02/3/15

Zivilgesellschaft & digitaler Ungehorsam

In einem aktuellen Beitrag beschäftigen sich Heinz Kleger und Eric Makswitat von der Universität Potsdam mit dem Thema Datenschutz in Europa. Im Gegensatz zu Anthony Dworkins richten sie ihren Fokus nicht auf die Politik, sondern auf Aktionen von der Zivilgesellschaft.

Theresa Kruse 25.02.2015

So merkwürdig es scheint: Die meisten Akteure aus dem NGO-Sektor und die vielen zivilgesellschaftlichen Aktivisten mit ihrem kritischen Bürgersinn, finden zwar nicht gut, was gerade so datenmäßig und überwachungstechnisch alles passiert – aber sie haben weder ein gesteigertes Interesse an ihrem eigenen Schutz, noch setzen sie sich für grundlegende Reformen ein. Stellvertretend für ‚die Zivilgesellschaft‘ kann man vielleicht das Bürgernetzwerk Bürgerschaftliches Engagement nennen, in dem sich große Teile der organisierten deutschen Zivilgesellschaft zusammengeschlossen haben. Hier sucht man vergeblich nach Ideen, was Snowdens Enthüllungen für die deutsche Zivilgesellschaft und für das bürgerschaftliche Engagement in unserem Land bedeuten.

Selbst internationale Demokratie-Aktivisten, die von Überwachung bedroht sind, nutzen nicht automatisch Sicherheits-Tools. Sehr selten reflektieren sie über ihren persönlichen Schutz hinaus die politische Bedeutung und was das Recht auf Privatheit in ihren Konzeptionen von Demokratie und Menschenrechten zu suchen hat.

Bleiben die Aktions- und Beteiligungsformen abseits der formalen Strukturen der Zivilgesellschaft. Hier kreisen mehr und mehr informelle Gruppen und oft künstlerische Akteure um die Fragen Überwachung, Selbstbestimmung, Privatheit und Sicherheit. Heinz Kleger und Eric Makswitat von der Universität Potsdam untersuchen den zivilen Ungehorsam als Handlungsfeld des digitalen Aktivismus.

Handlungen, die im Sinne des guten Ziels als legitim angesehen werden, gehören seit jeher zum digitalen Aktivismus – auch wenn sie illegal sind. Die Autoren diagnostizieren, dass das qualitativ Neue am digitalen zivilen Ungehorsam ist, dass dieser um „Sichtbarmachung und Thematisierung“ kreist. Dieser Ungehorsam speise sich nicht so sehr aus einer protestbereiten Öffentlichkeit, sondern schaffe diese erst einmal, um den Mangel an öffentlichem Bewusstsein und Information auszugleichen.

Ist das der politikwissenschaftliche Ritterschlag für Anonymous? Mitnichten, denn gerade bei deren Aktionen sehen Kleger und Maskwitat die legitimen Grenzen des zivilen Ungehorsames oft überschritten. Im Unterschied zu analogen Sitzblockaden, mit denen man Distributed Denial of Service-Attacken am ehesten vergleichen könnte, seien die Folgen der Ausschaltung großer und wichtiger Dienste im Internet jedoch wesentlich weniger kalkulierbar. Zu viele Unbeteiligte seien betroffen: „Die Folgenverantwortung, die zur politischen Ethik gehört, ist nicht im Blick“, schreiben sie. Kritisch sehen die Autoren auch, wenn Aktivisten „nicht nur informieren, sondern ihre vermeintlichen Gegner auch bestrafen“. Selbstjustiz sei aber gerade kein legitimes Ziel demokratischen Aktivismus. Ebenso widersprächen „die Züge des Klandestinen und Konspirativen den Kriterien des zivilen Ungehorsames.“

Unstrittig ist für die beiden Autoren, dass Edward Snowdens Aktionen zum zivilen Ungehorsam gehören. Im Gegensatz zu Julian Assanges Ohne-Rücksicht-auf-Verluste-Strategie der Veröffentlichung kritischer Informationen (Anm. Netzphil: inzwischen ist bekannt, dass dieser falsche Vorwurf gegen Assange von genau jenen Guardian-Journalisten verbreitet wurde, die für die fahrlässige Publikation des Passwortes verantwortlich waren, mit dem die wegen der Verfolgung durch NSA, CIA, FBI usw. verschlüsselten und global verteilten Wikileaks-Dateien weltweit lesbar wurden; Geheimdienste und willige Medien griffen die Verleumdung jahrelang begierig auf, um Stimmung gegen Wikileaks zu machen; Assange hat diese Beschuldigungen zurückgewiesen, ihm wurde niemals entsprechendes Fehlverhalten nachgewiesen) schätzen sie an Snowdens dosierter Herausgabe von Informationen das verantwortungsbewusste Bemühen um eine Begrenzung des möglichen Schadens, weil er eine qualitative journalistische Aufarbeitung ermöglicht.

Letztlich sei die richtige und legitime Strategie in der Demokratie aber die Mehrheiten zu bilden. Ungehorsam könne da nur die Ausnahme bleiben und ist im Sinne einer „Zivilität des Ungehorsams“ an Kriterien wie die immaterielle und materielle Abwägung der Folgen, Zielgerichtetheit, Friedlichkeit und die Relation des Handelns zu höheren verfassungsmäßigen Werten gebunden.

Das Schweigen der organisierten Zivilgesellschaft

Dworkins auf der einen sowie Kleger und Makswitat auf der anderen Seite behandeln die zwei entgegengesetzten Richtungen des politischen Handlungsspektrums. Hier die Sphäre der supranationalen Verhandlung, der Advocacy und des juristischen Kampfs auf europäischer Ebene, dort der Aktivismus einzelner oder loser Gruppen.

In Europa befindet man sich bei manchem politischen Vorhaben womöglich auch mit denen in einem Boot, die man wegen anderer Dinge bei den BigBrotherAwards prämiert. Das passiert etwa bei Fragen der Verschlüsselung oder Netzneutralität, mit Abstrichen auch bei Urheberrechtsfragen. Bei anderem wie den Big-Data-Regulierungen bleibt man Gegner. Hier muss man Pragmatismus wagen, ohne die Glaubwürdigkeit der digitalen Advocates zu unterlaufen.

Der digitale Aktivismus hat eine spezifische Ausprägung des zivilen Ungehorsames hervorgebracht, der zum kulturellen Kern seiner Bewegung gehört. Er schafft es in einzelnen Fällen Aufmerksamkeit zu erregen und hat auch durchaus Sympathisanten unter Bürgern, in der Politik und in den Medien, die seine Aktivisten als Experten schätzen und in einer speziellen Weise als Hacker oder digitale Bohème heroisieren. Digitaler Ungehorsam kann aber aus demokratie-theoretischen Erwägungen nur ein Teil einer größeren politischen Strategie sein, muss die Ausnahme der Aktionsformen darstellen und Standards genügen, die ihn zivil und demokratisch machen.

Wirksame Bewegungen haben funktionale Lösungen gefunden, wie sie in solch unterschiedlichen Sphären handlungsfähig sein können und die sich ergebenden Dilemmata verhandeln. Insofern kommt Organisationen wie Digitalcourage, aber auch Netzwerkveranstaltungen wie dem CCC oder sektorenübergreifenden Foren des Austauschs und der Kooperation eine wichtige intermediäre Funktion zu.

(reblogged von https://digitalcourage.de/blog/zivilgesellschaft-und-digitaler-ungehorsam)

Weiterführende Links

12/5/14

Uralte Stereotype: Hacker, Nerds, Computerfreaks

Thomas Barth

Als im Wahlkampf 2012 SPIEGEL-Schreiber Mathias Matussek mit seinem Pamphlet „Das maschinenhafte Menschenbild der Piraten“ gegen die neue Netzpartei trommeln wollte, ahnte er wohl nicht, dass er sich damit in eine lange Tradition stellte: Das Stigmatisieren der Netzkultur. Er stellte sich damit gegen neue Ansätze zur Vermeidung einer drohenden totalen Überwachung, welche mit ausuferndem Lobbyismus und Korruption in Medien und Politik einhergeht.

Matussek bediente sich im Dienste Bertelsmanns für den „Spiegel“ eines der ältesten Stereotype gegen Computernutzer –wenn auch nur unbewusst bzw. nach Hörensagen, wie man angesichts seiner eher mäßigen Kenntnisse der Netzkultur wohl vermuten muss.

Der „Maschinelle Charakter“

1987 galt die Studie „Der maschinelle Charakter“ (in Anlehnung an Adornos „Studie zum Autoritären Charakter“) der führenden akademischen Experten Pflüger & Schurz als Stand der Forschung; darin wurde allen Ernstes behauptet, „übermäßige“ Computernutzung führe zu einem totalitären „Schwarz-Weiß-Denken“, quasi durch psychische Infektion mit der binären Null-Eins-Logik der neuen digitalen Medien. In meiner Diplomarbeit konnte ich 1990 signifikant nachweisen, dass die zugrunde gelegten Daten dürftig und zudem falsch interpretiert waren sowie dass Forschungsdesign und Theoriebasis desolat waren.

