12/24/15

EU-Democracy: Im Datenrausch

Kinokritik von Thomas Barth

David Bernets Kinofilm bringt kaum Neues zum Datenschutz, man bekommt stattdessen ein rosarot gemaltes Bild der EU-Legislative und ihrer engen Beziehung zum Lobbyismus: Dokumentarfilm oder Propagandastreifen für die Diktatur des Geldes in einer korrupten Europäischen Union?

Der Kinofilm Democracy -Im Rausch der Daten dokumentiert den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess der EU anhand des europäischen Datenschutzes. Der handwerklich gut gemachte Film ergreift zwar Partei für den Datenschutz, aber er tut dies aus der unreflektierten Perspektive eines von Industrielobbyisten vorgegebenen Rahmens. Nur aus dieser Perspektive erscheint am Ende der vorgelegte Gesetzentwurf als großartiger Erfolg. Tatsächlich hat die Politik hier nur ausnahmsweise und auch nur teilweise endlich einmal das getan hat, wofür wir sie gewählt haben: Unsere Rechte zu verteidigen. Aber das Gesetz, dessen Werdegang von 2012-2013 dargestellt wird, ist bis heute nicht in Kraft.

Die Grünen wird der Film freuen, denn ihr Protagonist, der EU-Parlamentarier Jan Philipp Albrecht, wird neben der EU-Kommissarin Viviane Reding als Hauptfigur des Datenschutzes präsentiert. Im Januar 2012 hatte Reding für die EU-Kommission eine Reform der EU-Datenschutzvorschriften vorgeschlagen, der im Oktober 2013 der Vorschlag eines im EU-Parlament unter Federführung von Albrecht ausgehandelten Gesetzesentwurfs folgte, der den Datenschutz noch weiter verschärfen sollte. Besagte Verhandlungen werden im Film „Democracy“ akribisch verfolgt.

Der Kampf um das Thema außerhalb der EU-Bürokratie wird dagegen in nur fünf Filmminuten abgehandelt, die von Snowdens Enthüllungen handeln. Die europaweite Entstehung einer einer neuen politischen Bewegung zum Thema Netzpolitik und Datenschutz, der Piratenpartei, blendet „Democracy -Im Rausch der Daten“ fast völlig aus. Nur eine halbe Sekunde ist am unteren Rand eines Plakats mit Edward Snowdens Gesicht unter dem Slogan „Stop watching us“ das Wort „Piratenpartei“ zu erhaschen, dann drängen sich wieder Werbe-Luftballons der Grünen ins Bild. Klasse Parteipropaganda, oder?

Aber waren die überraschend großen Wahlerfolge der Piraten, die gerade in Deutschland bis in den zweistelligen Bereich emporschossen und ihnen teilweise bis heute Einfluss in Landesparlamenten von Berlin und NRW sicherten, wirklich so unbedeutend für den Datenschutz, dass eine solche Doku sie weglassen darf? Zählen Millionen Wählerstimmen für den Film „Democracy“ weniger als das PR-Gerede von Industrie-Lobbyisten in Brüssel? Welches Bild von Demokratie wird so vermittelt?

Lobbyismus wird nicht hinterfragt

Die äußerst dubiose Rolle des Lobbyismus im EU-Gesetzgebungsprozess wird von Bernet weniger hinterfragt als vielmehr zur Naturgewalt stilisiert: Korrupte Politiker werden zu Heroen geschönt, die gegen einen „Lobbyorkan“ ankämpfen müssen (dem sie, das leuchtet jedem ein, hie und da einfach erliegen müssen -wo genau wird jedoch verschwiegen). Dass diese Politiker die Lobbyisten erst in die Gesetzgebung hinein gelassen haben und sich von ihnen mit Kaviarempfängen und unzähligen mehr oder weniger korruptiven Gaben umschmeicheln lassen und sich sogar die angeblich von ihnen, den Politikern mühsam erarbeiteten Gesetzestexte von den Lobbykraten formulieren lassen, verschweigt Bernets Film. Korruption wird damit zugleich verharmlost, vertuscht und in ihren konkreten Folgen verschwiegen.

Jacques Santer und die EU-Bangemann-Affäre

Ist Bernets Film selbst eine dreiste PR-Produktion, die uns ein weichgespültes Bild der EU vorsetzt? Wer uns über die EU-Demokratie informieren will, kann sich, so sollte man meinen, kaum um die zahlreichen Korruptionsfälle herum drücken, bis zum Sturz einer kompletten EU-Kommission unter Jacques Santer 1999 wg. einer korrupten Édith Cresson, die beim Griff in die Kasse erwischt, letztlich sogar ungestraft davon kam. Mit der Bangemann-Affäre gab es einen der größten Skandale überhaupt genau im Bereich Netz- und Datenwirtschaft: Der dafür zuständige EU-Kommissar Bangemann (FDP) wollte nach Dienstende flugs zur IT-Firma Telefonica wechseln, die dank der vom Industriefreund Bangemann durchgesetzten Liberalisierung der Kommunikationsnetze saftige Gewinne einstreichen konnte. Das hatte eine Debatte über Mechanismen der Korruption ausgelöst.

