10/5/25

Rezension: Zeitdiebstahl & Kapitalismus

Ole Nymoen/Olga Prader: Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit. Vom Zwang, für Geld zu arbeiten oder: Der größte Raubzug der Geschichte, MaroHeft, Maro Verlag Augsburg 2025

Thomas Barth

Digitalisierung und Netztechnologien sparen viel Zeit -aber wo bleibt die eigentlich? Muße und entspannte Lebensführung findet man weder online noch offline in weiter Verbreitung. Viele von uns führen geradezu ein gehetztes Leben. Gerecht geht es dabei auch nicht zu. Bei allen Effizienzgewinnen, steigenden Profiten und märchenhaftem Reichtum gerade bei den Big-Tech-Baronen erlebt doch eine Mehrheit sinkende Lebensqualität. Viele von uns arbeiten hart und werden dennoch, wie man zynisch dazu sagt, „abgehängt“. Andere werden daran krank, einige sogar obdachlos und viele landen am Lebensende in der Altersarmut. Schon Kinder wachsen in bitterer Armut auf. Wie kann das sein?

Unsere westlichen Volkswirtschaften wachsen immer weiter, das jährliche BIP klettert in schwindelerregende Höhen, doch bei den meisten Menschen kommt immer weniger vom gemeinsam produzierten Reichtum an. Im Gegenteil: Reallöhne sinken, Lebenshaltung wird teurer und der Druck auf die Arbeitenden steigt. Unternehmen und Politik fordern zudem, dass immer mehr und immer länger gearbeitet wird -mit dem Effekt, dass gewaltige Multimilliarden-Vermögen entstehen. Deren Besitzer sehen sich keineswegs in der Verantwortung für die Menschen, die diesen Reichtum erarbeitet haben. Und schon gar nicht für die Unglücklichen, die aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen im Arbeitsprozess nicht (mehr) verwertbar sind, die Armen, die Alten und die Kranken. Muss das alles so sein?

Was machen die Menschen eigentlich den lieben langen Tag? Und vor allem, warum? Erst quälen sie sich aus dem Schlaf, dann schuften sie stundenlang für den Reichtum anderer – und in der „Freizeit“ erledigen sie die Aufgaben, die ihnen von Staat und Patriarchat (Care-Arbeit!) auferlegt werden. Das Jubiläums-MaroHeft Nr. 20 zeigt auf, woran die meisten Menschen leiden – und wie viel lebenswerter die Welt sein könnte.“ (Verlagstext)

Gutes Leben versus Telematische Bewusstseinssteuerung

Es handelt sich um den pädagogisch angelegten Monolog eines offenbar allein lebenden Ich-Erzählers mit seinen beiden Katzen. Deren vom Erzähler imaginierte Sicht auf den Menschen bringt einen naiven Blick von außen auf uns, wie wir ihn aus Kultbüchern wie „Der Papalagi“ oder „Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland“ des von Faschisten ermordeten Sozialisten Hans Paasche (1881-1920) kennen.

„Manchmal, ganz manchmal“, so beginnt das Buch, habe er Angst, an dieser modernen Welt „verrückt zu werden“. Er blicke auf das Elend der Bettler und Obdachlosen, die ihr Essen aus dem Müll klauben müssen, auf die Banker auf der anderen Seite, „dazwischen Werbeplakate, die ein goldenes Zeitalter vorgaukeln“. (S.3) Es geht um Ungerechtigkeit, falsche Verteilung des Reichtums und die Bewusstseinssteuerung, die dies möglich macht. Da die Angst, verrückt zu werden oder für verrückt erklärt zu werden, ihn daran hindert, seine Frustration anderen Menschen mitzuteilen, wendet er sich in einem Monolog an seine beiden Katzen. Denn die feiern „den Müßiggang wie zwei echte Hedonisten“. (S.5)

Die Moritat auf die industrielle Moderne beginnt mit Marx und „Momo“: „Heute, Genossen, geht es um den größten Raubzug der Geschichte. Ich werde euch davon erzählen, wie den Menschen die Zeit gestohlen wird. (…) Keineswegs geht es um böse graue Herren, die den Menschen ihre Stunden und Tage abluchsen, die Zigarren rauchen und Mädchen jagen, wie es in manchem Kinderbuch steht.“ (So der dezente Hinweis auf die grauen Zeitdiebe aus Michael Endes Kinderbuchklassiker „Momo“.) Der Raubzug, auf den Nymoens Kritik ziele, sei dagegen unspektakulär, weshalb auch die wenigsten merken würden, „wie ihnen geschieht“. (S.6) Olga Prader steuert hierzu zwei kleine, in den Text eingestreute Zeichnungen bei, die eine fast abgelaufene Sanduhr und einen Springteufel zeigen, doch statt des aus dem Kasten springenden Teufelskopfes sehen wir auf der Sprungfeder eine Hand, die am Handgelenk eine Armbanduhr trägt. Solche mal humorvolle, mal verblüffende oder nachdenklich stimmende Bilder begleiten und bereichern den gesamten Text.

Es fängt schon mit dem Wecker an, der die Menschen frühmorgens aus dem viel zu knappem Schlaf reißt. Der erbitterte Kampf gegen die eigene Natur beginne, denn „die Arbeit ruft!“ (S.8) Die Katzen dagegen lassen sich nicht stören, ihre Vorfahren, die Säbelzahntiger, hätten die Menschen noch gefressen. Der Ich-Erzähler, der mit seinen beiden Katzen über den Wahnsinn der modernen Welt sinniert, startet einen Ausflug in die Geschichte der Menschwerdung. Vor drei Millionen Jahren hätte auch der Mensch noch mühsam Tiere totschlagen müssen, heute aber könnten ein paar Dutzend von uns tausende Andere ernähren. Dummerweise gehörten heute aber auch die Produktionsmittel ein paar wenigen Leuten, die anderen Menschen müssten denen ihre Lebenszeit verkaufen. Die Menschen teilten sich daher in die Gruppen der Eigentümer und der Arbeiter. (S.12) Die Yachtbesitzer stünden jenen gegenüber, die ihre kostbare Lebenszeit als Lohnarbeit verkaufen müssten, für Geld. Die Reichen sind nie reich genug, denn der Bedarf nach Geld sei nie gedeckt. Deshalb sei es „für die Reichen auch wunderbar, wenn möglichst viel gearbeitet wird. (…) Die Besitzenden wollen möglichst viel fremde Zeit der anderen beanspruchen und dafür möglichst wenig bezahlen.“ Es sei ein dauerndes Ringen darum, wie viel gearbeitet werden müsse, „am Tag, in der Woche, im Leben“ (S.14) Dabei sei die Arbeit längst so effizient, dass die geschaffenen Güter für alle ausreichen würden. Soweit ein kindgerechter Kommentar auch zur derzeitigen, von Bundeskanzler und Arbeitgeberverbänden losgetretenen Debatte um eine angeblich notwendige Verlängerung von Arbeitszeiten.

