12/10/16

Rezension: Hartmut Rosa „Resonanz“

Gerd Peter Tellurio

Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung bietet eine fundierte, zugleich poetisch-schärfende Analyse der modernen Lebensbedingungen. Das Backcover umreißt mit dem programmatischen Satz „Resonanz bleibt das Versprechen der Moderne, Entfremdung aber ist ihre Realität“ das Problemfeld. Der zentrale Begriff der Resonanz wird als künstlerischer, politischer und alltäglicher Modus der Beziehung zur Welt entfaltet. Nicht bloß Verstehen oder Beherrschen, sondern eine wechselseitige, befreiende Schwingung zwischen Subjekt und Umwelt ist angesprochen. Rosa kritisiert auch in diesem Buch die „Beschleunigungsgesellschaft“ als eine Gesellschaft, die Effekte der Vernetzung, die Produktivkraft von Zeitdruck und ständige Verfügbarkeit ausnutzt, um Effizienz zu generieren. Resonanz ist demgegenüber eine Form des Sich-Ansprechens, Sich-Überraschens und Sich-Mitteilens, die Erfahrung von Relevanz, Zugehörigkeit und Sinn stiftet.

Eine Soziologie des guten Lebens

Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung. So lautet die Kernthese des Buches von Hartmut Rosa, das als Gründungsdokument einer Soziologie des guten Lebens gelesen werden kann. Anstatt Lebensqualität in der Währung von Ressourcen, Optionen und Glücksmomenten zu messen, müssen wir unseren Blick auf die Beziehung zur Welt richten, die dieses Leben prägt. Dass diese Beziehung immer häufiger gestört ist, hat viel mit der Steigerungslogik der Moderne zu tun, und zwar auf individueller wie kollektiver Ebene. „Beschleunigung“ und „Entfremdung“ sind Begriffe, die zahlreiche Phänomene der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten zweihundert Jahre erklären können. Rosa nimmt die großen Krisen der Gegenwart in den Blick und weist einer resonanztheoretischen Erneuerung der Kritischen Theorie den Weg.

Entfremdung wird nicht nur individuell erlebt, denn Institutionen, Arbeitswelten, digitale Medien und urbane Strukturen tragen dazu bei, dass sich Menschen wie Zahnräder in einem größeren System fühlen. Rosa fordert, Entfremdung nicht nur als individuelles Misslingen, sondern als strukturelles Phänomen zu sehen. Lösungsansätze müssen daher rhythmisierende, resonanzförderliche Praktiken umfassen. Gegen Entfremdung plädiert Rosa für eine „Resonanzordnung“ oder eine Gesellschaft, in der Zeitpolitik, räumliche Gestaltung, Bildung und Kultur Räume schaffen, in denen Menschen wieder sinnstiftend, verbunden und aufmerksam leben können. Die Gegenstrategie ist eine Struktur der Resonanz – Räume, Zeiten und Praktiken, die Nähe, Verbindlichkeit und sinnstiftende Verknüpfungen ermöglichen. Dabei plädiert Roas nicht für eine simple „Entschleunigung“ als Lösung des Problems, dies verkenne die Dynamik der Moderne: „Man kann (…) den Beschleunigungsprozess auch verstehen als unaufhebbare Eskalationstendenz, die ihre Ursache darin hat, dass sich die gesellschaftliche Formation der Moderne nur dynamisch stabilisieren kann.“ (Rosa, S.13) Die Menschen der Moderne bleiben in ihrem Leben nicht unberührt von der Beschleunigung, denn ihr Dasein, ihre Fähigkeit zur Resonanz wird zunehmend gestört und untergraben:

„Diese systematische Eskalationstendenz verändert aber die Art und Weise, in der Menschen in die Welt gestellt sind, sie ändert das menschliche Weltverhältnis in grundlegender Form. Dynamisierung in diesem Steigerungssinn bedeutet, dass sich unsere Beziehung zum Raum und zur Zeit, zu den Menschen und zu den Dingen, mit denen wir umgehen, und schließlich zu uns selbst, zu unserem Körper und unseren psychischen Dispositionen, fundamental verändert.“ (Rosa, S.14)

Resonanz als Gegenmodell zu Distanz und Verflüchtigung

Die vier Teile des Buches behandeln 1. Grundelementen menschlicher Weltbeziehung, 2.Resonanzsphären und Resonanzachsen, 3.die Moderne als Zeit des Weltverstummens und 4. eine kritischen Theorie der Weltbeziehung. Ausgangspunkt ist die Diagnose einer entzauberten, entfremdeten Moderne; darauf aufbauend entfaltet Rosa das Konzept der Resonanz als Gegenmodell zu Distanz und Verflüchtigung; schließlich entwickelte er Kriterien und Formen, wie Resonanz in Alltag, Politik, Bildung und Kultur geübt werden kann (vgl. Inhaltsverzeichnis/Einleitung des Buches).

Rosa argumentiert, dass moderne Gesellschaften durch zunehmende Temporalität und Beschleunigung gekennzeichnet sind, sich manifestierend in Technologie, Arbeit, Kommunikation, Mobilität. Diese Beschleunigung erzeugt ein permanentes Gefühl des Verdrängens und der Zeitnot, wodurch Individuen sich entfremden von sich selbst, anderen Menschen und der Welt. Motiv der Moderne ist das Versprechen einer umfassenden Weltbeherrschung, die auch das Glück des Subjekts garantieren müsste. Jedoch sieht Rosa, dass die Beherrschung des Anderen letztendlich kein Glück hervorbringt, sondern ins Gegenteil umschlägt. Herrschaft, Effizienz, Kontrolle usw. verhindern Gelassenheit oder Loslassen und hier liegen die Potenziale der Resonanz. So bilden die Achsen der Resonanz in ihren positiven Ausprägungen Gegengifte gegen eine umfassende Sinnentleerung der Welt, die durch Planung, Kontrolle und Herrschaft nicht herstellbar sind. Horizontale Resonanzachsen wären dabei die „Familie als Resonanzhafen in stürmischer See“, Freundschaft und die Politik mit ihren Stimmen der Demokratie; Diagonale Resonanzachsen umfassen die Objektbeziehungen zu den Dingen, die Arbeit, weil dort „das Material zu antworten beginnt“, die Schule als Resonanzraum sowie Sport und Konsum als „Versuche, sich zu spüren“; Vertikale Resonanzachsen nennt Rosa schließlich die „Verheißung der Religion“, die „Stimme der Natur“, die „Kraft der Kunst“ und den „Mantel der Geschichte“.

Individuen im Netzwerk der Normen

Entfremdung entsteht laut Rosa, wenn Beziehungen zu Menschen, Orten und Dingen nicht mehr in einer sinnhaften, resonanten Weise erlebt werden. Resonanz bedeutet hier eine gelingende, wechselseitige, lebendige Verbindung. In einer beschleunigten Welt bricht diese Qualität oft ab, weil Aufmerksamkeit zerfällt, Nähe zu den Mitmenschen abnimmt und Dinge nur noch als Mittel dienen. Entfremdung sieht Rosa somit nicht primär als Leiden einzelner Subjekte, sondern als Fehlverhältnisse in den Bezügen zu Zeit, Ort, anderen Menschen und Dingen. Es geht um die Qualität der Verbindungen, nicht nur um innere Zustände. Er argumentiert, dass moderne Gesellschaften durch strukturelle Beschleunigung soziale Räume auf Distanz halten. Dinge, Ereignisse und Menschen sind ständig „in der Nähe“ (technisch, logistischer, informationeller Zugriff), doch diese Nähe verhindert echte Resonanz (echtes Verstehen, Anteilnahme, Zugehörigkeit). Durch Globalisierung, Verwaltung, Marktlogik und Bürokratie werden Lebenswelten fragmentiert.

Individuen erleben sich in einem Netzwerk von Erwartungen, Normen und Funktionslogiken, die Distanz statt Verknüpfung herstellen. Rosa kritisiert eine Orientierung an Verfügbarkeit, Effizienz und Kontrolle. Stattdessen fordert er eine Öffnung für andere, zuhörende Begegnungen, in denen sich Menschen gegenseitig zu sich hingezogen fühlen und sich gemeinsam von der Welt ansprechen lassen. Die Entfremdung wird weder rein subjektiv (nur individuelles Unwohlsein) noch ausschließlich systemisch (nur Strukturen) erklärt. Er betont die Wechselwirkung: Strukturen beeinflussen Subjekte, Subjekte wiederum verändern Strukturen, wodurch sich ein „Krisenpfad“ öffnet oder geschlossen bleibt. Gegen Entfremdung plädiert Rosa für eine Praxis der Resonanz – aufmerksam zu sein, sich auf andere einzulassen, Zeit und Raum für gemeinschaftliche Sinnstiftung. Das bedeutet auch politische und kulturelle Rahmenbedingungen, die solche Begegnungen ermöglichen (z. B. kommunale Räume, gemeinschaftliche Rituale, Bildungskulturen).

Kritik

Anton Schlittmaier, Professor für Philosophie und Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Dualen Hochschule Sachsen, kritisiert an Rosa, das „In-Resonanz-Sein“ sei möglicherweise ein „Wohlfühlkonzept“, denn es sei ein immanentes Konzept von Glück. Auch der Bezug zur Transzendenz wird sozialwissenschaftlich als Vorstellung eines Bezugs zu einer antwortenden Welt gesehen. So würde vorausgesetzt, dass die Transzendenz immer nur eine Vorstellung sei. Dies widerspricht aus Schlittmaiers Sicht Konzepten, die Rosa im Sinne seiner eigenen Argumentation anführt, etwa dem von Martin Heidegger. Das Sein ist sei bei Heidegger gerade nicht das nur gedachte Sein, sondern das Unverfügbare: Das Sein, „das mich in die Verantwortung ruft, wobei diese Verantwortung definitiv nicht nur etwas ist, was ich mir als Subjekt ausgedacht habe.“ Anderen zu helfen, als durchaus erstrebenswertes und sinngebendesLebensziel, könne z.B. zu extremen Einbußen im Wohl-Sein führen. In diesem Zusammenhang habe Immanuel Kant gelehrt, dass wir auf eine ausgleichende Gerechtigkeit (im Sinne von Wohl-Sein als Lohn für Moralität) zwar hoffen können, es jedoch keinerlei Garantie dafür gibt. Bei Rosa gewinne man jedoch den Eindruck, „dass alles, was man richtigerweise tut, immer gleich durch das Glück des In-Resonanz-Seins entschädigt wird“. Dies verdecke eine Tendenz zum Hedonismus mit einer postulierten Übereinstimmung zwischen dem Guten und dem Glück. Schlittmaiers Kritik ist nicht ganz von der Hand zu weisen, doch knüpft Rosa an traditionelle Vorstellungen einer Tugendethik an, die er um originelle Aspekte der Resonanz ergänzt und auf die moderne Welt anwendet. Und sein bei Adorno entliehenes Eingangszitat verweist auf die Kraft der Ästhetik für Hoffnung auf Verwandlung (Zitat hier stark gekürzt, zuvor voran gestellt wurde noch ein Zitat von Heinrich Heine):

„Nichts kann unverwandelt gerettet werden, nichts, das nicht das Tor seines Todes durchschritten hätte. Ist Rettung der innerste Impuls jeglichen Geistes, so ist keine Hoffnung als die der vorbehaltlosen Preisgabe: des zu Rettenden wie des Geistes, der hofft. (…) Was von endlichen Wesen über Transzendenz gesagt wird, ist deren Schein, jedoch, wie Kant wohl gewahrte, ein notwendiger. Daher hat die Rettung des Scheins, Gegenstand der Ästhetik, ihre unvergleichliche metaphysische Relevanz.“

Theodor W. Adorno, Negative Dialektik

Fazit

Kurz gesagt: Entfremdung wird bei Rosa als Dynamik der Distanz durch Beschleunigung, Bürokratisierung und Funktionslogiken verstanden, die echte Verbindung und Zugehörigkeit verhindern. Die Gegenentschrift ist eine Praxis der Resonanz: offen sein für andere, Zeiten schaffen für Gelassenheit und gemeinsames Sinn-Stiften. Für Kritik und eine neue theoretische Perspektive auf Gesellschaft und Subjektivität bietet das Buch damit zahlreiche Anknüpfungspunkte: Es reflektiert über die Qualität unserer Beziehungen, über Zeitgestaltung, über die Bedeutung von Gemeinschaft und über die Rolle von Ästhetik und Sinnstiftung in der Gegenwartsgesellschaft. Als Fazit bleibt also ein philosophischer Diskurs und die Utopie, Resonanz praktisch zu gestalten, etwa durch achtsame Kommunikation, kulturelle Praxis, politische Bildung und persönliche Lebensführung. Wer eine scharfe Diagnose der Moderne sowie eine normative Vision für eine menschlichere Welt sucht, wird in Rosas „Resonanz“ eine anregende, oft inspirierende Lektüre finden.

Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2016. 500 Seiten, 32,95 EUR. ISBN 978-3-518-58626-6. 

Hartmut Rosa (*1965) promovierte 1997 bei Herfried Münkler und Axel Honneth und ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt. Bei Suhrkamp erschienen: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit (2013) und Beschleunigen wir die Resonanz! Bildung und Erziehung im Anthropozän. Gespräche mit Nathanaël Wallenhorst. Aus dem Französischen von Christine Pries, Suhrkamp, Berlin 2024.

04/28/16

Der Schamane und die Schlange

Filmkritik von Thomas Barth

Der Film verbindet Humor mit knallharter Kritik am Kautschuk-Kolonialismus zu einem visionären Trip in versunkene Kulturen des Amazonas: Kolumbiens künftiger Kinoklassiker.

Die Hauptfigur von El abrazo de la serpiente (eigentlich: Die Umarmung der Schlange) ist erstmals im kolumbianischen Kino ein Indigeno (Indio): Der nach Vernichtung seines Volkes durch „die Kolumbianer“ allein im Dschungel lebende Schamane Karamakate muss sich zweimal in seinem Leben mit sonderbaren Weißen herumschlagen. Den jungen Karamakate (Nilbio Torres) sucht der todkranke deutsche Ethnologe Theodor Koch-Grünberg (Jan Bijovet) auf, er will Heilung durch die geheimnisvolle Pflanze Yakruna.

Die heilige Blume Yakruna verheißt spirituelle Läuterung, verspricht aber auch besseres Kautschuk. 40 Jahre später findet der Botaniker Evans Schultes (Brionne Davis) den alten Schamanen (Antonio Bolívar); Evans sucht, geleitet von Grünbergs Reisebericht, die gleiche Pflanze. Beide Male lässt Karamakate sich widerwillig auf den Weißen ein, macht sich auf zwei abenteuerliche Reisen durch einen Dschungel, in dem einer faszinierenden Natur die Brutalität des Kolonialismus gegenübersteht.

Der Film des jungen Regie-Talents Ciro Guerra zieht den Zuschauer sofort in seinen Bann; faszinierende, fast mystische Naturaufnahmen saugen den Blick in die visionäre Welt des Karamakate, durch die der weiße Forscher als komische Figur in eine brutale Handlung stolpert. Für Zuschauer und Karamakate verschmelzen beide Weiße zu einer Person; raffiniert gesetzte Zeitsprünge lassen beide Handlungsstränge parallel auf ihr ebenso dramatisches wie inspirierendes Ende zutreiben. Bildgewaltig, humorvoll und bewegend greift der Film auf reale Ereignisse und historische Forscherpersönlichkeiten zurück.

Gebrochene Figuren und spirituelle Drogen

Die beiden Forscher werden als gebrochene Figuren vorgeführt, der eine ein Irrer, der andere ein Betrüger. Theo, den sein treuer Gehilfe Manduca (Miguel D. Ramos) halbtot zu Karamakate schleppt, hängt in wahnsinniger Hartnäckigkeit an seinem Gepäck. Als der Schamane dies unterwegs kritisiert, “Du bist verrückt”, antwortet der Deutsche mit seligem Lächeln: “Ich weiß.” Theo will durch die Yakruna lernen zu träumen und verspricht Karamakate, dass er ihn zu letzten Überlebenden seines Stammes führen kann.

Evans will zu Anfang die heilige Yakruna von Karamakate für “viel Geld” kaufen und zeigt ihm zwei Ein-Dollar-Noten, doch der winkt ab, Geld stinke und sei nur etwas für Ameisen. Beide Forscher werden dennoch auch sympathisch dargestellt, Evans gewinnt den Schamanen für sich: “Ich habe mein Leben den Pflanzen gewidmet”; da findet Karamakate: “Das ist das Vernünftigste, was ich je von einem Weißen gehört habe.” Letztlich wird auch Evans zu einem Bewahrer der indigenen Kultur, die der Kolonialismus gnadenlos zerstört.

Optische Brillanz, überzeugende Darsteller in einer klugen Handlung und Bilder, welche die Fantasie nicht mehr loslassen, machen den Film zu einer faszinierenden Reise in die Welt des Amazonas. Die Kamera taucht tief in eine symbolisch aufgeladene Natur: Die Pflanzen des Dschungels sind mystischer Palast, rettende Heilkräuter, spirituelle Drogen und heilige Blume Yakruna. Eine lebendgebärende Boa windet sich in Schleim und aufplatzenden Eihüllen mit ihrem Nachwuchs, scheint ihre Kinder zu fressen. Karamakate träumt von einer Boa, die Theo das Unheil bringen wird. Oder ist der Weiße selber die Schlange, also die Gefahr? Schmetterlinge umschwärmen den mit halluzinogenen Tränken erleuchteten Karamakate wie Elfen. Ein Jaguar mit glänzendem Pelz beschleicht die Expedition als Verkörperung des Todes, bereit sich sein Opfer zu holen.

Chorrera: etnocidio cauchero

Doch wer nur in Naturromantik schwelgen will, sitzt hier im falschen Film. Das Grauen des Kolonialismus fokussiert sich in Chorrera, einer “Gedenkstätte für die Opfer der Kautschuk-Völkermords” (Presseheft). Das ärmliche Anwesen Chorrera war christliches Missionszentrum und Kautschuk-Sammelstelle der Caucheros, der Kautschukbarone. Beide Handlungsstränge treffen hier auf höllische Zustände kolonialer Verbrechen: Der junge Karamakate trifft mit Theo und Manduca auf einen bewaffneten Mönch inmitten Dutzender Indigeno-Kinder. Es sind Waisen, die man im Namen Jesu nach Versklaven ihrer Eltern bzw. dem Abschlachten ihrer Stämme durch Caucheros “eingesammelt” hat. Nun werden die Kinder christianisiert, indem ihre Sprache und Kultur, angeblich nur “Dummheit und Kannibalismus”, aus ihnen heraus geprügelt wird.

40 Jahre später findet der alte Karamakate mit dem Botaniker Evans in Chorrera eine Sekte vor, die sich um einen irren Messias schart, Reisende mordet und das “Schlechteste beider Welten” in sich vereint. Theos Assistent Manduca ist ein befreiter Kautschuk-Sklave mit furchtbaren Narben auf dem Rücken. Er bekommt einen Wutanfall, als sie im Wald auf einen Indigeno treffen, der offenbar durch Abschneiden des rechten Armes zum Kautschuk-Sammeln verdammt wurde. Wenn Theo durch den Belgier Bijovet verkörpert wird, weckt dies Erinnerungen an die Kongogräuel, jenen Kautschuk-Völkermord, durch den der Belgische König Leopold II zu sagenhaftem Reichtum kam. In Belgisch-Kongo wurde Hunderttausenden die rechte Hand abgeschnitten, viele Millionen starben. Ciro Guerra bietet jedoch keine billige Lösung an, etwa durch Besiegen des Caucheros in Indiana-Jones-Manier. Er zeigt Grausamkeit und Leiden in einer glaubwürdigen Handlung, die zum Nachdenken anregt.

Entlarvte Filmklischees

Ciro Guerra bricht nicht nur mit eingefahrenen Erzählstrukturen, Filmklischees und Sehgewohnheiten, er parodiert und entlarvt sie geradezu –von leichter Hand fast nebenbei. Er dreht einen Film über den Amazonas, man erwartet grünen Dschungel, bekommt aber einen Schwarzweißfilm. Das Format suggeriert zeitweise einen Dokumentarfilm nach dem Muster: Weißer Ethnologe zeigt uns exotische Indianer. Doch wenn dort vor gönnerhaft lächelnden Forschern die Eingeborenen tanzen würden, so sehen wir hier den Anthropologen Theo, wie er vor den johlenden und klatschenden Indigenos Volkstänze seiner deutschen Heimat zeigt.

Im Kanu diktiert Theo seinem treuen Gehilfen Manduca einen Brief an seine Frau im fernen Deutschland, die er womöglich nie mehr wiedersehen wird. An dieser Stelle würde in klassischer Hollywoodmanier die Gefühlsorgel aufgedreht, um dem Zuschauer qua Weichzeichner und Filmmusik die schmalzigen Gefühle zu geigen, die er oder sie haben soll. Zielzustand: Wahlweise in platt manipulierter Rührung versinken (Frauenfilm) oder sich (Actiongenre) in gerechter Mordlust auf den nächstbesten Feind stürzen zu wollen, der uns das Schnulzidyll versalzen hat. Nicht so bei Ciro Guerra, der Karamakate fragen lässt, was denn Manduca da für den Weißen mache. Manduca erläutert belustigt, dieser drücke seiner Frau seine Gefühle aus, was auch den Schamanen zu unbändigem Lachen reizt. “Und wenn du wieder in Deutschland bist, wirst du dann mir deine Gefühle ausdrücken?”, fragt der heitere Weise den erbosten Weißen.

Der Schamane ist dabei kein stereotyper “Weiser Medizinmann”, sondern schalkhaft und im Alter ratlos. Der alte Karamakate steht hilflos neben Evans vor einer mit Indigeno-Symbolen bemalten Felswand und kann nicht mehr erklären, was sie bedeuten. Sogar den Kokabrei Mambe muss Evans für die beiden zubereiten –der Schamane hat alles vergessen. (Das wäre etwa so, als würde man Albert Einstein vor einer Tafel mit seinen Formeln finden, doch er bekennt, nicht einmal mehr eine Tasse Kaffee kochen zu können.) Doch Karamakate findet im Lauf der Reise zu seinen Kenntnissen über halluzinogene Pflanzen zurück und weiß sie auch anzuwenden.

Der psychedelische Yakruna-Trip wird eindrucksvoll inszeniert: als einzige Farbsequenz in einem Schwarzweißfilm lässt er beim Zuschauer plötzlich die Neuronen der Sehrinde feuern, so dass die halluzinogene Wirkung fast nachempfunden werden kann. Anfangs womöglich noch leicht an die entsprechende Szene in “2001 –Odyssee im Weltall” angelehnt, entführt er uns rasch in mythische Bilderwelten der Indigenos. “El abrazo de la serpiente” ist sicherlich ein Film, den man mehrmals sehen sollte.

Die historischen Personen

Die beiden von Ciro Guerra und seinem Drehbuch-Koautor Jaques Toulemonde vorgeführten weißen Forscher sind historische Personen. Deren Werk wird vom Film gewürdigt, besonders Theodor Koch-Grünberg (1872-1924), eigentlich Theodor Koch, der den Namen seines hessischen Geburtsortes wie damals nicht unüblich anfügte, und auch Theodor von Martius genannt wird. Koch-Grünbergs Aufzeichnungen sind heute das einzige, was von vielen Indigeno-Kulturen übrig blieb, er gilt auch als Pionier der anthropologischen Fotografie.

Sein im Film gezeigtes Buch über die Baniwa “Zwei Jahre unter den Indianern” erschien 1910 (also, anders als in der Filmhandlung, 14 Jahre bevor er in Brasilien an Malaria starb). Der Freiburger Professor erforschte die Flussläufe von Rio Xingu, Yapura, Rio Negro und Rio Branco, dokumentierte vor allem die Kultur der Pemón (Arekuna und Taulipang) im Dreiländereck von Venezuela, Brasilien und der Kooperativen Republik Guyana. Die Pemón genießen eine gewisse Bekanntheit, weil die Regierung von Venezuela in ihrem Namen das Berliner Kunstprojekt “Global Stone” seit 2013 auf Rückgabe eines 30 Tonnen schweren heiligen Steins verklagt.

Richard Evans Schultes (1915-2001), der Koch-Grünbergs Spuren folgte, gilt als Klassiker der Ethnobotanik mit speziellem Interesse an halluzinogenen Pflanzen –er publizierte 1980 zusammen mit dem LSD-Entdecker Albert Hofmann. Der Havard-Botaniker Schultes forschte hauptsächlich in Kolumbiens Amazonasregion und soll die unwahrscheinliche Zahl von 24.000 Pflanzenarten klassifiziert haben, darunter 2000, die von indigenen Kulturen als Heilpflanzen genutzt wurden; gut 120 Arten tragen seinen Namen. Ab den 60er-Jahren setzte er sich für den Erhalt von Indigeno-Kulturen und Regenwald ein und klärte seine Studenten in Havard darüber auf, dass dort im letzten Jahrhundert schon über 90 indigene Kulturen vernichtet wurden; 1986 errichtete Kolumbien ein Naturschutzgebiet etwa von der Größe des Libanon als “Sector Schultes”, so sein Nachruf in der NYT.

Filmkritik erschien auch auf Telepolis

Literatur, Quellenangaben

Evans Schultes, Richard u. Albert Hofmann: The Botany and Chemistry of Hallucinogens, 2nd ed. Springfield 1980.

Koch Grünberg, Theodor: Zwei Jahre unter den Indianern: Reisen in Nordwest-Brasilien, 1903–1905. 2 Bände. Ernst Wasmuth, Berlin 1909/1910.