Jacques Santer (Luxemburg), Staatsminister a. D., Präsident der EU-Kommission a. D. ist inzwischen im Führungskreis des INEA an den Schalthebeln der Lobby-Macht: Das Institute for European Affairs e.V. (INEA) mit Sitz in Düsseldorf ist eine europaweit – mit Schwerpunkt Osteuropa – tätige Beratungs- und Lobbyorganisation. Sie ist eng mit dem Baltic Sea Forum verflochten, mit dem sie im Ostseeraum kooperiert. Führende Mitarbeiter des INEA waren früher in die Aktivitäten der Sicherheitsfirma Prevent involviert. All diese Hintergründe lässt der Kinofilm im launigen Hahaha der Sektempfänge im Lobbyland verschwinden. Bestechung, Personalkarussell und Lobbyismus gehören zusammen und sind Grundübel unseres politischen Systems, die dringend öffentlicher Aufklärung bedürfen. Doch stattdessen gewährt Dokumentarfilmer Bernet vielen Lobbyisten ein Forum zur Selbstdarstellung, das dieser in PR und Rhetorik bestens geschulte „Berufsstand“ zu nutzen versteht. Der Film wird damit Teil der lobbykratischen Korruption und ihrer Propaganda.

Datenschutz kommt zu kurz

Datenschutz war in der deutschen Politik immer ein wichtiges Thema, schon beim Volkszählungsboykott in den 1980er-Jahren über das Erstreiten eines „Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung“ vor dem Verfassungsgericht bis zu den aktuell tobenden Gefechten gegen die Vorratsdatenspeicherung.

Die internationale Dimension zeigte sich spätestens beim Echelon-Skandal, der einen Konflikt Washingtons mit Westeuropa (außer Großbritannien) offen legte: NSA und andere Geheimdienste greifen in größtmöglicher Weise illegal auf die Daten der Europäer zu. Im diplomatischen Krypto-War um die Freigabe von Verschlüsselungstechnik für die Bürger eskalierte zwischen USA und EU ein Streit um den Datenschutz, der nie wirklich beigelegt werden konnte.

Mit den Enthüllungen von WikiLeaks wurde der „panoptische Blick“ der alles-sehenden Augen von NSA & Co. erstmals in großem Maßstab umgekehrt. Die alte Utopie von Hacker-Bewegung und Netzkultur, die Vision eines „Inversen Panoptismus“, wurde ansatzweise zur Realität.

Eine zweite, noch größere Bresche schlugen die NSA-Leaks von Edward Snowden in die Palisaden der globalen Überwacher. Während heute Geheimdienste um den Schutz ihrer Geheimdaten bangen, stacheln sie zugleich die Netz- und Medienwirtschaft an, den Datenschutz der Bürger immer aggressiver zu untergraben – wie Snowden enthüllte.

Big Data ist das Stichwort und die „sozialen Netzwerke“ von Facebook, Google & Co. sind ihre „digitalen Fischgründe“. Aber Bernets Film bleibt beim Thema Datenschutz leider sehr oberflächlich. Die netzpolitische Debatte, deren Intensität seit Snowden noch einmal enorm gestiegen ist, streift er nur allzu knapp. Nur fünf Minuten, von Filmminute 80 bis 85, von 100, widmet er einigen reißerischen Bildern der außerparlamentarischen Kämpfe, von „Snowden – Held oder Verbrecher?“ bis zur Demo „Freiheit statt Angst“ aus Kreisen der deutschen Hacker-Netzkultur. Das ist zu wenig. Und die Rolle der EU-Kommission wird anbiedernd heroisiert: Waren Kommissarin Reding & Co. -insbesondere angesichts der Snowden-Enthüllungen- wirklich so engagiert für den Datenschutz, wie ihre PR-Leute und dieser Film uns weismachen wollen? Regierungskritiker der Hackerszene sind da ganz anderer Ansicht:

„Als der Guardian am 5. Juni die ersten Informationen über die gigantische Überwachung aller Bürger/innen durch amerikanische Geheimdienste publik machte war die Reaktion in der EU verhalten. Nur einzelne Abgeordnete des EU-Parlaments veröffentlichten kritische Presseaussendungen und versuchten mehr Informationen durch Anfragen an die Kommission zu erlangen. Erst als auch die Überwachung durch europäische Geheimdienste, etwa durch Tempora und die Datenweitergabe der USA an europäische Dienste thematisiert wurde, wachten auch die EU-Politiker/innen langsam auf… Erst am 14.Juni äußerten sich die beiden Kommissarinnen Viviane Reding, zuständig für Justiz, und Cecilia Malmström, zuständig für Inneres, zu dem Überwachungsskandal… Und auch bei der Beantwortung der unzähligen parlamentarischen Anfragen zeigt die Kommission keinen besonders großen Willen, den Skandal aufzuklären. Am Ende bleibt ein zahnloser Ausschuss… (Es ist) zu befürchten, dass sich die Kommission weiter von den Amerikanern die Bedingungen der Aufklärung diktieren lässt und am Ende keine ausreichend verwertbaren Informationen vorlegen kann, um gegen die gigantische Überwachung aktiv werden zu können.“ Alexander Sander: Aufklärung à la EU, in: Hrsg. Markus Beckedahl & Andre Meister (Hg.): Überwachtes Netz. Edward Snowden und der größte Überwachungsskandal der Geschichte, 2013, S.128-130.

Es ergibt sich beim Blick auf das EU-Parlament in diesem Film ein auf seine beiden politischen Akteure beschränktes Bild. Besonders gefährlich ist die großzügige Einbindung der Industrie-Lobbyisten, deren Weltsicht geradezu als „natürlicher“ Hintergrund der Debatte präsentiert wird.