Warum das Inverse Panoptikum der Hackerkultur nicht verstanden wurde

1997 konnte ich in einer weiteren Studie aufzeigen, wie der „Maschinelle Charakter“ sich als Standardisierung und Normierung von Vorurteilen in eine Stigmatisierungs-Kampagne gegen die damals noch kleine Computer- und Netzkultur einfügte. An diese Stigmatisierung knüpfte 25 Jahre später Matusseks „Spiegel“-Pamphlet an. Der Netzbewohner, Hacker bzw. „Computerfreak“ war schon damals zur Projektionsfläche von Ängsten und Wünschen bezüglich der heranrollenden digitalen Medienkultur geworden, deshalb wurde er pathologisiert und kriminalisiert. Außerdem tobten bereits erste politische Kämpfe um den künftigen Cyberspace der Netze, für die ich damals zwei Hauptfelder prognostizierte:

  1. Strafrecht und Überwachungsstaat, der sich im Internet gegen Hacker richten würde, die nach Transparenz von Daten der Mächtigen strebten, frühe Vorläufer von Anonymous und WikiLeaks;
  2. Die ökonomische Erdrosselung der Netzkultur durch das Copyright, wenn der digitalen Kommunikation die Besitzmetaphorik der Warenwelt übergestülpt würde.

Als Lösungsansatz unterbreitete ich 1997 das Utopiemodell des „inversen Panoptikums“, das den Panoptismus moderner Gesellschaften (Foucault) vom Kopf auf die Füße stellt: Anstatt einer immer weiter ausgebauten Überwachung der vielen Machtlosen durch wenige Mächtige sollte umgekehrt die Transparenz der Mächtigen und der Datenschutz für die vielen zur Norm werden. Meine Studie „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft: Systemtheorie, Foucault und die Computerfreaks als Gegenmacht zum Panoptismus der Computer- und Multimedia-Kultur“ steht inzwischen in vielen Informatik-Fachbibliotheken, die Debatte des Panoptismus-Begriffes findet sich in vielen Beiträgen wieder. Im „Spiegel“ und anderen Mainstream-Medien weigert man sich aber verbissen, die neuen Wertvorstellungen der Netzkultur zur Kenntnis zu nehmen. So wird dort immer wieder der angebliche Widerspruch bei Netzaktivisten und Piraten gegeißelt, sie seien für Transparenz, aber wollen zugleich Anonymität im Netz.

„Spiegel“ geißelte „Traum totaler Herrschaftsfreiheit“

Mit dem im „Spiegel“ gegeißelten „Traum totaler Herrschaftsfreiheit“ hat das natürlich nichts zu tun. Das „inverse Panoptikum“ stellt lediglich ein Leitbild zur Vermeidung einer drohenden totalen Überwachung dar, die zudem mit ausuferndem Lobbyismus und Korruption in Medien und Politik einhergeht. Digitale Technologie konzentriert immer mehr Macht bei wenigen Überwachern: Macht durch Kontrolle über die Daten der Einzelnen und Macht über den Zugang der Einzelnen zu den Medien. In einer Demokratie können die vielen Machtlosen sich jedoch gegen die zunehmende Drangsalierung wehren. Die Dunkelmänner der Datenwelt haben das natürlich auch begriffen und schreien allerorten selbst laut nach Transparenz, meinen damit aber Kontrolle über Netznutzer, Kunden, Arbeitende.

Als Gegenmächte stehen der Netzkultur damit vor allem die Geheimdienste und die großen Medienkonzerne, sprich: die Verwerter, gegenüber. Der größte Verwerter in Europa heißt Bertelsmann, der Kampf um alte Pfründe, z.B. des Copyright auch in der neuen Netzkultur, steht für diese Machtgruppen an erster Stelle. Wer etwas Neues will, wird von diesen Machtgruppen angefeindet, schlechtgeredet, später vielleicht korrumpiert, infiltriert und gekauft. So ging es der SPD, als Medienkanzler (!) Schröder für seine „Agenda 2010“ sein Hartz IV-Konzept von der Bertelsmann-Stiftung schreiben, durch McKinsey (damals Bertelsmanns Unternehmensberater) umsetzen und von Bertelsmann-Medien beklatschen ließ. So ging es den Grünen, als sie sich die Bildungspolitik der Bertelsmann-Stiftung aufschwatzen ließen, das „Leuchtturm“-Gefasel, Privatisierung und Studiengebühren. Als Grüne nach jahrzehntelangem Kampf endlich auf EU-Ebene ein Chemikaliengesetz mit formulieren durften, hatten sie sich von neoliberalen Ideologen schon so sehr einlullen lassen, dass sie sich einen Chemielobbyisten unterschieben ließen, der dem Gesetz die Zähne zog. Auch bei den Grünen begann es mit einer medialen Mischung aus Lobhudelei und Verteufelung; Lobhudelei, denn ihre Anhänger sollten ja letztlich an der Nase im Kreis herum geführt werden; Verteufelung für jene, die das nicht mit sich machen lassen wollten.

Piraten als Nerds?

Die Piraten wurden in den Mainstream-Medien aus politischem Kalkül unter dem Stereotyp der Hacker-, Nerd- und Netzkultur stigmatisiert. Der größte Skandal scheint den sie anfeindenden Gegner aber zu sein, dass hier „computeraffine“ Menschen tatsächlich politisch sind. Sie sind eben nicht unpolitische Fachidioten wie die Nerds aus der US-Soap „The Big-Bang-Theory“. Verschiedenste Label werden ihnen aufgedrückt, was im Grunde jedoch nur eines zeigt: Sie dienen als Projektionsfläche für Hoffnungen und Ängste. Vor allem wohl der Hoffnung, sie mögen bei aller Computerkompetenz doch so dumm sein, dass sie wie geschmiert von der korrupten Mainstream-Medienwelt und -Politik assimiliert werden können.

Mathias Matussek hat mit seinem Pamphlet damals wohl den bislang aggressivsten Beitrag zur Medienkampagne gegen die Piraten geleistet und vielleicht sogar maßgeblich zu ihrem Abstieg nebst Selbstzerlegung beigetragen. Ihr Anliegen hat dies keinesfalls verdient, ihre (Netz-) Politik nur teilweise.

Zuerst erschienen bei InversePanopticon

12/5/14

Big Brother Awards: Positivpreis (2014) Edward Snowden

Laudator.in: Heribert Prantl

Erstmals vergeben wir einen Positiv-Award namens „Julia-und-Winston-Award“. Diesen Preis erhält der Whistleblower Edward Snowden für seine Verdienste um die Aufklärung der Machenschaften der Geheimdienste der „Big Five“ (USA, Großbritanien, Neuseeland, Australien, Neuseeland) und anderer Länder (Deutschland, Frankreich). Dies ist verbunden mit enormen persönlichem Einsatz, für den er seine eigene Freiheit zur Disposition gestellt hat. Den Preis dotieren wir mit 1.000.000 gedruckten Aufklebern, die wir kostenlos verteilen, um der Forderung nach Asyl und sicheren Aufenthalt für Edward Snowden in Deutschland Nachdruck zu verleihen.

In diesem Jahr verleihen wir zum ersten Mal einen Positivpreis. Der „Julia-und-Winston-Award“ wurde benannt nach den „rebellischen“ Hauptcharakteren aus George Orwells dystopischem Roman „1984“, aus dem auch der „Große Bruder“ stammt. Der Award soll Personen auszeichnen, die sich in besonderem Maße gegen Überwachung und Datensammelwut eingesetzt haben. Der Preis ist auf eine Million dotiert – allerdings nicht eine Million Euro.

Der Preisträger des ersten Julia-und-Winston-Award ist Edward Snowden.

In Berlin hat der Bundestag einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, der den NSA-Skandal aufklären soll. Das Seltsame dabei ist, dass die Mehrheit im Ausschuß den nicht hören will, der den Skandal aufgedeckt hat. Die CDU/CSU redet über Snowden, als habe er eine ansteckende Krankheit. Und die SPD widerspricht kaum. Das ist grober Undank.

Der Mann habe doch schon alles gesagt, was er wisse, heißt es; man brauche ihn doch daher gar nicht mehr zu vernehmen. Das ist vorweggenommene Beweiswürdigung. Die ist im gesamten Recht verboten; im Deutschen Bundestag auch. Snowden ist ein zentrales Beweismittel, das weiß jeder. Der wahre Grund dafür, warum man Snowden nicht einmal einladen will, ist der: die Kanzlerin Angela Merkel fürchtet, dass dann die Amerikaner pikiert und unwirsch reagieren, wenn sie im Mai in die USA reist. Das ist nicht nur hasenherzig. In ihrem Amseid hat die Kanzlerin geschworen, Schaden vom deutschen Volk zu wenden. Schaden wenden – das heißt: etwas gegen den Schaden zu tun, den die NSA anrichtet. Stattdessen tut die Bundesregierung so, als sei Snowden und nicht die USA der Schädiger.

Edward Snowden ist ein Aufklärer. Er hat die globale US-Großinquisition aufgedeckt und musste fliehen vor dem Großinquisitor. Er hat persönlich keinerlei Vorteile von seiner Whistlerblowerei, er hat nur Nachteile. Den Gewinn hat die Rechtsstaatlichkeit der westlichen Demokratien, sie könnte ihn haben, wenn diese den globalen Skandal zum Anlass nehmen, ihren Geheimdiensten Grenzen zu setzen.

