „Kennzeichen D“ und „Monitor“ liberal, „Panorama“ SPD-nah -so war die politische Geometrie des Fernsehens austariert als Landgraeber 1976 bei „Monitor“ startete; dass manche Kollegen bei ARD und ZDF die Karriere ihrem roten oder schwarzen Parteibuch verdankten, war bekannt (S.146). Man kritisierte Bayerns CSU-Chef und Verteidigungsminister Franz Josef Strauss und seine Starfighter-Affäre (116 Piloten starben bei Abstürzen des mangelhaften Kampfjets der Bundeswehr): Eine „Frühform des Investigativjournalismus im Deutschen Fernsehen“ (S.23). Landgraeber erlebte dort einen Fall von Zensur, als „Monitor“ vom Chefredakteur Theo M.Loch (CDU) genötigt wurde, eine Atomkritikerin aus einem TV-Bericht über die Brokdorf-Demonstrationen zu entfernen; Loch wurde danach jedoch selbst schnell aus dem Amt geworfen, weil jemand recherchiert hatte, dass er bei Einstellung seine Mitgliedschaft in Hitlers Waffen-SS verschwiegen hatte (S.25).

Kapitel 3 „Selbst erlebte Beispiele staatlicher Eingriffe in die Medienfreiheit“ beschreibt drastisch, wie Landgraeber selbst Ziel von Strafverfolgung wurde, eine frühmorgendliche Razzia nebst Beschlagnahme von Recherche-Material erlebte, Hausdurchsuchungen auch bei seinen Co-Autoren Ekkehart Sieker und Gerhard Wisnewski sowie beim WDR, der Vorwurf: „Beihilfe zum Geheimnisverrat“. Dem Autorentrio gelang u.a. den Kronzeugen der Anklage gegen die RAF im Fall des Mordes am Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen zu interviewen; Siegfried Nonne , ein depressiver Drogenabhängiger, dementierte vor ihrer Kamera, je Mitglied oder Helfer der RAF gewesen zu sein, vielmehr hätten Agenten des hessischen Verfassungsschutzes ihn durch eine „verhüllte Morddrohung“ zu dem falschen Geständnis genötigt (S.33). Die Staatsanwaltschaft verteidigte ihre Ermittlungen gegen die Autoren vor der empörten Presse damit, Deckung durch die hessischen Innen- und Justizminister zu haben. Die Strafverfolgung wurde eingestellt. „Auch gegen den angeblichen Kronzeugen Siegfried Nonne wurde wegen Beihilfe zum Mord nicht weiter ermittelt. Er ist inzwischen verstorben.“ (S.34)

Auch Kapitel 4 dokumentiert, wie Mächtige in Staat, Politik und Rundfumkanstalten die Medienfreiheit behindern, im Kontext der Barschel –Affäre wurde etwa in die Wohnung Landgraebers eingebrochen, seine Akten durchwühlt (S.38); Parteipolitiker drangsalierten und zensierten kritische Sendungen. Kapitel 5 „Filmemacher unter dem Druck von Großkonzernen“ bringt die beiden Gastbeiträge: Peter Heller kritisiert den Fast-Food-Konzern McDonald’s der gegen eine Kampagne von Greenpeace klagte, die seinen Film „Dschungelburger“ verwendet hatte; Gert Monheim berichtete unter Attacken seitens CDU-Politikern über gefährliche Giftmülldeponien und Chemikalien der Unternehmen Bayer und BASF.

Kapitel 6 „Journalisten-Blocker“ erwähnt „die Enthüllungsplattform Wikileaks“ (nur ein einziges Mal im ganzen Buch, obgleich sie im investigativen Mediensektor eine immense Rolle spielt) im Fall der Schweizer Großbank Julius Bär; deren Whistleblower Rudolf Elmer konnte bei deutschsprachigen Medien nirgends Gehör finden mit seiner Enthüllung von Geldwäsche auf den Caymans, wurde von seinem Arbeitgeber und der Polizei verfolgt, saß unschuldig 220 Tage in U-Haft (S.85). Erst Wikileaks brachte seine Entlastung durch Publikation der geleakten Bank-Dokumente von Elmer; weitere Enthüllungen folgten in den „Suisse Secrets“-Leaks diverser Medien (nur nicht denen der Schweiz). Bank-, Firmen- und Militärgeheimnisse seien wichtige Hindernisse für freien Journalismus.