Müde schleppt man sich also zur täglichen Tretmühle der immer längeren, meist stupiden Arbeit. Nur ganz wenige hätten „das Glück, etwas Aufregendes zu tun und prächtig daran zu verdienen.“ (S.22) Die meisten Menschen rackern dagegen, bis sie an Körper und Geist zerschunden seien, dabei noch ständig überwacht und zur gegenseitigen Konkurrenz angetrieben. Wenn die Plackerei wenigstens sinnvollen Zwecken dienen würde. „Aber das alles bloß, um den Reichtum einiger weniger zu vergrößern? Gaga!“ (S.24)

Sogar das Leben, Wohnen und Aufziehen der eigenen Kinder werde dabei deformiert, als Care-Arbeit an die entmenschlichende Entfremdung angeglichen. Aufbegehren gegen den Wahnsinn sei verboten, werde absurderweise selber als Verrücktheit verfolgt und an den Pranger gestellt (die Absurdität unseres inzwischen auch noch digitalisierten Kapitalismus spart sich Nymoen vielleicht noch für eine Fortsetzung auf). Das dafür verantwortliche Menschenbild, zwinge die Menschen in die Tretmühle der Arbeit, die ihre Zeit unablässig vernichte. Nymoen wird angesichts dessen, was als „normal“ oder gar als menschliche Natur von Politik, Medien und sogar im Bildungswesen propagiert wird geradezu sarkastisch:

„Dass man so früh aufsteht, dass man kaum gerade gehen und erst recht nicht denken kann: Die einzig wahre Menschennatur! Dass die einen in Palästen hausen, während die anderen unter Brücken schlafen: Die einzig wahre Menschennatur! Dass wir uns millionenfach ausbeuten und abschlachten lassen: Die einzig wahre Menschennatur!“ (S.25)

Geld sei vielen Menschen das Maß aller Dinge, das Leben bleibe auf der Strecke, denn trotz Modernität und Maschinen bleibe an freier Zeit eigentlich nichts. Der Ich-Erzähler schwankt zwischen Auflehnung und Anpassung. Manchmal, so Ole Nymoen, breite sie sich auch in ihm aus: „Die Gewalt und die Verächtlichkeit, die er beim Blick aus dem Fenster und in den Fernseher geboten bekommt…“ Dann wolle er „alles abreißen, abfackeln, abwracken“; (S.28) aber manchmal spüre er auch den entgegengesetzten Impuls, begeistert mitzumachen, aufzugehen in dieser Welt, „sich einzurichten und hübsches Kapital daraus zu ziehen.“ Aber wenn er dann in stillen Momenten ehrlich zu sich sei, finde er doch „dass beide Reaktionen gleichermaßen feige sind.“ (S.29) Vielleicht sei es an der Zeit, seine Katzen nicht länger „vollzutexten… mit der Gruselstory vom größten Raubzug der Geschichte“, überzeugen müsse man „die Menschen da draußen, die den ganz alltäglichen Wahnsinn als alternativlos ansehen.“ (S.32) Von Thatchers „there is no alternative“ bis Merkels „alternativlos“ bringt Nymoen hier den Neoliberalismus in seiner argumentativen Erbärmlichkeit zur Sprache.

Diesen Menschen müsse er klar machen, dass unser Leben ganz anders aussehen könne. Die Lösung hatte er vorher schon prägnant auf den Punkt gebracht: Wir brauchen einfach mehr Zeit für die Menschen. Seine Erzählung sei eine Einladung in eine andere, menschlichere Welt. Und wenn er Glück habe, würden viele andere Menschen ihm helfen, sie weiter zu schreiben. Sein Schlusssatz klingt wie ein Hilferuf: „Das kann er nämlich nicht alleine.“

Eine Moritat auf die kapitalistische Moderne

Ole Nymoen und Olga Prader greifen in ihrer teils erheiternden, teils anrührenden Moritat auf die kapitalistische Moderne bedeutsame Fragen der Gegenwart auf. Die Digitalisierung, soziale Netze und Mobilphones bleiben jedoch ausgespart -man bewegt sich auf dem Niveau der Fernseh-Gesellschaft, vermutlich eine künstlerisch gewählte Vereinfachung. Der etwas unreflektierte Umgang mit der Bezeichnung als „verrückt“ wird dadurch tolerabel, dass die Lebensweise der „Normalen“ im Kapitalismus ebenso als verrückt gekennzeichnet wird, wie sich auch der Ich-Erzähler bewusst ist, dass seine Kritik und Lösungsvorschläge von diesen „Normalen“ sicherlich als „verrückt“ abgestempelt würden (vielmehr jetzt werden dürften). Die besondere Diskriminierung psychisch Kranker in der hektisch digitalisierten und disziplinierten Arbeitsgesellschaft wird nicht thematisiert, schwebt aber im Umgang mit dem Prädikat „verrückt“ bedrohlich über dem Protagonisten.

Nicht in jedem Detail ist die Analyse sattelfest, so endet etwa die Geschichte der Jäger und Sammler sicher nicht bei den frühen Hominiden vor drei Millionen Jahren. Doch die Moritat überzeugt mit Sprachbildern und bleibt in ihrer Aussage ebenso prägnant wie nachvollziehbar. Marxistisch inspirierte Kapitalismuskritik wird beinahe kindgerecht veranschaulicht und mit aktueller Kulturphilosophie und Soziologie verbunden.

Beschleunigungsgesellschaft und Entfremdung

Der bekannte Soziologe Hartmut Rosa kritisierte etwa die heutige „Beschleunigungsgesellschaft“ in der die Produktivkraft von Zeitdruck und ständiger Verfügbarkeit ausgenutzt wird, um immer schneller immer mehr Profit zu generieren. Entfremdung wird nicht nur individuell erlebt, denn Institutionen, Arbeitswelten, digitale Medien und urbane Strukturen tragen dazu bei, dass sich Menschen wie Zahnräder in einem größeren System fühlen. Rosa fordert, Entfremdung nicht nur als individuelles Misslingen, sondern als strukturelles Phänomen zu sehen und argumentiert, dass moderne Gesellschaften durch zunehmende Temporalität und Beschleunigung gekennzeichnet sind. Die manifestieren sich in Arbeit, Technologie, Kommunikation und hektischer Mobilität der immer disponibler gemachten Arbeitenden bzw. in ihrer so gesteigerten Entfremdung.