Filmtitel: Der Schamane und die Schlange, Originaltitel: El Abrazo de la Serpiente; (Argentinien, Kolumbien, Venezuela 2015); Laufzeit: 125 Minuten; Kinostart in Deutschland: 21.04.2016; Regie: Ciro Guerra: Drehbuch: Ciro Guerra, Jacques Toulemonde Vidal; Darsteller: Nilbio Torres, Antonio Bolivar, Brionne Davis, Jan Bijvoet, Miguel Dionisios Ramos, Nicolás Cancino, Yauenkü Migue; Produktion: Cristina Gallego, Raúl Bravo, Marcelo Cespedes, Horacio Mentasti; Festivals: Cannes 2015, lief auf der Berlinale im Sonderprogramm NATIVe für indigenes Kino, 2016 Oscar-Nominierung als bester fremdsprachiger Film.

01/10/16

Oskar Roehler: Hippies, Marx & Punk

Kinokritik von Thomas Barth

„Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!“ D 2015: Kritik zu einem Film von Oskar Roehler

Deftiger Autorenfilm von Oskar Roehler: Eine klamaukafkaeske Ekelsex-Ödipusdramödie; eine grelle Welt von Sex, Drogen und Paranioa im Westberlin der 80er Jahre, die selbsttherapeutische Abrechnung eines verstörten Zeitgenossen mit Schulzeit und Eltern.

Roehler greift in seinem Film Themen auf und artikuliert Abneigungen, die jenseits des Atlantik in der NRx-Bewegung zu beobachten sind, er dabei liefert zugleich Parodie und Psychogramm für Proteste, wie sie auch in der Punk-Kultur auftauchen. Die neoreaktionäre NRx-Bewegung in den USA führt einen erbitterten Kulturkampf (dark enlightenment) gegen Alt-68er-Hippies und deren Nachkommen, die angeblich übermäßig verhätschelte „Generation Snowflake“ der Millenials, auch Gen Y oder Digital Natives genannt (Geeks for Monarchy). Deren antiautoritäre Hippie-Eltern hätten ihren Nachwuchs in Watte gepackt und ihm ständig dessen Einmaligkeit (wie eine Schneeflocke) trotz tatsächlicher Mittelmäßigkeit versichert. Die neoreaktionäre Alt-Right-Bewegung beruft sich auf Film und Buch „Fight Club“, wo so benannte Snowflakes brutal zu Kämpfern umerzogen werden. Im rechtslibertären Milieu der US-Gesellschaft vereinen sich neokonservative bis nationalistische, faschistoide bis nazistische Strömungen mit heftigen anarchischen Tendenzen, die gegen Staat und Spießertum rebellieren wollen. Der angepasste Spießer als Feindbild wird mit linksliberalen, grün-alternativen, sogar sozialistisch-marxistischen Einstellungen identifiziert, welche Neurechte bei uns als „grünlinks-versifft“ bekämpfen. Wie lassen sich aber linksradikale Punks mit faschistoiden Neurechten, Skinheads oder Neonazis in Zusammenhang bringen? Oskar Roehler gelingt das Kunststück auf unterhaltsame Weise, wenn auch teilweise jenseits der Ekelgrenze.

Nazi & Punk vereint gegen 68er-Hippies

Robert (Tom Schilling), ist Roehlers 18-jähriges Alter Ego aus seinem autobiographischen Roman „Herkunft“ (2011), der in „Die Quellen des Lebens“ eine erste schrille Verfilmung erlebte. „Tod den Hippies“ geht mit surrealen Flashlights sparsamer um. Robert erlebt seine Schulzeit als eine Hölle der Hippies. Hassfigur ist der Politik-und-Sozialkunde-Lehrer, der, von den hübschesten Schülerinnen angehimmelt, marxistische Parolen abfragt und dabei eitel seine Hippiemähne zurückwirft. Im Lehrerzimmer und auf den Gängen des Gymnasiums sitzt das Kollegium im Schneidersitz meditierend mit kreisenden Joints und zelebriert ein nie endendes Woodstock für Oberstudienräte. So weit, so surreal.

Roberts einziger Kumpel heißt Gries. Er ist ein schwuler Nazi, der es noch viel schlechter hat als der Jungpunker, denn er ist hässlich, dumm, brutal und laut. Nur sein deutscher Schäferhund liebt ihn und umgekehrt. Gemeinsam ist den beiden Außenseitern, dem Punk und dem Nazi, vor allem ihr Hass auf Hippies, Motti: „Scheiß-Hippies, verdammtes Gesockse“ und „Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!“

Die Masse der Schüler sind treudoofe 68er-Mitläufer und basteln Schilder für pädagogisch angeleitete Protest-Demos, die unter Führung der bekifften Lehrer stattfinden. Roberts Schülerliebe ist ein ähnlicher Alptraum, seine altkluge Freundin plant schon jetzt Studium und Karriere bis zur Pensionierung. Sie will, dass beide wegen der finanziellen Sicherheit „auf Lehramt machen“ und flippt aus, als Robert sich eine punkige Irokesen-Frisur zulegt. Damit treibt sie ihn endgültig in die Flucht, denn Robert will kein Kuscheln im Plüschpullover mehr, sondern Latex, High Heels und pralle Möpse.

Auch Gries, der in der Schule zwar von alten Nazi-Verbindungen seines Vaters zum Rektor zehrt, bekommt Schwierigkeiten: Er kann nur schwer geheim halten, schwul zu sein –denn betrunken grölt er andauernd „Arschficken für alle“ und nüchtern ist er selten. Probleme bekommen Gries und Robert auch wegen der Schülerstreiche der beiden, gegen die derbste „Fuck you, Goethe“-Szenen wie die biermeierliche ARD-Serie „Lindenstraße“ wirken. Anschlagziel wird gut ödipal natürlich der eitle Oberlehrer-Hippie, eine weitere Vaterfigur. Am Ende kratzt Robert die Kurve, bricht die Schule ab und flüchtet aus seiner spießigen Schülerliebe , aber vor allem aus dem Flower-Power-Schulhorror, während hinter ihm ein paar schwerbewaffnete Übeltäter seine Gewaltphantasien als Schulmassaker in Szene setzen.

Westberlin – Berlin (West)

So macht sich Robert auf nach Westberlin, damals das Fluchtziel für viele 18jährige, nach denen das Kreiswehrersatzamt greifen wollte: In Berlin (West) gab es keine Wehrpflicht, ein guter Tipp, wenn man weder Neigungen zu Bundeswehr noch zum Zivildienst (womöglich alten Leuten den Hintern putzen) verspürte. Doch er kommt vom Regen in die Traufe, denn die schöne neue Welt von Sex, Drogen und Punkmusik gibt es nicht umsonst für den jung-nihilistischen Poeten („Ich schreibe vom Tod“). Tagsüber schrubbt er die Kabinen einer Peep-Show, fühlt sich aber zu Höherem berufen („Die wichsen hier wie die Weltmeister, Mann, ich komm kaum nach. Das ist nix für mich, ich bin Künstler, Mann.“), später muss er sogar Kotbeutel von Pflegeheimpatienten entleeren, die Senoiren verfolgen ihn als Zombies in seine Träume –Roehler spart nicht mit Ekelszenen.

Roberts Eltern werden ebenfalls eklig dargestellt, besonders die Mutter deftig und prall verkörpert von Hannelore Hoger (TV-Kommissarin „Bella Block“). Sie will Robert zum Mord am Erbonkel überreden, während sein Vater (Samuel Finzi) als düsterer Lektor, Verleger und Kassenwart der RAF (Rote Armee Fraktion) auf 200.000 DM Restbeute sitzt und den Sohn mal drohend, mal kumpelhaft mit seinen kruden Moralvorstellungen traktiert: „Der Mann sollte beim Sex immer oben liegen, klassische Missionarsstellung. Du allerdings wurdest von hinten gezeugt.“

Trotzdem genießt Robert die Freiheit in der anarchisch-punkigen Subkultur und verbringt die Nächte in der Kreuzberger Bar „Risiko“, wo Ikonen wie Blixa Bargeld („Einstürzende Neubauten“) oder Nick Cave herumhängen. Wodka wird in Biergläsern ausgeschenkt, Koks und Punkmusik dürfen nie fehlen. Obwohl üppige Sozialhilfe beim Amt abholen leichter ist als Brötchenkaufen („Außenbahnzuschußpauschale, Vergütungsmittelpauschale, da kriegen Sie 1475 Mark. Wenn sie mehr brauchen, können Sie morgen wieder kommen.“), wischt der staatsverachtende Anarchist Robert weiter Sperma (anders als Ayn Rand, die Ikone der US-Rechtslibertären, die zeitweise von der Stütze lebte). In seiner Peepshow holt Robert auch das Essen für die Models und verliebt sich in eine „Sweinebraten“-liebende Stripperin aus New York, sie gestehen sich gegenseitig den Hass auf ihre Eltern.

Autobiographie eines Punks

Oskar Roehler, der selbst 1981 im geteilten Berlin landete, greift auf eigene Erinnerungen zurück und entwirft ein grotesk-obszönes Bild vom West-Berlin der frühen 1980er, das als glamouröses Schaufenster des Westens inmitten der realsozialistischen DDR lag: Eine Insel von Luxus, Exzess und Ekstase, aus der heraus nackte Mädchen mit ihren entblößten Brüsten Ostberliner DDR-Grenzersoldaten zuwinkten. Seine Darstellung der Anarchoszene zeigt trashige junge Leute, die jede Sinnsuche aufgegeben haben. Punk als Nihilismus, der in anarchischem Hedonismus, in schneller Lust mit Sex und Drogen schwelgt. Verkannte Künstler wie Robert und gebrochene Figuren wie Gries passen perfekt in diese Kulisse. Oskar Roehler zum Thema „schwule Nazis“: „Ich liebe diese brachialen, ungeschliffenen Typen. Sie bringen Chaos in die Sache, weil ihre Ausrichtung politisch, gefühlstechnisch und sexuell unausgegoren ist. Das sind meine liebsten Nebenfiguren. Dieser Gries weiß ja im Grunde überhaupt nichts genau.“

Oskar Roehlers Eltern waren ein glückloses Schriftstellerpaar der Generation 68: Gisela Elsner und Klaus Roehler waren literarische Hoffnungen in Westdeutschland. Die Auseinandersetzung mit seinen Eltern scheint das beherrschende Thema für Oskar Roehler zu bleiben. Schon im Film „Die Unberührbare“ setzt sich Roehler mit seiner psychisch labilen Mutter (eindringlich gespielt von der nicht verwandten Hannelore Elsner, die eigentlich Elstner heißt) auseinander, die sich 1992 das Leben nahm. Damals kam sie noch vergleichsweise gut weg, im neuen Werk wird sie zu einem Muttermonster dämonisiert. In Roehlers Film „Der alte Affe Angst“ ging es dagegen um eine Vaterfigur, und auch „Die Quellen des Lebens“ arbeiten sich an der Lebensgeschichte Roehlers ab, nebst Schatten der Nazi-Zeit, geistiger Wohlstandsverwahrlosung der Oberschicht und der epidemischen Verbreitung von Gartenzwergen in deutschen Vor- und Kleingärten. Jetzt kämpft sich Oskar Roehler in „Tod den Hippies!! Es lebe der Punk“ durch einen weiteren Teil seiner Biographie, bekennt sich zu Punk, Sex und Drogen.

Kinostart: 26.03.2015 (der Film wurde inzwischen vom Öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt -abseits der Hauptsendezeiten)

Auch erschienen bei filmverliebt.de 26. März 2015

12/24/15

EU-Democracy: Im Datenrausch

Kinokritik von Thomas Barth

David Bernets Kinofilm bringt kaum Neues zum Datenschutz, man bekommt stattdessen ein rosarot gemaltes Bild der EU-Legislative und ihrer engen Beziehung zum Lobbyismus: Dokumentarfilm oder Propagandastreifen für die Diktatur des Geldes in einer korrupten Europäischen Union?

Der Kinofilm Democracy -Im Rausch der Daten dokumentiert den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess der EU anhand des europäischen Datenschutzes. Der handwerklich gut gemachte Film ergreift zwar Partei für den Datenschutz, aber er tut dies aus der unreflektierten Perspektive eines von Industrielobbyisten vorgegebenen Rahmens. Nur aus dieser Perspektive erscheint am Ende der vorgelegte Gesetzentwurf als großartiger Erfolg. Tatsächlich hat die Politik hier nur ausnahmsweise und auch nur teilweise endlich einmal das getan hat, wofür wir sie gewählt haben: Unsere Rechte zu verteidigen. Aber das Gesetz, dessen Werdegang von 2012-2013 dargestellt wird, ist bis heute nicht in Kraft.