Es entsteht ein pseudo-ausgewogenes Storybord zur Geschichte des Datenschutzes: Hier die Wirtschaft, dort die Politik. Doch geht es nicht um unsere künftigen Menschenrechte? Würden wir bei der Debatte um Frauen-, Kinder- oder Organhandel, jene in die Diskussion einbinden wollen, die am Raub menschlichen Lebens und menschlicher Freiheit ihren schmutzigen Profit erwirtschaften wollen?

Betonung der Sicht der Lobbyisten

Bernets Film kritisiert zwar die Lobbyisten der IT-Industrie, aber er lässt sich von ihnen das Spielfeld vorgeben, auf dem das geschieht. Schon der Beginn seines Film steckt dieses Spielfeld ab. Erste Szene: Ein Hubschrauber fliegt über Athen. Eine Stimme aus dem Off (wie wir später erfahren, ein Lobbyist) erklärt uns im Ton eines Dokumentarfilms:

Viele Leute sagen, Daten sind das neue Öl, das Öl des 21.Jahrhunderts. Ein guter Vergleich, wenn man bedenkt, wie Öl unsere Welt geformt hat. Es hat uns globale Mobilität ermöglicht. Öl liefert uns Energie, hat unser Leben für immer verändert und Daten werden dasselbe tun. Je mehr Daten wir haben, umso interessantere, weltverändernde und bislang undenkbare Dinge werden Wirklichkeit. Aber wer keine Daten hat, hat auch kein Öl. Leider gibt es einen großen Widerspruch zwischen BigData und dem Wunsch nach Privatsphäre. Es werden riesige Mengen an Daten generiert, die persönliche Informationen enthalten. Die Frage ist nun: Wie sollen diese Daten genutzt oder geschützt werden? Wer hat die Kontrolle darüber? Wem gehören sie? Es ist entscheidend, dass wir die richtige Antwort finden.

Die erste Szene führt dann die beiden Hauptprotagonisten ein, EU-Kommissarin Reding und den Grünen Jan-Philipp Albrecht. Von Albrecht sieht man zunächst zwei ungeschickte Hände, die versuchen eine Krawatte zu binden. Er blättert dabei auf seinem Smartphone in einer Online-Anleitung zum Krawattenbinden. Albrecht wird als unangepasster Grüner präsentiert, vielleicht auch als Grünschnabel, der jedoch mit dem Internet umgehen kann.

Dann tritt Reding auf, in Politikerpose. Man ahnt, sie saß als VIP im angeflogenen Hubschrauber, der zugleich die „globale Mobilität“ durch Erdöl aus dem Lobbyistentext visualisierte. Sie steht vor Journalisten, redet souverän auf sie ein. Die Rollen von Reding und Albrecht werden in dieser Szene ebenso abgesteckt, wie die der EU-Industrie-Lobbyisten als Stichwortgeber, Drahtzieher und Spielmacher im Hintergrund.

David Bernet fängt mit Bildern, Musik und Schnitttechnik Stimmungen ein, vermittelt ein kurzweilig-emotionales Erlebnis der trockenen EU-Parlamentswelt. Die Personen werden plastisch gemacht, besonders Albrecht, dessen Gewohnheiten und Gefühle dokumentiert werden: Beim Kekseknabbern, bei der Arbeit, in seiner Rolle als von der mächtigen Kommissarin Reding gefördertes, ursympathisches Nachwuchstalent. Hier liegt der Schwerpunkt des Films, nicht bei der Thematik des Datenschutzes. Dies liegt vielleicht auch daran, dass Bernet quasi zufällig über das Thema stolperte, wie er selbst berichtet.

Auf die Frage, wie er auf die Idee kam, einen Dokumentarfilm über die EU-Datenschutzreform und das damit verbundene Gesetzgebungsverfahren zu drehen, antwortet David Bernet laut Presseheft:

Als ich vor ungefähr fünf Jahren die Recherche für DEMOCRACY – IM RAUSCH DER DATEN aufnahm, ging es noch nicht um Datenschutz, sondern um zwei grundsätzliche Fragen: Werde ich den Zugang bekommen, um einen solchen Dokumentarfilm im Inneren der EU-Institutionen zu drehen? Und falls ja, welches Gesetz würde von so großer Relevanz sein, dass die Debatte dazu während des Drehzeitraums europaweit heiß laufen könnte? (…)

Als ich nach (…) vielen Wochen Recherche meinen Produzenten mitteilte, dass die EU-Datenschutzreform wohl dieses heiße Eisen werden wird und ich den Film zu diesem Thema sehe, schlugen sie berechtigterweise die Hände über dem Kopf zusammen. Denn es war 2010. Das Thema Datenschutz war damals komplett außer Reichweite und nur die politischen Avantgardisten in Brüssel konnten wissen, wie bedeutsam dieses Gesetz für die Zukunft unserer Gesellschaft werden wird.

Über die Idee, „nur die politischen Avantgardisten“ hätten 2010 erkennen können, wie bedeutsam Datenschutz für die Zukunft unserer Gesellschaft werden wird, kann man nach drei Jahrzehnten politischer Kämpfe um das Thema nur die Stirn runzeln. Immerhin kommen auch NGO-Vertreter zu Wort, von denen die kritischeren Beiträge zum Thema stammen. Dabei werden leider Industrie-Lobbyisten mit NGO-Bürgerrechtlern schwer unterscheidbar gemischt.

