12/10/25

Bobineau, Gieg, Lowinger (Hg.): Handbuch Demokratische Republik Kongo

Julien Bobineau, Philipp Gieg, Timo Lowinger (Hg.): Handbuch Demokratische Republik Kongo. Geschichte, Politik, Gesellschaft, Kultur, Frank&Timme Verlag, Berlin 2024, 678 S., 148,00 Euro, ISBN 978-3-7329-0434-1

Rezension von Thomas Barth

Wenn jetzt bald wieder viele neue Mobiltelefone unter dem Weihnachtsbaum landen, keimt bei besser informierten Menschen hoffentlich ein schlechtes Gewissen auf: Man weiß, dass darin vermutlich billiges “Blut-Coltan” aus der Demokratischen Republik Kongo steckt, man erinnert sich an gelegentliche knappe Meldungen über dortige Verletzungen der Menschenrechte, Massaker und zu Tode geschundene Kinder-Sklavenarbeiter*innen.

Doch unser Wissen ist dürftig. Die DR Kongo ist trotz ihrer immensen Größe von 2,3 Millionen qkm, ihrer Bevölkerung von bald 150 Millionen Menschen und ihrer historischen wie wirtschaftlichen Bedeutung ein vernachlässigtes Thema. Die genozidalen Kongogräuel, die Ermordung des ersten Präsidenten Patrice Lumumba, die beiden Kongo-Kriege, der Zweite wird auch als “African Worldwar” bezeichnet, all das ist nur schemenhaft in unserem eurozentrischen Wissen vorhanden: nicht zufällig, denn Unwissen über den historischen Kolonialismus hilft heutigen Ausbeutern ihre neokolonialen Machtstrukturen zu verbergen. So berichten unsere Medien weit öfter von den dort lebenden Bonobo-Affen als von Geschichte, Bevölkerung und Politik des Landes.

Dabei war die brutale Ausbeutung der Kautschuk-Ressourcen des Kongo zentral für Autoindustrie und Motorisierung der (westlichen) Welt und damit für den Aufbau der reichen Industrienationen; diese Geschichte wiederholt sich derzeit bei der Plünderung der Coltan-Reserven für die Mobilisierung der Kommunikation der Welt und den Ausbau der Digitalisierung. Aus Belgisch-Kongo stammte auch das Uran für die ersten Atombomben der USA. Von außen dirigierte Putsche und Rebellengruppen, Überfälle von Nachbarländern und Kolonialmächten (Belgien, USA, Frankreich) überziehen das Land immer wieder mit Blutvergießen und Gräueltaten. Kein Wunder, dass die DR Kongo Zielland der größten UN-Friedensmissionen war, mit dem Einsatz von bislang etwa 20.000 Soldaten aus 40 Nationen. Das Aufblühen des ganzen Kontinents, das der senegalesische Kulturwissenchaftler Felwine Sarr sich in seinem „Afrotopia“ ausmalte, hängt zentral von einer Befriedung der DR Kongo ab, von einer Vertreibung der Mörder und Ausbeuter und einer dann endlich möglichen fairen Vergütung der unermesslichen Reichtümer der Kongoregion.

Das Handbuch Demokratische Republik Kongo bietet einen Überblick zu Geschichte, Politik, Gesellschaft und Kultur des facettenreichen Landes, der weit über das hinausgeht, was die übliche schnelle Internetsuche, Wikipedia und Chatbots anbieten. Diese Rezension fokussiert Abschnitte des enzyklopädischen Bandes, die Vergangenheitsbewältigung und Kolonialkritik zum Ziel haben.

Der Anspruch ist hoch: “Systematisch aufbereitete, gut verständliche Texte zur kongolesischen Geographie, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur schaffen ein vertieftes Verständnis für globale Verflechtungen, ihre historischen Ursprünge und die Auswirkungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei werden die verschiedenen Perspektiven auf die Demokratische Republik Kongo übersichtlich erfasst und miteinander in Beziehung gesetzt. Dieses differenzierte, interdisziplinäre Kaleidoskop umfasst unter anderem Beiträge zu Geo- und Demographie, zur Geschichte und zu Kriegen und Konflikten seit den 1990er Jahren, zum politischen System, zu Institutionen, Infrastruktur, Zivilgesellschaft und Außenbeziehungen sowie zu Medien, Bildungs- und Gesundheitssystem, Religionen, Frauenrechten, Sprachen, Sport, Kunst, Musik, Literatur, Film, Mode und den kulinarischen Kulturen des Landes.” (Verlagstext)

Für eine korrekt geschriebene Geschichte

In ihrem Vorwort macht Prof. Debora Kayembe, gebürtige Kongolesin und Rektorin der Universität Edinburgh, klar, dass sie die bisherige Darstellung der DR Kongo in deutschen oder westlichen Arbeiten insgesamt für zweifelhaft hält und pocht auf eine nunmehr “korrekt geschriebene” Geschichte, “ohne Fehlinformationen, mit der Wahrheit und nichts als der Wahrheit” (S.9). Besonders die engagierten und gut lesbaren Beiträge von Julien Bobineau machen klar, worum es dabei vordringlich geht: Um den immer noch bzw. immer wieder erneut verdrängten oder heruntergespielten Stellenwert der Kongogräuel von 1885-1908, das verklärte Bild des Kolonialverbrechers und Völkermörders König Leopold II..

Es geht auch um die kaum verminderten Kolonialverbrechen 1908-60, die brutale Ermordung des nach der Befreiung am 30.Juni 1960 ersten gewählten Präsidenten Patrice Lumumba (1925-1961), durch USA, Belgien und andere antikommunistische Akteure. Schon im Januar 1961, nachdem die westliche Presse Lumumba zum Kommunisten und “neuen Hitler” dämonisiert hatte, wurde seine Regierung terrorisiert. Schnell hatte man den Kongo völkerrechtswidrig überfallen, gegen Lumumba geputscht, ihn und seine Anhänger gejagt, gefoltert und ermordet.

Aber es geht auch um die Ära des Diktators Mobutu (1965-97), einer von der CIA finanzierten Marionette westlicher Industrie-Interessen, sowie um die zahllosen, meist von außen dirigierten “Bürgerkriege” zum Raub von Rohstoffen, die bis heute andauern und meist westlichen Firmen den Zugriff auf billiges Blut-Coltan sichern. Und es geht speziell um Belgiens Umgang mit der Kolonialvergangenheit, der in seiner Verlogenheit stellvertretend für den Umgang europäischer Kolonialstaaten mit ihren Verbrechen stehen kann.