Die Grünen wird der Film freuen, denn ihr Protagonist, der EU-Parlamentarier Jan Philipp Albrecht, wird neben der EU-Kommissarin Viviane Reding als Hauptfigur des Datenschutzes präsentiert. Im Januar 2012 hatte Reding für die EU-Kommission eine Reform der EU-Datenschutzvorschriften vorgeschlagen, der im Oktober 2013 der Vorschlag eines im EU-Parlament unter Federführung von Albrecht ausgehandelten Gesetzesentwurfs folgte, der den Datenschutz noch weiter verschärfen sollte. Besagte Verhandlungen werden im Film „Democracy“ akribisch verfolgt.

Der Kampf um das Thema außerhalb der EU-Bürokratie wird dagegen in nur fünf Filmminuten abgehandelt, die von Snowdens Enthüllungen handeln. Die europaweite Entstehung einer einer neuen politischen Bewegung zum Thema Netzpolitik und Datenschutz, der Piratenpartei, blendet „Democracy -Im Rausch der Daten“ fast völlig aus. Nur eine halbe Sekunde ist am unteren Rand eines Plakats mit Edward Snowdens Gesicht unter dem Slogan „Stop watching us“ das Wort „Piratenpartei“ zu erhaschen, dann drängen sich wieder Werbe-Luftballons der Grünen ins Bild. Klasse Parteipropaganda, oder?

Aber waren die überraschend großen Wahlerfolge der Piraten, die gerade in Deutschland bis in den zweistelligen Bereich emporschossen und ihnen teilweise bis heute Einfluss in Landesparlamenten von Berlin und NRW sicherten, wirklich so unbedeutend für den Datenschutz, dass eine solche Doku sie weglassen darf? Zählen Millionen Wählerstimmen für den Film „Democracy“ weniger als das PR-Gerede von Industrie-Lobbyisten in Brüssel? Welches Bild von Demokratie wird so vermittelt?

Lobbyismus wird nicht hinterfragt

Die äußerst dubiose Rolle des Lobbyismus im EU-Gesetzgebungsprozess wird von Bernet weniger hinterfragt als vielmehr zur Naturgewalt stilisiert: Korrupte Politiker werden zu Heroen geschönt, die gegen einen „Lobbyorkan“ ankämpfen müssen (dem sie, das leuchtet jedem ein, hie und da einfach erliegen müssen -wo genau wird jedoch verschwiegen). Dass diese Politiker die Lobbyisten erst in die Gesetzgebung hinein gelassen haben und sich von ihnen mit Kaviarempfängen und unzähligen mehr oder weniger korruptiven Gaben umschmeicheln lassen und sich sogar die angeblich von ihnen, den Politikern mühsam erarbeiteten Gesetzestexte von den Lobbykraten formulieren lassen, verschweigt Bernets Film. Korruption wird damit zugleich verharmlost, vertuscht und in ihren konkreten Folgen verschwiegen.

Jacques Santer und die EU-Bangemann-Affäre

Ist Bernets Film selbst eine dreiste PR-Produktion, die uns ein weichgespültes Bild der EU vorsetzt? Wer uns über die EU-Demokratie informieren will, kann sich, so sollte man meinen, kaum um die zahlreichen Korruptionsfälle herum drücken, bis zum Sturz einer kompletten EU-Kommission unter Jacques Santer 1999 wg. einer korrupten Édith Cresson, die beim Griff in die Kasse erwischt, letztlich sogar ungestraft davon kam. Mit der Bangemann-Affäre gab es einen der größten Skandale überhaupt genau im Bereich Netz- und Datenwirtschaft: Der dafür zuständige EU-Kommissar Bangemann (FDP) wollte nach Dienstende flugs zur IT-Firma Telefonica wechseln, die dank der vom Industriefreund Bangemann durchgesetzten Liberalisierung der Kommunikationsnetze saftige Gewinne einstreichen konnte. Das hatte eine Debatte über Mechanismen der Korruption ausgelöst.

Jacques Santer (Luxemburg), Staatsminister a. D., Präsident der EU-Kommission a. D. ist inzwischen im Führungskreis des INEA an den Schalthebeln der Lobby-Macht: Das Institute for European Affairs e.V. (INEA) mit Sitz in Düsseldorf ist eine europaweit – mit Schwerpunkt Osteuropa – tätige Beratungs- und Lobbyorganisation. Sie ist eng mit dem Baltic Sea Forum verflochten, mit dem sie im Ostseeraum kooperiert. Führende Mitarbeiter des INEA waren früher in die Aktivitäten der Sicherheitsfirma Prevent involviert. All diese Hintergründe lässt der Kinofilm im launigen Hahaha der Sektempfänge im Lobbyland verschwinden. Bestechung, Personalkarussell und Lobbyismus gehören zusammen und sind Grundübel unseres politischen Systems, die dringend öffentlicher Aufklärung bedürfen. Doch stattdessen gewährt Dokumentarfilmer Bernet vielen Lobbyisten ein Forum zur Selbstdarstellung, das dieser in PR und Rhetorik bestens geschulte „Berufsstand“ zu nutzen versteht. Der Film wird damit Teil der lobbykratischen Korruption und ihrer Propaganda.

Datenschutz kommt zu kurz

Datenschutz war in der deutschen Politik immer ein wichtiges Thema, schon beim Volkszählungsboykott in den 1980er-Jahren über das Erstreiten eines „Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung“ vor dem Verfassungsgericht bis zu den aktuell tobenden Gefechten gegen die Vorratsdatenspeicherung.

Die internationale Dimension zeigte sich spätestens beim Echelon-Skandal, der einen Konflikt Washingtons mit Westeuropa (außer Großbritannien) offen legte: NSA und andere Geheimdienste greifen in größtmöglicher Weise illegal auf die Daten der Europäer zu. Im diplomatischen Krypto-War um die Freigabe von Verschlüsselungstechnik für die Bürger eskalierte zwischen USA und EU ein Streit um den Datenschutz, der nie wirklich beigelegt werden konnte.

Mit den Enthüllungen von WikiLeaks wurde der „panoptische Blick“ der alles-sehenden Augen von NSA & Co. erstmals in großem Maßstab umgekehrt. Die alte Utopie von Hacker-Bewegung und Netzkultur, die Vision eines „Inversen Panoptismus“, wurde ansatzweise zur Realität.

Eine zweite, noch größere Bresche schlugen die NSA-Leaks von Edward Snowden in die Palisaden der globalen Überwacher. Während heute Geheimdienste um den Schutz ihrer Geheimdaten bangen, stacheln sie zugleich die Netz- und Medienwirtschaft an, den Datenschutz der Bürger immer aggressiver zu untergraben – wie Snowden enthüllte.

Big Data ist das Stichwort und die „sozialen Netzwerke“ von Facebook, Google & Co. sind ihre „digitalen Fischgründe“. Aber Bernets Film bleibt beim Thema Datenschutz leider sehr oberflächlich. Die netzpolitische Debatte, deren Intensität seit Snowden noch einmal enorm gestiegen ist, streift er nur allzu knapp. Nur fünf Minuten, von Filmminute 80 bis 85, von 100, widmet er einigen reißerischen Bildern der außerparlamentarischen Kämpfe, von „Snowden – Held oder Verbrecher?“ bis zur Demo „Freiheit statt Angst“ aus Kreisen der deutschen Hacker-Netzkultur. Das ist zu wenig. Und die Rolle der EU-Kommission wird anbiedernd heroisiert: Waren Kommissarin Reding & Co. -insbesondere angesichts der Snowden-Enthüllungen- wirklich so engagiert für den Datenschutz, wie ihre PR-Leute und dieser Film uns weismachen wollen? Regierungskritiker der Hackerszene sind da ganz anderer Ansicht:

„Als der Guardian am 5. Juni die ersten Informationen über die gigantische Überwachung aller Bürger/innen durch amerikanische Geheimdienste publik machte war die Reaktion in der EU verhalten. Nur einzelne Abgeordnete des EU-Parlaments veröffentlichten kritische Presseaussendungen und versuchten mehr Informationen durch Anfragen an die Kommission zu erlangen. Erst als auch die Überwachung durch europäische Geheimdienste, etwa durch Tempora und die Datenweitergabe der USA an europäische Dienste thematisiert wurde, wachten auch die EU-Politiker/innen langsam auf… Erst am 14.Juni äußerten sich die beiden Kommissarinnen Viviane Reding, zuständig für Justiz, und Cecilia Malmström, zuständig für Inneres, zu dem Überwachungsskandal… Und auch bei der Beantwortung der unzähligen parlamentarischen Anfragen zeigt die Kommission keinen besonders großen Willen, den Skandal aufzuklären. Am Ende bleibt ein zahnloser Ausschuss… (Es ist) zu befürchten, dass sich die Kommission weiter von den Amerikanern die Bedingungen der Aufklärung diktieren lässt und am Ende keine ausreichend verwertbaren Informationen vorlegen kann, um gegen die gigantische Überwachung aktiv werden zu können.“ Alexander Sander: Aufklärung à la EU, in: Hrsg. Markus Beckedahl & Andre Meister (Hg.): Überwachtes Netz. Edward Snowden und der größte Überwachungsskandal der Geschichte, 2013, S.128-130.

Es ergibt sich beim Blick auf das EU-Parlament in diesem Film ein auf seine beiden politischen Akteure beschränktes Bild. Besonders gefährlich ist die großzügige Einbindung der Industrie-Lobbyisten, deren Weltsicht geradezu als „natürlicher“ Hintergrund der Debatte präsentiert wird.

Es entsteht ein pseudo-ausgewogenes Storybord zur Geschichte des Datenschutzes: Hier die Wirtschaft, dort die Politik. Doch geht es nicht um unsere künftigen Menschenrechte? Würden wir bei der Debatte um Frauen-, Kinder- oder Organhandel, jene in die Diskussion einbinden wollen, die am Raub menschlichen Lebens und menschlicher Freiheit ihren schmutzigen Profit erwirtschaften wollen?

Betonung der Sicht der Lobbyisten

Bernets Film kritisiert zwar die Lobbyisten der IT-Industrie, aber er lässt sich von ihnen das Spielfeld vorgeben, auf dem das geschieht. Schon der Beginn seines Film steckt dieses Spielfeld ab. Erste Szene: Ein Hubschrauber fliegt über Athen. Eine Stimme aus dem Off (wie wir später erfahren, ein Lobbyist) erklärt uns im Ton eines Dokumentarfilms:

Viele Leute sagen, Daten sind das neue Öl, das Öl des 21.Jahrhunderts. Ein guter Vergleich, wenn man bedenkt, wie Öl unsere Welt geformt hat. Es hat uns globale Mobilität ermöglicht. Öl liefert uns Energie, hat unser Leben für immer verändert und Daten werden dasselbe tun. Je mehr Daten wir haben, umso interessantere, weltverändernde und bislang undenkbare Dinge werden Wirklichkeit. Aber wer keine Daten hat, hat auch kein Öl. Leider gibt es einen großen Widerspruch zwischen BigData und dem Wunsch nach Privatsphäre. Es werden riesige Mengen an Daten generiert, die persönliche Informationen enthalten. Die Frage ist nun: Wie sollen diese Daten genutzt oder geschützt werden? Wer hat die Kontrolle darüber? Wem gehören sie? Es ist entscheidend, dass wir die richtige Antwort finden.

Die erste Szene führt dann die beiden Hauptprotagonisten ein, EU-Kommissarin Reding und den Grünen Jan-Philipp Albrecht. Von Albrecht sieht man zunächst zwei ungeschickte Hände, die versuchen eine Krawatte zu binden. Er blättert dabei auf seinem Smartphone in einer Online-Anleitung zum Krawattenbinden. Albrecht wird als unangepasster Grüner präsentiert, vielleicht auch als Grünschnabel, der jedoch mit dem Internet umgehen kann.

Dann tritt Reding auf, in Politikerpose. Man ahnt, sie saß als VIP im angeflogenen Hubschrauber, der zugleich die „globale Mobilität“ durch Erdöl aus dem Lobbyistentext visualisierte. Sie steht vor Journalisten, redet souverän auf sie ein. Die Rollen von Reding und Albrecht werden in dieser Szene ebenso abgesteckt, wie die der EU-Industrie-Lobbyisten als Stichwortgeber, Drahtzieher und Spielmacher im Hintergrund.

David Bernet fängt mit Bildern, Musik und Schnitttechnik Stimmungen ein, vermittelt ein kurzweilig-emotionales Erlebnis der trockenen EU-Parlamentswelt. Die Personen werden plastisch gemacht, besonders Albrecht, dessen Gewohnheiten und Gefühle dokumentiert werden: Beim Kekseknabbern, bei der Arbeit, in seiner Rolle als von der mächtigen Kommissarin Reding gefördertes, ursympathisches Nachwuchstalent. Hier liegt der Schwerpunkt des Films, nicht bei der Thematik des Datenschutzes. Dies liegt vielleicht auch daran, dass Bernet quasi zufällig über das Thema stolperte, wie er selbst berichtet.