Von der modernen Pest der BONGOs und GONGOs (Business- bzw. Government Organised NGO) hat Bernet scheinbar auch noch nichts gehört. Wenigstens erfährt man, dass in Brüssel 99 Prozent der Lobbyarbeit durch offen agierende Industrie-Lobbyisten geleistet wird. Besonders viel Raum bekommt Kataryna Szymielewicz, Gründerin und Vorsitzende der NGO „Panoptykon Foundation“ (Warschau). Die Kamera folgt der jungen attraktiven Juristin, die erläutert:

Überwachung bedeutet nicht, dass jemand weiß, wie man nackt aussieht oder mit wem man seine Nächte verbringt. Das ist Kinderkram, für den sich niemand interessiert. Tatsächlich geht es bei der Überwachung darum, Menschen und Bevölkerungsgruppen zu steuern.

Die Industrie wolle ihre Kundenprofile auf Kosten der Freiheit aufbauen und etwa jungen Frauen in polnischen Dörfern Töpfe und Pfannen verkaufen, statt roten Highheels, die ihnen Flausen in den Kopf setzen könnten. Szymielewicz‘ Bewertung der Überwachung ist richtig, wenn sie auch bei Webcams irren mag, deren Missbrauch durchaus der Gewinnung pornographischer Bilder dienen kann.

Auch finden sich vermutlich viele Onlinefirmen, die gerne jedwedes Schuhwerk in die polnische Provinz liefern würden. Warum aber zitiert die Doku Szymielewicz ausgerechnet mit Nacktheit, Bett- und Highheels? Dies lenkt nur von der politisch bedeutsameren Manipulation und Bevölkerungssteuerung durch BigData ab.

Data-Mining versus Menschenrecht

Mit Data-Mining in unserer Netzkommunikation wird das Marketing an Kundenprofilen perfektioniert, die jede Stasi-Akte in den Schatten stellen. Damit wird auch Geld verdient, aber ein wichtiger Aspekt ist zweifellos das Abschöpfen dieser Profile durch Geheimdienste, denen jede Privatsphäre ein Gräuel ist (außer ihrer eigenen). Nach außen propagieren Werbe-Abteilungen und Lobbyisten diese kriminelle, zumindest aber ethisch fragwürdige Praxis mit PR-Parolen wie „Daten sind das neue Öl“.

Mit genau diesem Satz beginnt der Film „Democracy -Im Rausch der Daten“ und viele Lobbyisten bekommen Gelegenheit, ihn in Variationen zu wiederholen. Der Hauptprotagonist der Doku, der grüne EU-Politiker Jan Philipp Albrecht, hört ihnen geduldig zu, während er um einen Kompromiss für die europäische Datenschutzverordnung im EU-Parlament ringt. Seine Devise ist: „Wenn Daten das neue Öl sind, ist Datenschutz der neue Umweltschutz“ -und somit Sache der Grünen. Die Botschaft: Kritik ist erlaubt, wenn sie im Rahmen der von Industrie-Lobbyisten vorgegebenen Weltsicht bleibt.

Dass es bei unseren persönlichen Daten um etwas fundamental anderes geht als um einen neuen Rohstoff, dass es hier um den Zugriff auf unser Grund- und Menschenrecht auf informationelle Selbstbestimmung geht, tritt in den Hintergrund. Dass es damit um die Macht geht, uns alle in bislang undenkbarem Ausmaß zu kontrollieren und zu manipulieren, bleibt ungesagt. Die oft wiederholte Parole, künftig wären unsere privaten Daten eben die Währung, in der wir die Netzkonzerne für „kostenlose“ Dienstleistungen bezahlen müssten, bleibt unhinterfragt.

Vielleicht zeigt sich hier eine besonders perfide Wirkung der Ideologie des Neoliberalismus: In einer Welt, in der alles zum Wirtschaftsgut gemacht werden darf (unsere Beziehungen im Netz, unsere ausgeforschte Persönlichkeit, unser Leben) werden die Menschenrechte in die Ecke gedrängt. Nicht mehr die Industrie soll sich rechtfertigen, unsere Daten abzugreifen, wenn wir sie in unseren öffentlichen Netzen Geld verdienen lassen – Wir sollen uns rechtfertigen müssen, wenn wir dies verweigern oder begrenzen wollen.

Die neoliberale Ideologie des „Wer zahlt befiehlt“ gewinnt an Macht durch die immer weiter gehende Privatisierung öffentlicher Infrastruktur. Im Netz genügt den Unternehmen nicht mehr die zu Beginn des Netzfirmen-Booms propagierte „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, bei der sie unsere Weltsicht hemmungslos mit Werbung verkleistern darf.

Jetzt wollen die zu global dominierenden Multi-Milliarden-Konzernen angeschwollenen Firmen auch noch unser Recht auf Selbstbestimmung in Geiselhaft nehmen. Und das, obwohl wir inzwischen nicht mehr nur befürchten, sondern definitiv wissen, dass hinter ihnen die Geheimdienste lauern, die in krimineller Weise unsere Daten missbrauchen.

Bei der Abwägung dieser menschlichen Güter gegen Begierden der Wirtschaft darf es keine kompromisslerische Haltung geben. Nur weil der virtuelle Raum der Daten und Netze abstrakter scheint und heute von vielen erst ansatzweise verstanden wird, darf hier nicht mit Lobbyisten geschachert werden. Ebenso wenig wie in der Frage der Sklaverei, für deren Fortsetzung Wirtschaftsunternehmen sicherlich auch zahlreiche ökonomische Argumente angeführt haben. Letztlich geht es um die Frage, ob die Wirtschaft der Gesellschaft dienen soll oder umgekehrt.