Von Bismarck zur DDR-Lumumba-Solidarität

In ihrer Einleitung stellen die Herausgeber Bobineau, Gieg und Lowinger diese “Wissenslücken” der westlichen Welt, die eigentlich Teil einer andauernden Propaganda zur Vertuschung und Aufrechterhaltung imperialistischer Ausbeutung sind, in einen größeren Zusammenhang. Eine “früher unverhohlen rassistische”, immer noch eurozentrische Sichtweise auf Afrika als “das Geschichtslose” (Hegel) weigert sich, den Kontinent und insbesondere seine schwarzen Bewohner in den historischen Wissenschaften und der medialen Darstellung angemessen zu würdigen (S.13). Das Literaturangebot zur DR Kongo sei im deutschsprachigen Raum erstaunlich karg, das vorliegende Handbuch müsse diese Lücke dringend füllen. Schließlich habe Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-89) mit seiner Kongo-Konferenz 1884/85 maßgeblich zur Unterwerfung des Landes unter die blutige Herrschaft Leopold II. beigetragen. Die Kolonie Deutsch-Ostafrika, die auch das heutige Ruanda und Burundi umfasste, bildete die Ostgrenze des sogenannten “Freistaat Kongo” des Belgischen Königs.

Nach 1945 sei die Afrika-Politik von Ost- und Westdeutschland zu unterscheiden, besonders was die Ermordung von Patrice Lumumba betrifft: Lumumba habe im Kalten Krieg Blockneutralität proklamiert, was die westlichen “Verbündeten” (“allen voran Belgien, Frankreich und die USA”) als Chance für die verhasste Sowjetunion deuteten, an den strategischen Ressourcen wie Kupfer, Kobalt und Uran des Kongo zu partizipieren. Westliche Medien dämonisierten Lumumba daher, auch in der BRD, um seinen Sturz propagandistisch vorzubereiten. “Mit Unterstützung von kongolesischen Schattenmännern… gelang es ‘westlichen’ Geheimdiensten im September 1960, Lumumba abzusetzen und zu inhaftieren.” (S.16) Nach seiner brutalen Folterung und Hinrichtung beteiligten sich westliche Medien der BRD an der “Verklärung und Verschleierung der Todesumstände”.

In der sozialistischen DDR dagegen, die ihrerseits treu an der Seite der Sowjetunion stand, verehrte man Lumumba “als ermordeten Märtyrer”. Man benannte Straßen nach ihm und errichtete Statuen für die Symbolfigur afrikanischen Freiheitswillens. Zudem zählte die DDR (neben China und der UdSSR), so die Herausgeber weiter, zu den wenigen Unterstützern der sozialistischen Gegenregierung des Lumumbisten Antoine Gizenga, in Stanleyville (heute Kisangani). Deren viele Jahre lang gegen die Putschisten und Westmächte gehaltenes Gebiet übertraf zeitweise die Fläche Deutschlands.

Die CDU-geführte BRD hielt dagegen treu zu den USA und ihrem grausamen Diktator Mobutu, der zudem enge persönliche Beziehungen zum Landesherrn in Bayern, Franz-Joseph Strauß (CSU) pflegte (S.16); Partei-Stiftungen von CDU und CSU sind seit 1966 im Land aktiv. 2006 habe die EU unter deutscher Führung die Sicherung der Wahlen unterstützt, in denen sich der 2001 nach dem Tod seines Vaters an die Macht gelangte Kabila junior wählen ließ (sie gelten als manipuliert); von 2800 EUFOR-Soldaten waren 780 Deutsche (S.17). Das Interesse an dem in vieler Hinsicht bedeutenden Land DR Kongo sollte also gestärkt werden, auch weil die deutsche Industrie zu den Hauptnutznießern der unter zweifelhaften Umständen gewonnenen Rohstoffe Kongos zählt -das Land hat z.B. die größten Coltan-Reserven der Welt (S.76). Auf den deutschen Blut-Coltan-Skandal 2001 geht das Handbuch jedoch nicht ein; die global agierende Münchner Metallurgiefirma H.C.Starck, stellte dabei nach Protesten ihre Lieferketten von Kongo auf Australien um.

Demographie, Ressourcen, Gesundheit, Bildung

Im Oberkapitel “Grundlagen” mit Kapitel 2-5 (Geographie, Klima, Natürliche Ressourcen, Demographie) erfährt man, dass die genaue Größe der Bevölkerung der DR Kongo unbekannt ist. Schätzungen für 2018 schwanken zwischen 80 und 130 Millionen Menschen, was Tom De Herdt, Wim Marivoet und Benjamin Kanze Muhoza auf eine eigene demographische Schätzung von 96-97 Millionen präzisieren und aufgrund der hohen Wachstumsrate für 2030 eine Bevölkerung von 148-149 Millionen Menschen prognostizieren (S.99). Jules Masuku Ayikaba beziffert in Kap.4 „Natürliche Ressourcen“ den vermuteten Gesamtwert der abzubauenden Bodenschätze des Landes auf kaum vorstellbare 24.000 Milliarden US-Dollar; Haupteinnahmequelle sei derzeit Kobalt, wovon die Hälfte der bekannten Weltreserven in der DR Kongo liegen, die Coltan-Lagerstätten seien die größten der Welt, wie auch die Zahlen zur Gewinnung von Industriediamanten, dazu kommen Kupfer, Gold, Uran und vieles mehr (S.75ff.); neben eigenen Vorkommen von Erdöl und Erdgas verfüge das Land dank des Kongo-Beckens über gewaltige, aber kaum ausgeschöpfte Potentiale an Wasserkraft, die 13 Prozent der weltweiten und die Hälfte der afrikanischen hydroelektrischen Energiereserven ausmachen: An ca. 780 Standorten könnten etwa 2600 MW produziert werden, von denen derzeit aber nur drei Prozent genutzt würden und nur 15 Prozent der Menschen hätten überhaupt Zugang zum Stromnetz (S.72ff.). Grund für die geringe Beteiligung der Bevölkerung an den Erlösen der Ressourcen wäre ein Mangel an „ethisch handelnden Politiker*innen“ bei den Machthabern des Staates (S.79). Entsprechend katastrophal sieht aus, wie die Lebensbedingungen und -perspektiven der Bevölkerung von diesen Machthabern (im Dienste der ausländischen Plünderer des Reichtums und der Menschen) gestaltet werden.