Entfremdung entsteht laut Rosa, wenn Beziehungen zu Menschen, Orten und Dingen nicht mehr in einer sinnhaften, resonanten Weise erlebt werden. Die von ihm propagierte Haltung der „Resonanz“ bedeutet dagegen eine gelingende, wechselseitige, lebendige Verbindung. In einer beschleunigten Welt bricht diese Qualität oft ab, weil Aufmerksamkeit zerfällt, Nähe zu den Mitmenschen abnimmt und Dinge nur noch als Mittel dienen. Entfremdung sieht Rosa somit nicht primär als Leiden einzelner Subjekte, sondern als Fehlverhältnisse in den Bezügen zu Zeit, Ort, anderen Menschen und Dingen. Es geht um die Qualität der Verbindungen, nicht nur um innere Zustände. Er argumentiert, dass moderne Gesellschaften durch strukturelle Beschleunigung soziale Räume auf Distanz halten.

Die Beschleunigung erzeuge ein permanentes Gefühl des Verdrängens und der Zeitnot, wodurch Individuen sich entfremden von sich selbst, anderen Menschen und der Welt. Motiv der Moderne ist das Versprechen einer umfassenden Weltbeherrschung, die auch das Glück des Subjekts garantieren müsste. Jedoch sieht auch Rosa, dass die Beherrschung des Anderen letztendlich kein Glück hervorbringt, sondern ins Gegenteil umschlägt, und beklagt, systematische Eskalationstendenz veränderten „das menschliche Weltverhältnis durch Dynamisierung in diesem Steigerungssinn“.

Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit erreicht vielleicht nicht die Analysetiefe der Theorien von Rosa, findet dafür aber verständlichere Worte für diese Misere. Und weist auch klarer auf eine mögliche (aber für „verrückt“ oder „extremistisch“ erklärte) Lösung hin: Schluss damit, den Interessen der Besitzenden in den Medien nach dem Munde zu reden und in der Politik ihren Profit auf Kosten der Mehrheit zu steigern.

Abschließende Bewertung

Das Werk besteht aus einem Heft nebst eingelegtem DIN A3-Poster, welches das Titelbild und den Text begleitende Zeichnungen aufgreift: Die Karikatur eines emsigen Menschen mit vier hektisch tätigen Armen wird schlangenförmig umkreist durch einen Ring von aneinander geknüpften Armbanduhren, der selbst wieder von Symbolbildern eines „Guten Lebens“ umgeben ist. Stilsicher dem Text zugedacht bebildern Olga Praders Zeichnungen die von Ole Nymoen entwickelte Lehr-Moritat zur modernen Lebens- und Zeitempfindungslage. Meist einzeln oder zu zweit in den Text eingestreut, zuweilen ganz- oder doppelseitig bilden sie die visuelle Gliederung des durchgehenden, sonst nicht weiter unterteilten Textes.

Nicht nur als bibliophiles Schmuckstück zeigt das Maro-Heft die Absurdität moderner Wirtschafts- und Arbeitsorganisation, auch die ungerechte Verteilung der Güter wird ironisierend infrage gestellt. Was uns im Alltag kaum je bewusst wird, führt Ole Nymoen hier sprachlich bilderreich vor Augen, unterstützt durch bezaubernde Zeichnungen von Olga Prader. Empfehlenswert für Schulen als auflockerndes Unterrichtsmaterial und für uns alle bei Frustration über Hektik, Schlaf- und Zeitmangel.

Ole Nymoen/Olga Prader: Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit. Vom Zwang, für Geld zu arbeiten oder: Der größte Raubzug der Geschichte. Ein hedonistisches Heft, Maro Verlag Augsburg 2025, 36 Seiten, fadengeheftet, 16,00 Euro, ISBN 978-3-87512-635-8

Olga Prader ist frz.-schweizerische Illustratorin und Grafikdesignerin, arbeitete für das „Zeit“-Magazin, das Schauspielhaus Zürich und das MoMA. Ole Nymoen ist Journalist und Buchautor, publizierte 2025 das Buch „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde. Gegen die Kriegstüchtigkeit“, hostete mit Wolfgang M. Schmitt den Podcast „Wohlstand für alle“. Das Werk erschien in der Reihe „MaroHefte“, wo laut Maro Verlag Essays auf Illustrationen treffen „zu Themen, die uns unter den Nägeln brennen, zu Politischem, Feministischem und Tabubehaftetem. Jedes Heft wird besonders gestaltet und mit Originaldruckgraphiken mit bis zu 5 Sonderfarben gedruckt, fadengeheftet.“ Der Maro Verlag bewegt sich zwischen Sozialpolitik, Kunst und Literatur und publizierte Bücher von Künstlern und Autoren wie Charles Bukowski, Jörg Fauser, Manfred Ach oder Klaus Groh sowie Fachbücher zu Textildesign, Sozialpädagogik, Sozialpolitik und Umweltökonomie.

Rezension: Ole Nymoen/Olga Prader: Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit. Vom Zwang, für Geld zu arbeiten oder: Der größte Raubzug der Geschichte, Maro Verlag Augsburg 2025

05/24/24

Theorien des digitalen Kapitalismus

Carstensen/Schaupp/Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus: Arbeit, Ökonomie, Politik, Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2023, 533 Seiten, 28,00 Euro (Leseprobe/Inhaltsverzeichnis)

Thomas Barth

Wie kann kritische Sozialwissenschaft den digitalen Kapitalismus, heute theoretisch fassen? Wie kann sie die Frage beantworten, ob sich der Kapitalismus angesichts der gegenwärtigen Digitalisierung grundlegend verändert? Der vorliegende Band gibt einen Einblick in theoretische Analysen, Zeitdiagnosen und Debatten eines digitalen Kapitalismus. Er bespricht entlang der Felder Arbeit, Ökonomie, Politik, Kultur und Subjekt die Formen und Auswirkungen des digitalen Kapitalismus. Eine integrative Theorie des digitalen Kapitalismus scheine zwar unmöglich, gleichwohl wolle man „Verbindungen der disparaten Ansätze“ ausleuchten (Backcover). Der Begriff „Kapitalismus“ deutet es an: Die meisten Autor:innen des unübersichtlichen Sammelbandes beziehen sich theoretisch auf Karl Marx oder wenigstens auf freudomarxistische Theoretiker, etwa auf Adorno oder Habermas.