Snowden ist also nicht nur Aufklärer, er ist auch Motivator. Er hat etwas Besseres verdient als ein wackeliges, zeitlich begrenztes Asyl in Russland. Die Amerikaner verfolgen ihn, als handele es sich bei Snowden um die Reinkarnation von Bin Laden. Dabei ist er nur ein einzelner Flüchtling; er ist ein Flüchtling, wie er im Buche steht. Wie soll, wie muss Deutschland mit Edward Snowden umgehen? Vor allem dankbar! Snowden hat Schutz und Hilfe verdient. Er ist ein klassischer Flüchtling.

Man soll, man muss Edward Snowden einen stabilen Aufenthaltstitel für Deutschland geben. Man soll, man muss Edward Snowden freies Geleit gewähren. Das alles ist rechtlich möglich. Stattdessen tun die Politiker der großen Koalition so, als sei die Macht Amerikas in Deutschland rechtssetzend. Deutschland braucht Aufklärung über die umfassenden Lauschangriffe der USA. Aufklärung ist der Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.

Snowdens Handeln mag in den USA strafbar sein, weil er US-Gesetze verletzt hat; wirklich kriminell sind aber die Zustände und die Machenschaften, die er anprangert. Snowden hat gegen US-Geheimhaltungsvorschriften verstoßen. Ist er deswegen Landesverräter? Nein. Verräter nennen ihn die, die selbst die Grundrechte verraten haben. Snowden hat dem Rechtsstaat Nothilfe geleistet.

Das verdient Anerkennung durch Justiz und Staat, in Deutschland und in Amerika. Snowden hat sich verdient gemacht um die rechtsstaatliche Demokratie. Er hat eine Diskussion in Gang gesetzt, die hoffentlich dazu führt, dass sich der Rechtsstaat schützt vor den NSA-Angriffen, die ihn gefährden. Einen deutschen Orden braucht er nicht unbedingt; davon kann er nicht abbeißen. Aber er braucht Schutz und Hilfe.

„Unglücklich das Land, das keine Helden hat“, sagt Galileo Galileis Schüler Andrea Sarti im Theaterstück von Bert Brecht. Amerika kann sich also eigentlich glücklich schätzen, dass es einen Snowden hat. Galilei erwidert seinem Schüler Sarti wie folgt: „Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“. Das stimmt auch.

Snowden ist ein Symbol für den zivilcouragierten Widerstand eines Einzelnen gegen ein mächtiges staatliches System. Er ist ein Winzlings-David, der gegen einen Super-Goliath aufgestanden ist. Snowden hat Widerstand geleistet und er tut das immer noch.

Widerstand ist ein Wort, das man mit dem Aufbegehren gegen ein diktatorisches Regime verbindet. Widerstand ist aber auch in der Demokratie, auch im Rechtsstaat notwendig. Widerstand heißt in der Demokratie nur anders: Er heißt Widerspruch, Zivilcourage, aufrechter Gang oder auch einfach – Edward Snowden.

Wenn Widerstand strafbar ist: Widerständler nehmen das in Kauf. Sie nehmen die Strafe oder die Mühen der Flucht in Kauf, um die Verhältnisse zu ändern, um Mißstände und Unrecht zu beseitigen.

Der verstorbene Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann hat einmal vom Widerstand in der Demokratie als dem „kleinen Widerstand“ gesprochen. Dieser kleine Widerstand müsse geleistet werden „damit der große Widerstand entbehrlich bleibt“. Manchmal ist dieser angeblich kleine Widerstand aber ein ganz großer. So ist es bei Snowden. Sein Widerstand erfasst seine ganze physische und psychische Existenz.

Danke, Edward Snowden.

Digitalcourage wird eine Million Aufkleber mit dem Bild Edward Snowdens und der Forderung nach Asyl für Edward Snowden in ganz Deutschland verbreiten. Die Aufkleber können kostenlos im Digitalcourage-Shop bestellt werden. Wir rufen dazu auf, die Aufkleber zahlreich und gut sichtbar anzubringen, zu fotografieren und unsere Forderung mit dem Hashtag #Snowden sowie den Bestell-Link auch online zu verbreiten! (reblogged von https://bigbrotherawards.de/2014/edward-snowden)

Jahr 2014 Kategorie Julia-und-Winston-Award (Positivpreis)

08/19/13

Freiheit statt Angst – was bedeutet das eigentlich?

Freiheit Statt Angst am 11. Oktober 2008

Am 07. September werden wir in Berlin auf die Straße gehen, um gegen den Überwachungswahn zu demonstrieren. „Freiheit statt Angst!“ lautet das Motto, unter dem seit 2006 Großdemonstrationen in Berlin stattfinden. Im Rahmen der Mobilisierung, hat die Demo-Orga einen Blogwettbewerb gestartet. Ingo Kurpanek bewirbt sich mit folgendem Artikel:

Um sich der Frage zu nähern, was „Freiheit statt Angst“ bedeutet, muss zunächst einmal ganz grundsätzlich darauf eingegangen werden, wovon eigentlich die Rede ist, wenn in diesem Kontext von „Freiheit“ oder „Angst“ gesprochen wird. Der Einfachheit halber, fange ich hinten an — nämlich mit der Angst. Angst ist eine emotionale Qualität, die mit einer undifferenzierten Gefahr einhergeht. Im Gegensatz zu Furcht ist Angst nicht zielgerichtet.

Das ist ein wichtiger Unterschied, der hier sehr genau beleuchtet werden muss, um den Satz „Freiheit statt Angst“ besser verstehen zu können.

Ich bin in der Lage mich vor etwas zu fürchten. Zum Beispiel vor dem laut bellenden Hund meiner Nachbarn (hätten diese nicht nur einen kleinen Spaniel und wäre er tatsächlich laut, wäre er vermutlich wirklich zum Fürchten). Damit ist mein negativer Affekt auf ein Ziel, nämlich den Hund, gerichtet. Ich kann diesem Hund ausweichen, ihn bekämpfen oder vor ihm weglaufen. Furcht macht zielgerichtete Gegenmaßnahmen möglich.

Andererseits kann ich Angst in der Dunkelheit haben (nicht aber Furcht vor der Dunkelheit, gleichwohl es mir möglich wäre, sie mit einer Taschenlampe zu bekämpfen). Meine Angst in der Dunkelheit ist unbestimmt. Sie bezieht sich auf nichts Bestimmtes, sondern auf viele Möglichkeiten, die sich im Bereich der Dunkelheit bewegen könnten. Vielleicht lauern dort ja Monster? Verbrecher? Ein Loch im Boden, in das ich stürzen könnte, weil ich es nicht sehe? „Aber Moment, dann fürchtest du dich ja doch! Nämlich vor Monstern, Verbrechern oder Löchern im Boden!“ Das stimmt. Es zeigt aber auch: Angst ist ein undifferenziertes Gefühl, das mit einer nicht genau bestimmbaren aber immerhin möglichen Gefahr einhergeht.

Gegen solche Monster hilft auch keine Totalüberwachung

Der letzte Satz macht deutlich: Sowohl Furcht als auch Angst haben als Bezungspunkte eine Gefahr. Er macht ebenso deutlich: Angst haben ist von der Empfindungsqualität her deutlich schlimmer als sich vor etwas zu fürchten. Denn eine Person, die sich vor etwas fürchtet, kann gegen diese Gefahrenquelle aktiv werden. Sie kann die Gefahr bekämpfen oder sich vor ihr in Sicherheit bringen. Eine Person die Angst hat, hat diese Möglichkeit nicht. Sie ist ihr hilflos ausgeliefert, weil es keinen festen Bezugspunkt gibt, gegen den sie sich richten oder vor dem sie sich in Sicherheit bringen kann. Angst hat hier eine lähmende Wirkung. In der Dunkelheit würde ich nicht weglaufen, denn ich könnte in Löcher fallen — und gegen die unbekannten Monster Schattenboxen ist zwar eine Option — aber eine, die im Grunde nur eine Panikreaktion und damit reine Energieverschwendung wäre. Wenn Angst sich zu dieser kopflosen Panik aufgeschaukelt hat, kann sie schnell noch unkontrollierbarer und noch schwerer zu beherrschen sein, als sie es inhärent ohnehin schon ist.

Kommen wir zum zweiten Teil, der Freiheit. Auch hier ist wohl eine Gefühlsqualität gemeint (denn sonst könnten Freiheit und Angst hier nicht als Gegensatzpaar mit „statt“ verbunden sein). Hier ist nun die Frage: Wie fühlt sich Freiheit eigentlich an? Ist es einfach nur „das fehlen von Angst“? Nein, ich denke, das wäre zu kurz gegriffen. Das Gefühl der Freiheit lässt sich vermutlich am ehesten mit einem anderen Gefühl beschreiben: Unbeschwertheit. Dabei kann es keine absolute Freiheit geben, sondern nur eine relative in Bezug auf das jeweils grundlegende System. Ich will auch diesen Satz anhand von Beispielen erklären. Ich habe die Freiheit, diese Zeilen in einem Café sitzend zu schreiben. Das System lässt aber nicht zu, dass ich einfach ohne zu bezahlen gehe. Ebenfalls kann ich nicht in den nächsten Jet steigen und losfliegen — dazu fehlen mir sowohl die Kenntnisse als auch die Qualifikation. Meiner Freiheit sind somit, relativ weite, Grenzen gesetzt.