Das Gesundheitssystem behandeln in Kapitel 25 Hypolite Muhindo-Mavoko, Arzt aus Kinshasa, und der Antwerpener Ebola-Experte Trésor Zola Matuvanga. Sie loben ausführlich den Ausbau von Krankenhäusern von 1920-1956 von 34 auf 293 medizinische Einrichtungen (S.464), ohne im Blick zu haben, wie jämmerlich diese Investitionen im Vergleich zum außer Landes geschafften Reichtum waren; Kindersterblichkeit, Malaria und multiresistente Tuberkulose plagen das Land, das wenigstens mit nur 1,2 Prozent eine niedrige HIV-Infektionsrate aufweist und 2015 für poliofrei zertifiziert wurde; elf Ebola-Epidemien hätten bei 3500 Fällen 2100 Todesopfer gefordert (S.468).

Das Bildungswesen stellt Yves-J. Lumingu Manzanza in Kap. 24 vor: Aus eher juristischer Perspektive nennt er vor allem Rechtsgrundlagen von der UN-Kinderrechtskonvention bis zu Regularien des Ministeriums in Kinshasa. Konfessionelle Schulen machen 70 Prozent des kläglich unterfinanzierten Schulwesens aus (S.453), wo meist Frontalunterricht gegeben wird (S.448); die Universitäten orientieren sich am Bologna-Prozess der EU (S.446), ohne dass wenigstens Erfolge in der Anerkennung kongolesischer Diplome im Ausland zu verzeichnen wären (S.458). Dass die Bologna-“Reformen” in der EU durch Industrie-Lobbies, besonders des deutschen Bertelsmann-Konzerns, durchgesetzt wurden, problematisiert Manzanza leider nicht; es ging z.B. in Deutschland v.a. darum, die Universitäten zu entdemokratisieren und die Schulen betriebswirtschaftlich zu disziplinieren, um Industrie-verwertbares Wissen anstelle von Bildung, Persönlichkeitsentwicklung und Kritikfähigkeit zu setzen (bzw. auch darum, dem Bertelsmann-Medienkonzern eine neoliberal privatisierte Bildung als Milliarden-Geschäftsfeld zu erobern, was Dank heftiger Proteste nicht vollständig gelang, vgl. Barth 2006, 2009; unsere derzeitige deutsche Bildungsmisere ist dennoch wohl zu einem Großteil den Bertelsmann-getriebenen „Bildungs-Reformen“ zuzuschreiben). Es ist nicht verwunderlich, dass in deutschen Medien ein Afrikabild verbreitet wird, dass neokoloniale Ausbeutung bemäntelt und vertuscht, wie etwa der ZDF-Wissenschafts-Talk Scobel (siehe unten).

Leopolds Gräueltaten: Verschwörung des Schweigens

„Der Kongo in der Geschichtsschreibung“ von Magha-A-Ngimba Charles Gimba analysiert die belgischen Reaktionen auf Kritik am Kolonialismus v.a. Leopold II., aber auch die Ersetzung Lumumbas durch Kabila. Die USA, so Gimba in seinem Text, sahen in Mobutu “eine antikommunistische Kraft in Afrika” und unterstützten den Diktator ungeachtet “schwerer Menschenrechtsverletzungen, politischer Unterdrückung, Misswirtschaft“ sowie eines pompösen Personenkults (S.113). Wie schon an den Kongogräueln von Leopold II. zeigten belgische Historiker jedoch “kein wirkliches Interesse” an Mobutu, so blieb der Blick der belgischen Öffentlichkeit auf den Kongo unverändert geprägt “von romantischen Schulerinnerungen, stereotypen Klischees” und Ignoranz (S.118f.). Belgische Behörden und Historiker übten eine komplizenhafte “Kultur der Geheimhaltung” oder sogar eine “Verschwörung des Schweigens”, so dass die Kongogräuel “ein Objekt ausländischer Empörung” blieben (S.126).

Erst der internationale Bestseller des US-Publizisten Adam Hochschild “King Leopolds Ghost” (1998) drang um die Jahrtausendwende auch bis in die belgische Öffentlichkeit durch (dt. “Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen”, 2000), verstärkt durch die darauf bezogene BBC-Dokumentation von Peter Bates “White King, Red Rubber, Black Death” (2004). Die schockierende, aber äußerst sehenswerte Doku von Bates beginnt mit jenen Bildern verstümmelter Kinder, die schon um 1900 eine Welle internationaler Proteste gegen die Kolonialverbrechen Leopold II. ausgelöst hatten, und dem Satz: „Bis zum Erscheinen Adolf Hitlers setzte Leopold II. die Maßstäbe für Gräueltaten.“ Derweil folgten andere Kolonialisten im kleineren Maßstab und unbeobachtet von einer ethisch bewegten Öffentlichkeit dem belgischen Beispiel der brutalen Kautschuk-Ausbeutung von Indigenen in Kolumbien.

Bates beschreibt, wie der Belgische König mit seinem berühmten Helfer Henry Morton Stanley den Kongo durch Betrug, Drohung und Erpressung formal an sich brachte: Die schwer bewaffnete Truppe von Stanley zog durch Dörfer und Städte und ließ Würdenträger betrügerische Verträge unterschreiben, aus denen man später einen Besitzanspruch auf Land und Menschen ableitete. Der wurde durchgesetzt, indem man Kautschuk in ungeheuren Mengen erpresste. Wer diese nicht lieferte wurde massakriert, Frauen und Kinder wurden in Geiselhaft genommen und sexuell ausgebeutet, was viele nicht überlebten. Bei Widerstand oder Protest wurden Dörfer niedergebrannt und alle Bewohner erschossen. Gegen die Gräueltaten, denen viele Millionen Menschen zum Opfer fielen, erhob sich schließlich internationaler Protest. 1908 übernahm daher der Staat Leopolds II. Privatkolonie und der Trauerzug des 1909 verstorbenen Monarchen wurde sogar ausgebuht, so Bates. Dann kamen die Schrecken des Ersten Weltkriegs und die Kolonialisten konnten die Kongogräuel vergessen machen und durch einen rückwirkenden Königskult ersetzen. Belgien verehrte seinen Leopold II. wieder und breitete Geheimhaltung und Schweigen über seine Verbrechen.