Das Taschenbuch mit einem Umfang von 533 Seiten gliedert sich in vier Kapitel mit insgesamt 25 Unterkapiteln nebst Einleitung. Die Kapitel heißen: 1. „Arbeit“, 2. „Ökonomie“, 3. „Politik und Öffentlichkeit“ sowie 4. „Kultur und Subjekte“. Die Zuordnung der Beiträge ist dabei nicht immer einsichtig, etwa wenn die sehr lesenswerten Texte von Marisol Sandoval zu digitalen Genossenschaften und Felix Stalder zu Commons und Commoning nicht unter Ökonomie, sondern im dritten bzw. vierten Kapitel landen.

Progressive Perspektive auf Digitalisierung

Eine progressive Perspektive wird markiert durch Berichte über Arbeitskämpfe gegen Digitalkonzerne, deren unethische Geschäftspolitik, feministische Beiträge zum Thema Care und Digitales sowie ökologische Kritik –bei Thomas Barth (nicht identisch mit dem Rezensenten), auf dessen Text „Nachhaltigkeit im digitalen Kapitalismus“ jedoch niemand weiter eingeht. Oft wird auch versucht, Kulturkritik am digitalen Kapitalismus zu üben, politisch die Sache der (digital) Arbeitenden gegen die Seite des (Dotcom-) Kapitals zu vertreten oder marxistische Begriffe auf die Thematik der Digitalisierung anzuwenden.

Der Marxismus wurde oft tot gesagt, erweist sich aber langlebiger als erwartet. Der renommierte Suhrkamp-Wissenschaftsverlag brachte im Herbst 2023 diesen Sammelband überwiegend marxistischer Theoretiker:innen zum „Digitalen Kapitalismus“ heraus. Deren Beiträge sind fast alle politisch links, feministisch, ökologisch, marxistisch. Aber sie dokumentieren auch eine offenbar langjährige hartnäckige Weigerung vieler Marxist:innen, sich mit politischen Debatten rund um Informationsgesellschaft, Netzwerkkultur, Web2.0 und zuletzt „Digitalisierung“ auseinanderzusetzen. Erst mit der Plattformkritik scheint hier eine Debatte eingesetzt zu haben, der aber marxistische Perspektiven punktuell durchaus nützlich sind.

So entmystifiziert und kritisiert etwa Jamie Woodcock Dotcom-Konzerne und setzt im Text „Plattformarbeit“ (S.85-101) bei Nick Srniceks „Typologie der Plattformen“ an. Plattformen profitieren von Netzwerkeffekten und ihrer Tendenz zu Monopolisierung und kämen dem nahe, was Marx einen „Kaufmannskapitalisten“ nannte, der billig kaufe und teuer verkaufe (S.90). Auf einem abstrakten Niveau werden hehre PR-Selbstdarstellungen von Woodcock auf ein simples Profitmodell zurecht gestutzt, das nur als Trittbrettfahrer des Neoliberalismus seine Erfolge feierte:. Die Zunahme der Plattformarbeit sei Teil des neoliberalen „Wandels von Arbeit, Gesellschaft und Staat“ (S.93) mit grassierender Aushöhlung von Arbeitsrechten, Prekarisierung und Abwälzung von Risiken auf die Arbeitenden. Dabei würde etwa bei Amazon Mechanical Turk menschliche Arbeitskraft als „billigere Form von Software“ ausgebeutet (S.97). „Plattformen haben sich bisher als Laboratorium für das Kapital erwiesen, könnten aber auch ein Testfeld für neue Formen des Widerstands und der Organisation von Arbeitnehmer:innen darstellen.“ (S.101)

In diesem Sinne betont etwa Simon Schaupp die Möglichkeiten von Betriebsräten, bei Digitalisierung in Unternehmen Datenschutzgesetze für die Verteidigung von Arbeitnehmerrechten zu nutzen (S.334ff.); Tanja Carstensen widmet sich dem digitalen Ringen um Handlungsfähigkeit in Kämpfen, die um gender, race, class und ability geführt werden (S.404) und kritisiert mit Nancy Fraser die idealisierte Vorstellung von Öffentlichkeit nach Habermas (S.412); das Autorentrio Nachtwey/Truffer/Seidl kritisiert den „solutionistischen Geist des Kapitalismus“, aber ohne den Transhumanismus beim Namen zu nennen (S.458ff.); Helen Hester blickt zurück auf die Geschichte des Cyberfeminismus, der Beziehung von Frau und Technik vom Flechten und Weben über die feminisierte Schreibmaschine bis zum Cyberpunk-Genre (S.424ff.), seltsamerweise ohne dabei Donna Haraway zu erwähnen, obwohl sie sich auf deren Konzept vom situierten Wissen beruft (S.434); Jodi Dean ruft zum Kampf gegen den digitalen Neofeudalismus auf, der Arbeitende zu rechtlosen Bauern in einem „Game-of-Throne-Machtkampf“ (S.439) degradiert, beruft sich dabei auch auf den sozialistischen Ökonomen Yanis Varoufakis, den griechischen Ex-Finanzminister, dessen Europa-Wahlkampf-Auftritt in Deutschland jüngst verboten wurde -was man als Zeichen feudaler Willkür sehen könnte. Aus dem Wimmelbild kritischer Ansätze wichtige Argumentationsfiguren und Diskursarenen herauszufiltern ist verständlicherweise schwierig. Eine kritische Rezension muss einige Defizite des Sammelbandes benennen.

Digitalisierung und Informatisierung

Die Einleitung klärt zunächst die Begriffe Digitalisierung und Informatisierung, wobei letzere die Vergegenständlichung geistiger, regulierend-orientierender Tätigkeiten meint. In Zeichen oder Information erlange dabei nur ein Teil menschlicher Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissens „eine eigenständige Gestalt“. Andere Kommunikationspartner:innen müssten die vergegenständlichten Informationen dann wieder in ihr Wissen und ihre Erfahrungen einbetten. Diese kooperative „Arbeit an den Zeichen“ (Fn1) bediene sich auch unterschiedlicher Informationstechniken. Informatisierung meine in einem zweiten Sinn die „Materialisierung des Informationsgebrauchs“ (Fn2) in Informationssystemen. Es ginge hier um den organisierten und vergegenständlichten Umgang mit Informationen. Digitalisierung sei demgegenüber die Formalisierung, Reduktion und Integration von Information die in virtuellen Modellen gipfle, welche Tätigkeiten, Arbeit und der Herstellung von Technik vorausgehe (S.10).