Kommen wir vom allgemeinen zum Speziellen. Natürlich ist mit dem Satz „Freiheit statt Angst“ keine strukturbedingte Einschränkung gemeint. Vielmehr bezieht er sich auf zwei andere — systeminterne — Bereiche, nämlich „Überwachung“ und „Terrorismus“. Auch hier will ich wieder hinten anfangen, nämlich beim Terrorismus. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es mittlerweile über 120 verschiedene Definitionen von Terrorismus (mindestens eine davon von mir selbst ;-), von denen ich hier allerdings keine einzige anführen will. Vielmehr will ich auf die Wortbedeutung schauen. Denn es geht um die Verbreitung von Terror – und Terror bedeutet nichts anderes als „Angst“. Eine Person, die Terror verbreitet, hat also die Absicht anderen Menschen das oben beschriebene, undifferenzierte Gefühl von drohender Gefahr zu vermitteln, genauer, die Gefahr vor dem jederzeit drohenden Tod. Der Methode des Terrorismus ist es inhärent, dass nie genau klar wird, wann, wodurch, wer angegriffen und zu Tode kommen wird. Es ist wie mit der Dunkelheit: Es könnten jederzeit überall irgendein Monster aus dem Loch springen. Weglaufen zwecklos.

Wie wird nun dadurch aber das Gefühl von Freiheit bedroht? Nun, hier gibt es einen Zusammenhang zwischen der Information über die vielen möglichen Gefahren. Ich hätte niemals Angst im Dunkeln gehabt, hätte ich keine Horrorfilme gesehen und Gruselgeschichten gehört, in denen mir fortwährend erzählt wurde, welch schreckliche Abscheulichkeiten möglicherweise in der Dunkelheit lauern könnten. Mit Terrorismus verhält es sich ähnlich. Es passieren relativ wenig Anschläge mit relativ wenig Opfern. Durch Erdbeben und Tsunamis kommen jährlich viel mehr Menschen ums Leben als durch Terroranschläge. Und Erdbeben und Tsunamis sind mindestens genauso wenig vorhersehbar. Aber eben diese wenigen Anschläge finden eine möglichst große mediale Verbreitung und mit jedem neuen Gesetz, mit dem mehr Überwachung beschlossen wird, steigt in der Bevölkerung die Angst, dass irgendetwas, irgendwo, passieren könnte. Und zwar jederzeit. Um in der Metaphorik zu bleiben: Es ist so, als würde den Menschen immer wieder gesagt werden: „Passt auf, bald ist es Nacht. Jederzeit könnte plötzlich die Sonne untergehen. Seid auf der Hut. Denn wenn es erst einmal dunkel ist, dann kommen die Monster aus den Löchern. Und dann seid ihr alle verloren.“ Das große Problem daran: Das wird den Menschen mittags bei strahlendem Sonnenschein erzählt.

Genau in dieser Mechanik liegt das Problem. Seitens der Politik wird den Menschen nicht gesagt „Seid vorsichtig, es könnte ein Erdbeben geben. Passt auf, wenn ihr an Küsten lebt, es könnte zu einem Tsunami kommen.“ Vielmehr wird hier der psychologische Effekt ausgenutzt, dass wir Menschen vor den Dingen, die im Grunde am unwahrscheinlichsten sind, am meisten Angst haben. Statt Geld in die Verbesserung der Infrastruktur zu stecken, um die Menschen vor Erdbeben oder Tsunamis möglichst großen Schutz zu bieten (wobei hier, wie in allen Fällen, ultimativer Schutz unmöglich ist), wird vielmehr die Überwachung ausgeweitet.

Diese Überwachung erzeugt noch mehr Angst. Diesmal nicht nur vor einem möglichen Anschlag, sondern auch vor den Mitmenschen. Der Ausgangspunkt der Gefahr wird damit auf die Überwachten verlagert — so wie der Ausgangspunkt der anderen Angst in der Dunkelheit liegt. Mit anderen Worten: Ich habe keine Angst, wenn es hell ist. Und ich habe keine Angst, wenn ich allein bin. Denn die Gefahr geht von der Dunkelheit aus — und von anderen Menschen. Es ist fast so, als würde Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ Wirklichkeit: Die Hölle, das sind die anderen!

Taschenlampen für alle! Aufklärung hilft am besten gegen Angst.

Was bedeutet nun „Freiheit statt Angst“? Nicht weniger als: Hört auf, Angst voreinander zu haben! Lasst euch nicht einreden, dass unter euch Menschen lauern, die euch töten wollen! Lasst nicht zu, dass das Gefühl des freien, unbeschwerten Lebens durch ein Übermaß an Überwachung zunichtegemacht wird! Die einzige Angst, die ihr haben müsst, ist die vor der Angst selbst. Denn, wie oben beschrieben, hat Angst einen lähmenden Effekt. Und ein Mensch, ja eine ganze Gesellschaft, die vor Angst gelähmt ist, kann nicht mehr effektiv über sich selbst bestimmen. Im Gegenteil: Sie gibt sich der Fremdgesteuertheit hin, in der Hoffnung, dass „die anderen“, die keine Angst haben, ihr einen Weg aus der Angst heraus weisen können. Dabei vergessen sie aber, dass diese Angst künstlich erzeugt ist und dass diese „anderen“ keineswegs die Absicht haben, die Menschen von ihrer Angst zu befreien, sondern sie vielmehr zu kontrollieren und zu steuern. Dabei wird suggeriert, dass all die ergriffenen Maßnahmen die Sicherheit vor einem Anschlag erhöhen. Das ist ungefähr so, als würden in der Dunkelheit absichtlich alle Lichter abgeschaltet und gesagt: Wenn wir nur alle nackt rausgehen und uns von ein paar wenigen, die Taschenlampen haben, nur genau genug betrachten lassen, kann uns nichts passieren.

Dabei werden diejenigen, die angeleuchtet werden, deutlich hervorgehoben, um den Menschen noch mehr Angst zu machen.

Seid frei! Kauft euch Taschenlampen!

08/15/13

Medien-Mainstream & Netzkultur: Wikileaks – Edward Snowden

Thomas Barth

Die Netzkultur steht den Mainstreammedien heute kritisch gegenüber, von deren Aufmerksamkeit sie gleichwohl abhängig ist. Denn die klassischen Leitmedien Presse und Fernsehen machen immer noch den Kern der Öffentlichkeit aus, in welcher die politischen Debatten sich in gesellschaftliche Veränderungen umsetzen lassen – auch wenn jüngere Generationen ihnen ihrerseits zunehmend die Aufmerksamkeit entziehen. Kein Wunder, hatte doch die Medien-Industrie in Anti-Raubkopierer-Kampagnen ihre Verbraucher lange genug zu Verbrechern erklärt, statt vernünftige und faire Verfahren zu entwickeln.

WikiLeaks hatte erfolgreich den Bogen zurück zum Mainstream geschlagen, nicht zur ungetrübten Freude aller etablierten Meinungsmacher. Und wurde in Gestalt von Juian Assange dämonisiert. Mit Edward Snowden und The Intercept von Glenn Greenwald schlägt die Netzkultur jetzt zurück, bietet weniger Angriffsfläche für Personalisierung und macht es schwerer, die Inhalte zu verschweigen. Das Image der Medien leidet unter ihrer immer unkritischer werdenden Haltung gegenüber den Machthabern im eigenen Land bzw. Machtblock. Einzelne, die diese blinden Flecken aufzeigen wollten, gab es schon immer. Oft nahmen sie, von den Medien wenig beachtet, ein schlimmes Ende, wie etwa der Künstler Mark Lombardi, der westlichen Oligarchen und ihren Machtstrukturen nachging. Jeder, der mit westlichen konkurrierende Machteliten angreift, ist sich dagegen der medialen Aufmerksamkeit gewiss. Aber diese Einseitigkeit genügt offenbar nicht, unsere Journalisten verstehen sich immer öfter auch als Wadenbeißer im Dienste westlicher Herrschaftseliten, die über deren Kritiker hemmungslos herfallen.

Wie WikiLeaks zum Flop erklärt wurde

WikiLeaks gilt den Mainstream-Medien seit der ungefilterten Veröffentlichung tausender Cables als gescheitert. Doch es gibt zahlreiche offene Fragen. Etablierte Medien folgen einer vereinfachenden Erzählung, personifizieren komplexe Probleme, führen Standards an, die sie selbst kaum einhalten und brachten sich selbst gegen WikiLeaks in Stellung -selbst dann, wenn sie zuvor massiv von den Enthüllungen der Plattform profitiert hatten.

Today, 15 September 2014, WikiLeaks releases previously unseen copies of weaponised German surveillance malware used by intelligence agencies around the world to spy on journalists, political dissidents and others. Interaktion von Netzplattform und Medien bleibt problematisch

WikiLeaks ist aus der Hacker-Subkultur hervorgegangen und noch immer darin tief verwurzelt. Seit den Anfängen des Internet traten Hacker ein für freien Informationszugang aller bei vollem Schutz der Privatsphäre. Ihre natürlichen Widersacher waren die Geheimdienste, deren Job im Großen und Ganzen die umgekehrte Ausrichtung hatte. WikiLeaks bezeichnet sich in dieser Tradition auch als „Counter-Intelligence“ und „First Intelligence Agency of the People“ – als erster Geheimdienst des Volkes.