Bernets Film „Democracy“ präsentiert uns das EU-Datenschutzgesetz, dessen Umsetzung bis heute verschleppt wird, als grandiosen Sieg von Parlament und vernünftigem Kompromiss von Politik und Lobbyisten. Aber eher dokumentiert er wohl die dringende Reformbedürftigkeit unserer durch eine systemintern installierte Lobby-Diktatur zutiefst korrumpierte Gesetzgebungsprozesse.

(Eine gekürzte Version dieser Kinokritik erschien auf Telepolis.)

03/18/15

Mark Lombardi: Kunst & Konspiration

Filmkritik von Thomas Barth

Es ist ein deutscher Dokumentarfilm von Mareike Wegener (Realfictionfilm) über Leben und Werk des unter mysteriösen Umständen verstorbenen Künstlers Mark Lombardi, der dubiose Transaktionen der Finanzindustrie zu Bildern verarbeitete: Kunst als konkrete Netzphilosophie, die Machtnetzwerke sichtbar macht.

Lombardis „Narrative Structures“ sind elegante Organi- und Soziogramme, Bleistift auf beigem Papier: Eine künstlerisch bemerkenswerte Serie von Zeichnungen, Diagramme mit visuellen Darstellungen, die Machtbeziehungen der globalen Wirtschaft und Politik darstellen. Jetzt läuft in deutschen Kinos der Film „Mark Lombardi: Kunst und Konspiration“ über Leben und Werk des Künstlers, der sich, laut offizieller Darstellung, am 22.März 2000 das Leben nahm.

In ihrer betont unaufgeregten Dokumentation porträtiert Wegner posthum einen bemerkenswerten Künstler, der fast investigativ-journalistische „Elitenforschung betrieb. Im Internet ein Phänomen, ist Lombardi in Deutschland über die engere Kunstszene hinaus noch weitgehend unbekannt. Wegener recherchierte und drehte für diesen Film monatelang in den USA. Visuell arbeitet sie mit Bildern, die man aus journalistischen Enthüllungsfilmen kennt, mit Aufnahmen imposanter Gebäudefassaden, Experten- und Zeugen-Interviews, Kamerafahrten hinab ins Archiv Lombardis. Doch statt den sonst auf Betrachter einprasselnden Fakten und atemlosen Reporterberichten begleitet die Aufnahmen oft Schweigen, die Gespräche und Kommentare sind ruhig, lassen Zeit zum Nachdenken. Ähnliche Eindrücke in einem vergleichbaren Kontext weckte bislang nur der Film von Gerhard Friedl: „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ Die bemerkenswerte Kameraführung ist Sophie Maintigneux zu verdanken, die schon mit Godard filmte.

In 1994 I began a series of drawings I refer to as „narrative structures.“ Most were executed in graphite or pen and ink on paper. Some are quite large, measuring up to 5×12 feet. I call them „narrative structures“ because each consists of a network of lines and notations that are meant to convey a story, typically a recent event of interest to me, like the collapse of a large international bank, trading company, or investment house. One of my goals is to explore the interaction of political, social, and economic forces in contemporary affairs. Mark Lombardi, The Recent Drawings: An Overview

Originalzeichnung Mark Lombardi

Mark Lombardi begann 1995, zunächst wenig beachtet, in Houston seine Zeichnungen auszustellen. Erste größere Aufmerksamkeit weckte er im Rahmen einer Gruppenausstellung im Drawing Center, SoHo 1997. Er zog nach New York und hatte seine erste Einzelausstellung, “Silent Partners“, im Jahr 1999 in der Galerie Pierogi 2000, die heute noch seine Werke im Bestand führt, dann folgte “Vicious Circles“ in der Devon Golden Gallery in Chelsea. Es war ein kurzer, aber stetiger Anstieg der Aufmerksamkeit: Lombardis Arbeiten wurden inzwischen weltweit in zahlreichen Museen und Galerien ausgestellt.

Mark Lombardi: Der Künstler, der Elitenforschung betrieb

Dennoch ist Lombardi in Deutschland über die engere Kunstszene hinaus noch weitgehend unbekannt, wie der fast leere Kinosaal in Hamburg bezeugen konnte. Die meisten Besucher interessierten sich für die rein künstlerische Seite, begeisterten sich für die Kameraführung, Sophie Maintigneux zu verdanken, die schon mit Godard filmte. Interesse galt auch den Zeichnungen Lombardis, man bewundert die exakte Raumaufteilung, auch die akribische Ausführung der auf den ersten Blick wie florale Ornamente wirkenden, quadratmetergroßen Diagramme. Im Film wie im Netz sind die Bilder schwer darstellbar, es gibt zu viele Details, man verliert schnell den Überblick. Nur wenige Fragen bezogen sich auf die Inhalte hinter der Kunst, ein Besucher des Metropolis wies auf die Website They Rule hin, ein weiterer auf den deutschen Professor Hans-Jürgen Krysmanski (Wer die Fäden zieht), der sich soziologisch mit Power Structure Research befasst, jenem Gebiet, das am ehesten Lombardis Kunst in den Wissenschaften entspricht.