Gleich die erste Fußnote der Einleitung verweist auf einen posthum erschienenen Band mit Schriften von Arne Raeithel (1943-96) „Selbstorganisation, Kooperation, Zeichenprozess“ (1998), die zweite auf den Beitrag von Andreas Boes und Tobias Kämpf, „Informatisierung und Informationsraum: Eine Theorie der digitalen Transformation“ (S.141-161), so als hätten diese Raeithels für das Thema des Sammelbandes einschlägige Arbeiten weiterentwickelt. Leider nehmen Boes und Kaempf keinen Bezug auf Raeithel und auch sonst keiner der Beiträge -die drei weiteren Texte der Herausgeber:innen inbegriffen.

Boes und Kämpf blicken in ihrem Beitrag auf die Informatisierung als zentrales Element der Produktivkräfte, aus „historischer Perspektive“ sogar als „Teil der conditio humana“ sowie auf Information als soziale Kategorie (S.143). Wir werden sehen, dass Arne Raeithel in den 1980er und –90er Jahren die Ehre hatte, diese drei „konzeptionellen Säulen“ nicht nur als grundlegend vorauszuahnen, sondern zumindest teilweise auch bereits tiefer und detaillierter auszuarbeiten als Boes und Kämpf in ihrem Text erkennen lassen. Sie monieren am Stand der Forschung, dass wegen der Marx’schen Fokussierung auf industrielle Handarbeit die „Sphäre der Kopfarbeit“ vernachlässigt wurde. Ihr „Konzept der Informatisierung“ will „an dieser analytischen Leerstelle“ ansetzen, doch die vermeintliche Leerstelle hätte sich durch Lektüre von Raeithel mehr als schließen lassen. Ihr historischer Rückblick auf Zeichensysteme bis Buchdruck (S.150ff.) bleibt deutlich hinter Raeithels Geschichte der „symbolischen Herstellung sozialer Kohärenz“ zurück, der Vor- und Frühgeschichte bis Ethnologie aufbietet (Raeithel 1998, S.189-208) vgl. Raeithel 1996.

Die multimediale Welt des heutigen WWW konnte Raeithel noch nicht kennen, doch der von Boes und Kämpf als Fazit ihrer Analyse präsentierte, von „Bild, Ton, Zeichen usw.“ (S.154) erfüllte „Informationsraum“ überzeugt nicht wirklich: Er sei sozialer Handlungsraum, durchdringe die Gesellschaft, „eröffne das Potenzial für einen egalitären Modus der gesellschaftlichen Produktion von Wissen“ (S.158). Dies sind heute Gemeinplätze oder schon lange fragwürdig gewordene Hoffnungen der „Kalifornischen Ideologie“ des Slicon Valley (Barth 1999). Die Raummetapher für das Internet stammt aus den 80er-Jahren, der Cyberspace, den die Matrix-Filme auf die Leinwand brachten. Sie ist seit einer guten Dekade als ein Ordnungsmodell des Internets in den Medienwissenschaften kanonisiert –Raummodelle: Cyberspace, Portal, Plattform (Bleicher 2010, S.46 ff.); heute sind die Raummodelle nur noch eines von einem Dutzend Ordnungsmodelle, von „Dispositiv“ bis „Suchmaschinen“ (Bleicher 2022, S.109 ff.) –hier scheinen den Marxisten schlicht wichtige Basiskenntnisse aus der einschlägigen Nachbarwissenschaft zu fehlen. Das ist schlecht, wenn man ein nur interdisziplinär fassbares Thema bearbeiten will.

Arne Raeithel und Mark Poster als vergessene Klassiker

Thomas Barth (der Rezensent, nicht der Beiträger zum Suhrkamp-Band) zeichnete 1995 im Exkurs „Marxistische Ansätze zur Informationsgesellschaft“ die marxistische Begriffsentwicklung zur Informatisierung u.a. beim US-Marxisten Mark Poster und beim marxistischen Psychologen Arne Raeithel nach (Barth 1997, S.79ff.). Poster entwickelte aus dem Marx’schen Begriff der „Produktionsverhältnisse“ unter Bezug auf postmoderne Theorie (Baudrillard, Foucault) seinen auf die kommende Informationsgesellschaft zugeschnittenen Begriff der „Informationsverhältnisse“ -aber keiner der Suhrkamp-Beiträge bezieht sich auf Poster. Am weitesten ausgearbeitet war die marxistische Analyse der Digitalisierung, die man damals noch Informatisierung nannte, m.W. jedoch bei Arne Raeithel.

Raeithel analysierte soziale Kommunikation als Form gesellschaftlicher Arbeit, basierend auf einem vergegenständlichten Begriff von Sprechhandlungen bzw. generell von Information als Trägerin einer symbolisch geteilten Welt (Raeithel 1989). Dies greift der zweiten „Säule“ der Konzeption von Boes und Kämpf vor, Informatisierung als soziales Verhältnis und gesellschaftlichen Prozess zu verstehen, wobei Raeithel mit „Zur Naturgeschichte der Zeichenprozesse – Drei Stufen der Entwicklung von Kommunikation und Denken“ (Raeithel 1998, S.243-255) auch die dritte „Säule“, die historische Perspektive auf die informatorische conditio humana vorwegnahm. Dabei schloss Raeithel, der zu den sehr frühen Anwendern von Computer und Internet zählte und selbst programmieren konnte, ausdrücklich „rechnergestützte“ Arbeit, d.h. Arbeit im digitalen Bereich, ein (Raeithel 1992).

Raeithels Ansatz gründete auf der sowjetischen kulturhistorischen Schule von Leontjew und Wygotsky, die im Stalinismus marginalisiert wurde. Er formulierte einen Arbeitsbegriff aus, der kognitive Tätigkeit an symbolischen Gegenständen ins Visier nahm. Der so gezeichnete Arbeitsprozess zielt auf Veränderungen von Können, Begriffen und Werkzeugen, also auf die sich entwickelnde Reproduktion der inneren und äußeren Verhältnisse der Subjekte (Raeithel 1998, S.35). Raeithel ging damit bereits nicht nur über die theoretische Analyse von Boes und Kaempf hinaus, sondern bewegte sich in Bereichen, die der vorliegende Sammelband eher defizitär im Kapitel „Kultur und Subjekte“ behandelt.