In den Kapitel 7-9 berichtet Landgraeber von eigenen Enthüllungserfolgen gegen Rüstungsfirmen, Biowaffen, Argentiniens Militärjunta (getarnt als Militärhistoriker Leutnant Landgraeber), um in Kapitel 10 zum „Abhörfall Günter Wallraff“ zu kommen. Herausragender Akteur seiner Zunft ist der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff, nachdem man sogar vom „Wallraffen“ spricht und damit besonders gewagtes Recherchieren meint: Undercover Einsätze, maskiert, mit falscher Biografie. Wallraff entlarvte deutschen Alltagsrassismus in der Rolle eines türkischen Gastarbeiters oder Schwarzafrikaners, deckte skrupellose Methoden der „Bild“-Zeitung auf –und wurde Ziel auch von illegalen Lauschangriffen. Ob Geheimdienste der „Bild“ gegen Wallraff halfen, bleibt unaufgeklärt; Wallraffs Kronzeuge für das Abhören, der „Bild“-Redakteur Heinz Willmann wurde vom Springer-Verlag gefeuert weil er auspackte, danach noch mehrfach von Unbekannten zusammengeschlagen und schließlich 1980 tot in seiner Wohnung aufgefunden. „’Natürliche Todesursache‘ stand im Obduktionsbericht. Wallraff hielt Willmanns Tod dagegen für Mord.“ (S.141) Kapitel 11 widmet sich Journalisten, „die sich kaufen lassen oder mit Geheimdiensten kungeln“, allen voran der „Quick“- und „Focus“-Reporter Wilhelm Dietl, der als Experte für Terrorismus und Geheimdienste auftrat, aber zugab, dass er lange auch im Sold des BND stand (S.149) und dessen dubiose Rolle schon im Buch „Das RAF-Phantom“ kritisiert wurde. BND-Mann Dietl kommentierte im Fernsehen auch Terrorakte der RAF, hinter denen Landgraeber et al. den BND vermuteten. Jahrelang bespitzelt wurde dagegen der unbestechliche Geheimdienst-Experte Erich Schmidt-Eenboom, was Landgraeber durch eigene Erfahrungen mit „Knacklauten“ im Telefon im Rahmen seiner eigenen „RAF-Phantom“-Recherchen unterstreicht (S.150).

Kapitel 12 „Wenn Propagandalügen große Kriege auslösen“ arbeitet sich durch die Historie von Bismarck und Wilhelm Zwo zu Hitler und Vietnamkrieg; dann folgen die „Brutkastenlüge“ vom Ersten Golfkrieg und das „Märchen von den irakischen Massenvernichtungswaffen“ vom Zweiten Golfkrieg, um zu Putins (von Jelzin begonnenen) Tschetschenienkrieg zu kommen, dessen Wiederaufnahme durch vier tschetschenische Bombenanschläge mit Hunderten Opfern gerechtfertigt wurde –russische Geheimdienste, Militärs und Rüstungsfirmen kämen aber als Hintermänner in Betracht; danach geht es um die „Lüge von den Faschisten in der Ukraine, die Russland zum Verteidigungskrieg zwingen“ (S.176), ob diese Faschisten nicht existieren oder sie lediglich Putin nicht zum Krieg gezwungen haben, bleibt bei Landgraeber unklar; Soziale Medien würden Propaganda verbreiten, aber etwa die investigative Plattform „Bellingcat“ habe auch russische Fakenews bekämpft. Landgraeber holt dann weiter aus, um die Geschichte der „false flag“-Operationen zu erörtern; 1998 seien Dokumente der CIA und des US-Militärs ans Licht gekommen, die den Plan eines General Lemnitzer enthüllten, 1962 in der Kuba-Krise Terrorangriffe auf das eigene Land auszuführen; durch politische Morde, die den Kommunisten angehängt werden sollten, wollte man die US-Öffentlichkeit kriegsbereit gegen Kuba bomben, doch Präsident Kennedy lehnte dies ab (S.179ff.). Kapitel 13-15 beschreiben die „Medienfreiheit in Gefahr“ durch zunehmende Überwachung (unter knappem Verweis auf die Leaks von Edward Snowden sowie die „erkennungsdienstliche Behandlung bei uns Autoren des Buches Das RAF-Phantom“, S.185) und Gewalt, etwa Fußtritte in Berlin und Sachsen oder tödlichen Beschuss durch israelisches Militär im Libanon (S.190); abhelfen könnten heute jedoch auch Recherche-Netzwerke wie GN-STAT (Global Net Stop the Arms Trade) oder ICIJ (International Consortium of Investigatve Journalists) die gegen Waffenhandel und sonstige Wirtschafts- und Steuerkriminalität ermitteln (S.195).