Elitenforschung, Power Structure Research, wird nicht nur von professionellen Sozialwissenschaftlern getrieben, sondern auch von Journalisten, watchdog groups, politischen Parteien, Aktivisten in sozialen Bewegungen, Gewerkschaftern, Nerds und sogar von Künstlern. Der amerikanische Maler Mark Lombardi (1951-2000) nahm seinerzeit politische und Finanz-Skandale zum Anlass, großformatige Diagramme der beteiligten Personen und Personengruppen anzufertigen, die einerseits auf dem Kunstmarkt reüssierten, andererseits aber schmutzige Deals und kriminelle Aktivitäten der oberen Zehntausend festhielten. Lombardi hatte sich eine private Datenbank mit über 12 000 Karteikarten angelegt. Seine Kunst überschritt ständig die Grenze zum investigativen Journalismus und zum Verschwörungsdenken, so dass sich vor seinem mysterösen Tod – er wurde erhängt in seinem Atelier aufgefunden – auch das FBI für seine Diagramme zu interessieren begann. Für mich ist Lombardi ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Power Structure Research auch Graswurzelforschung sein kann.

Wer war der Mensch hinter den seltsamen Zeichnungen? An Spekulationen über den offiziell als Selbstmord deklarierten Tod Lombardis beteiligt sich Mareike Wegener bewusst nicht. Nur wenige von ihr Interviewte deuten ihr Unverständnis an, allein den Eltern wird mehr Raum gegeben, Zweifel an der Suizidtheorie der Polizei zu äußern. Die Dokumentation bleibt auch hier sachlich und nüchtern, verzichtet auf jede reißerische Darstellung. Intensive Einstellungen fangen dennoch Resignation und Trauer ein. Auch weitere Verwandte und Freunde werden im Film zurückhaltend befragt, erzählen von abgehörten Telefonaten, späteren Interventionen des Heimatschutzministeriums und einer FBI-Beamtin, die nach den 9/11-Anschlägen eine Zeichnung beschlagnahmen ließ. Letztlich teilt der Betrachter des Films die Ratlosigkeit der Interviewten.

Kann Lombardis Biographie Antworten geben? Sie wurde bereits in der Vergangenheit Ziel von Spekulationen. Nach seinem Tod im Jahr 2000 brachte die New York Times ein kurzes Porträt über „den Künstler, der sich von Skandalen inspirieren ließ“. Mark Lombardi wurde 1951 in Syrakus geboren, wo er studierte und eine Bachelor-Prüfung in Kunstgeschichte an der Syracuse University ablegte. Nach seinem College-Abschluss zog er nach Houston, wo er kurz die Stelle des stellvertretenden Kurators am Museum of Contemporary Art bekleidete. Dann betrieb Lombardi eine kleine Galerie, um sich nebenher der abstrakten Malerei zu widmen. Er begann mit seinen Zeichnungen 1993, inspiriert durch ein beim Telefonieren gekritzeltes Diagramm, ein befreundeter Banker hatte ihm über den Skandal der US-Sparkassenkrise berichtet.

Damals war es in Folge der ersten Deregulierungswelle im Finanzsektor durch Ronald Reagan zu Spekulationsblasen und betrügerischen Bankrotten gekommen: Ein kleiner Vorgeschmack auf die Dot-Com-Blase 2000 und die große Bankenkrise 2008, die uns heute als Staatsschuldenkrise weiter verfolgt. Soweit die NYT. In Wikipedia liest man eine andere Version: Es ging in dem Telefonat um den Iran-Contra-Skandal, genauer: um den Waffenhändler Adnan Khashoggi, dessen Beziehungen Lombardi in einem einfachen Baumdiagramm dargestellt habe. Beide Bezüge weisen auf das besondere Interesse Lombardis an mafiösen Strukturen der Finanzwelt hin.

In einem der wenigen von ihm überlieferten Texte: The ‚Offshore‘ Phenomenon: Dirty Banking in a Brave New World geht er den Schwarzgeldströmen nach, die Steuerhinterziehung, Drogen- und Waffenhandel sowie die Geheimdienste einbeziehen, fordert ein Verbot der Schattenökonomie, wie später die Globalisierungskritiker von Attac. Sein Text liest sich wie die sorgsam rekonstruierte Vorgeschichte der aktuellen Finanzkrise.

Lombardi: The „Offshore“ Phenomenon

Doch Lombardi war kein Aktivist, er verwandelte seine Erkenntnisse in Kunst, damit entkam er einer Subsummierung unter die Rubrik „Verschwörungstheorie“. Zweifellos kann man seine Werke einfach als Kunst genießen. Die Kunstkritikerin Frances Richard meint, dass Lombardi mit seinem Begriff „Narrative Strukturen“ stillschweigend zugab, seine kartographierte Konversation sei eine konstruierte Fantasie, eine abenteuerliche und vorsätzliche Verwechslung von quantitativer und qualitativer Analyse. Karten gehören für sie in den Bereich von Zahlen und Körperlichkeit (oder scheinen dorthin zu gehören), während das Gespräch ein durch und durch subjektiver, immaterieller Prozess ist.

Dennoch mutet es geradezu hellseherisch an, wie Lombardi die Themen vorauszusehen schien, die uns seitdem beschäftigen. Wie kam er zu seinen Ideen, wie zu den Informationen? Lombardi las täglich mehrere Zeitungen, viele Bücher und zog seine Information ausschließlich aus öffentlichen Quellen. Er erstellte ein Archiv mit über 12.000 Karteikarten voll Information über Verbindungen von Macht, Geld und Personen, mit nachvollziehbarer Quellendokumentation. In einem künstlerisch kreativen Akt schuf er dann ein Organigramm zu einer Thematik, die ästhetische Gestaltung mit präziser Tatsachendarstellung verband. Bislang wurden, soweit bekannt, die Archivdaten noch nicht weiter ausgewertet – soziologische Forscher zeigten ebenso Interesse wie das FBI.