Regulierung digitaler Plattformen

Ulrich Dolata und Jan-Felix Schrape entwerfen in ihrem Beitrag „Politische Ökonomie und Regulierung digitaler Plattformen“ ein –zumindest für diesen Sammelband- überraschend unkritisches, teils fast affirmatives Bild der Plattformkonzerne. Aus Sicht der Organisations- und Innovationssoziologie verteidigen sie zunächst die US-Technologiekonzerne Amazon, Apple, Alphabet/Google und Meta/Facebook gegen die Vorhaltung, dort würde in einem „asset-light-Geschäftsmodell“ weitgehendes Outsourcing betrieben (S.346). Unklar bleibt dabei, warum sie Microsoft ausnehmen. Ihre analytische Teilung von „Plattformunternehmen als organisatorischer Kern“ und der „Plattform als sozialer Handlungsraum“ scheint die Unabhängigkeit besagter „Handlungsräume“ von den Konzernen zu betonen. Das spielt deren Management in die Hände, das die Freiheit ihrer Nutzer gegenüber eigener manipulativer Eingriffe herausstellt. Dolata und Schrape erwähnen zwar das Machtgefälle zwischen Nutzer:innen und Konzernen, haben aber wenig Einwände gegen konzernseitige „lückenlose Beobachtung“ des Nutzerverhaltens, dessen Daten „zunächst als Rohmaterial anfallen“ (S.349).

Sie kritisieren den Ansatz von Shoshana Zuboff, weil deren „Überwachungskapitalismus“ bei der Entstehung dieser Daten fälschlich von „unbezahlter digitaler Arbeit“ der Nutzer ausgehe, obwohl es doch „viel trivialer“ um die „bereitwillige Offenlegung… alltäglichen Verhaltens“ ginge. Was den Nutzer:innen, die ihre „Datenspuren oft achtlos und im Vorbeigehen liefern“, entzogen wird seien wertlose Rohstoffe. Diese werden erst von den Konzernen durch „Aufbereitungs- und Veredelungsleistungen“ zur Ware erhoben. Die Konzerne erwerben damit offenbar nicht nur das ökonomische, sondern auch noch das moralische Recht, private Kommunikation als „handelbare Datensätze und personalisierte Werbemöglichkeiten“ zu Geld zu machen (S.358). Die Fixierung auf marxsche Wertlehre verstellt hier womöglich den Blick auf die Manipulation der Nutzer:innen, deren Daten nicht „achtlos im Vorbeigehen“, sondern in vorsätzlich süchtig machenden Strukturen produziert werden.

Beim Thema Regulierung sehen Dolata und Schrape die Plattformen unter „intensiver Beobachtung“ einer „politischen Öffentlichkeit“. Zivilgesellschaft und Journalisten hätten „Desinformationsdynamiken“ und „Verletzungen der Privatsphäre“ aufgedeckt –nebenbei bemerkt: in jenen Konzernaktivitäten, die Dolata und Schrape als „Veredelungsleistungen“ bezeichneten. Doch die Plattformkonzerne hätten auf die Kritik „durchaus reagiert –etwa mit Transparenzinitiativen sowie Versuchen einer institutionalisierten Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in ihre eigenen Regulierungsstrukturen“. (S.360) Beispiele nennen die Autoren nicht, daher kommt die Frage nicht auf, ob es sich dabei nur um die üblichen PR-Spektakel gehandelt haben könnte.

Felix Stalder: Plattform-Demokratie-Spektakel

Facebook wurde nach diversen Skandalen in den USA besonders das Ziel von öffentlicher Kritik. Senatsanhörungen brachten Konzernchef Zuckerberg persönlich ins Schwitzen (was sogar wörtlich stimmte: man konnte in der TV-Übertragung sehen, wie der CEO mit Schweißtropfen auf der Stirn sein Sakko ablegen musste). Dennoch bewertete Felix Stalder 2016 Facebooks Reformen der „eigenen Regelungsstruktur“ kritisch.

Facebook habe sich zwar 2009 selbst auferlegt, Änderungen der Geschäftsordnung einer Abstimmung vorzulegen, sobald 7000 Kommentare dazu abgegeben würden; doch das Quorum von 30 Prozent der User:innen wäre bis zur Abschaffung der Regel 2012 nie erreicht worden, auch weil die Konzern-Demokratie dazu neigte die Wahlurnen zu verstecken. Überhaupt hätten Anbieter wie Facebook sich bemüht „mit jeder Neuerung das Machtgefälle zwischen Nutzern und Betreibern“ zu verschärfen (Stalder 2016, S.217). Kannten Dolata und Schrape das Buch ihres Kollegen Stalder nicht?

Felix Stalder lieferte auch einen äußerst lesenswerten Beitrag zum hier besprochenen Suhrkamp-Band, der sein recht bekanntes Werk „Kultur der Digitalität“ von 2016 selbstkritisch hinterfragt. Stalders 2016 noch große Begeisterung für die digitale Allmende („Commons“) der Open-Source-Bewegung wurde inzwischen gedämpft. Der Neoliberalismus instrumentalisiere zunehmend Commons als Trostpflaster für soziale Raubzüge, etwa wenn mittels Crowdsourcing bezahlte Arbeit durch schlechtbezahlte Arbeit ersetzt würde.

Der Geist der freien Software mit Gnu-Public-Licence (GPL) würde von der Software-Industrie heute unterlaufen, indem ihre Dienstleistung über die Cloud angeboten würde –ohne den Quellcode der spezifisch angepassten GPL-Programme offenlegen zu müssen: Eine neue Form kapitalistischer Einhegung einer Allmende. Kombination mit firmeneigenem Code sei eine weitere Einhegung, etwa bei Googles dadurch nicht wirklich offenem Android-System. Kulturelles Commoning diene auf Plattformen der Kommerzialisierung von Nutzerdaten-Extraktion. Schlimmer noch:

„Aber die Einhegung findet nicht nur als Form des Datenextraktivismus statt, sondern auch durch vielfache Möglichkeiten des ‚nudging‘, das die aus Nutzer:innensicht nichtkommerzielle Tätigkeiten in für Plattformbetreiber kommerziell interessante Richtungen lenkt, mit allen problematischen Konsequenzen.“ Felix Stalder 2023, S.510

Kulturproduktion im Internet wird so hinter dem Rücken der User doch wieder für eine Kulturindustrie vereinnahmt. Da wir von der Frankfurter Schule gelernt haben, so Mark Poster 2003, wie verheerend sich die Kulturindustrie auf die Arbeiterklasse und andere demokratisierende Bewegungen auswirkt, sei es unsere Pflicht, die Möglichkeiten ihrer Technologie zu verstehen. Wir sollten lernen, wie sie bei der Konstruktion kultureller Formen eingesetzt werden können, die einer demokratischen Lebenswelt angemessener sind.