Die technologische Avantgarde der Hacker, deren ehedem esoterische Praxis der Online-Kommunikation heute die breite Masse zumindest der jüngeren Generationen erreicht hat, wurde von Anbeginn misstrauisch von den etablierten Medien beäugt. Heute ist sie selbstbewusst zur „Netzkultur“ gereift und ihr stehen neben staatlichen Institutionen auch die Medienkonzerne gegenüber, die von den neuen „Netzbürgern“ oft als „gnadenlose, gierige Content-Verwerter“ gesehen werden.

Kein Wunder, hat doch die Medien-Industrie in Anti-Raubkopierer-Kampagnen ihre Verbraucher so lange zu Verbrechern erklärt, bis sogar eine Piratenpartei in die politischen Arena stieg. Dabei sehen sich die Medien-Konzerne oft sogar als Säule der Demokratie und Pressefreiheit, vertreten aber zunehmend eigene Unternehmensinteressen. Der Antagonismus von Netzkultur und Medienindustrie schwingt unterschwellig mit, wenn etablierte Journalisten über Hackerprojekte berichten – besonders vielleicht, wenn diese – wie WikiLeaks – mit neuen Publikationsformen in die zentrale Sphäre des Nachrichtengeschäfts eindringen.

“Cablegate” und die mediale Schuldfrage

Am 1.9.2011 machte WikiLeaks, die Whistleblower-Plattform des weltberühmten Hackers Julian Assange, negative Schlagzeilen: Durch eine Sicherheitspanne wurden rund 250.000 US-Diplomaten-Depeschen aus dem WikiLeaks-Datenbestand im Internet zugänglich. Diese Depeschen sind, anders als bei vorherigen Depeschen-Publikationen, nicht redaktionell bearbeitet. Somit enthüllen sie womöglich unabsichtlich Namen von Informanten der US-Auslandsvertretungen. Die Aufregung in den Medien war groß und der Ruf von WikiLeaks, durch einen mysteriösen „Sex-Skandal“ um Assange bereits angeschlagen, drohte nachhaltig beschädigt zu werden. (Nachtrag 2022: Nils Melzer „Der Fall Assange“ stellte klar: Die Verleumdungen von Julian Assange mit einem angeblichen „Vergewaltigungsverdacht“ basierten auf einer geheimdienst-gesteuerten Justizintrige in Schweden.) Vielleicht sollten sogar Internet-Enthüllungsplattformen, die bereits als neue, den herkömmlichen Journalismus ergänzende Form der öffentlichen Aufklärung gesehen wurden, generell in Frage gestellt werden. Die Snowden-Enthüllungen und The Intercept konnten dieses mögliche Ziel jedoch unterlaufen, obgleich sie heute von den Medien tendenziell totgeschwiegen werden.

Die von Journalisten gegen die Whistleblower-Plattform und speziell Assange vorgetragenen Vorwürfe lauteten damals, WikiLeaks würde den Informantenschutz und die journalistische Ethik bzw. Sorgfalt vernachlässigen. Beide Vorwürfe erweisen sich jedoch bei genauerer Betrachtung als zumindest fragwürdig.

Was war geschehen? Bei der Weitergabe der Botschafts-Depeschen hatte WikiLeaks zunächst ein verschlüsseltes Datenpaket gepackt und dieses im Internet in Umlauf gebracht. Ziel war, die Daten auf zahlreichen verteilten Rechnern vor dem physischen Zugriff von Polizei, Militär und Geheimdiensten in Sicherheit zu bringen. Die spätere Jagd auf Assange mittels eines unter zweifelhaften Umständen zustande gekommenen Haftbefehls von Interpol zeigt, dass diese Befürchtungen nicht unbegründet waren.

Die so verschlüsselten Daten gelangten in die Hände der drei ausgewählten Presseredaktionen von „Spiegel“, New York Times und Guardian. Später übergab dann Assange den Redakteuren das geheime Passwort, so dass diese die Pakete öffnen und auswerten konnten. Soweit so gut. Doch zwei Journalisten vom Guardian publizierten 2011 auch ein Buch über die WikiLeaks-Geschichte und gaben dabei (versehentlich?) das Passwort bekannt. Sie hätten geglaubt, so später der Guardian, das Passwort sei nur zeitlich befristet gültig gewesen. Jeder Leser des Buches hatte nun die Möglichkeit, die zirkulierenden Datenpakete zu entschlüsseln und Identitäten von US-Informanten zu enthüllen.

Bei der Berichterstattung über den Vorfall ging im Folgenden vieles durcheinander. Die Tagesschau vom 1.9.2011 befragte in ihrem längeren Bericht einen ARD-Internetexperten, der kritisierte, eine Whistleblower-Plattform solle doch in der Lage sein, ihre Informanten zu schützen. In dieser ARD-Darstellung wurden also die hier betroffenen Informanten mit Whistleblowern durcheinander gebracht. Doch es geht in den Depeschen nicht um Enthüller, die öffentliche Aufklärung im Sinn haben, sondern um Zuträger der US-Administration, wie den FDP-Funktionär Metzner, der Interna aus den schwarzgelben Koalitionsverhandlungen verriet. Der Adressat für das Einklagen von Informantenschutz muss hier also nicht WikiLeaks, sondern die US-Administration sein. Es ist nebenbei bemerkt dieselbe US-Administration, die Assange zum Staatsfeind erklärte, ihm vermutlich die Konten sperren ließ, mutmaßlich seine Strafverfolgung wegen fadenscheiniger Vergewaltigungsanklagen und seine Auslieferung an die USA betrieb.

Und Bradley Manning?

Gleichwohl könnten die Depeschen fatale Folgen für Informanten haben, denn manche Zuträger der US-Botschaften müssen wohl mit bedrohlichen Konsequenzen rechnen –„in totalitären Ländern“, wie besorgte Kommentatoren der WikiLeaks-Datenpanne gern hinzufügten. Kaum einer erwähnte dabei jedoch einen Informanten von WikiLeaks selbst, der schon seit Mai 2010 leidet: Bradley Manning, der US-Soldat, der teilweise unter „harten“ Haftbedingungen in US-Militärgefängnissen gehalten wurde (Menschenrechts-Organisationen sprachen von Folter), um ein Geständnis und eine Aussage gegen Assange zu erzwingen.

Die Manning zugeschriebenen Enthüllungen brachten Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen seitens der US-Truppen ans Licht. Sie zeigten den Krieg in Irak und Afghanistan, der uns oft als hehre Friedensmission mit chirurgisch präzisen Schlägen präsentiert wurde, in seiner ganzen Breite und Grausamkeit. Hinter der offiziellen Version von Wiederaufbau und Krieg gegen den Terror erkannten manche in den WikiLeaks-Dokumenten einen zweiten Krieg: Die Strategie, innerafghanische Kontrahenten im Sinne von „teile und herrsche“ gegeneinander auszuspielen; etwa die entgegen der offiziellen Entwaffnungspolitik zugelassene Aufrüstung von Usbekenführer Dostum, der 2006 mit Warlords der Nordallianz einen Putsch gegen Karsai plante. Dies konnte zwar der US-Führung nicht gefallen, rechtfertigt aber nicht die unmenschliche Behandlung eines mutmaßlichen Whistleblowers. Ob mit Bradley Manning nicht einfach ein unbequemer junger Soldat zum Sündenbock gemacht wurde, um Enthüller von US-Geheimnissen generell einzuschüchtern, weiß bis heute niemand.

Die Darstellung von Leistungen von WikiLeaks und Assange erscheint in den Medien oft personalisiert und wenig auf politische Hintergründe ausgerichtet, so in den auf Bestsellerlisten gehandelten Büchern „Staatsfeind WikiLeaks“ und „Inside WikiLeaks“. Doch auch wo fundiertere Analysen vorgenommen werden, bleibt eine voreingenommene Haltung des etablierten Journalismus spürbar. So wird in einer Studie zum Krisenjournalismus das berühmte Video, mit dem sich WikiLeaks überhaupt erst einen Platz in den Hauptnachrichten erkämpfte, recht einsilbig beschrieben: „…ein WikiLeaks-Video, das den Angriff auf eine Gruppe von Menschen in Bagdad aus der Cockpit-Perspektive eines Kampfhelikopters zeigt. Bei dem Angriff kamen auch zwei Reuters-Journalisten ums Leben.“

Sogar den mit Bedacht von Assange gewählten Titel des Videos verschwiegen die Autoren: „Collateral Murder“, obwohl sie wenige Seiten zuvor noch von der Krisenberichterstattung gefordert hatten, „Euphemistische Wendungen wie… ‚Kollateralschäden‘… sollten durchschaut und vermieden werden.“ Assange & Co. hatten den Euphemismus nicht nur vermieden, sondern durchschaut und in seinem Zynismus entlarvt, aber dies wollten der Journalismus-Professor und sein Co-Autor wohl bei den Medien-Außenseitern von WikiLeaks nicht sehen. „Collateral Murder“ wurde gesendet und schnell vergessen, ebenso wie der Leidensweg des mutmaßlichen WikiLeaks-Informanten Bradley Manning.