Diskussion

Paradebeispiel für unerschrockenen Journalismus ist (nicht nur) für Landgraeber der berühmte Reporter Günter Wallraff . Der kettete sich z.B. 1974 todesmutig als „Fabrikarbeiter Hans Wallraff“ in Athen an und protestierte gegen die dortige Militär-Diktatur (vgl. Spoo/Wallraff S.67), und ist auch hier ein kämpferisches Vorbild. Auch Landgraeber beklagt sich zu Recht und wohlbegründet über zunehmende Gängelung der Medien, doch klaffen in seiner Darstellung doch auch einige Lücken. Sehr engagiert kritisiert Landgraeber verdeckte Krieg und Putsche, für die die CIA verantwortlich zu machen ist, in Guatemala, Iran, Chile. „Insgesamt waren es 211 Umstürze und verdeckte Krieg allein in Lateinamerika.“ (S.181) Doch scheint Landgraeber nie von der „Jakarta-Mehode“ gehört zu haben, nach der dieser Staatsterrorismus seit 1965 weltweit organisiert wird (vgl. Vincent Bevins 2023). Auch was die in diesem strategischen Zusammenhang in Europa aktiven „Gladio“-Strukturen angeht, ist Landgraeber wohl nicht mehr auf dem neuesten Stand, was seine Bücher und Dokumentarfilme zum „RAF-Phantom“ noch in Anspruch nehmen konnten (vgl. Ganser).

Was die juristische Seite des Journalismus angeht, lobt Landgraeber zwar die Entschärfung des für Enthüllungs-Reporter gefährlichen Paragrafen 353b StGB (Dienstgeheimnis/Beihilfe zum Geheimnisverrat) anno 2010 (S.35), übersieht jedoch die Verschärfung von 130 StGB (Volksverhetzung), die –freilich öffentlich kaum beachtet- am 20.10.2022 den Bundestag passierte: Sie stellt neben dem bisherigen Tatbestand des Anstachelns von Hass und Pogromen im Inland nunmehr auch „das öffentliche Billigen, Leugnen und gröbliche Verharmlosen“ von Völkermord und Kriegsverbrechen unter Strafe; laut dem Kritiker Stefan Luft zielt das Gesetz auf „das Leugnen von Verbrechen im Ukraine-Krieg“ worin der Strafrechtler Gerhard Strate die Gefahr einer gefährlich schwammigen „Gesinnungsjustiz“ sieht, die womöglich Gegenstimmen zu Nato-Narrativen über Russland disziplinieren soll -und damit einer dringend nötigen Entspannungspolitik entgegen steht (Luft S.312).

Ex-Gesundheitsminister Spahn bei zweifelhaften Geschäften anzuprangern mag politisch relevant sein (S.155), aber dafür übersieht Landgraeber das zweifelhafte mediale Agieren des damaligen CDU-Steuerexperten und heutigen Kanzlers Friedrich Merz im Sinne der Finanzkonzerne in der Finanzkrise 2008 (vgl. Barth 2009). Die wachsende Dominanz privater Medien als Blocker für Aufklärung und Medienfreiheit kommt ebenfalls zu kurz (vgl. Spoo 2006). Auch ein hochmotivierter Journalist kann zwar nicht alles wissen, aber einige Lücken Landgraebers verblüffen doch: Darf man heute noch über die abnehmende Glaubwürdigkeit unserer Qualitätsmedien räsonieren, ohne ein einziges Mal den Relotius-Skandal zu erwähnen? Kein ARD-Polit-Magazin oder Investigativ-Recherche-Netzwerk kam den massenhaften, vielfach mit Journalismus-Preisen überhäuften Lügen auf die Schliche, sondern der von Relotius unkollegial behandelte Ko-Autor einer Reportage, Juan Moreno (vgl. Moreno 2019). Oder den ARD-Framing-Skandal um die Manipulations-Expertin Elisabeth Wehling, die für ein fünfstelliges Honorar der ARD erklärte, wie sie ihre Zuschauer noch effektiver mit „Narrativen“ einwickeln kann? (Anstatt sie auf Basis sauberer Recherche mit ausgewogener Information zu versorgen.) Und wenn man zwar anhand des Geheimdienst-Experten Erich Schmidt-Eenboom die Verwicklung von Journalisten in Geheimdienste kritisiert, darf man dann aber dessen einschlägiges Buch verschweigen: „Geheimdienst, Politik und Medien. Meinungsmache UNDERCOVER“ (2004), wo über diese für Landgraebers Thema so fundamental wichtige Problematik doch umfassend aufgeklärt (!) wird?