Auf die Frage, wie er auf die Idee kam, einen Dokumentarfilm über die EU-Datenschutzreform und das damit verbundene Gesetzgebungsverfahren zu drehen, antwortet David Bernet laut Presseheft:

Als ich vor ungefähr fünf Jahren die Recherche für DEMOCRACY – IM RAUSCH DER DATEN aufnahm, ging es noch nicht um Datenschutz, sondern um zwei grundsätzliche Fragen: Werde ich den Zugang bekommen, um einen solchen Dokumentarfilm im Inneren der EU-Institutionen zu drehen? Und falls ja, welches Gesetz würde von so großer Relevanz sein, dass die Debatte dazu während des Drehzeitraums europaweit heiß laufen könnte? (…)

Als ich nach (…) vielen Wochen Recherche meinen Produzenten mitteilte, dass die EU-Datenschutzreform wohl dieses heiße Eisen werden wird und ich den Film zu diesem Thema sehe, schlugen sie berechtigterweise die Hände über dem Kopf zusammen. Denn es war 2010. Das Thema Datenschutz war damals komplett außer Reichweite und nur die politischen Avantgardisten in Brüssel konnten wissen, wie bedeutsam dieses Gesetz für die Zukunft unserer Gesellschaft werden wird.

Über die Idee, „nur die politischen Avantgardisten“ hätten 2010 erkennen können, wie bedeutsam Datenschutz für die Zukunft unserer Gesellschaft werden wird, kann man nach drei Jahrzehnten politischer Kämpfe um das Thema nur die Stirn runzeln. Immerhin kommen auch NGO-Vertreter zu Wort, von denen die kritischeren Beiträge zum Thema stammen. Dabei werden leider Industrie-Lobbyisten mit NGO-Bürgerrechtlern schwer unterscheidbar gemischt.

Von der modernen Pest der BONGOs und GONGOs (Business- bzw. Government Organised NGO) hat Bernet scheinbar auch noch nichts gehört. Wenigstens erfährt man, dass in Brüssel 99 Prozent der Lobbyarbeit durch offen agierende Industrie-Lobbyisten geleistet wird. Besonders viel Raum bekommt Kataryna Szymielewicz, Gründerin und Vorsitzende der NGO „Panoptykon Foundation“ (Warschau). Die Kamera folgt der jungen attraktiven Juristin, die erläutert:

Überwachung bedeutet nicht, dass jemand weiß, wie man nackt aussieht oder mit wem man seine Nächte verbringt. Das ist Kinderkram, für den sich niemand interessiert. Tatsächlich geht es bei der Überwachung darum, Menschen und Bevölkerungsgruppen zu steuern.

Die Industrie wolle ihre Kundenprofile auf Kosten der Freiheit aufbauen und etwa jungen Frauen in polnischen Dörfern Töpfe und Pfannen verkaufen, statt roten Highheels, die ihnen Flausen in den Kopf setzen könnten. Szymielewicz‘ Bewertung der Überwachung ist richtig, wenn sie auch bei Webcams irren mag, deren Missbrauch durchaus der Gewinnung pornographischer Bilder dienen kann.

Auch finden sich vermutlich viele Onlinefirmen, die gerne jedwedes Schuhwerk in die polnische Provinz liefern würden. Warum aber zitiert die Doku Szymielewicz ausgerechnet mit Nacktheit, Bett- und Highheels? Dies lenkt nur von der politisch bedeutsameren Manipulation und Bevölkerungssteuerung durch BigData ab.

Data-Mining versus Menschenrecht

Mit Data-Mining in unserer Netzkommunikation wird das Marketing an Kundenprofilen perfektioniert, die jede Stasi-Akte in den Schatten stellen. Damit wird auch Geld verdient, aber ein wichtiger Aspekt ist zweifellos das Abschöpfen dieser Profile durch Geheimdienste, denen jede Privatsphäre ein Gräuel ist (außer ihrer eigenen). Nach außen propagieren Werbe-Abteilungen und Lobbyisten diese kriminelle, zumindest aber ethisch fragwürdige Praxis mit PR-Parolen wie „Daten sind das neue Öl“.

Mit genau diesem Satz beginnt der Film „Democracy -Im Rausch der Daten“ und viele Lobbyisten bekommen Gelegenheit, ihn in Variationen zu wiederholen. Der Hauptprotagonist der Doku, der grüne EU-Politiker Jan Philipp Albrecht, hört ihnen geduldig zu, während er um einen Kompromiss für die europäische Datenschutzverordnung im EU-Parlament ringt. Seine Devise ist: „Wenn Daten das neue Öl sind, ist Datenschutz der neue Umweltschutz“ -und somit Sache der Grünen. Die Botschaft: Kritik ist erlaubt, wenn sie im Rahmen der von Industrie-Lobbyisten vorgegebenen Weltsicht bleibt.

Dass es bei unseren persönlichen Daten um etwas fundamental anderes geht als um einen neuen Rohstoff, dass es hier um den Zugriff auf unser Grund- und Menschenrecht auf informationelle Selbstbestimmung geht, tritt in den Hintergrund. Dass es damit um die Macht geht, uns alle in bislang undenkbarem Ausmaß zu kontrollieren und zu manipulieren, bleibt ungesagt. Die oft wiederholte Parole, künftig wären unsere privaten Daten eben die Währung, in der wir die Netzkonzerne für „kostenlose“ Dienstleistungen bezahlen müssten, bleibt unhinterfragt.

Vielleicht zeigt sich hier eine besonders perfide Wirkung der Ideologie des Neoliberalismus: In einer Welt, in der alles zum Wirtschaftsgut gemacht werden darf (unsere Beziehungen im Netz, unsere ausgeforschte Persönlichkeit, unser Leben) werden die Menschenrechte in die Ecke gedrängt. Nicht mehr die Industrie soll sich rechtfertigen, unsere Daten abzugreifen, wenn wir sie in unseren öffentlichen Netzen Geld verdienen lassen – Wir sollen uns rechtfertigen müssen, wenn wir dies verweigern oder begrenzen wollen.

Die neoliberale Ideologie des „Wer zahlt befiehlt“ gewinnt an Macht durch die immer weiter gehende Privatisierung öffentlicher Infrastruktur. Im Netz genügt den Unternehmen nicht mehr die zu Beginn des Netzfirmen-Booms propagierte „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, bei der sie unsere Weltsicht hemmungslos mit Werbung verkleistern darf.

Jetzt wollen die zu global dominierenden Multi-Milliarden-Konzernen angeschwollenen Firmen auch noch unser Recht auf Selbstbestimmung in Geiselhaft nehmen. Und das, obwohl wir inzwischen nicht mehr nur befürchten, sondern definitiv wissen, dass hinter ihnen die Geheimdienste lauern, die in krimineller Weise unsere Daten missbrauchen.

Bei der Abwägung dieser menschlichen Güter gegen Begierden der Wirtschaft darf es keine kompromisslerische Haltung geben. Nur weil der virtuelle Raum der Daten und Netze abstrakter scheint und heute von vielen erst ansatzweise verstanden wird, darf hier nicht mit Lobbyisten geschachert werden. Ebenso wenig wie in der Frage der Sklaverei, für deren Fortsetzung Wirtschaftsunternehmen sicherlich auch zahlreiche ökonomische Argumente angeführt haben. Letztlich geht es um die Frage, ob die Wirtschaft der Gesellschaft dienen soll oder umgekehrt.

Bernets Film „Democracy“ präsentiert uns das EU-Datenschutzgesetz, dessen Umsetzung bis heute verschleppt wird, als grandiosen Sieg von Parlament und vernünftigem Kompromiss von Politik und Lobbyisten. Aber eher dokumentiert er wohl die dringende Reformbedürftigkeit unserer durch eine systemintern installierte Lobby-Diktatur zutiefst korrumpierte Gesetzgebungsprozesse.

(Eine gekürzte Version dieser Kinokritik erschien auf Telepolis.)

03/18/15

Mark Lombardi: Kunst & Konspiration

Filmkritik von Thomas Barth

Es ist ein deutscher Dokumentarfilm von Mareike Wegener (Realfictionfilm) über Leben und Werk des unter mysteriösen Umständen verstorbenen Künstlers Mark Lombardi, der dubiose Transaktionen der Finanzindustrie zu Bildern verarbeitete: Kunst als konkrete Netzphilosophie, die Machtnetzwerke sichtbar macht.

Lombardis „Narrative Structures“ sind elegante Organi- und Soziogramme, Bleistift auf beigem Papier: Eine künstlerisch bemerkenswerte Serie von Zeichnungen, Diagramme mit visuellen Darstellungen, die Machtbeziehungen der globalen Wirtschaft und Politik darstellen. Jetzt läuft in deutschen Kinos der Film „Mark Lombardi: Kunst und Konspiration“ über Leben und Werk des Künstlers, der sich, laut offizieller Darstellung, am 22.März 2000 das Leben nahm.

In ihrer betont unaufgeregten Dokumentation porträtiert Wegner posthum einen bemerkenswerten Künstler, der fast investigativ-journalistische „Elitenforschung betrieb. Im Internet ein Phänomen, ist Lombardi in Deutschland über die engere Kunstszene hinaus noch weitgehend unbekannt. Wegener recherchierte und drehte für diesen Film monatelang in den USA. Visuell arbeitet sie mit Bildern, die man aus journalistischen Enthüllungsfilmen kennt, mit Aufnahmen imposanter Gebäudefassaden, Experten- und Zeugen-Interviews, Kamerafahrten hinab ins Archiv Lombardis. Doch statt den sonst auf Betrachter einprasselnden Fakten und atemlosen Reporterberichten begleitet die Aufnahmen oft Schweigen, die Gespräche und Kommentare sind ruhig, lassen Zeit zum Nachdenken. Ähnliche Eindrücke in einem vergleichbaren Kontext weckte bislang nur der Film von Gerhard Friedl: „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ Die bemerkenswerte Kameraführung ist Sophie Maintigneux zu verdanken, die schon mit Godard filmte.

In 1994 I began a series of drawings I refer to as „narrative structures.“ Most were executed in graphite or pen and ink on paper. Some are quite large, measuring up to 5×12 feet. I call them „narrative structures“ because each consists of a network of lines and notations that are meant to convey a story, typically a recent event of interest to me, like the collapse of a large international bank, trading company, or investment house. One of my goals is to explore the interaction of political, social, and economic forces in contemporary affairs. Mark Lombardi, The Recent Drawings: An Overview

Originalzeichnung Mark Lombardi

Mark Lombardi begann 1995, zunächst wenig beachtet, in Houston seine Zeichnungen auszustellen. Erste größere Aufmerksamkeit weckte er im Rahmen einer Gruppenausstellung im Drawing Center, SoHo 1997. Er zog nach New York und hatte seine erste Einzelausstellung, “Silent Partners“, im Jahr 1999 in der Galerie Pierogi 2000, die heute noch seine Werke im Bestand führt, dann folgte “Vicious Circles“ in der Devon Golden Gallery in Chelsea. Es war ein kurzer, aber stetiger Anstieg der Aufmerksamkeit: Lombardis Arbeiten wurden inzwischen weltweit in zahlreichen Museen und Galerien ausgestellt.

Mark Lombardi: Der Künstler, der Elitenforschung betrieb

Dennoch ist Lombardi in Deutschland über die engere Kunstszene hinaus noch weitgehend unbekannt, wie der fast leere Kinosaal in Hamburg bezeugen konnte. Die meisten Besucher interessierten sich für die rein künstlerische Seite, begeisterten sich für die Kameraführung, Sophie Maintigneux zu verdanken, die schon mit Godard filmte. Interesse galt auch den Zeichnungen Lombardis, man bewundert die exakte Raumaufteilung, auch die akribische Ausführung der auf den ersten Blick wie florale Ornamente wirkenden, quadratmetergroßen Diagramme. Im Film wie im Netz sind die Bilder schwer darstellbar, es gibt zu viele Details, man verliert schnell den Überblick. Nur wenige Fragen bezogen sich auf die Inhalte hinter der Kunst, ein Besucher des Metropolis wies auf die Website They Rule hin, ein weiterer auf den deutschen Professor Hans-Jürgen Krysmanski (Wer die Fäden zieht), der sich soziologisch mit Power Structure Research befasst, jenem Gebiet, das am ehesten Lombardis Kunst in den Wissenschaften entspricht.

Elitenforschung, Power Structure Research, wird nicht nur von professionellen Sozialwissenschaftlern getrieben, sondern auch von Journalisten, watchdog groups, politischen Parteien, Aktivisten in sozialen Bewegungen, Gewerkschaftern, Nerds und sogar von Künstlern. Der amerikanische Maler Mark Lombardi (1951-2000) nahm seinerzeit politische und Finanz-Skandale zum Anlass, großformatige Diagramme der beteiligten Personen und Personengruppen anzufertigen, die einerseits auf dem Kunstmarkt reüssierten, andererseits aber schmutzige Deals und kriminelle Aktivitäten der oberen Zehntausend festhielten. Lombardi hatte sich eine private Datenbank mit über 12 000 Karteikarten angelegt. Seine Kunst überschritt ständig die Grenze zum investigativen Journalismus und zum Verschwörungsdenken, so dass sich vor seinem mysterösen Tod – er wurde erhängt in seinem Atelier aufgefunden – auch das FBI für seine Diagramme zu interessieren begann. Für mich ist Lombardi ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Power Structure Research auch Graswurzelforschung sein kann.