Doch 1999 hatte der belgische Soziologe Ludo De Witte es geschafft, so Gimba, aus Archiven des Außenministeriums neue Dokumente zu erlangen und zum Buch “L’Assinat de Lumumba“ zu verarbeiten, erschienen im Jahr 2000 in Paris (dt. “Regierungsauftrag Mord. Der Tod Lumumbas und die Kongo-Krise” 2001). Das belgische Parlament sah sich daraufhin genötigt, eine Historikerkommission mit dem peinlichen Thema zu befassen. Ein Ablenkungsmanöver: Erst nach zwei Jahren, als die Wogen der Empörung über De Wittes Enthüllungen sich während des Wartens auf den Historiker-Bericht schon geglättet hatten, kam ein abwiegelndes Ergebnis. Belgische Behörden hätten lediglich eine “moralische Verantwortung” für die bestialische Ermordung Lumumbas in Katanga getragen (S.128). Dabei hatten belgische Geheimpolizisten den gedungenen Mördern nachweislich bei der Beseitigung von Lumumbas Leichnam geholfen. Man löste die sterblichen Überreste in Säure auf, damit sie nicht zum Ziel afrikanischer Heldenverehrung werden konnten. Zuvor hatte Gerard Soete, der belgische Vize-Generalinspektor der katangischen Polizei dem Toten in Serienkiller-Manier noch drei Finger amputiert und zwei Goldzähne herausgebrochen (vgl. Schumann S.102).

Jakarta-Methode und Kabilas Afrofaschismus

Ebenfalls mit der belgischen Vergangenheitsbewältigung befasst sich Bobineaus Beitrag “ Belgiens Umgang mit der Kolonialvergangenheit”. Bis 1999 hätten Königshaus und Regierung in Brüssel eine Beteiligung an der Ermordung Lumumbas bestritten, bis De Witte in seiner Studie dies wissenschaftlich nachweisen konnte. Öffentlichkeit, Medien, Schulen und Universitäten Belgiens wiesen “große Leerstellen bezüglich einer Aufarbeitung der belgischen Kolonialgeschichte” auf (S.211). Belgische Museen blieben kolonial-rassistischen Menschenbildern verhaften und seien noch weit von einer Restitutionsdebatte entfernt, wie sie in Paris 2018 etwa von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy angestoßen wurde; international habe Hochschild 1998 mit “King Leopolds Ghost”, wo Leopolds II. Kolonialherrschaft im Kongo als “Genozid” und “Holocaust” an 10 Millionen Afrikanern bezeichnet wurde, den Druck auf Belgien verstärkt, sich endlich seiner Vergangenheit zu stellen (S.214).

Nach den Thesen von Hochschild und den Enthüllungen De Wittes zum Lumumba-Mord hätten zwar zwei belgische Ministerpräsidenten eine historische Teilschuld am in Ruanda von der Hutu-Mehrheit an den Tutsi begangenen Genozid eingestanden; man hätte jedoch die Kolonialgeschichte außer Acht gelassen. In der deutschen Kolonie Rwanda-Urundi (1884-1916) wären die Tutsi von den Deutschen als Herren über die Hutu rassifiziert worden, was die Belgier nach Übernahme des Mandatsgebietes im Ersten Weltkrieg ab 1916 fortgeführt und verstärkt hätten (S.215). Was als zynische Machtpraxis der Kolonialherrscher die Ausbeutung v.a. der Hutu sicherte, führte zu deren Hass auf die Tutsi, der sich in Genoziden 1959 und 1994 entlud (S.216).

Leider übersieht Bobineau (wie auch Gimba) eine internationale Dimension der Ermordung von Lumumba und seiner Ersetzung durch Mobutu: Die von den USA im Kalten Krieg praktizierte „Jakarta-Methode“ eines von der CIA finanzierten und gesteuerten antikommunistischen Terrors. In Brasilien 1964, Indonesien 1965 und Chile 1971 wurden ebenfalls hoffnungsvolle Ansätze linker oder sozialistischer Staatsführer durch Putsche in Blut ertränkt und faschistische oder faschistoide Diktaturen installiert, wobei der „Indonesian Genocide“ mit 5-10 Millionen brutal massakrierten Todesopfern der Strategie den Namen gab (vgl. Bevins 2023). Mobutu bemäntelte in einer Art Afrofaschismus seine Diktatur, Personenkult und Ausbeutung mit volksnah gemeinter Afrikanisierung von Namen (etwa Kongo in Zaire), gegen die natürlich nichts einzuwenden wäre, wenn sie demokratisch organisiert wäre.

König, Anarchisten und Back Lives Matter

Julien Bobineau sieht am Ende, und man möchte ihm beipflichten, doch auch positive Ansätze für eine angemessene Erinnerungskultur, vor allem bei “Schriftsteller*innen, Künstler*innen und Musiker*innen, die sich in die Debatte einbringen” (S.219). Im pompösen Strandbad Ostende, erbaut mit Erlösen aus kolonialem Raubgut wie Elfenbein und Blut-Kautschuk, die Belgien zeitweise zur viertreichsten Nation der Welt gemacht hatten, steht ein protziges Reiterdenkmal des Kolonialverbrechers Leopold II. 2004 trennte die anarchistische Gruppe “De Stoete Ostendenoare” dem König eine Hand ab, um an dessen Gräueltaten zu erinnern. Die aufrüttelnde BBC-Doku von Bates (2004) hatte die Praxis massenhafter Verstümmelungen angeprangert, Bilder verstümmelter Frauen und Kinder, Haufen von geräucherten menschlichen Händen gezeigt und dies mit Filmaufnahmen aus einem Brüsseler Schokoladen-Geschäft kontrastiert, wo offenbar eine ekelerregende Spezialität tütenweise verkauft wurde: Schwarze Hände aus Schokolade.

Die Stadtverwaltung Ostende stellte nach dem Anschlag der Anarchisten eine zusätzlich Tafel auf, die nun auch auf die Untaten Leopold II. hinweist. Das bezeuge, so Bobineau, dass der Protest Wirkung zeige. In Brüssel habe 2018 der sozialistische Oberbürgermeister Philippe Close jahrelangen Demonstrationen nachgegeben und sogar einen Lumumba-Platz eingeweiht (S.220). Weitere Fortschritte hätten die antirassistischen Proteste der “Back Lives Matter”-Bewegung nach 2020 erbracht, Büsten und Statuen Leopold II. seien mit roter Farbe übergossen worden. Der aktuelle belgische König Philippe habe daraufhin am 30.Juni 2020, dem 60. Jahrestag der Unabhängigkeit der DR Kongo, in einem historischen Wendepunkt der Beziehungen dem in Kinshasa amtierenden Präsidenten Felix Tshisekedi “sein Bedauern für das im Kongo begangene koloniale Unrecht” ausgedrückt (S.221).