Hat dieses verschwiegene Buch von Erich Schmidt-Eenboom womöglich ein in (fast) allen Medien tabuisiertes Thema zu deutlich behandelt: Dass besonders die westdeutsche Kulturszene und insbesondere Publizisten und Journalisten bereits seit den 1950er-Jahren Ziel korrumpierender CIA-Geldflüssen sind? (vgl. Saunders: CIA & Arts & Letters) Trotz immenser kulturhistorischer und politischer Bedeutung wird der CCF („Congress for Culturel Freedom“, manchmal auf „Conference“) nach Kräften beschwiegen, abgesehen von wenigen halbversteckten und kaum wahrgenommenen (siehe Landgraeber!) Feigenblatt-Artikeln, wie jenem im DLF, den hauptsächlich störte, die üppig mit CIA-Dollars, Kaviar und Luxushotelzimmern geschmierten Publizisten könnten nicht antikommunistisch genug gewesen sein („geldgierige wie ruhmsüchtige Lumpenkünstler und Lumpenintellektuelle, die sich das antikommunistische Mäntelchen lediglich aus Verkaufsgründen umhingen“ DLF). Der CIA schuf jedoch zum Zweck der Kontrolle und der Infiltration des westlichen Kulturbetriebs den CCF und viele namhafte Publizisten zogen in den intellektuellen Kampf gegen die Sowjets: Besonders effektiv waren die linksliberalen, sozialdemokratischen, sozialistischen Antikommunisten. Die meisten von ihnen hatten (angeblich) keine Ahnung, von wem ihr Geld wirklich kam, obwohl sie es sich hätten denken können. Mehrfach angeblich eingestellt, dürfen wir vermuten, dass dies Programm oder ähnliches weiterläuft, vermutlich inzwischen digitalisiert.

Wenn Landgraeber die Digitalisierung mit zunehmender Überwachung und Drangsalierung von Journalisten verbunden sieht (S.157), liegt er richtig, hätte aber genauer über die Verbindung des von ihm herbei zitierten Edward Snowden (S.183) mit Wikileaks recherchieren sollen; dessen Team hatte u.a. Snowdens Flucht ins russische Asyl organisiert. Insbesondere entgeht Landgraeber überhaupt die für Aufklärungs-Journalismus enorme Bedeutung von Wikileaks (WL), wenn er einzig die Julius-Bär-Enthüllung nennt; die wurden 2008 hierzulande aber kaum wahrgenommen. Wichtiger wären ohnehin WL-Enthüllungen zum Toll-Collect-Skandal und der Kaupting Bank gewesen, die während der Finanzkrise 2009 in Reykjavik eine Regierung stürzten. Erst am 5.April 2010 kam Wikileaks bekanntlich erstmals in die ARD-„Tagesschau“, mit kurzen Auszügen aus dem Video „Collateral Murder“, das WL-Gründer Julian Assange weltberühmt machte. Es zeigt den kaltblütigen Mord an Journalisten in Bagdad durch Beschuss aus einem US-Kampfhubschrauber und den hinterhältigen Angriff auf eine Familie mit kleinen Kindern, die den Opfern zu Hilfe kommen wollten: Bilder, die die Welt ähnlich erschütterten wie in den 1970ern das kleine von Napalm verbrannte Mädchen als Symbol der Brutalität des Vietnamkriegs.