Habermas und Plattform-Kapitalismus

An den Adorno-Schüler Habermas knüpfen immerhin zwei Beiträge an: Nosthoff/Maschewski untersuchen mit einem brandneuen Habermas-Text „Plattformökonomische Öffentlichkeiten“, denen der Nestor der kommunikativen Vernunft „höchst ambivalente und möglicherweise disruptive Auswirkungen auf die politische Öffentlichkeit“ zuschrieb. Die Fragmentierung des Publikums in emotionalisierte Teilöffentlichkeiten, Fakenews, Donald Trump und Gereiztheit plagen uns: „Kommunikation und Kontrolle bilden so das dominante wie dialektische Signum der Social-Media-Plattformen: Wer die Strukturen der Kommunikation kontrolliert, definiert auch die Strukturen der öffentlichen Sphäre“ (S.371f.). Nicht, dass nicht schon vor dem Start des WWW, aus dem die Plattformen dann entsprangen, vor dem Zusammenfließen von panoptischer Kontrolle und Verhaltenssteuerung gewarnt worden wäre: Das von mir seit 1996 empfohlene Gegengift eines „Inversen Panoptismus“, einer Umkehrung der Kontrolltechnologie gegen die Machtzentren, scheint den akademischen Autoren wohl zu radikal (Barth 1996). Keiner wagt es auf den 533 Seiten, die hier profilierteste Anti-Plattform auch nur zu erwähnen –Wikileaks und ihren wegen „Geheimnisverrat“ seit fünf Jahren inhaftierten Gründer Julian Assange.

Der zweite Habermas-affine Text ist von Evan Fisher: „Algorithmen und das Selbst“ (S.514-532) und beschließt den Band. Er untersucht die Rolle des Wissens in der Ko-Konstituierung von Mensch und Maschine, wobei Plattformen als „epistemische Medien“ analysiert werden. Mit Friedrich Kittler sieht Fisher Medien als Kulturtechniken, die Wissen über das Selbst schaffen, und dem Selbst in der öffentlichen Sphäre Selbstreflexion erlauben, so Habermas. Dessen emanzipatorisches Erkenntnisinteresse leitet Fisher aus der Psychoanalyse her und verfolgt es bis in die heutige Medienwelt der Plattformen. Deren Algorithmen schaffen zwar Wissen über das Selbst, jedoch ohne Selbstreflexion wie die Psychoanalyse, die Habermas der kritischen Theorie zuordnet. So endet der Sammelband pessimistisch, wobei Fisher noch die Profit-Eigeninteressen der Plattformen unterschätzt und ihr User-Profiling als auf „quasi-freiwilliger“ Selbstbewertung sieht (S.528).

Andere Beiträge, wie jener von Felix Stalder belehren ihn jedoch eines Besseren und wenn alle versammelten Autoren den ganzen Band rezipieren und die Wissenslücken ihrer divergierenden Ansätze damit schließen würden, hätte die Debatte schon viel gewonnen. Es fehlten gleichwohl, wie in dieser Buchkritik ausgeführt, noch viele Erkenntnisse der Medienwissenschaft und aus den kritischen Diskursen der Netzkultur (-Wissenschaft). Etwa aus den Texten des -von keinem der Suhrkamp-Beiträge zitierten- Experten Geert Lovink, der es in den liberalen Niederlanden vom Aktivisten und Netzkritiker zum Professor für Kunst und Netzwerkkulturen brachte. Lovink sieht uns „In der Plattformfalle“ und plädiert seit Jahren für eine „Rückeroberung des Internets“, dabei warnt er spöttisch:

„Man sollte sich nicht in pedantischen Übungen verlieren, um akademische Territorien mit ihren Kanons und Methoden zu definieren und zu verteidigen… Wir sollten die momentane Leichtigkeit annehmen und uns über die Verwirrung unter jenen amüsieren, die versuchen, ‚Digitalisierung‘ zu kartieren.“ Lovink 2022, S.29

Nicht Marx, aber Marxisten ignorieren Technologie

Vor über 20 Jahren zeigte sich Mark Poster (1941-2012) erstaunt über das Ausmaß, in dem viele Marxisten dazu neigten, neue Technologien „fast vollständig zu ignorieren“. Diese nahmen an, dass der Kapitalismus den entstehenden Cyberspace, das Internet vollständig übernehmen würde. Poster fand das sehr überraschend, weil Marx doch stets darauf geachtet habe, die Art und Weise zu untersuchen, wie soziale Innovationen sowohl für bestehende Institutionen als auch in Richtung ihrer Infragestellung wirkten. Marx selber wäre sogar so weit gegangen, disruptiv-brutale Ereignisse wie die Zerstörung der indischen Baumwollindustrie durch britische Kolonialisten insofern zu begrüßen, als sie die historische Entwicklung zum Sozialismus fördern könnten. Das Misstrauen marxistischer Kritiker gegenüber dem Internet erschien Mark Poster daher übertrieben, besonders angesichts der Chancen progressiver Netzkultur in der Open-Source und Hacker-Szene. Sein Optimismus speiste sich aus dem, was damals als „Kalifornische Ideologie“ wegen Ignoranz gegenüber der sozialen Frage kritisiert und heute auch als Transhumanismus bezeichnet wird.

Es war die Zeit einer ersten Verbreitung von Unternehmens-Websites, gefolgt von Börsen-Hype und Dotcom-Crash 2001, als im Kampf um die Netzkultur noch vieles offen war. Für Marxisten war es damals jedoch schon offensichtlich, so Mark Poster, dass das Internet nur eine weitere Teufelei war, um die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer zu machen. Heute, nach der Durchsetzung des Plattform- oder Überwachungskapitalismus, müssen wir leider feststellen, dass die Pessimisten nicht völlig falsch lagen. Zwar hat sich die widerständige Netzkultur weiterhin gehalten, doch Dotcom-Konzerne stehen in der Öffentlichkeit und an den Börsen als Sieger da. Marxistische Kritik an der Plattform-Industrie leidet heute unter deren Ignoranz zwar nicht mehr gegenüber der Technologie selbst, aber gegenüber den sie betreffenden Diskursen. Technik- und Netzkritik, wie sie auf Netzphilosophie gepflegt wird, scheint in vielen Suhrkamp-Beiträgen leider eher unbekannt zu sein. Erst mit der Plattformkritik scheint hier eine Debatte eingesetzt zu haben, der aber marxistische Perspektiven punktuell durchaus nützlich sind.