Doch Bobineau ist mit der belgischen Obrigkeit weiterhin unzufrieden und bemängelt, dass König Philippe beim Staatsbesuch 2022 in Kinshasa sich dann doch nicht explizit für die Kolonialverbrechen entschuldigte, wohl auch aus Angst vor möglichen Reparationsforderungen. Zuvor hatte Bobineau in Kapitel 9 bereits die Ära Belgisch-Kongo (1908-1960) besprochen, jener staatlichen Kolonie, die durch Kauf der Besitzungen des eigenen Königs Leopold II. durch Belgien entstand. Diese Verstaatlichung wurde nötig, nachdem durch Aufdeckung der Kongogräuel um das Jahr 1900 eine Welle internationaler Empörung vor allem durch die angelsächsische Welt schwappte, die auch als erste moderne humanitäre Bewegung gesehen wird. Bezüglich Leopold II. wurde erstmals international gefordert, ein Staatsoberhaupt für seine Menschheitsverbrechen vor Gericht zustellen und zu hängen (so die BBC-Doku 2004).

Nach 1908 betrieben, so Gobineau, Staat und König eine aufwendige Kolonialpropaganda, welche die Verbrechen leugnete, vertuschte und relativierte, v.a. indem sie rassistische Bilder über die barbarische Primitivität der Kongoles*innen “als naive Wilde mit kindlicher Seele inszenierte”, die dringend Erziehung durch das zivilisierte Belgien gebraucht hätten und weiterhin brauchen würden (S.175). Im Rahmen dieser Kampagne entstand z.B. das weltberühmte Comic “Tintin au Congo” des belgischen Autors Hergé (S.177), das bis heute auch in deutschen Kinderzimmern, Schulen und Öffentlichen Bibliotheken gelesen wird; es ist ein beliebter (und nur gelegentlich umstrittener) Tim-und-Struppi-Klassiker, der das Kongo-Bild der deutschen Medienkonsumenten leider nachhaltiger geprägt haben dürfte als Bates’ schockierende BBC-Doku, die leider viel zu selten gesendet wurde. Es ist anzufügen, dass auch Deutschland bislang nur ungenügend die Aufarbeitung von Kolonialverbrechen in Afrika betreibt (vgl. Barth 2024 Waterberg); unsere deutschen Medien nehmen oft eine paternalistische und unterschwellig rassistische Haltung ein, die selbst beim vorgeblich ethisch korrekten ZDF-Wissenschafts-Talk Scobel nachweisbar ist: Dort stand am 19.9.2024 die kamerunische Informatikerin Veye Tatah, Gründerin von Africa Positive, als einzige Afrikanerin einer deutschen „Experten-Runde“ gegenüber und sorgte für einen Beinahe-Eklat:

„Nach 45 Minuten weitgehend ungetrübter Selbstbeweihräucherung deutscher Entwicklungshilfe durch die drei weißen Deutschen platzte die Bombe: Besser wäre es, so Veye Tatah, die sogenannte Entwicklungshilfe überhaupt einzustellen und stattdessen solle der Westen lieber endlich faire Preise für die afrikanischen Rohstoffe bezahlen, „ohne Kriege in den afrikanischen Ländern anzufangen, um die Produkte ganz billig rauszuholen“. (45. Minute) An dieser Stelle blickte Rainer Thiele mit aufgerissenen Augen verunsichert zu Scobel, der ähnlich entsetzt wirkte. Dieses Thema, die Durchsetzung westlicher Interessen mit Gewalt, wollte man offensichtlich nicht erörtern. Thiele schien erleichtert, als Tatah dann fortfuhr über Gesundheit und andere Themen zu reden. Keiner ging auf die Kriege ein, die aus Veye Tatahs Sicht dem Westen bislang und bis heute die Ausplünderung Afrikas gesichert hatten.“ (Barth 2024 Scobel: Afrika als Schüler und Europa als Lehrmeister). So hatten Scobel bzw. das ZDF/3sat sich offensichtlich den Beitrag von Tatah nicht vorgestellt, deren Verein doch ausdrücklich dafür eintritt, Afrika eben nicht immer nur als Kriegs- und Krisengebiet darzustellen. Hatte man sie deshalb eingeladen? In eine Sendung, die endlich einmal die Gelegenheit geboten hätte etwas tiefer in die Diskussion der politischen Hintergründe afrikanischen Elends einzusteigen, westliche Hintermänner und Nutznießer*innen ans Licht zu zerren und Maßnahmen gegen deren Korruption und Menschenrechtsverbrechen zu fordern?

Die DR Kongo als Eldorado des Neoliberalismus

Neben den in dieser Rezension fokussierten Fragen der Kolonialkritik und Vergangenheitsbewältigung informiert das vorliegende Handbuch über viele weitere Aspekte der DR Kongo. Roos Haer und Lilli Banholzer stellen in Kapitel 13 “Konfliktakteure” die Regierungsarmee und ihre sieben wichtigsten Gegnergruppen vor (von 130 Rebellengruppen, die Zogg auf S.310 zählt). Benno Zogg erklärt in Kap.16 „Politisches System“, das Land sei als „gescheiterter Staat“ seit der Kolonialzeit leichte Beute der westlichen Interessen; machthabende „Eliten und ihre ausländischen Sponsoren bereicherten sich durch Kriegswirtschaft und Ressourcenausbeutung“ S.307). Der Kabila-Clan sei Profiteur des korrumpierten Landes, der unter Kabila junior zwei Jahrzehnte lang Banken, Hotels und Mobilfunkfirmen unter sich aufteilte (S.313). Der 2018 gewählte Präsident Félix Tshisekedi „trat sein Amt 2019 an unter Vorwürfen, mittels Wahlfälschung Präsident von Kabilas Gnaden zu sein.“ (S.309)

Der failed state DR Kongo, wie Zogg ihn beschreibt, ist ein Deregulations-Eldorado des Neoliberalismus: Die Reichen zahlen kaum Steuern, Konzerne tun und lassen, was sie wollen (plündern, ausbeuten, Kinder versklaven), ein völlig verarmter Staat wird durch Macht- und Patronage-Netze ersetzt; unterbezahlte Beamte, Polizei, Militärs pressen ihre Entlohnung der Bevölkerung ab, Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsysteme sind ausgeblutet, Lebensbedingungen und Lebenserwartung sind gnadenlos reduziert. Ständig beraubte Bauern geben eine langfristige Ernteplanung auf (S.317), Hunger treibt die Arbeiter zu unmenschlichen Bedingungen im Bergbau zu schuften (statt als klassische Sklaven als neoliberal-freie „Ich-Unternehmer“), wertvolle Minerale können zum Spottpreis eingesackt werden. Keine staatliche Behörde greift dem Räderwerk von Finanzmärkten, Industriekonzernen und Söldnertruppen in die Speichen: So stellen sich Neoliberale wohl eine ideale, (nach außen) „Offene Gesellschaft“ vor.