Landgraeber aber erwähnt „Collateral Murder“ nicht, obwohl diese historische Sternstunde des Enthüllungs-Journalismus durchaus in sein Kapitel über Tötungen von Reportern gepasst hätte. Weitere Leaks aus Militärdaten zu Kriegsverbrechen v.a. der USA in Irak und Afghanistan folgten bei WL (eigentlich in bester Landgraeber-Manier). Sie wurden begleitet von einer politischen Hetzjagd auf Assange, basierend auf falschen Beschuldigungen und der Konstruktion eines „Vergewaltigungsverdachts“ –eine Geheimdienst-Justizintrige, wie später zwar herauskam, aber durch fadenscheinige Nicht-Berichterstattung von unseren Medien bis heute verschleiert wird. All dies hätte einem Buch über Investivjournalismus sehr gut angestanden, aber Landgraeber unterliegt hier leider der Verdunkelungstaktik unserer Medien und übergeht eine Richtigstellung des jahrelangen medialen Rufmordes an seinem Enthüller-Kollegen Julian Assange; vgl. Nils Melzer (Jura-Professor und langjähriger UNO-Beauftragter für Folter), der 2021 eine weitgehend ahnungslose deutsche Öffentlichkeit über diese besonders heimtückische Intrige gegen den vielleicht bislang erfolgreichsten Enthüllungs-Journalisten umfassend aufklären (!) wollte. Melzer wurde aber medial derart totgeschwiegen bzw. angefeindet, dass seine akribischen Recherchen im „Fall Assange“ bis heute bislang nahezu unbekannt blieben.

Dies mag einerseits auf den Einfluss von Geheimdiensten auf unsere Medien, wie z.B. von Schmidt-Eenboom beschrieben zurückgehen; andererseits verdunkeln unsere Medien dabei auch ihre eigene Mitverantwortung. Denn der UNO-Folter-Experte Melzer begründet ausführlich, warum die von unseren Medien weitgehend kritiklos (Ausnahme vgl. etwa Rueger) transportierte Rufmord-Kampagne gegen Assange als Teil der an ihm verübten seelischen Folter zu bewerten ist (vgl. Melzer S.90ff.). Damit wäre auch jede ARD-Meldung zu Assange, die seinen Namen mit dem geheimdienstlich konstruierten „Vergewaltigungsverdacht“ verbindet, nicht nur Teil der politischen Verfolgung eines Journalistenkollegen, sondern sogar Teil der an ihm begangenen Folter (verständlich, dass man diese Kritik lieber totschweigen möchte). Ziel war aber nicht nur die psychische Zerstörung von Julian Assange, sondern auch die mediale Zerstörung von Wikileaks und die Neutralisierung seiner Enthüllungen (von denen viele der Öffentlichkeit auch unbekannt blieben): Es geht also bei Melzer um genau die Art von geheimdienstlicher Manipulation der Öffentlichkeit, die Landgraeber in seinem vorliegenden Buch angeprangert hat.

Fazit

Landgraeber sieht den kritischen Journalismus als unverzichtbare Säule der Demokratie und plädiert für mehr Mut, Unabhängigkeit und Aufklärung. Sein Buch dokumentiert die Einmischung staatlicher, politischer und wirtschaftlicher Akteure, um kritischen Journalismus zu verhindern -leider nur unter bestenfalls nebelhafter Andeutung des diesbezüglich bedeutsamsten Falles: Julian Assange und Wikileaks. Es richtet sich an Medienschaffende und alle, die sich für die Zukunft der demokratischen Meinungsbildung interessieren.

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung, Brandes & Apsel (Frankfurt) 2024. 199 Seiten. ISBN 978-3-95558-376-7. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

19.403 Zeichen, vgl. Landgraeber-Rezension von Arnold Schmieder, socialnet 20.12.2024 (Umfang 20.023 Zeichen), die nahezu alle kritischen Enthüllungen von Landgraeber ausspart, sich der Bedeutung von „Das RAF-Phantom“ scheinbar nicht bewusst ist und sich stattdessen über den Begriff „Aufklärung“ und der Philosophie Immanuel Kants verbreitet (nichts gegen Kant, aber hier wirkt das wie entpolitisierende Ablenkung vom regierungskritischen Kern der Arbeit Landgraebers).

Quellen

Barth, Thomas: Finanzmafia, Lobby und ihr medialer Nebelschirm, in: Elmar Altvater: Privatisierung und Korruption. Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S.75-81.

Bevins, Vincent: Die Jakarta Methode. Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt, Köln 2023.

Ganser, Daniele: NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, Zürich 2018 (14.Aufl., Original 2005).

Landgraeber, Wolfgang, Ekkehard Sieker, Gerhard Wisnewski: Das RAF-Phantom. Neue Ermittlungen in Sachen Terror, München 1992.