Kassel stellte auch das Opus Magnum Lombardis aus: „BCCI-ICIC & FAB, 1972-91“, jenes Bild, das nach 9/11 2001 vom FBI konfisziert wurde. Wegener beschreibt in ihrem Film, wie dieses Bild im Jahr 2000 vor einer wichtigen Ausstellung New Yorker Museum PS 1 zerstört wurde – ein Defekt in der Sprinkleranlage des Ateliers. Lombardi arbeitete bis zur Erschöpfung an einer Restaurierung, aber schon drei Wochen später fand man ihn erhängt in seiner Wohnung. Ein Suizid scheint unverständlich, so kurz nach einem großen öffentlichen Durchbruch seiner Kunst. Das 3sat-Magazin Kulturzeit sagt über das Bild:

Die Bank of Credit and Commerce, kurz BCCI, stand in den 1980er Jahren im Zentrum eines riesigen Bankenskandals. BCCI war keine normale Bank, ihre Manager waren Geheimdienstleute. Ihr einziger Zweck: Gelder waschen, korrupte Politiker schmieren, Waffengelder schleusen.

Lombardis Werk nahm künstlerisch Erkenntnisse auch der Ökonomen vorweg, so wirkt zumindest ein Blick auf sein Bild World Finance Corporation and Associates, ca. 1970-84, vergleicht man es mit Ergebnissen der ETH Zürich zur Vernetzung der 147 mächtigsten Großkonzerne der Welt (meist Banken), deren Studie „The network of global corporate control“auch Korruptionsforscher wie Werner Rügemer inspirierte (Die Macht der Rating-Agenturen).

Lombardi las Bücher über Korruption, politische Verbrechen und Geldwäsche, verfolgte die dubiosen Transaktionen der Finanzindustrie – zweifellos ungewöhnlich für einen Künstler. Ob seine Zeichnungen uns je als Tapetenmuster begegnen werden, wie Motive van Goghs? Ihre Ästhetik würde dies rechtfertigen, ihr zeitkritischer Inhalt ebenso und vermutlich wäre es auch im Sinne ihres Schöpfers. Der Kunsthistoriker Robert Hobbs glaubt in Wegeners Film, die Motivation Lombardis zu kennen: Er wollte die Menschen anstiften, die Welt zu verändern.

02/28/14

Snowden Überwachtes Netz

Buch zu verschenken: Bereits 60.000 Downloads von „Überwachtes Netz“

24.02.2014 Markus Beckedahl

Vergangenen Donnerstag haben wir unser Buch „Überwachtes Netz – Edward Snowden und der größte Überwachungsskandal der Geschichte“ zum freien Download online gestellt. Seitdem wurde das eBook über 60.000x heruntergeladen. 24550x wurde das Zip-File mit den beiden eBook-Formaten heruntergeladen, 36632x das PDF. Die Zahl freut uns, weil unser Ziel war, dass möglichst viele Menschen die Inhalte des Buches zum Lesen bekommen. Das spannende ist, dass diese Zahl vollkommen ohne klassische Medienberichterstattung zustande kam, lediglich durch Mundpropaganda über soziale Medien. Danke fürs Weitersagen! (von Netzpolitik.org) BUCH als PDF

08/21/12

Urheberrechts-Piraterie & Verwertungsgesellschaften

Thomas Barth · 31.07.2012

„Raubkopiere sind Verbrecher!“ -Mit dieser unerträglich verlogenen Kampagne schlugen Medienkonzerne ihre Claims in unzählige Netzmedien und DVDs und gingen uns allen auf die Nerven. Doch auch die zwischen Kreativen und Konzernen operierenden Verwertungsgesellschaften stehen in der Kritik.

In Amsterdam erlebten die Verwerter just eine juristische Schlappe. Das niederländische Äquivalent zur GEMA, die Verwerter-Agentur Buma/Stemra, wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie einem Kreativen fällige Lizenzgebühren vorenthalten hatte. Man hatte seine Komposition hinter seinem Rücken massenhaft weitergenutzt, nur durch einen Zufall kam er den Urheberrechts-Räubern auf die Schliche. Die Ironie dabei: Ausgerechnet für die Musik eines Anti-Piracy-Clips waren dem Künstler Melchior Rietveldt keine Tantiemen gezahlt worden.

Seit Jahren behauptet die Medienindustrie, sie verteidige die armen Künstler gegen verbrecherische Raubkopierer, die Piraten aus dem Internet. Dabei wurden die Medienmogule zunehmend raffinierter. Noch bei den UHR-Änderungen 2001 drohte eine Verleger-Kampagne in großen Zeitungsanzeigen mit der “Entlassung” von freien Journalisten und Künstlern. Man hätte einfach kein Geld mehr für sie, würden die Interessen der Verwerter nicht durchgesetzt. Bebildert war die tollpatschige Presse-Kampagne des Bundes Deutscher Zeitungsverleger u.a. mit Zeichnungen abgemagert aussehender Poetinnen.

Heute gehen die Verwerter weniger platt vor und ermuntern von ihnen abhängige Kreative, sich gegen die UHR-Piraten in die Öffentlichkeit zu stellen. Und welche Art von Kultur liegt dem deutschen Michel besonders am Herzen, kann also am Besten die Öffentlichkeit gegen Piraten mobilisieren? Der Krimi ist der Deutschen liebstes Genre und so werden Krimi-Autoren und Tatort-Schauspieler in die erste Reihe geschickt, für die Verwerter um Sympathien zu werben z.B. in der Aktion „Ja-zum-Urheberrecht“.