Fazit

Leider kann der Sammelband trotz vieler herausragender Beiträge seine Versprechen nicht einlösen, vor allem nicht jenes, die „Verbindungen der disparaten Ansätze“ auszuleuchten. Schon die Gliederung in die Kapitel „Arbeit“, „Ökonomie“, „Politik und Öffentlichkeit“ sowie „Kultur und Subjekte“ überzeugte wohl nicht jeden. Abweichend davon benennen die Herausgeber:innen sie in den Titeln der Unterkapitel ihrer Einleitung „Produktivkraftentwicklung und Arbeit“, „Wertschöpfung und Ökonomie“, „Politische Regulation und Öffentlichkeit“ sowie „Kulturelle Regulation und Subjekte“. Zu Beginn der Einleitung findet sich zudem der noch weitgehender abweichende Vorschlag zur „Strukturierung des Feldes anhand der kapitalismustheoretischen Basiskategorien Produktivkraftentwicklung, Arbeit, Wertschöpfung, politische Regulation sowie Kultur und Subjekte“ (S.11).

Die nicht immer einsichtige Zuordnung der Beiträge zu diesen Kapiteln bzw. Kategorien sowie insbesondere das Fehlen editorischer Orientierungshilfen machen den Sammelband äußerst unübersichtlich. Am Ende des Buches findet sich lediglich eine Liste mit Textnachweisen für die sieben Beiträge, die keine Originalbeiträge sind. Es fehlen biographische Angaben zu den Autor:innen, Literaturlisten zu den Beiträgen, ein Schlagwort- oder wenigstens Namensregister. Es fehlt mithin alles, was der Leser gebraucht hätte, um wirklich Verbindungen der disparaten Ansätze ausleuchten zu können. Einen Überblick über die verwendete Literatur gewinnt man nur mühselig aus den weit über tausend Fußnoten. Bezugnahmen der Beiträge oder Autor:innen aufeinander sind seltene Ausnahmen, bleiben fast immer beim bloßen Namedropping -selbst bei der in den Leitmedien herumgereichten und daher schwer ignorierbaren Shoshana Zuboff. Die renommierte Havard-Professorin gehört mit ihrer Kritik des „Überwachungskapitalismus“ zu den am häufigsten zitierten Autor:innen im Sammelband, leider fast immer nur als inhaltsleerer Verweis auf das Problem der Überwachung (das damit oft als abgehandelt betrachtet wird). Eine lebendige Diskussionskultur, Diskurse und Debatten, für die es allein schon innerhalb der marxistischen Digitalisierungsforschung genügend Themenfelder gäbe, sucht man bislang offenbar weitgehend vergeblich.

Herausgeber:innen und Autor:innen des Sammelbandes

Die drei Herausgeber:innen, die selbst Beiträge liefern und gemeinsam die Einleitung verfassten, sind: Tanja Carstensen, Privatdozentin für Soziologie der LMU München und Koordinatorin des Forschungsverbunds Sorgetransformationen an der Universität Hamburg, Simon Schaupp, Gastprofessor am Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft am KIT in Karlsruhe und Oberassistent für Soziologie der Universität Basel, Sebastian Sevignani, Akademischer Rat für Soziologie der Schiller-Universität Jena. Weitere Beiträger:innen sind: Thomas Barth (mit dem Rezensenten weder identisch noch verwandt noch bekannt), Kean Birch, Andreas Boes, Florian Butollo, D. T. Cochrane, Jodi Dean, Ulrich Dolata, Emma Dowling, Marlen van den Ecker, Eran Fisher, Christian Fuchs, Helen Hester, Ursula Huws, Kylie Jarrett, Tobias Kämpf, Felix Maschewski, Oliver Nachtwey, Anna-Verena Nosthoff, Tilman Reitz, Sarah T. Roberts, Marisol Sandoval, Stefan Schmalz, Jan-Felix Schrape, Timo Seidl, Nick Srnicek, Philipp Staab, Felix Stalder, Johannes Truffer, Judy Wajcman, Jamie Woodcock.

Literatur

Barth, Thomas, Das inverse Panoptikum: Ein postmoderner Ansatz für die politische Informationsstruktur des Cyberspace, zuerst in: Informatik Forum, Nr.2 1996, S.68-71.

Barth, Thomas: Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft, Centaurus, Pfaffenweiler 1997.

Barth, Thomas: Die “Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace” und der Panoptismus der globalen Netze, in: Medienwissenschaft, Nr.4, 1999, S.402-407.

Bleicher, Joan Kristin: Internet, UVK (UTB), Konstanz 2010.

Bleicher, Joan Kristin: Grundwissen Internet, UVK (UTB), Konstanz 2022.

Carstensen, Tanja, Simon Schaupp und Sebastian Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus: Arbeit, Ökonomie, Politik, Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2023.

Poster, Mark: The Mode of Information: Poststructuralism and Social Context, Polity Press, Cambridge 1990.

Poster, Mark: The Second Media Age, Polity Press, Cambridge 1995.

Raeithel, Arne: Kommunikation als gegenständliche Tätigkeit, in: Knobloch, C. (Hg.): Kommunikation und Kognition, Nodus, Münster 1989, S.29-70.

Raeithel, Arne: Ein kulturhistorischer Blick auf rechnergestützte Arbeit, in: Wolfgang Coy et al. (Hg.): Sichtweisen der Informatik, vieweg, Wiesbaden 1992, S.125-139.

Raeithel, Arne: Selbstorganisation, Kooperation, Zeichenprozess: Arbeiten zu einer kulturwissenschaftlichen, anwendungsbezogenen Psychologie, Westdt.Vlg., Wiesbaden 1998.

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität, Suhrkamp, Berlin 2016.

Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus, Frankfurt/M. 2018.

-Siehe auch die etwas reißerische Polemik (der Kampf um Aufmerksamkeit ist hart) des Rezensenten auf Telepolis: Warum Marxisten die Digitalisierung nicht verstehen