Landgraeber, Wolfgang: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung, Frankfurt/M. 2024.

Luft, Stefan: Deutschland und der Krieg, in: Sandra Kostner und Stefan Luft: Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, Frankfurt/M. 2023, S.309-329.

Melzer, Nils: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung, München 2021.

Moreno, Juan: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus, Berlin 2019.

Rueger, Gerd R.: Julian Assange – Die Zerstörung von Wikileaks, Hamburg 2011.

Saunders, Frances Stonor: The Cultural Cold War: The CIA and the World of Arts and Letters, New York 2000, (free PDF) Originally published in the United Kingdom under the title “Who Paid the Piper?“ by Granta Publications, 1999 (dt. Wer die Zeche zahlt)

Schmidt-Eenboom, Erich: Geheimdienst, Politik und Medien. Meinungsmache UNDERCOVER, Berlin 2004.

Spoo, Eckart, Günter Wallraff: Unser Faschismus nebenan. Erfahrungen bei Nato-Partnern, Reinbek 1982.

Spoo, Eckart: Pressekonzentration und Demokratie, in: Thomas Barth (Hg.), Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S.23-48.

12/13/21

Rezension Nils Melzer: Der Fall Julian Assange

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, Piper Verlag 2021

Hermine Humboldt

Hat die schwedische Justiz Beweise gefälscht und Zeugenaussagen manipuliert, um einen Vergewaltigungsverdacht gegen Julian Assange zu konstruieren? Der UNO-Menschenrechtsexperte Prof. Nils Melzer war anfangs kein Assange-Unterstützer, aber er nutzte sein diplomatisches Mandat für eigene Ermittlungen im Fall Assange. Der verleumdete Gründer von Wikileaks wurde damit endlich rehabilitiert -doch die Enthüllungs-Plattform war nach zehn Jahren Rufmord- und Hetzkampagne aus dem Bewusstsein der Medienkonsumenten so gut wie ausradiert.

Was hat der Fall Assange mit Netzphilosophie zu tun? Der Schweizer Netzphilosoph Felix Stalder wies schon 2016 in seinem bahnbrechenden Buch „Die Kultur der Digitalität“ auf eine westliche Machtelite hin, die er als „den inneren Kern des postdemokratischen Systems“ bezeichnete, „bestehend aus den Spitzen der Wirtschaft, der Politik und der Geheimdienste“ (Stalder 2016, S.230). Der Begriff „Postdemokratie“ markiert eine Kritik an westlichen Ländern, die von einer schleichenden Entdemokratisierung und Herrschaft von Technokraten ausgeht, die sich ausgeklügelter medialer Massenmanipulation bedient.

„Die Grenzen zwischen postdemokratischen Massenmedien und staatlichen Nachrichtendiensten sind fließend. Wie inzwischen bekannt ist, bestehen zwischen beiden Bereichen personelle Kontinuitäten und inhaltliche Gemeinsamkeiten.“ (Stalder 2016, S.234)

In seinem Buch „Der Fall Assange“ bestätigt Nils Melzer die Analyse seines Schweizer Landsmanns Felix Stalder in spektakulärer Weise: Denn der Fall Assange ist zweifellos einer der größten Justizskandale die wir kennen (sollten). Den jedoch die wenigsten in voller Tragweite zur Kenntnis nehmen können, denn es ist auch ein eklatanter Fall von Medienversagen der westlichen „freien Presse“. An deren tatsächliche Freiheit kann man angesichts ihrer äußerst desolaten (Nicht-) Berichterstattung zu weiten Teilen dieser Story höchstens noch eingeschränkt glauben -wie auch der Philosoph Stalder gut begründet argumentiert hatte. 2010 wurde Julian Assange zum „Staatsfeind Nr.1“ für die USA und Großbritannien und geriet ins Fadenkreuz der mächtigsten Geheimdienste der Welt: Der CIA, NSA, FBI (und der ca. 30 weiteren US-Geheimdienste) sowie der Britischen MI5, MI6 und GCHQ. Diese Dienste warfen, so muss man annehmen, angesichts der Wikileaks-Enthüllungen ihre ganze Macht in die Waagschale. Dazu gehört auch die Macht über Massenmedien, Politik und Justiz vieler Länder -ganz offensichtlich hier der Justiz in Schweden und England.