Kritik und Fazit

Im zwölften Kapitel, “Konfliktgeschichte”, versucht Wolfgang Schreiber den Ersten und Zweiten Kongo-Krieg (auch “Großer Afrikanischer Krieg” oder “African World War” genannt) darzustellen –auf 20 Seiten ein kaum lösbares Unterfangen. Besonders hier stört ein Manko des Handbuchs: Es fehlen meist orientierende Übersichtshilfen, um das komplexe Geschehen erfassen zu können: Personen- und Sachregister, Zeittafeln wichtiger Ereignisse und den Text illustrierende Karten, die leider nur im Kap. „Klima“ überreichlich vorhanden sind. Eine abschließende Lektüre der Druckfahnen durch alle Autor*innen hätte Widersprüche und Fehler, die bei so einem komplexen Wissensgebiet nicht ausbleiben, evtl. vermindern können. So variiert die angegebene Länge des Zweiten Kongo-Krieges zwischen zwei, drei, vier oder fünf Jahren (S.243, 281, 287, 353), die Zahl der im Kongo gesprochenen Sprachen von 215 bis 250 (S.434, 503), die Zahl der im Kongo gesprochenen Sprachen von 215 bis 250 (S.434, 503), die Universitätsstadt Lubumbashi liegt nicht westlich (S.368), sondern südöstlich von Kinshasa -und Kobalt gehört, obwohl dort als einziges Beispiel genannt, nicht zu den begehrten Seltenen Erden (S.197).

Das Handbuch zeichnet ein umfassendes Bild der DR Kongo und blickt dabei auch in Abgründe kolonialer Ausbeutung sowie ihrer tendenziellen Vertuschung in der westlichen Öffentlichkeit. Es informiert über (immer wieder) vergessene Kolonialverbrechen wie die Kongogräuel, die Ermordung Lumumbas, die Kongo-Kriege um Rohstoffe. Es zeigt auch Erfolge von Protestbewegungen bei der Aufklärung einer medial mit Klischees eingelullten Öffentlichkeit, die vom Unrecht auch gerade aktueller Ausbeutung abgelenkt werden soll.

(Anm. Der Autor dieser Rezension verzichtet auf Besitz und Benutzung eines Mobil-Telefons wegen Blut-Coltan, Überwachungsgefahr und aus Protest gegen die Seuche des Digitalzwangs.)

Autor*innen, Herausgeber und Hintergrund

Die drei Herausgeber sind: Julien Bobineau ist Gründer von D2 – Denkfabrik Diversität und habilitiert an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Fachbereich Interkulturelle Wirtschaftskommunikation. Philipp Gieg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Postdoktorand am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Europaforschung des Instituts für Politikwissenschaft und Soziologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Timo Lowinger ist Doktorand am Institut für Politikwissenschaft und Soziologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Dazu kommt ein internationales Team von 26 Autor*innen, meist aus deutschsprachigen Ländern, acht aus der DR Kongo fünf aus Belgien. Hintergrund ist das Fehlen aktueller Literatur zur DR Kongo im deutschsprachigen Raum. Das Forum Afrikazentrum und die Humanwissenschaften der Uni Würzburg sowie D2 – Denkfabrik Diversität waren an der Finanzierung des Buchprojekts beteiligt (S.22).

Quellen

Barth, Thomas: Bertelsmann -ein globales Medienimperium macht Politik. Expansion als Bildungsdienstleister und politische Einflussnahme, Anders-Verlag, Hamburg 2006.

Barth, Thomas: Professoren-Protest gegen 10 Jahre „Bologna-Prozess“, Telepolis 16. Juni 2009 , darin das Zitat: „Demokratie (wird) auf ein Voting-Spektakel reduziert, das sich medial nahtlos in die diversen Votings der Casting-Shows (bei RTL-Bertelsmann) einfügt.” Konrad P. Liessmann

Barth, Thomas: 68er-Statements: Das Elend der Universitäten -Humboldt in Bologna?, Telepolis 19. Juni 2009

Barth, Thomas: Kolonialverbrechen und deutsche Schuld: Schlacht am Waterberg, Telepolis 11. August 2024

Barth, Thomas: Scobel auf 3sat: Afrika als Schüler und Europa als Lehrmeister, Telepolis 30. November 2024

Barth, Thomas: Die Jakarta-Methode: Massenmorde unter falscher Flagge, Telepolis 11. März 2023

Bevins, Vincent: Die Jakarta-Methode: Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt, Papyrossa Verlag, Köln 2023.

Bobineau, Julien, Philipp Gieg, Timo Lowinger (Hg.): Handbuch Demokratische Republik Kongo. Geschichte, Politik, Gesellschaft, Kultur, Frank&Timme Verlag, Berlin 2024.

Habila, Helon: Ken Saro-Wiwa. Für die Ogoni und gegen Shell, in: in: Dialloh, Moustapha (Hg.): Visionäre Afrikas. Der Kontinent in ungewöhnlichen Portraits, Kaddu Verlag, o.O. 2022, S.29-38.

Ki-Zerbo, Joseph: Die Geschichte Schwarz-Afrikas, Fischer Verlag, 1981.

Riel, Aert van: Genozid, Basiswissen Politik, Papyrossa Verlag, Köln 2025.

Sarr, Felwine: Afrotopia, BPB (Bundeszentrale für Politische Bildung), Bonn 2020.

Schumann, Gerd: Patrice Lumumba, Basiswissen Politik, Papyrossa Verlag, Köln 2024.