Wichtiger als das reale Opfer Manning, schienen den Medien in Deutschland heute offenbar die infolge der Datenpanne möglichen Opfer der Publikation von US-Depeschen zu sein. Tatsächlich könnte man hier die Vernachlässigung journalistischer Ethik und Sorgfaltspflicht anführen. Aber gegen wen? Das Gros der Medien richtet seine Anklagen gegen Assange, etwa die Tagesschau vom 1.9.2011. Sie berichtete zwar, „WikiLeaks beschuldigte einen Journalisten der britischen Zeitung Guardian“, das Passwort publiziert zu haben, ließ aber im restlichen Beitrag keinen Zweifel daran, dass man die Schuld für die Panne bei der Internet-Plattform zu suchen habe. Fazit: WikiLeaks sitzt auf der Anklagebank und beschuldigt, womöglich nur um sich selbst zu entlasten, den Guardian. Diesem Muster folgen die meisten Berichte, aber ist das wirklich eine faire Bewertung?

Wer Standards verlangt, sollte sie selbst einhalten

Journalisten forderten von WikiLeaks seit deren Erscheinen in der Öffentlichkeit Verantwortung, Ethik und journalistische Standards ein, die man übrigens in der breiten Masse des Boulevard-Journalismus vergeblich sucht. Aber was ist mit den Qualitäts-Journalisten des britischen Traditionsblattes Guardian? Sollte eine naheliegende Frage nicht lauten: Welcher Teufel hat die Buchautoren geritten, ausgerechnet das echte Passwort in ihrer Reportage zu publizieren? Ein fanatisches Streben nach Authentizität um jeden Preis? Pure Trägheit, sich eine vergleichbare Phrase auszudenken? Für den Leser hätte ein Ersatzwort das Buch sicher nicht schlechter gemacht, für US-Informanten kann diese Unachtsamkeit der Autoren jedoch fatale Folgen haben.

Der Guardian hätte es wissen müssen

Die Guardian-Schreiber hätten wissen müssen, dass die verschlüsselte Datei mit den Depeschen überall im Netz zirkuliert, und dass sie mit diesem Passwort jeder würde öffnen können. Wäre es nicht ihre journalistische Sorgfaltspflicht gewesen, die Ungefährlichkeit ihrer „Enthüllung“ mit Assange abzuklären? Stattdessen konstruieren jetzt die medialen Ankläger eine kryptologische Bringschuld von Assange, auch in der Zusammenarbeit mit der bei diesem Projekt engstens verbündeten Presse jederzeit höchstes Misstrauen einkalkulieren zu müssen.

Assange hätte die zirkulierenden Sicherungskopien mit anderen Passwörtern verschlüsseln, die Passwörter mit einer Zeitbegrenzung versehen müssen usw. lauten die im Nachhinein besserwisserisch erhobenen Forderungen. Aber hätten nicht auch die seriösen Qualitäts-Journalisten und Buchautoren des Guardian einkalkulieren müssen, dass dem um den Globus gehetzten Assange und seiner zusammengewürfelten Hackergruppe Fehler unterlaufen könnten?

Netzkultur, Whistleblower und „einsame Helden“

Bei aller Hochachtung vor den Leistungen von Julian Assange – der Hacker-Subkultur scheinen die Gefahren bewusst zu sein, die mit seiner Person und auch mit der Fixierung auf einen „einsamen Helden“ verbunden sind.  Edward Snowden hat aus der sorgfältigen Beobachtung der medialen Verarbeitung des Falles Assange gelernt und sich bewusst selbst im Hintergrund gehalten. Die Ergebnisse dieses Ansatzes geben ihm Recht: Es fiel den Medien schwerer, durch Personalisierung von den aufgedeckten Problemen abzulenken. Man diskutiert überwiegend bis heute den NSA-Skandal und nicht den Fall Snowden, dem -anders als bei Assange- auch nicht derart massive Angriffe gelten.

Die Verantwortung wird von der Netzkultur aber vor allem von der Presse eingefordert. Deren zunehmendes Einknicken vor den Interessen herrschender ökonomischer und Machteliten wird von Netizens und Hackern als Hauptargument für die Notwendigkeit von Plattformen wie WikiLeaks und The Intercept angeführt.

So steht die Netzkultur den Mainstreammedien kritisch gegenüber, von deren Aufmerksamkeit sie gleichwohl abhängig ist. Denn die klassischen Leitmedien Presse und Fernsehen machen immer noch den Kern der Öffentlichkeit aus, in welcher die politischen Debatten sich in gesellschaftliche Veränderungen umsetzen lassen – auch wenn jüngere Generationen ihnen ihrerseits zunehmend die Aufmerksamkeit entziehen. WikiLeaks hat erfolgreich den Bogen zurück zum Mainstream geschlagen, nicht zur ungetrübten Freude aller etablierten Meinungsmacher. Die Netzkultur hat mit Snowden und WikiLeaks wichtige Schritte hin zu einem Inversen Panoptikum unternommen, das die Blickrichtung im globalen Überwachungsnetz umdreht: Wir alle werden von Geheimdiensten und Unternehmen beobachtet, aber wir beobachten zunehmend ebenfalls -die Machthaber im Zentrum der panoptischen Anlage.

02/6/13

Das Inverse Panoptikum

Autor: Thomas Barth, 1997

Ausgehend vom Begriff des Panoptikums, gilt es die Frage nach dem Subjekt neu zu stellen und nach einer politischen Utopie für den künftigen Cyberspace zu suchen. Es geht um den Kampf der Subjekte um ihre Autonomie durch Subversion der sich durch IT-Technik rapide ausweitenden panoptischen Machtmechanismen. Jeremy Benthams (1784-1832) Gefängnisbau, die architektonische Erfindung des Panoptikums, besteht aus einer runden Architektur, welche durch einen Beobachtungsturm im Zentrum die Zellen permanenter Beobachtung preis gibt. Die Gefangenen des Panoptikums sehen also die Wächter nicht, sind aber einer dauernden potentiellen Überwachung ausgesetzt, die ein diszipliniertes Verhalten erzwingen soll.

So könnte ein Panoptikum aussehen. Foto: I. Friman CC-BY-SA

So könnte ein Panoptikum aussehen. Foto: I. Friman CC-BY-SA


Michel Foucaults
Analyse der Disziplinargesellschaft sieht im Panoptikum den Kern des utilitaristisch-demokratischen Gesellschaftsmodells und betrachtet es gleichzeitig als Metapher der bürgerlichen Gesellschaft. Wichtiger als die konkrete architektonische Umsetzung erscheint Foucault die Idee eines „Panoptismus“, die in den verschiedensten Bereichen, in Schulen, Hospitälern, Fabriken Fuß fassen konnte: Die disziplinierende Beobachtung vieler durch wenige – Schülerinnen durch Lehrer, Arbeiter durch Vorarbeiterinnen, Bürger durch Verwaltungsbeamte. Bentham ging es einerseits darum, eine vollkommene Disziplinarinstitution zu entwerfen, aber andererseits auch um eine Methode, die Disziplinen vielseitig und diffus verteilt in der ganzen Gesellschaft wirken zu lassen.

Die laut *Michel Foucault* (1924-1986) im Panoptismus disziplinierten Individuen bilden die Basis für die modernen Massendemokratien. Panoptische Institutionen wurden ausgeweitet, um die Individuen so zu disziplinieren, dass sie einer modernen Demokratie würdig werden konnten – in den Augen der damaligen Machtelite. Foucaults Analyse interpretiert Benthams Erfindung als allgemeines Prinzip der Konstituierung des bürgerlichen Subjekts als Gleicher unter Gleichen, autonom und frei in den Grenzen, die die Zentralgewalt des Staates setzt und durch ständige Kontrolle aufrechterhält. Foucaults Motivation war dabei der kritische Hinweis auf den totalitären Aspekt dieser Sozialstruktur, auf die Leiden der Aussortierten, der Eingesperrten in Gefängnissen und Psychiatrien. Er zeigte die unmittelbare Verknüpfung von dadurch fragwürdig werdenden Freiheiten mit disziplinierenden Machtmechanismen auf. Wenn wir als Schulkinder lernen müssen stundenlang stillzusitzen, als Arbeiter zu tun, was die Chefin sagt, als Patientinnen für wirklich zu halten, was ein Psychiater nicht als wahnhaft ansieht, dann konstituieren wir uns damit als Subjekt. Dieses Subjekt passt in den Raum, der durch die Grenzen der Freiheit definiert wird, d.h. durch die körperliche Unversehrtheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Fernmelde-Geheimnis, das Recht auf Privateigentum usw. Bisher schien also ein Gleichgewicht zwischen Machtmechanismen und Subjekt-Konstitution zu bestehen.

Fingerabdrucklesegerät-pd

Fingerabdrucklesegeräte gibt es noch nicht so lange. Sie ermöglichen bessere Überwachung, können aber auch ausgetrickst werden.