Mit dem „Afghan War Diary“ veröffentlicht WikiLeaks 2010 das größte Leak der US-Militärgeschichte, mitsamt Beweisen für Kriegsverbrechen und Folter. Kurz danach verdächtigt Schweden WikiLeaks-Gründer Julian Assange der Vergewaltigung, und ein geheimes US-Schwurgericht ermittelt wegen Spionage. Als ihn Ecuador nach jahrelangem Botschaftsasyl der britischen Polizei überstellt, verlangen die USA sofort seine Auslieferung und drohen mit 175 Jahren Haft. Nils Melzer, UNO-Sonderberichterstatter für Folter, will sich zunächst gar nicht auf den Fall einlassen. Erst als er Assange im Gefängnis besucht und die Fakten recherchiert, durchschaut er das Täuschungsmanöver der Staaten und beginnt den Fall als das zu sehen, was er wirklich ist: die Geschichte einer politischen Verfolgung. An Assange soll ein Exempel statuiert werden – zur Abschreckung aller, die die schmutzigen Geheimnisse der Mächtigen ans Licht ziehen wollen. Dieses packende Buch erzählt erstmals die vollständige Geschichte von Nils Melzers Untersuchung. (Piper-Verlagstext)

Der UNO-Menschenrechts- und Folterexperte Prof. Nils Melzer war anfangs kein Assange-Unterstützer. Melzer ist ein Anwalt der Menschenrechte, berufen von der UNO, und er nutzte sein diplomatisches Mandat für eigene Ermittlungen im Fall Assange -angefangen bei dem angeblichen „Vergewaltigungsverdacht“ an zwei Schwedinnen, den uns die Medien seit zehn Jahren vor jeder Erwähnung von Julian Assange präsentierten. Kritiker wie der Rezensent oder der Buchautor Gerd R. Rüger haben diese Bezichtigungen niemals geglaubt und immer von einer CIA-Intrige gegen Assange gesprochen -sie wurden dafür als „Verschwörungstheoretiker“ denunziert. Nun zeigt sich, dass wir Recht hatten: Es war eine Justiz-Geheimdienstintrige gegen Assange. Denn Prof. Melzer findet, wie er entsetzt feststellen muss, manipulierte schwedische Justizakten, und schreibt in seinem Buch über „die behördliche Nötigung der beiden Frauen zur Anpassung ihrer Aussagen an das offiziell forcierte Vergewaltigungsnarrativ“ (S.149).

Wikileaksgründer im britischen Guantánamo

London, Juni 2021. Im bestbewachten Knast Ihrer Majestät, dem Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, dem „britischen Guantánamo“, wird Julian Assange gefangen gehalten. Der wohl bislang bedeutendste Journalist des 21. Jahrhunderts ist auch inhaftiert, weil er die Foltermethoden des berüchtigten US-Gefangenenlagers Guantánamo enthüllte, jenem US-Gulag also, den der ehemalige US-Präsident Barack Obama eigentlich schließen wollte. Aber nicht die Verantwortlichen in den USA, sondern Assange wurde angeklagt: wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente – gutes Recht von Enthüllungsjournalisten – und wegen angeblicher Verstöße gegen das Anti-Spionage“-Gesetz, eines Relikts aus Zeiten des Ersten Weltkriegs. Der Schauprozess dauert an, das Unrechtsregime in London hat gerade, wie erwartet, den US-Anklägern die Auslieferung des politisch Verfolgten genehmigt.

Unsere Medien ARD, ZDF usw. betreiben eine systematisch verwirrende Berichterstattung über die Der-Fall-Assange-Enthüllungen von Nils Melzer, so droht der Kern seiner Botschaft unterzugehen: Die schwedische Justiz hat 2010 gezielt Beweise gefälscht und Zeugenaussagen manipulierte, um einen Vergewaltigungsverdacht gegen Julian Assange überhaupt erst zu konstruieren.