Wer war der Mensch hinter den seltsamen Zeichnungen? An Spekulationen über den offiziell als Selbstmord deklarierten Tod Lombardis beteiligt sich Mareike Wegener bewusst nicht. Nur wenige von ihr Interviewte deuten ihr Unverständnis an, allein den Eltern wird mehr Raum gegeben, Zweifel an der Suizidtheorie der Polizei zu äußern. Die Dokumentation bleibt auch hier sachlich und nüchtern, verzichtet auf jede reißerische Darstellung. Intensive Einstellungen fangen dennoch Resignation und Trauer ein. Auch weitere Verwandte und Freunde werden im Film zurückhaltend befragt, erzählen von abgehörten Telefonaten, späteren Interventionen des Heimatschutzministeriums und einer FBI-Beamtin, die nach den 9/11-Anschlägen eine Zeichnung beschlagnahmen ließ. Letztlich teilt der Betrachter des Films die Ratlosigkeit der Interviewten.

Kann Lombardis Biographie Antworten geben? Sie wurde bereits in der Vergangenheit Ziel von Spekulationen. Nach seinem Tod im Jahr 2000 brachte die New York Times ein kurzes Porträt über „den Künstler, der sich von Skandalen inspirieren ließ“. Mark Lombardi wurde 1951 in Syrakus geboren, wo er studierte und eine Bachelor-Prüfung in Kunstgeschichte an der Syracuse University ablegte. Nach seinem College-Abschluss zog er nach Houston, wo er kurz die Stelle des stellvertretenden Kurators am Museum of Contemporary Art bekleidete. Dann betrieb Lombardi eine kleine Galerie, um sich nebenher der abstrakten Malerei zu widmen. Er begann mit seinen Zeichnungen 1993, inspiriert durch ein beim Telefonieren gekritzeltes Diagramm, ein befreundeter Banker hatte ihm über den Skandal der US-Sparkassenkrise berichtet.

Damals war es in Folge der ersten Deregulierungswelle im Finanzsektor durch Ronald Reagan zu Spekulationsblasen und betrügerischen Bankrotten gekommen: Ein kleiner Vorgeschmack auf die Dot-Com-Blase 2000 und die große Bankenkrise 2008, die uns heute als Staatsschuldenkrise weiter verfolgt. Soweit die NYT. In Wikipedia liest man eine andere Version: Es ging in dem Telefonat um den Iran-Contra-Skandal, genauer: um den Waffenhändler Adnan Khashoggi, dessen Beziehungen Lombardi in einem einfachen Baumdiagramm dargestellt habe. Beide Bezüge weisen auf das besondere Interesse Lombardis an mafiösen Strukturen der Finanzwelt hin.

In einem der wenigen von ihm überlieferten Texte: The ‚Offshore‘ Phenomenon: Dirty Banking in a Brave New World geht er den Schwarzgeldströmen nach, die Steuerhinterziehung, Drogen- und Waffenhandel sowie die Geheimdienste einbeziehen, fordert ein Verbot der Schattenökonomie, wie später die Globalisierungskritiker von Attac. Sein Text liest sich wie die sorgsam rekonstruierte Vorgeschichte der aktuellen Finanzkrise.

Lombardi: The „Offshore“ Phenomenon

Doch Lombardi war kein Aktivist, er verwandelte seine Erkenntnisse in Kunst, damit entkam er einer Subsummierung unter die Rubrik „Verschwörungstheorie“. Zweifellos kann man seine Werke einfach als Kunst genießen. Die Kunstkritikerin Frances Richard meint, dass Lombardi mit seinem Begriff „Narrative Strukturen“ stillschweigend zugab, seine kartographierte Konversation sei eine konstruierte Fantasie, eine abenteuerliche und vorsätzliche Verwechslung von quantitativer und qualitativer Analyse. Karten gehören für sie in den Bereich von Zahlen und Körperlichkeit (oder scheinen dorthin zu gehören), während das Gespräch ein durch und durch subjektiver, immaterieller Prozess ist.

Dennoch mutet es geradezu hellseherisch an, wie Lombardi die Themen vorauszusehen schien, die uns seitdem beschäftigen. Wie kam er zu seinen Ideen, wie zu den Informationen? Lombardi las täglich mehrere Zeitungen, viele Bücher und zog seine Information ausschließlich aus öffentlichen Quellen. Er erstellte ein Archiv mit über 12.000 Karteikarten voll Information über Verbindungen von Macht, Geld und Personen, mit nachvollziehbarer Quellendokumentation. In einem künstlerisch kreativen Akt schuf er dann ein Organigramm zu einer Thematik, die ästhetische Gestaltung mit präziser Tatsachendarstellung verband. Bislang wurden, soweit bekannt, die Archivdaten noch nicht weiter ausgewertet – soziologische Forscher zeigten ebenso Interesse wie das FBI.

Kassel stellte auch das Opus Magnum Lombardis aus: „BCCI-ICIC & FAB, 1972-91“, jenes Bild, das nach 9/11 2001 vom FBI konfisziert wurde. Wegener beschreibt in ihrem Film, wie dieses Bild im Jahr 2000 vor einer wichtigen Ausstellung New Yorker Museum PS 1 zerstört wurde – ein Defekt in der Sprinkleranlage des Ateliers. Lombardi arbeitete bis zur Erschöpfung an einer Restaurierung, aber schon drei Wochen später fand man ihn erhängt in seiner Wohnung. Ein Suizid scheint unverständlich, so kurz nach einem großen öffentlichen Durchbruch seiner Kunst. Das 3sat-Magazin Kulturzeit sagt über das Bild:

Die Bank of Credit and Commerce, kurz BCCI, stand in den 1980er Jahren im Zentrum eines riesigen Bankenskandals. BCCI war keine normale Bank, ihre Manager waren Geheimdienstleute. Ihr einziger Zweck: Gelder waschen, korrupte Politiker schmieren, Waffengelder schleusen.

Lombardis Werk nahm künstlerisch Erkenntnisse auch der Ökonomen vorweg, so wirkt zumindest ein Blick auf sein Bild World Finance Corporation and Associates, ca. 1970-84, vergleicht man es mit Ergebnissen der ETH Zürich zur Vernetzung der 147 mächtigsten Großkonzerne der Welt (meist Banken), deren Studie „The network of global corporate control“auch Korruptionsforscher wie Werner Rügemer inspirierte (Die Macht der Rating-Agenturen).

Lombardi las Bücher über Korruption, politische Verbrechen und Geldwäsche, verfolgte die dubiosen Transaktionen der Finanzindustrie – zweifellos ungewöhnlich für einen Künstler. Ob seine Zeichnungen uns je als Tapetenmuster begegnen werden, wie Motive van Goghs? Ihre Ästhetik würde dies rechtfertigen, ihr zeitkritischer Inhalt ebenso und vermutlich wäre es auch im Sinne ihres Schöpfers. Der Kunsthistoriker Robert Hobbs glaubt in Wegeners Film, die Motivation Lombardis zu kennen: Er wollte die Menschen anstiften, die Welt zu verändern.

12/19/14

The Zero Theorem

Filmkritik von Thomas Barth

Terry Gilliams Nachfolgefilm von Brazil: ein Programmierer zwischen feiernden, zwanghaft gutgelaunten Angestellten

Qohen Leth (Christoph Waltz), ein introvertiertes Mathegenie, sitzt nackt vor seinem Computer und wartet auf einen mysteriösen Anruf, durch den er auf Erlösung hofft. Draußen tobt das quirlige, laute Leben des etwas späteren 21.Jahrhunderts. Gigantische Monitore mit Dauerwerbung, Konsumorgien neben Armut, Dreck und Verfall. Qohens einsame Zuflucht ist eine halbrenovierte alte Kirche, die er billig kaufen konnte, und sein Hauptproblem ist sein Arbeitgeber.

Die mächtige Firma ManCom steht für den totalen Konsum, für das Leben als Party im Kaufrausch. Sie will einfach nicht einsehen, dass Qohen viel besser zuhause programmieren könnte. Seine Anträge, wegen psychischer Belastung auf Heimarbeit umzustellen, werden abgelehnt, auch nachdem er eine fast ebenso inquisitorische Untersuchung über sich ergehen lassen muss, wie einst der zeitreisende Sträfling (Bruce Willis) in Terry Gilliams 12 MONKEYS. Lästiges Ergebnis für Qohen: Er bekommt eine Online-Psychotherapie bei der nervigen Dr. Shrink-Room (Tilda Swinton).

Sein Vorgesetzter, der hektisch-joviale Joby (David Thewlis), kann sich zwar Qohens Namen nicht merken, klopft ihm aber dauernd aufmunternd auf die Schulter und zwingt ihn zur Anwesenheit in einer Firma voller exaltierter fröhlich kreischender Angestellter. Der gutmütige Joby will Außenseiter Qohen penetrant in die zur Motivation gepflegte karnevaleske Firmenkultur einbeziehen, aber das verschrobene Genie kann mit der aufgesetzten guten Laune nichts anfangen. Er verweigert sich auch der exaltierten knallbunten Mode im „Bubblegum-Dystopia-Look“ und will eigentlich nichts weniger als zum Betriebsfest.

Doch Chef Joby besteht darauf und ködert Qohen, er könne dort den geheimnisvollen Big Boss der Firma ManCom treffen, der sich „Management“ nennt. Bei ihm hofft Qohen auf Gehör für seinen Wunsch nach Heimarbeit. So findet sich der schüchterne Programmierer zwischen feiernden, zwanghaft gutgelaunten Angestellten wieder, die in Afrika-Motto-Kostümen tanzen, trinken, plappern, aber dabei dauernd autistisch auf ihre Handys glotzen.

Bedrängt vom flirtenden Partygirl Bainsley (Melanie Thierry) stolpert Qohen in ein Zimmer voller Umzugskartons, froh etwas Ruhe zu finden, und wird von „Management“ (Matt Demon) aufgeschreckt. Der große Boss saß allein in einem Sessel, getarnt durch einen Chamäleon-Anzug. Nun erst beginnt das Abenteuer: Qohen erfährt, dass er zu einer fast unlösbaren Aufgabe abkommandiert wird, bei der schon etliche Programmierer den Verstand verloren haben -das Zero Theorem knacken.

Zur Seite gestellt wird ihm der brillante junge Hacker Bob (Lucas Hedges), auch Chef Joby kommt vorbei und die verführerische Bainsley versucht ihn als Latex-Krankenschwester zu verführen -doch nur zum Cybersex per Datenanzug, wo sie ihn in virtuelle Paradiese lockt. Langsam kristallisiert sich heraus, was Qohen in der Firma eigentlich macht: „Entity Crunching“ dient der Verwandlung von Massendaten in kontrollierbare Einheiten.

ManCom macht aus den Entities Lifestyle, versorgt und überwacht damit die totale Kosumgesellschaft, die jedem Bedürfnis der Kunden nachspürt, sie mit Werbung manipuliert mit Neuheiten und Mode-Schnickschnack traktiert. Soll Qohen im Zero Theorem dem Sinn des Lebens nachforschen -oder einer Technologie der totalen Kontrolle?

Visuell bombardiert uns der Film Zero Theorem mit einem orgiastischen Stilmix aus High-Tech, Steam-Punk und Gothic, mit viel schwarzem Humor, Slapstick und Retro-Maschinerie als Gilliams Markenzeichen. Aus dem faschistischen Orwell-Staat, den Terry Gilliam mit BRAZIL (1984) beschrieb, ist hier ein totalitäres Überwachungs- und Konsumterror-Regime geworden, beherrscht von der monströsen Firma ManCom und ihrem gigantischen Dampf-Computer.

Wie 1984 ist auch 30 Jahre später Gilliams Hauptfigur kein heldischer Kämpfertyp, sondern ein nur etwas unangepasster Mitläufer, der sein privates Glück sucht und erst durch äußere Umstände zu seiner besonderen Rolle kommt.

Mathe-Genius Qohen verliert sich beim futuristischen Programmieren in würfelförmig-fraktalen Landschaften, im Cyberspace mit Bainsley an kitschigen virtuellen Stränden und in seiner eigenen Psyche vor einem hypnotischen Strudel purer existenzieller Angst. Fragte in der Anfangsszene des Films die marktschreierische Werbestimme: „Sind Sie gelangweilt vom Buddhismus, genervt von Scientology?“, so sitzt Qohen später in seiner düsteren Kirche voller religiöser Bilder zwischen Betonmischer und provisorisch eingebauter Dusche und wartet auf einen Anruf, der Antwort auf das Rätsel seines Daseins gibt.