Was ist wenn technische Möglichkeiten „dem Subjekt” neue Möglichkeitsräume eröffnen, also eigentlich das Subjekt erweitern? Oder wenn andererseits der Zentralgewalt neue Möglichkeiten der Überwachung und Disziplinierung zuwachsen — also eigentlich das Subjekt einer Neukonstituierung „von oben” unterworfen wird?
Das Gleichgewicht muss neu austariert werden, und das ist eine politische Fragestellung. Progressive oder Liberale werden die Möglichkeitsräume begeistert begrüßen und Überwachung ablehnen; konservativen Gemütern wird die Furcht vor der Freiheit die Begeisterung erschweren. Sie werden sich eher auf die Mißbrauchsmöglichkeiten konzentrieren, vor Kriminalität und Anarchie warnen und verstärkte Kontrollmechanismen fordern, d.h. verstärkte Technokratie. Die gewährten Freiheiten waren immer per se systemkonform beschränkt. Aber selbst diese Freiheiten werden heute von den Machteliten angegriffen, eingespart und herunter gekürzt.

Foucaults Einwand ist also das Subjekt sei nicht Gegenüber, sondern erstes Produkt der Macht. Wer sich im emanzipatorischen Kampf um die Freiheit des Subjekts wähnt, der wird sich dadurch im revolutionären Elan abgebremst fühlen.
Dennoch lassen sich postmoderne Ansätze zur Kritik des status quo nutzbar machen, wenn auch ihre Zielrichtung sich nicht so klar ausmachen lässt. Das Denken in ausschließenden Gegensätzen schafft zwar Eindeutigkeit, aber die zahlreichen so abgeleiteten Rezepte, Theorien und Ideologien haben bislang nicht überzeugt. Es ist vielleicht an der Zeit, sich der Ambivalenz zu stellen, auf die Vielfalt nicht länger mit Einfalt zu reagieren. Die Postmoderne richtet sich gegen Technokraten, die vom Gipfel ihrer „technologischen Kompetenz” herab, die Welt mit ihren Dogmen betreffs „inhaltlichen Kriterien von menschenswertem Leben” beglücken wollen. Vieles was noch immer als Antwort präsentiert wird, ist inzwischen in die Position der Frage gerückt. Es knirscht im Gebälk der alten Machtstrukturen, und die, die oben sitzen, können sich des ziemlich plausiblen Gedankens nicht länger erwehren, dass sie diejenigen sind, die am tiefsten fallen könnten. Die Angst der Technokraten, seien sie Ingenieure, Informatiker oder Geisteswissenschaftler, vor ihrer Entmachtung wird ein Haupthindernis bei der Gestaltung des Cyberspace sein. Die Frage danach, was wir mit dem kommenden Cyberspace machen wollen, hat sich als durchaus politische erwiesen, die keinesfalls nur technologischer Lösungen bedarf. Es wird dort auch um die Verteilung von Macht gehen, und zwar auf einer Ebene, die in die Konstituierung der Subjekte hineinreicht. Nun gibt es Subjekte, die sich schon lange mit den Cyberspace-Technologien befassen, ohne sich einer traditionellen Machtinstanz, etwa der akademisch verfassten Wissenschaft, zuordnen zu lassen: Die Hacker.

Mit den panoptischen Machtmechanismen hat diese Gruppierung insofern Bekanntschaft gemacht, als sie Ziel von Kriminalisierungen und Pathologisierungen wurde. Aus den Reihen dieser Gruppe werden seit vielen Jahren Forderungen erhoben, die etwas ungewöhnlich klingen, etwa nach „Freiheit für die Daten”, nach „mindestens weltweit freier Kommunikation für alle” aber auch nach Datenschutz. Als inverses Panoptikum könnte man nun ein „latentes Utopiemodell” bezeichnen, welches sich in der Praxis der Hacker spiegelt. Das dem teilweise kriminalisierten „Datenreisen”, zugrunde liegende Streben nach Informationsfreiheit widerspricht nur scheinbar dem ebenfalls geforderten Recht auf die eigene Privatsphäre (Datenschutz). Nicht der gläserne Bürger, wie ihn die computerisierte Verwaltung, das Superpanoptikum, schafft, ist gefordert, sondern die gläserne Bürokratie. Wer Macht ausüben kann, soll für den Bürger sichtbar gemacht werden. Der Sicherheit der persönlichen Daten komplementär ist also der Wunsch nach Beobachtung der Machtausübenden:

Für die staatliche Seite haben wir das so formuliert: Wir fordern die maschinenlesbare Regierung. Mit Hilfe der Computer und der Netzwerke ist so was einfach möglich. Dadurch ist es möglich, Daten transparent zu machen. Diese Technologie existiert dazu. Es ist nur die Frage, wie sie eingesetzt wird.

So Andy Müller-Maguhn, langjähriger Sprecher des CCC, der es einst bis zum europäischen Icann-Direktor brachte.

Die Cyberwelt bietet ungeahnte Möglichkeiten. Ob dieser Hacker gerade die Weltherrschaft übernimmt?

Die Cyberwelt bietet ungeahnte Möglichkeiten. Ob dieser Hacker gerade die Weltherrschaft übernimmt?

Der Wunsch wird deutlich, den überwachenden Blick umzukehren: Die Insassen des Panoptikums sind es leid, in ihren Zellen dem Blick des unsichtbaren Wächters preisgegeben zu sein. Sie fordern – zunächst noch – nicht den Ausbruch aus ihren Zellen, aber sie wollen eine Invertierung jener Kontrolle, die sich durch technologische Entwicklungen gerade zu potenzieren droht. Die auf ein Zentrum hin gerichteten Gegenmächte erweisen sich als Teil der Macht oder ihr Spiegelbild. Ein neuer Ansatz muss also indirekter und lokaler, an der Peripherie angesiedelt sein.

(gekürzte Fassung von)
Barth, Thomas, Das inverse Panoptikum: Ein postmoderner Ansatz für die
politische Informationsstruktur des Cyberspace, zuerst in: Informatik Forum,
Nr.2 1996, S.68-71.

02/6/13

Netzphilosophie beim 29C3

Auf dem letzten ChaosCommunicationCongress (kurz 29C3) habe ich einen Vortrag über Netzphilosophie, Technikpaternalismus und digitale Mündigkeit gehalten.Leena Simon: Vortrag auf dem 29C§

Der Vortrag hat viele Diskussionen angestoßen und den Diskurs weiter belebt.

Kritik blieb natürlich ebenfalls nicht aus und wurde von mir (soweit konstruktiv) auch aufgenommen. Dennoch möchte ich euch den Vortrag nicht vorenthalten. Er wurde gestreamt und kann auch nachträglich heruntergeladen werden.

Bitte bewertet den ihn auch im Pentabarf.

 

06/24/12

Facebookpflicht in Schule

Darf man Kinder von einer Schulveranstaltung ausschließen, weil ihre Bilder nicht auf Facebook veröffentlicht werden dürfen?

Intuitiv ist wohl allen klar: Es kann nicht angehen, dass Kinder von einer Schulveranstaltung ausgeschlossen werden, weil ihre Eltern der Veröffentlichung ihrer Fotos (auf Facebook) widersprochen haben.
Hier die philosophische Untermauerung zu diesem Gefühl.

Mitadlndem Finger werden die ausgeschlossen, die sich nicht an Faceook verkaufen wollen

Mit tadelndem Finger werden die ausgeschlossen, die sich nicht an Facebook verkaufen wollen.

Autor: Ingo Kurpanek

Golem.de kommentierte kürzlich eine Randnotiz der Goslarschen Zeitung, nach der sechs Grundschüler von einer Schulveranstaltung (ein Geschichtenerzähler besuchte die Klasse) an einer Grundschule in Braunlage ausgeschlossen wurden, weil deren Eltern es untersagt hatten, dass Fotos ihrer Kinder auf Facebook veröffentlicht werden dürfen. Das wirft einige Probleme auf, die nicht nur sozialer und politischer Natur sind, sondern auch philosophische Grundlagen betreffen. Es geht um die Frage der Selbstbestimmung – und darum, wie man diejenigen, die noch nicht vollständig über sich selbst bestimmen können vor möglichen Gefahren schützt.
Für Erwachsene ist es gänzlich normal, dass sie selbst darüber entscheiden
können, ob sie ihre Daten, Fotos oder sonstige Inhalte bei Facebook veröffentlichen und mit anderen Leuten teilen möchten. Wir gehen davon aus, dass jede erwachsene Person, die nicht unter etwaigen psychologischen Normabweichungen leidet, ein autonomes, sprich selbstbestimmtes, Wesen ist. In der Philosophie gibt es verschiedene Kriterien, die man erfüllen muss, um eine solche Selbstbestimmung zu erlangen.