Die „Ja-zum-Urheber”-Kampagne

Ob diese Kreativen von alleine auf die Idee kamen, ob sie freiwillig, mit Vergünstigungen geködert oder mit Sanktionen bedroht für die Urheberrechte (oder wohl eher für deren Verwertung durch die gleichen Medienmogule wie bisher?) ihren provokanten Autoren-Strip „Hemd-up-for-your-rights“ inszenierten, bei dem arme, nackte Poeten einem Leichenfledderer mit Anonymous-Maske zum Opfer fallen, wissen wir nicht. Als jedoch ein paar Anonymous-Hacker mit DDoS-Attacken konterten, war die Presseempörung groß.

Der Auftritt der UHR-Kämpfer sieht allerdings für eine Bürgerinitiative sehr professionell aus und scheint auch gut finanziert zu sein. Für die große Masse der am Existenzminimum herumkrebsenden Kreativen sind sie sicher nicht repräsentativ. Die Piratenpartei setzte eine „Ja-zum-Urheber“-Kampagne dagegen:

„Die von der Piratenpartei angestrebte Reform des Urheberrechts bringt Verwertungsgesellschaften und große Verlagshäuser auf die Barrikaden. In groß angelegten Medienkampagnen setzen sie auf Fehlinformationen über die Ziele und Forderungen der PIRATEN. Erst in der vergangenen Woche sprachen sich so über 100 Medienschaffende – von denen allerdings nur wenige tatsächlich Urheber sind – im „Handelsblatt“ gegen die Reformpläne der PIRATEN aus. Dabei wurde wieder fälschlicherweise behauptet, die Piratenpartei wolle sämtliche Inhalte kostenlos über das Internet verbreiten, das Urheberrecht abschaffen und die Interessen und die Lebensgrundlage der Künstler ignorieren.“

Die Kreativen für den Anti-Piraten-Kampagnen einzuspannen, ist sicher eine besser ausgedachte PR-Masche der Verwerter, aber ihre öden Standard-Gefechte ums Copyright laufen weiter: So produziert die Kulturindustrie Jahr um Jahr ihre nervigen „Raubkopierer sind Verbrecher“-Clips und ödet jeden Kinogänger und jeden Käufer von DVDs mit ihren wahrheitswidrigen Tiraden an: Raubkopieren ist bislang keineswegs ein „Verbrechen“, auch wenn die Verwerter-Lobby das Strafmaß gern immer höher schrauben würde. Politiker springen der Industrie gern zur Seite und mahnen mehr Achtung vor der Leistung der Kreativen an.

Die Knebelverträge

Doch wie steht es mit der Moral der Verwerter selbst, wenn es um die Zahlung für kreative Leistungen geht? Wer ein Werk (ob Bild, Ton oder Text) verkauft, wird meist mit einer mageren Einmalzahlung abgespeist und muss künftig selbst hinter den multinationalen Konzernen herlaufen, um zu kontrollieren, ob und wo sein Werk erneut verwendet wird. Um selbst diese geringen Chancen der Kreativen auf Partizipation an den gigantischen Gewinnen der Konzerne noch zu unterbinden, müssen die meisten Autoren (Medien-Prominenz der „The-winner-takes-all“-Fraktion natürlich ausgenommen) Knebelverträge unterschreiben.

Hierin sichert sich der Verwerter alle Rechte für immerdar am einmal mager bezahlten Werk und, wenn es nach der Unternehmerseite geht, auch gleich an den kompletten Recherchen des Autors. Wer das nicht will, wird oft mit Boykott erpresst; wer sich dagegen öffentlich zur Wehr setzt, muss fürchten, auf einer Schwarzen Liste zu landen. Doch selbst wer Rechte hat, muss sie anscheinend erst gerichtlich durchsetzen, wie der bereits erwähnte Musiker Melchior Rietveldt.

Im Jahr 2006 hatte Rietveldt ein Musikstück für eine Anti-Piracy-Kampagne bei einem lokalen Filmfestival komponiert. Als er 2007 eine Harry-Potter-DVD kaufte, entdeckte er sein Musikstück darauf: Der Anti-Piracy-Clip war ohne seine Erlaubnis mit seiner Komposition unterlegt. Rietveldt fand sich solcherart raubkopiert auf Dutzenden von DVDs in den Niederlanden und im Ausland. Er wandte sich an die zuständige Verwerter-Agentur Buma/Stemra.

Die hatte seine Rechte zwar vertreten, aber leider versäumt, ihn für das oft verwertete Stück zu bezahlen. Rietveldt erhielt von der Buma/Stemra einen Vorschuss von 15.000 Euro mit dem Versprechen, eine Liste der anderen DVDs zu übermitteln, die seine Komposition verwenden. 2009 forderte er einen Nachschlag und bekam nach einigem Gerangel weitere 10.000 Euro.

Die von der Buma/Stemra versprochene DVD-Liste kam nie bei Rietveldt an; das Gericht in Amsterdam stellte diese Woche fest, dass seine Komposition auf mindestens 71 kommerziellen DVDs von der Medienindustrie verwendet worden war. Die Justiz entschied, dass die Buma/Stemra fahrlässig gehandelt habe. Sie verhängte eine Geldstrafe von ca. 20.000 Euro und bestätigte Forderungen des Musikers in Höhe von ca. 160.000 Euro.

Zuerst erschienen in Berliner Gazette 31.07.2012 https://berlinergazette.de/de/urheberrecht-piraterie-medienindustrie/