Gejagt vom Konsumterror und umstellt von Ikonen alter Kultur sucht das Individuum im privaten Rückzug nach Sinn. Wie bei Pythons LIFE OF BRIAN (1979) und DER SINN DES LEBENS (1983) zeigt sich ein respektloser, aber dennoch spiritueller Umgang mit Religion und den letzten Fragen. Ebenso wartet Terry Gilliam hier mit einer differenzierten Zeitdiagnose nebst politischer Kritik an Facebook, Google & Co. auf. Ein genialer Film.

12/14/14

Zerstörerischer Staudamm: Belo Monte am Rio Xingu

Thomas Barth

Brasilien bleibt auch unter der Präsidentin Dilma Rousseff bei einem problematischen Großprojekt: Das Wasserkraftwerk Belo Monte ist das drittgrößte weltweit – nach dem Drei-Schluchten-Staudamm in China und dem binationalen Itaipu-Werk an der Grenze Brasiliens zu Paraguay.  Der Dokumentarfilm „Count-Down am Xingu II“ zeigt den Abwehrkampf gegen ein nur Wirtschaftsinteressen dienendes Bauprojekt. Keßler bereiste dafür Brasilien und führte zahlreiche Interviews, dokumentiert in eindringlichen Bildern Naturzerstörung und Widerstand.

Am Rio Xingu (sprich: Tschingu), einem großen Nebenfluss des Amazonas, wird seit den 1980ern, der Zeit der Militärdiktatur, gegen eine Kultur- und Naturvernichtung gigantischen Ausmaßes gekämpft. In Gefahr sind einzigartige indigene Völker (bis zu 50.000 Menschen) und ein unvergleichliches Biotop, denn Amazonien beherbergt bis zu einem Drittel der Tier- und Pflanzenarten weltweit.

Brasilien verfolgt weiter die Strategie, den massiven Ausbau der Wasserkraft zu einem Motor der Industrialisierung zu machen. Doch Kritiker weisen darauf hin, dass die Menschenrechte der Indigenen verletzt werden, dass womöglich ein Ethnozid durch Krankheiten und Abschiebung in Slums droht, dass Naturschätze unwiederbringlich vernichtet werden.

Im letzten Jahr konnten Kläger das Bauprojekt trotz Genehmigung durch die brasilianische Umweltbehörde stoppen, doch nur für drei Monate. Bundesrichter Carlos Eduardo Castro Martins sah keine juristischen Gründe, die Arbeiten am drittgrößten Wasserkraftwerk der Welt im Bundesstaat Para weiter zu verzögern. Blockaden der “Transamazonica”-Überlandstraße wurden von der Polizei geräumt – trotz anhaltender Proteste auch von prominenten Künstlern wie Regisseur James Cameron, Rocksänger Sting und Alien-Jägerin Sigourney Weaver.

Countdown am Xingu

Der Dokumentarfilm von Martin Keßler „Count-Down am Xingu II“ (61 min) dokumentiert in eindringlichen Bildern Naturzerstörung und Widerstand. Die Kamera geht nahe an die Menschen heran, fängt ihre Emotionen ein, zeigt die indigene Kultur der Arara, einem Fischervolk am Xingu, ohne sich in farbiger Folklore zu ergehen. Vielmehr beherrschen Bilder vom Widerstand den Film: Demonstrationen, Aktionen gegen die Bulldozer des Energiekonsortiums, politische Debatten. Keßler bereiste Brasilien und führte zahlreiche Interviews, um in Europa auf die scheinbar gute Sache Wasserkraft, die aber hier zerstörerisch auf Mensch und Natur wirkt, hinzuweisen.

Zu Wort kommt im Film vor allem der Bischof von Altamira, Dom Erwin Kräutler. Er leistet vor Ort Widerstand und erhielt 2009 den alternativen Nobelpreis für seinen Einsatz im Dienste der Indigenen und der Natur Brasilien. Kräutler hält derzeit Vorträge in seiner Heimat Vorarlberg (Österreich) und beklagt im Film die Wortbrüchigkeit der Betreiberfirma Norte Energia beziehungsweise des Konzerns Eletronorte/Eletrobras. Die Wirtschaftsbosse beschweren sich ihrerseits über die Aggressivität der Indigenen. Gleichzeitig weisen sie auf ihren Respekt für indigene Gemeinschaften hin.

Bischof Kräutler hält dagegen, dass es Norte Energia gelungen sei, die Opfer der Umsiedlungen zu entzweien, indem einige mit (relativ bescheidenen) Abfindungen und fragwürdigen Versprechungen geködert wurden. Regierung und Konzerne verschanzten sich hinter einer Mauer des Schweigens und der Desinformation.

Menschenrechte vs. “full aluminium body”

Kräutlers Einsatz ist es vermutlich zu verdanken, dass der europäische Widerstand gegen Belo Monte bislang hauptsächlich in Österreich stattfindet. Aber das soll sich nun ändern. Denn es sind auch maßgeblich Firmen aus Deutschland mit ihren Interessen vertreten: Siemens, Voith Hydro und Mercedes werden im Dokumentarfilm genannt.

Die Lügen der Regierung werden angeklagt, das Kraftwerk wäre nötig für Elektrizität, die das brasilianische Volk dringend brauche – in Wahrheit würde mit dem billigen Strom Aluminium hergestellt. Ein Werbespot von Mercedes verdeutlicht, worum es wirklich gehen könnte: Schnellere Luxuskarossen dank „full aluminium body“. Die Aussage ist klar: Menschenrechte und Naturschätze stehen hier gegen den Komfort von ein paar Privilegierten.

Vom Krieg der Wirtschaft

In Keßlers Doku kommen viele Aktivisten und Indigene zu Wort, die sich nicht mit Abfindungen begnügen wollen, wie die junge Sheila Juruna Machado, die vor allem ihrer Enttäuschung über die Justiz Luft macht. Sie glaube nicht mehr an die Gerechtigkeit in Brasilien. Im Interview mit dem etwas betreten wirkenden Staatsanwalt von Altamira, Claudio Terrdo Anaral, wird die einseitige Rechtsprechung deutlich.

Auch Bischof Kräutler beklagt Gefälligkeitsurteile zugunsten der Wirtschaftsinteressen, Prozessverschleppung und Rechtsbeugung zur zügigen Fortführung des Bauprojekts. Gezeigt werden Bäuerinnen, Fischer, Bootsbauer, Dorfbewohner vor der Kulisse ihrer zerstörten Häuser. Dem Argument, es würden bei diesen gewaltigen Erdarbeiten, die jene beim Bau des Panamakanals übersteigen, 100.000 Arbeitsplätze geschaffen, begegnet der Film mit der Dokumentation schlechter Arbeitsbedingungen.

Unter dem Strich handelt es sich um ein von der Regierung in Brasilien geduldetes und gefördertes Wirtschaftsverbrechen. Der auch vom Verein „Business Crime Control“ (einer nicht-unternehmensnahen Alternative zu „Transparency International“) geförderte Film schließt mit dem Statement, der Filmemacher fühle sich im Nachhinein wie ein Kriegsberichterstatter – eines Krieges der Wirtschaft gegen die Umwelt und die Menschen. (zuerst erschienen bei Berliner Gazette)

11/5/14

CITIZENFOUR

Filmkritik von Thomas Barth

Edward Snowden ist der Whistleblower, der unser Vertrauen in das Internet am tiefsten erschütterte. Er riskierte alles, um die Netznutzer aus ihrer Traumwelt zu reißen, in der sie den digitalen Cyberspace als rosiges Schlaraffenland zur bequemen Befriedigung all ihrer Bedürfnisse erleben. „Citizenfour“ hält als atemberaubendes Filmdokument die historischen Momente fest, in denen das monströse Panoptikum einer geheimen virtuellen Weltherrschaft in sich zusammenfällt – zum Einsturz gebracht von einer Handvoll mutiger Enthüller.

Die Filmemacherin Laura Poitras war die erste Person, der Snowden seine Kenntnisse enthüllte – unter dem Decknamen „Citizenfour“, der zum Titel ihres Dokumentar-Thrillers wurde. Die gebürtige US-Amerikanerin lebt in Berlin, weil US-Behörden sie drangsalierten, der Grund: Kritische Filme über 9/11, den Irakkrieg und das US-Foltergefängnis Guantanamo. Der dritte im Bunde war der Blogger und Journalist Glenn Greenwald, der aus dem brasilianischen Exil die USA kritisiert, etwa die Verhaftung und Folterung des Wikileaks-Whistleblowers Bradley Chelsea Manning durch die US-Militärjustiz. Snowden arbeitete für die NSA, die CIA und für mysteriöse Privatfirmen im Dunstkreis der Geheimdienste. Er entdeckte, dass seine Auftraggeber die digitale Welt unter ihre Kontrolle bringen wollen. Dabei brechen sie Gesetze vieler Länder, sogar der USA, und verletzen die Menschenrechte von Milliarden ahnungslosen Netznutzern. Snowden wollte diese kriminellen Machenschaften ans Licht bringen und die Lügen der Top-Manager der globalen Bespitzelung aufdecken, obwohl er genau wusste, dass sie über Leichen gehen würden, um ihre schmutzigen Geheimnisse zu wahren.

Snowden und seine Vertrauten wussten auch, dass es hart werden würde, ihr Wissen zu veröffentlichen, selbst wenn sie es schaffen sollten, die Öffentlichkeit zu erreichen. Sie wussten, dass die Masse der Medien gegen sie stehen würde, dass man sie und ihre Familien ausforschen, jagen, mit Dreck bewerfen würde, um sie einzuschüchtern und unglaubwürdig zu machen. Und sie wussten, dass Geheimdienste und Herrschaftseliten ihre ganze Macht über die Medien ausspielen würden, um die ans Licht gebrachten Wahrheiten zu vernebeln, zu verdrehen, abzuwiegeln und abzulenken. Alles kam darauf an, die Publikation zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und in einer sorgfältig geplanten Reihenfolge durchzuziehen.

Laura Poitras hält mit ihrer Kamera die entscheidenden Momente fest. Als echte Dokumentation, nicht als nachgestellte Dokufiction. Man sieht die erste Kontaktaufnahme in einem Hotel in Hongkong, die ersten Gespräche mit Snowden, bei denen die Journalisten noch nicht ganz überzeugt sind, dem Whistleblower noch immer etwas auf den Zahn fühlen. Später spürt man die Anspannung, die permanente Erwartung, dass gleich bewaffnete CIA-Leute das Zimmer stürmen. Man fühlt die berechtigte Paranoia, versteckt hinter Galgenhumor, wenn Snowden seinen „Zaubermantel“ über sich und seinen Laptop zieht, um Passwörter einzugeben –aus Furcht vor visueller Bespitzelung. In einigen Szenen kommunizieren Snowden und der Greenwald nur noch über Notizzettel, zu groß ist die Sorge abgehört zu werden. Man ahnt, dass dies das Lebensgefühl künftiger Generationen spiegeln könnte. Die Privatsphäre schützen, heißt die persönliche Freiheit schützen, sagt Jacob Appelbaum. Der Wikileaks-Unterstützer und Mitstreiter von Poitras in Berlin gab den ihm verliehenen Henry-Nannen-Preis jüngst zurück, um auf die Nazi-Vergangenheit der Bertelsmann-Illustrierten „Stern“ hinzuweisen.

Der Britische Guardian gilt als das mutigste Presseorgan der englischsprachigen Welt, er war bei Wikileaks mit dabei, engagierte sich den berühmten Blogger Greenwald für eine Kolumne. Doch nun zaudert man in London mit diesem größten Skandal der Geschichte. Obwohl die Redaktion mit Ewen MacAskil noch einen alten Hasen geschickt hatte, um sich weiter abzusichern. Zuletzt droht Greenwald mit Publikation auf eigene Faust, der Guardian gibt nach –und wird dafür vom GCHQ, dem Londoner Gegenstück zur verbündeten NSA, drangsaliert: Die Journalisten müssen Wochen später ihre Redaktions-Computer unter Aufsicht von finsteren Beamten eigenhändig zerstören. Ein dummer Akt der Demütigung durch sinnlose Schikane.

Aber nach der Publikation der ersten Dokumente am 5.Juni 2013 ist die Stimmung erst einmal entspannter, Snowden sieht am Hotelfernseher die CNN-Berichte über seine Enthüllungen vorbei ziehen. Zuerst bleibt der Whistleblower noch anonym, sie wollen die NSA etwas zappeln lassen. Plötzlich bekommt Snowden Nachricht von seiner Freundin aus den Hawaii sie haben ihn vermutlich als Leck identifiziert. Er wendet sich selbst an die Öffentlichkeit, erklärt ruhig und sachlich sein Verhalten. Dann taucht Snowden ab, als Reporter das Hotel zu belagern beginnen. Er gerät Poitras aus dem Blick, die ihn später in Russland wieder aufspürt, wo seine Freundin zu ihn gestoßen ist. Beide suchen Asyl vor dem gnadenlosen Zugriff der US-Behörden, die Snowden mit fragwürdiger Rechtsauffassung nach einem dubiosen Gesetz aus dem Ersten Weltkrieg zum Verräter gestempelt haben. David Miranda, den Lebensgefährten von Greenwald, nehmen britische Behörden fest und verhören ihn acht Stunden lang unter der fragwürdigen Begründung, er stände unter „Terrorismusverdacht“. Seine Sachen werden konfisziert, ehe er nach Brasilien weiterreisen darf. Menschenrechtsgruppen protestierten.