Julien Bobineau, Philipp Gieg, Timo Lowinger (Hg.): Handbuch Demokratische Republik Kongo. Geschichte, Politik, Gesellschaft, Kultur, Frank&Timme Verlag, Berlin 2024, 678 S., 148,00 Euro, ISBN 978-3-7329-0434-1

04/28/19

Felwine Sarr: Afrotopia – Kultur, Zeit, Netze

Rezension von Thomas Barth

Afrotopia ist ein Manifest des senegalesischen Kultur- und Wirtschaftswissenschaftlers, Musikers und Schriftstellers Felwine Sarr. In seinem Buch plädiert Sarr für eine Neugestaltung der afrikanischen Gesellschaften und Wirtschaftssysteme, um eine bessere Zukunft für den Kontinent zu schaffen. Eigene sozioökonomische und digitale Netzwerke, eigene Zeit- und Kulturautonomie wären die notwendige Basis, um sich aus der politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Dominanz des Westens zu befreien.

Dem neoliberal-neokolonialistischen Homo Oekonomicus ist die soziokulturelle Rationalität eines Homo Africans entgegenzustellen, von der zur Abwechslung jetzt der Westen einmal etwas lernen könne. In der Netzkultur kennen wir schon aus den Bantu-Sprachen den Begriff Ubuntu, was für die Zulu- und Xhosa-Kulturen etwa „Menschlichkeit“ bedeutet und die Achtung der Menschenwürde mit dem kollektiven Streben nach einer friedlichen und harmonischen Gemeinschaft verbindet (Nelson Mandela erklärt den Begriff Ubuntu). Die Debian-Opensource-Community wählte den Namen Ubuntu in diesem Sinne für ihr gemeinschaftlich entwickeltes Linux-Betriebssystem, wie der Kulturphilosoph Felix Stalder ausführt.

Hintergrund: Restitution und Neoliberalismus

„Die Maxime der Ubuntu-Philosophie, Ich bin, weil wir sind, nimmt das gesellschaftliche Wesen des Individuums zum Ausgangspunkt, gibt dem Gemeinwohl und dem Respekt vor der Menschlichkeit des anderen den Vorrang.“ (Sarr, Afrotopia, S.96) So referiert Sarr die bedeutendste Wurzel der erhabenen Vision des Politischen, die Nelson Mandela während seiner Haft als politischer Gefangener des rassistischen „Apartheit-Regimes“ in Südafrika entwickelte und schließlich zum Sieg führte. Sie ist das Gegenteil der Ideologie des Neoliberalismus, den heutige Neoimperialisten wie Niall Ferguson (so kritisiert ihn Pankaj Mishra) durch Wiederbelebung kolonialer Machthierarchien und imperialen Größenwahns aus seiner weiter schwelenden Finanzkrise führen wollen. Doch Autoren wie Sarr leisten Gegenwehr und lassen die Ausblendung kolonial-imperialistischer Verbrechen nicht zu.

Felwine Sarr machte sich auch, zusammen mit seiner Kollegin Bénédicte Savoy, einen Namen im Bereich der Restitutionsforschung. Zur Kulturautonomie gehört das selbstbewusste Zurückfordern von Raub- und Diebesgut, wie perspektivisch auch das Einklagen von Entschädigung für die Barbarei des jahrhundertelangen Sklavenhandels, der den Westen bei seinem Aufstieg zu globaler Dominanz überhaupt erst reich gemacht hat. Das betrifft auch den, von konkurrierenden Kolonialmächten freilich schnell beendeten, kaiserlich-deutschen Raubzug nach Afrika. Die Entschuldigung bei den Hereros für den deutsch-wilhelminischen Vökermord und die Rückgabe von Benin-Bronzen an Nigeria sind nur der Anfang. In den etwa 50 deutschen Völkerkundemuseen lagern noch mehrere hunderttausend Objekte, die aus der Kolonialzeit stammen und deren Herkunft angeblich unklar ist. Obwohl wahrscheinlich ist, dass es sich zumeist um Hehlerware handeln dürfte, um Beute- oder Raubkunst, tut man sich in der Wissenschaft schwer, mit afrikanischen Kollegen zu verhandeln. Allen deutsch-museal Beschäftigten wäre Afrotopia auch als Verständnishilfe in der interkulturellen Kommunikation zu empfehlen, denn die Zeit scheint endgültig vorbei, wo man ganz naiv von den „unterentwickelten Ländern“ eine Übernahme westlicher „Standards“, die oft nur ideologische Sichtweisen meinen, erwarten durfte.

Der Westen bemisst und bewertet die ganze Welt anhand seines Modells, kritisiert Sarr, das an Kriterien von Reichtum, „freien Märkten“ und der grenzenlosen ökonomischen Expansion orientiert ist. Er meint die erzkapitalistische Ideologie des Neoliberalismus, die unserem Leben nur als ökonomische Leistung einen Wert zugesteht, nicht als Erfahrung, Kultur und Gesellschaft. Diese ökonomische Leistung ist dabei grundsätzlich etwas, das diejenigen, die in der Hierarchie unten sind, zum Nutzen derjenigen zu erbringen haben, die das Privileg der Herrschaft besitzen. Der Sozialstaat, Solidarität und soziale Rechte werden als „Sozialismus“ dämonisiert und im Namen einer „Freiheit“ bekämpft, die streng nach individueller Finanzkraft zugemessen oder vorenthalten wird.

„Es gibt keine Gesellschaft“, da sind nur Individuen, behauptete die Scharfrichterin der britischen Arbeiterbewegung, Premierministerin Margret Thatcher, wofür erzkonservative Propagandisten einer brutalen Marktideologie sie bis heute bejubeln, etwa im Deutschlandfunk (DLF): Die Gesellschaft sei nur Konstrukt, die Freiheit beginne „beim Ich“, nur das könne denken und handeln, nicht das Kollektiv; „Insofern gibt es keine Gesellschaft, es gibt immer nur Individuen. Wir leben schließlich nicht im Sozialismus.“ Und die neoliberale Thatcher, die Millionen britische Arbeiter ins Elend brachte, um Konzerngewinne explodieren zu lassen, habe ja auch „die Familie“ in ihrem viel zu selten vollständig gelesenen Interview erwähnt -„die Familie“, jeder Mafia-Pate und Rechtspopulist lobt sie über den grünen Klee. Hier dient sie, um suggestiv vom brutalen Kerninhalt der Aussage, von der unsozialen Politik Thatchers und des Neoliberalismus abzulenken.