Der UN-Sonderberichterstatters zum Thema Folter ist Schweizer, aber Nils Melzer spricht auch fließend Schwedisch ein sagenhafter Glücksfall in der Sache Assange. Melzer arbeitete sich durch die schwedischen Akten zum Fall Assange. Doch sein bahnbrechendes Fazit wollte in unseren Leitmedien kaum jemand hören. Erst mühsam kämpfte er sich durch Netzmedien (!) wenigstens an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit. Jetzt legte er ein Buch vor, das seine Arbeit akribisch beschreibt, „Der Fall Julian Assange: Geschichte einer Verfolgung“, und folgert

Der eigentliche Zweck der Verfolgung von Assange ist nicht in erster Linie die persönliche Bestrafung von Assange, sondern die Etablierung eines Präzedenzfalles mit globaler Abschreckungswirkung für andere Journalisten, Publizisten und Aktivisten, um künftig weltweit jeden strafrechtlich verfolgen zu können, der es wagen sollte, die schmutzigen Geheimnisse der Regierungen ans Licht der Öffentlichkeit zu ziehen.“ Melzer S.230

Prof. Nils Melzer kritisiert die Leitmedien. Zwar würden einige Meinungsbeiträge halbherzig Partei für Assange ergreifen und auch die Gefahr für die Pressefreiheit anerkennen, „doch kein einziges Medienhaus protestiert gegen die den ganzen Fall durchziehende Justizwillkür“ (S.312). Die Justizwillkür zeige sich in der britischen Willfährigkeit gegenüber der US-Anklage vor dem Londoner Gericht:

Schritt für Schritt wurden auch die abwegigsten Argumente der USA kritiklos bestätigt. Gleichzeitig, fast wie im Vorbeigehen, wischte Bezirksrichterin Baraitser sowohl die rechtlichen Einwände als auch die entlastenden Gutachten und Zeugenaussagen der Verteidigung ohne viel Federlesens vom Tisch.“Melzer S.318

Prof. Nils Melzer kommt in seinem Bericht, der sich wie ein Justizthriller liest, also zu Schlussfolgerungen, die sich weitgehend mit dem decken, was Assange-Anhänger seit zehn Jahren skandalisieren: Der WikiLeaks-Gründer wurde Opfer einer Intrige, einer gnadenlosen Rufmordkampagne sowie politischer Verfolgung.

Bei dieser großangelegten Intrige handelt es sich demnach um Staatsverbrechen, für die die Verantwortlichen der beteiligten Staaten – mindestens der USA, Großbritannien, Schweden und zuletzt auch Ecuador – eigentlich vor Gericht gehören würden. Gegen Assange konnten die USA vor Gericht, anders als die Londoner Richterin in ihrem Urteil behauptet, aus Melzers Sicht nichts strafrechtlich Relevantes vorweisen. In einem rechtsstaatlichen Verfahren wäre er schon lange ein freier Mann. Das läuft schließlich auf den Vorwurf der Justizwillkür hinaus.

Westliche Massenmedien als Mittäter

Prof. Nils Melzer zeigt sich in seinem Buch überzeugt, die westlichen Medien hätten sich mit ihrer willfährigen Beteiligung an der Anti-Assange-Rufmordkampagne zu Gehilfen einer perfiden psychischen Folter gemacht – er spricht von „öffentlichem Mobbing“ (S.109). Der UNO-Experte kritisiert auch das anhaltende Ausbleiben medialer Aufmerksamkeit für den Fall Assange. Würden westliche Leitmedien die Justizwillkür angemessen skandalisieren, so seine These, würde das windige Verfahren rasch eingestellt: „Denn wenn Regierungen eines fürchten, dann ist es das gebündelte Scheinwerferlicht und die kritischen Fragen der Massenmedien.“ (S.312)

Beides bleibt jedoch aus. Stattdessen greifen westliche Leitmedien Nils Melzer an, den Überbringer der unbequemen Botschaft: Der skandalösen Botschaft, dass im Westen ein Dissident gefoltert wird, von den eigenen Regierungen, nicht im feindlichen Ausland. Unsere Leit- und Netzmedien ignorieren Melzers Erkenntnisse und berichten lieber noch kleinste und selbst konstruierte Verfehlungen von Julian Assange (wie seine angeblich hungernde Katze im Botschaftsasyl) zehn Jahre mehrheitlich breitgetreten und ihn zu einem Außenseiter stigmatisiert. Rückgratlose Leitmedien sehen bei Melzer nun wohl ihre eigene Erbärmlichkeit bestätigt -von derart autorisierter Stelle, dass sie nur peinliches Schweigen darüber breiten möchten. Melzers Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen, besonders unter Freunden der Netzphilosophie.

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, (Mitautor: Oliver Kobold ), Piper Verlag 2021, 336 Seiten, 22,00 Euro. https://www.piper.de/buecher/der-fall-julian-assange-isbn-978-3-492-07076-8