Poitras mischt die Snowden-Aufnahmen aus Hongkong und Russland geschickt mit Interviews und anderem Filmmaterial. Der NSA-Whistleblower William Binney und weitere Überwachungskritiker kommen zu Wort. Dagegen gestellt werden der damalige NSA-Direktor Keith Alexander und US-Geheimdienstkoordinator James Clapper, bei offensichtlichen Lügen vor dem US-Kongress. Sie leugnen die kriminelle Bespitzelung, versuchen ihr Ausmaß klein zu reden. Vor dem Europaparlament erklärt Ladar Levison vom E-Maildienst Lavabit, den Snowden für seine Kontaktaufnahme zu Poitras nutzte, warum er seine Firma schließen musste. US-Behörden setzten ihn wie viele andere Firmen unter Druck, seine Kundendaten an die NSA zu verraten. Besonders die größten Firmen taten das, einige willig wie Microsoft, andere weniger kooperativ, Apple erst nach dem Tod von Steve Jobs.

Aber Poitras versucht gar nicht erst, den Film mit Details über die vielen NSA-Manöver zur Überwachung zu beladen. Für die genaue Erklärung von PRISM, Tempora oder XKeyscore gibt es The Intercept, das neue Blog von Greenwald, Snowden, Jeremy Scahill und anderen. Oder Bücher, vor allem „Die globale Überwachung“ von Glenn Greenwald, praktisch das Buch zum Film. Greenwald schreibt weit informativer als der SPIEGEL-Bestseller „Der NSA-Komplex“ von SPIEGEL-Redakteuren, die das NSA-Thema eher vernebeln und in ihrer Darstellung der deutschen Datenschutz-Szene sogar den Chaos Computer Club unerwähnt lassen, die hiesigen Pioniere der NSA- und Überwachungskritik. Der SPIEGEL will nur noch das Blog „Netzpolitik“ kennen, das neuerdings als Medien-Darling durch deutsche TV-Sender tingelt, und belegt damit, dass große Medienkonzerne wie Bertelsmann eher Teil des Problems sind als seine Lösung.

Was Snowden über die Geheimdienste ans Licht brachte, übertraf die schlimmsten Befürchtungen der meisten Menschen um ein Vielfaches. Die NSA & Co. haben das World Wide Web zu einer gigantischen Überwachungsmaschine umfunktioniert, die jeden unserer Schritte bespitzeln und protokollieren kann. Daraus lässt sich ein präzises Persönlichkeitsprofil jedes Menschen weltweit errechnen. Vielleicht nicht jetzt sofort, aber irgendwann in der Zukunft, wenn du es wagen solltest, „etwas Auffälliges“ zu tun. Du oder jemand, den du kennst. Oder jemand, der jemanden kennt, den du kennst. Und was ist „etwas Auffälliges“? Das sagen sie uns nicht, weil sie es geheim halten. Oder weil sie es selbst noch nicht wissen. Vielleicht wird das künftig ein Geheimdienstchef entscheiden oder ein US-Präsident. Oder ein Computer. Oder ein Konzernboss, ein Weltdiktator, ein Massenmörder.

Wir alle werden künftig in einer Welt leben müssen, wie sie das wahnsinnige Genie eines Franz Kafka nicht dunkler hätte ersinnen können: Wenn wir die NSA nicht bändigen, wenn wir nicht wachsam bleiben, Kryptographie anwenden und die Reste der Demokratie zäh verteidigen. Wir müssen sie verteidigen gegen Dunkelmänner, die behaupten, sie wollten uns vor „dem Terror“ schützen – vor einem Terror, von dem immer mehr Menschen glauben, dass ihn genau diese Dunkelmänner insgeheim fördern oder überhaupt erst organisiert haben. Der Film „Citizenfour“ hilft uns, nicht wieder ins rosige Traumland naiver Netznutzung zurück zu gleiten, aus dem es ein grausiges Erwachen geben könnte. – Citizenfour läuft ab dem 6. November 2014 im Kino.

02/28/14

Snowden Überwachtes Netz

Buch zu verschenken: Bereits 60.000 Downloads von „Überwachtes Netz“

24.02.2014 Markus Beckedahl

Vergangenen Donnerstag haben wir unser Buch „Überwachtes Netz – Edward Snowden und der größte Überwachungsskandal der Geschichte“ zum freien Download online gestellt. Seitdem wurde das eBook über 60.000x heruntergeladen. 24550x wurde das Zip-File mit den beiden eBook-Formaten heruntergeladen, 36632x das PDF. Die Zahl freut uns, weil unser Ziel war, dass möglichst viele Menschen die Inhalte des Buches zum Lesen bekommen. Das spannende ist, dass diese Zahl vollkommen ohne klassische Medienberichterstattung zustande kam, lediglich durch Mundpropaganda über soziale Medien. Danke fürs Weitersagen! (von Netzpolitik.org) BUCH als PDF

08/21/12

Urheberrechts-Piraterie & Verwertungsgesellschaften

Thomas Barth · 31.07.2012

„Raubkopiere sind Verbrecher!“ -Mit dieser unerträglich verlogenen Kampagne schlugen Medienkonzerne ihre Claims in unzählige Netzmedien und DVDs und gingen uns allen auf die Nerven. Doch auch die zwischen Kreativen und Konzernen operierenden Verwertungsgesellschaften stehen in der Kritik.

In Amsterdam erlebten die Verwerter just eine juristische Schlappe. Das niederländische Äquivalent zur GEMA, die Verwerter-Agentur Buma/Stemra, wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie einem Kreativen fällige Lizenzgebühren vorenthalten hatte. Man hatte seine Komposition hinter seinem Rücken massenhaft weitergenutzt, nur durch einen Zufall kam er den Urheberrechts-Räubern auf die Schliche. Die Ironie dabei: Ausgerechnet für die Musik eines Anti-Piracy-Clips waren dem Künstler Melchior Rietveldt keine Tantiemen gezahlt worden.

Seit Jahren behauptet die Medienindustrie, sie verteidige die armen Künstler gegen verbrecherische Raubkopierer, die Piraten aus dem Internet. Dabei wurden die Medienmogule zunehmend raffinierter. Noch bei den UHR-Änderungen 2001 drohte eine Verleger-Kampagne in großen Zeitungsanzeigen mit der “Entlassung” von freien Journalisten und Künstlern. Man hätte einfach kein Geld mehr für sie, würden die Interessen der Verwerter nicht durchgesetzt. Bebildert war die tollpatschige Presse-Kampagne des Bundes Deutscher Zeitungsverleger u.a. mit Zeichnungen abgemagert aussehender Poetinnen.

Heute gehen die Verwerter weniger platt vor und ermuntern von ihnen abhängige Kreative, sich gegen die UHR-Piraten in die Öffentlichkeit zu stellen. Und welche Art von Kultur liegt dem deutschen Michel besonders am Herzen, kann also am Besten die Öffentlichkeit gegen Piraten mobilisieren? Der Krimi ist der Deutschen liebstes Genre und so werden Krimi-Autoren und Tatort-Schauspieler in die erste Reihe geschickt, für die Verwerter um Sympathien zu werben z.B. in der Aktion „Ja-zum-Urheberrecht“.

Die „Ja-zum-Urheber”-Kampagne

Ob diese Kreativen von alleine auf die Idee kamen, ob sie freiwillig, mit Vergünstigungen geködert oder mit Sanktionen bedroht für die Urheberrechte (oder wohl eher für deren Verwertung durch die gleichen Medienmogule wie bisher?) ihren provokanten Autoren-Strip „Hemd-up-for-your-rights“ inszenierten, bei dem arme, nackte Poeten einem Leichenfledderer mit Anonymous-Maske zum Opfer fallen, wissen wir nicht. Als jedoch ein paar Anonymous-Hacker mit DDoS-Attacken konterten, war die Presseempörung groß.

Der Auftritt der UHR-Kämpfer sieht allerdings für eine Bürgerinitiative sehr professionell aus und scheint auch gut finanziert zu sein. Für die große Masse der am Existenzminimum herumkrebsenden Kreativen sind sie sicher nicht repräsentativ. Die Piratenpartei setzte eine „Ja-zum-Urheber“-Kampagne dagegen:

„Die von der Piratenpartei angestrebte Reform des Urheberrechts bringt Verwertungsgesellschaften und große Verlagshäuser auf die Barrikaden. In groß angelegten Medienkampagnen setzen sie auf Fehlinformationen über die Ziele und Forderungen der PIRATEN. Erst in der vergangenen Woche sprachen sich so über 100 Medienschaffende – von denen allerdings nur wenige tatsächlich Urheber sind – im „Handelsblatt“ gegen die Reformpläne der PIRATEN aus. Dabei wurde wieder fälschlicherweise behauptet, die Piratenpartei wolle sämtliche Inhalte kostenlos über das Internet verbreiten, das Urheberrecht abschaffen und die Interessen und die Lebensgrundlage der Künstler ignorieren.“

Die Kreativen für den Anti-Piraten-Kampagnen einzuspannen, ist sicher eine besser ausgedachte PR-Masche der Verwerter, aber ihre öden Standard-Gefechte ums Copyright laufen weiter: So produziert die Kulturindustrie Jahr um Jahr ihre nervigen „Raubkopierer sind Verbrecher“-Clips und ödet jeden Kinogänger und jeden Käufer von DVDs mit ihren wahrheitswidrigen Tiraden an: Raubkopieren ist bislang keineswegs ein „Verbrechen“, auch wenn die Verwerter-Lobby das Strafmaß gern immer höher schrauben würde. Politiker springen der Industrie gern zur Seite und mahnen mehr Achtung vor der Leistung der Kreativen an.

Die Knebelverträge

Doch wie steht es mit der Moral der Verwerter selbst, wenn es um die Zahlung für kreative Leistungen geht? Wer ein Werk (ob Bild, Ton oder Text) verkauft, wird meist mit einer mageren Einmalzahlung abgespeist und muss künftig selbst hinter den multinationalen Konzernen herlaufen, um zu kontrollieren, ob und wo sein Werk erneut verwendet wird. Um selbst diese geringen Chancen der Kreativen auf Partizipation an den gigantischen Gewinnen der Konzerne noch zu unterbinden, müssen die meisten Autoren (Medien-Prominenz der „The-winner-takes-all“-Fraktion natürlich ausgenommen) Knebelverträge unterschreiben.

Hierin sichert sich der Verwerter alle Rechte für immerdar am einmal mager bezahlten Werk und, wenn es nach der Unternehmerseite geht, auch gleich an den kompletten Recherchen des Autors. Wer das nicht will, wird oft mit Boykott erpresst; wer sich dagegen öffentlich zur Wehr setzt, muss fürchten, auf einer Schwarzen Liste zu landen. Doch selbst wer Rechte hat, muss sie anscheinend erst gerichtlich durchsetzen, wie der bereits erwähnte Musiker Melchior Rietveldt.

Im Jahr 2006 hatte Rietveldt ein Musikstück für eine Anti-Piracy-Kampagne bei einem lokalen Filmfestival komponiert. Als er 2007 eine Harry-Potter-DVD kaufte, entdeckte er sein Musikstück darauf: Der Anti-Piracy-Clip war ohne seine Erlaubnis mit seiner Komposition unterlegt. Rietveldt fand sich solcherart raubkopiert auf Dutzenden von DVDs in den Niederlanden und im Ausland. Er wandte sich an die zuständige Verwerter-Agentur Buma/Stemra.

Die hatte seine Rechte zwar vertreten, aber leider versäumt, ihn für das oft verwertete Stück zu bezahlen. Rietveldt erhielt von der Buma/Stemra einen Vorschuss von 15.000 Euro mit dem Versprechen, eine Liste der anderen DVDs zu übermitteln, die seine Komposition verwenden. 2009 forderte er einen Nachschlag und bekam nach einigem Gerangel weitere 10.000 Euro.

Die von der Buma/Stemra versprochene DVD-Liste kam nie bei Rietveldt an; das Gericht in Amsterdam stellte diese Woche fest, dass seine Komposition auf mindestens 71 kommerziellen DVDs von der Medienindustrie verwendet worden war. Die Justiz entschied, dass die Buma/Stemra fahrlässig gehandelt habe. Sie verhängte eine Geldstrafe von ca. 20.000 Euro und bestätigte Forderungen des Musikers in Höhe von ca. 160.000 Euro.

Zuerst erschienen in Berliner Gazette 31.07.2012 https://berlinergazette.de/de/urheberrecht-piraterie-medienindustrie/