Immanuel Kant machte hier in der Grundlegungsschrift der Metaphysik der Sitten den ersten Vorschlag: Ein vernünftiger Mensch muss, vermittels seines Willens, in der Lage sein, sich selbst ein Gesetz zu geben:

Der Wille wird als Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß, sich selbst zum Handeln zu bestimmen. (Kant, GMS S. 427 AA)

Im weiteren Verlauf wird deutlich, dass diese vorgestellten Gesetze solche sein sollen, die alle anderen vernünftigen Menschen nicht bloß als Mittel, sondern auch als Zweck an sich betrachten sollen. Einfach gesagt: Man darf Menschen zwar, als Mittel gebrauchen, aber nur dann, wenn man sich vorstellen kann, dass dieser Gebrauch in ein allgemeingültiges Gesetz einfließen könnte, dem dann auch jeder andere, vernünftige, Mensch beipflichten würde – und vor allem, wenn man berücksichtigt, dass diese Menschen auch selbst ein Zweck sind. Daraus wird leider nicht klar, was nun ein „Zweck“ ist – und Kant hilft uns hier auch wenig weiter. Es lässt sich aber annehmen, dass vernünftige Menschen nicht ausschließlich dazu benutzt werden dürfen, irgendetwas anderes zu erreichen.
Wer bis hier hin durchgehalten hat, wird sich fragen „Ja, schön – und was hat das jetzt mit der Veröffentlichung von Kinderfotos oder überhaupt irgendwelchen Fotos auf Facebook zutun?“
Die Antwort ist recht naheliegend, wenn auch nicht unbedingt sofort deutlich. Bevor wir zu den Kindern kommen, müssen wir aber noch einen Moment lang bei den Erwachsenen bleiben: Jeder vernünftige Mensch ist in der Lage sich selbst das Gesetz zu geben, dass Fotos von ihm auf Facebook veröffentlicht werden sollen. Aber Moment! Kann es ein vernünftiges Gesetz sein, Fotos von sich auf Facebook zu veröffentlichen? Und könnte ein vernünftiger Mensch einem solchen Gesetz überhaupt zustimmen? Bedenkt man die Tatsache, dass man der Kontrolle über seine Inhalte verlustig geht und Facebook die Vermarktungsrechte daran überträgt, so erscheint das äußerst fragwürdig.

Immerhin reden wir hier von einem Gesetzescharakter – was, ausformuliert, nichts anderes bedeutet als Folgendes:

Fotos von dir und/oder deinen Kindern sind auf Facebook zu veröffentlichen, auch dann, wenn du möglicherweise jedes Recht an ihnen verlierst und sie zur Vermarktung ohne monetäre Gegenleistung freigibst.

Noch problematischer wird es, wenn man bedenkt, dass die Grundschulkinder in diesem Falle (vermutlich!) als Mittel, nämlich dem der Werbung für die besagte Veranstaltung respektive der Schule und nicht als Zweck an sich gebraucht werden.
Nun, ich, als vernünftiger Mensch, könnte einem solchen Gesetz nicht zustimmen.
Womit widerlegt wäre, dass es zu einem allgemeinen Gesetz werden kann, dass ein jeder dazu verpflichtet ist, Fotos von sich oder seinen Kindern auf Facebook zu veröffentlichen. Daher kann hier auch keine Forderung danach abgeleitet werden kann. Wenn es also keine solche Pflicht gibt, mit welchem Recht werden dann die Kinder, deren Fotos nicht veröffentlicht werden dürfen, von der Schulveranstaltung ausgeschlossen? Der Ausschluss war unrecht.

Kommen wir nun etwas genauer zu den Grundschulkindern. Bei Kindern gehen wir davon aus, dass sie noch nicht vollständig autonom handeln können. Ihnen fehlt oft
noch die vernünftige Einsicht in die komplexen Zusammenhänge der Welt. Das ist für uns Erwachsene ja schon schwer genug. Kinder lernen erst noch, was es bedeutet, selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu handeln und die Konsequenzen ihres Handelns abzuschätzen. Nicht ohne Grund haben Eltern das Recht weitgehend zu bestimmen, was ihre Kinder dürfen und was nicht – und was mit ihnen geschehen darf und was nicht. Das gehört ganz einfach zu ihren erzieherischen Pflichten.
Wenn nun also Kinder, deren Eltern einer Fotoveröffentlichung auf Facebook widersprochen haben, von einer Schulveranstaltung ausgeschlossen werden, dann heißt das mit anderen Worten: „Gebt euren Kindern ein Gesetz, dem ihr selbst aus vernünftigen Gründen nicht zustimmen könntet – ansonsten schließen wir sie von einem Teil des kulturellen Lebens und der Ausbildung aus.“
Fassen wir also noch einmal zusammen: Was hier an der erwähnten Grundschule in Braunlage passiert ist, ist nicht nur fragwürdig, was den Umgang mit dem Datenschutz und der Erziehung zu medialer und informationeller Selbstbestimmung angeht. Es ist ein moralisch verwerflicher Eingriff in die Autonomie der Eltern – und vor allem der sich noch in Ausbildung befindlichen Autonomie ihrer Kinder. Die Vermutung, dass die Kinder, im kantischen Sinne, bloß als Mittel zur Werbung und nicht auch als Zweck an sich selbst gebraucht werden, ist naheliegend, zumal Facebook als privates Unternehmen alle auf ihm veröffentlichten Inhalte vermarktet. Ebenso ist jeder Inhalt, der auf Facebook veröffentlicht und geteilt wird indirekt ein Inhalt, mit dem Aufmerksamkeit für eine Person, ein Produkt oder ein Immaterialgut (Musikvideos etc.) erregt werden soll – mit anderen Worten: Werbung!

Total vernetzt - Nur wer sich anschließt wird nicht ausgeschlossen.

Total vernetzt – Nur wer sich anschließt wird nicht ausgeschlossen.

Genauer bezogen auf diese Schule ließen sich somit drei verschiedene Aspekte von Werbemitteln ausmachen:

1. Wirbt die Schule mit der Veröffentlichung von Fotos der Veranstaltung für sich selbst. Hier muss man sich aber fragen, warum dies nicht im „offenen Netz“ passiert und im kleinen, geschlossenen Rahmen von Facebook, in dem nur diejenigen etwas davon mitbekommen, die entweder gezielt danach suchen oder aber „Fans“ der Schul-Seite sind.

2. Es wird Werbung für Facebook gemacht! Möglicherweise geschieht dies, ohne dass es den verantwortlichen Lehrer überhaupt bewusst ist. Möglicherweise wollen sie nur „mit der Zeit gehen“. Dennoch sinkt mit der Teilnahme einer Schule als pädagogische Einrichtung die Hemmschwelle für die Nutzung des sozialen Netzwerkes. Und damit auch die Gefahr, dass über den Umgang mit den eigenen Daten nicht weiter nachgedacht wird. Hier stellt sich dann nämlich die Frage, ob Lehrerinnen und Schüler über ausreichend Medienkompetenz verfügen, um überhaupt zu wissen, wie mit den ins Netz gestellten Informationen umgegangen wird.

3. Lässt sich die Möglichkeit der Werbung durch Facebook nicht aus der Welt schaffen. Eine Schule und damit natürlich auch Kinder sind eine ideale Zielgruppe für Werbetreibende. So könnte man den Besuchern der Schul-Website (deren Daten über den Social Graph, was, einfach erklärt, eine Darstellungsmöglichkeit über Alter, Geschlecht, Herkunft, Familienstand und co. der Besucher einer Facebook-Seite ist, ermittelt werden können) gezielt Produkte anbieten. Von Schreibgeräten über Schulrucksäcken bishin zu Prepaid-Mobilfunkkarten ist hier einiges denkbar.

In welchem Sinne die Kinder, respektive ihre Fotos, einen Zweck an sich überhaupt darstellen könnten, erschließt sich ebenfalls nicht, denn immerhin sind sie ja gar nicht in der Lage, sich selbst aus vernünftigen Gründen das Gesetz zu geben, Fotos von sich auf Facebook zu veröffentlichen – denn was schon kein vernünftiger Erwachsener kann, das kann einem Kind erst recht nicht zugetraut werden.
Niemand sollte dazu gezwungen werden (und der Ausschluss von einer Schulveranstaltung ist nichts anderes als ein Zwang, der durch eine soziale Repression verursacht wird), sich selbst eine Regel aufzuerlegen oder eine Regel auferlegt zu bekommen, die er allein schon aus Vernunftgründen nicht akzeptieren kann. Jemanden dann, ohne dass es ein Recht darauf gäbe, vom kulturellen Leben auszuschließen, um ihn zu einer entsprechenden, seiner eigenen Handlungsautonomie widersprechenden, Handlung durch sozialen Druck zu zwingen, muss an dieser Stelle moralisch getadelt werden.
Soziale Repression für die Verweigerung einer Nutzung von Facebook gibt es in vielen Zusammenhängen und es handelt sich hierbei um ein prinzipielles Problem.
Wenn der Druck jedoch durch Schulen ausgeübt wird, z.B. auch von Lehrern, die Hausaufgaben o.ä. über Facebook organisieren (die Absicht, nah an den Schülerinnen zu unterrichten ist ja durchaus zu begrüßen) oder in diesem Fall, bekommt es eine ganz neue Brisanz. Zumal Lehrer (und Schulleiterinnen!) Vorbilder sind.

Quellen:

05/17/12

Startschuss für die Netzphilosophie

Und wieder entsteht ein neues Blog. Hier möchten wir mit philosophischen Ansätzen die Gedanken der Netzpolitik weiterdenken. Es geht darum, Philosophinnen aufzufordern, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, sich ihm anzunehmen und unser moralisches Gerüst an die neuen Umstände anzupassen.
Dabei sind auch ausdrücklich die Alltagsphilosphen eingeladen, mit uns gemeinsam über das Netz nachzudenken.
In diesem Blog wird es sowohl Crosspostings, als auch eigene Artikel geben. Wer in den Blog-Planet aufgenommen werden möchte, möge uns Kontaktieren, wer mitschreiben möchte sowieso.