Doch die meisten Menschen der Welt haben genug vom neoliberalen Raubtierkapitalismus und der ausgefeilten Propaganda seiner Ideologen, nicht nur in Afrika. Das westliche Modell beruft sich auf angeblich „freie Märkte“, hinter denen sich aber oft nur lichtscheue Netzwerke der Herrschaftseliten verbergen, und will arrogant darüber entscheiden, welches Land, sogar welcher Kontinent, als „entwickelt“ gilt oder als „unterentwickelt“. Nebenbei bemerkt: Der diktatorische Sozialismus Libyens brachte den Libyern zwar nicht die volle westliche Freiheit, aber -sogar nach westlichen, laut Sarr, wie wir sehen werden, „quantophrenischen“ Maßstäben- den höchsten Lebensstandard Afrikas, Bildung, Gesundheitswesen, Frauenemanzipation. Weil das aber nicht ins ideologische Weltbild passte und Libyen frecherweise auch noch sein Öl eigenmächtig an die Chinesen verkaufen wollte, bombte der Westen völkerrechtswidrig islamistischen Terrorhorden den Weg nach Tripolis frei: Den Afrikanern ging es wieder dreckig und das begehrte Öl floss westwärts. Neokolonialismus macht reich, aber niemals frei -und reich auch nur die Kolonialisten.

Das neoliberale Denken hat sich von den humanistischen Wurzeln des politischen Liberalismus weit entfernt, denn in der Technokratie gibt es (angeblich) kein Gegenüber mehr, bei dem wir unsere Menschenrechte einfordern könnten (Günther Anders). Der Neoliberalismus basiert auf einer bornierten Ideologie, die der Humanität und der Vernunft ebenso Hohn spricht wie der Vielfalt menschlicher Kulturen. Insbesondere der Vielzahl lokaler und regionaler Kulturen, wie sie allein Afrika, die Wiege der Menschheit, hervorgebracht hat.

Zu Afrotopia: Der blinde Fleck der Liberalen

Sarr will den „blinden Fleck des neoklassischen Paradigmas“ enthüllen, „kollektive Kräfte“ zur Kenntnis nehmen (S.79) und entlarvt das neoliberale Gerede vom universalen „Ich“ versus der „konstruierten Gesellschaft“ als ideologisch einseitige Verkürzung: Selbstverständlich ist auch das im staatsnahen DLF propagierte angeblich „freie Ich“ nur eine Konstruktion, leider die einer toxisch gewordenen Unkultur von Konkurrenz, Überwachung und Angst. Sarr aber konstruiert, unter Verweis auf Arendt, Adorno, David Throsby und den Netzphilosophen Michel Foucault, die Ökonomie lieber als kulturellen Prozess statt umgekehrt (S.71 ff.). Und Sarr dreht auch die in westlichen Medien kolportierten, einseitig als katastrophisch konstruierten Meldungen von hoher Geburtenrate und Übervölkerung um: Die Demografie spricht für Afrika als kommenden Kontinent.

In 35 Jahren wird bei Fortschreibung heutiger demografischer Trends ein Viertel der Weltbevölkerung in Afrika zuhause sein. Es ist also an der Zeit, die verborgene Lebenskraft dieses Kontinents zu entdecken und das Zeitalter eines Afrofuturismus auszurufen. Afrotopia hat in der intellektuellen Welt viel Aufmerksamkeit erregt und wird oft als wichtiger Beitrag zur Debatte über die Zukunft Afrikas angesehen. In „Afrotopia“, wie der Essay auch im französischen Original heißt, steckt der Begriff „Utopia“ – Sarr rehabilitiert den von Reaktionären und Liberalen aus Angst vor der kommunistischen Utopie durch diffamierende Reduktionen in Misskredit gebrachten Begriff. Die allzu billige Gleichsetzung jeder „utopischen“ Forderung nach Entmachtung und Enteignung bourgeoiser Herrschaftsklassen mit dem gebetsmühlenhaft beschworenen Stalinismus lässt sich der afrikanische Star-Ökonom nicht so leicht aufschwatzen wie die konformistische Mehrheit seiner westlichen Kollegen. Ist Sarr ein sozialistischer Denker? In vieler Hinsicht schon, besonders in seiner Gegnerschaft zur herrschenden kapitalistischen Ideologie, ob man sie nun „Globalisierung“ oder Neoliberalismus nennt.

Bei Felwine Sarr sind antikommunistische Konservative und Reaktionäre jedoch mit ihrem Pochen auf Familie und Tradition gegen „die gottlosen Sozialisten“ an der falschen Adresse: Traditionelle Sitten und Strukturen führt er in Hülle und Fülle an, nur eben nicht die biologistisch verabsolutierte bourgeoise Kleinfamilie, die konservative Westeliten ihrem Proletariat und neuerdings Prekariat als Paradies der Seligkeit verkaufen wollen. Er verweist auf die Kulturen der Muriden und Sufis, Wiredu und Modimbe, die Serer und Songhai und ihre soziohistorischen Wurzeln im Malireich, Ghana und Altägypten. In der Bildungsforschung stellt die Ethnologie der „New Kinship Studies“ inzwischen ähnliche Fragen an hergebrachte Konstrukte wie „die Familie“.

Der visionäre Ökonom und Kulturwissenschaftler Felwine Sarr entwickelt in seinem Manifest eine visionäre Utopie, wie eine eigene Form afrikanischen Fortschritts gelingen könnte, vor allem durch Entscheidungsautonomie und ein selbst gewähltes Entwicklungstempo. Langfristig könnte die afrikanische Kulturrevolution auch neue Ansätze für eine nachhaltige Entwicklung auf anderen Kontinenten liefern, bringt Sarr den generationenlang emsigen „Entwicklungshelfern“ ironisch seine Deutung nahe. Der Süden kann Vorbild werden -wenn es Afrika gelingt, sich vom schwarzen Erbe der europäischen Invasoren und Kolonialdiktaturen zu befreien. Denn das heutige „Afrika“ ist eine Erfindung Europas, die Sarr „Afropessimismus“ nennt:

„Seit den 1960er-Jahren und seit dem Morgen der Unabhängigkeit ist Afrika… ohne Unterlass als der Kontinent beschrieben worden, der einen Fehlstart hingelegt hat und seitdem am Abdriften ist: ein sterbendes Ungeheuer, dessen jüngste Zuckungen das baldige Ende ankündigen. Die grimmigen Zukunftsprognosen folgen einander im Gleichschritt… Auf dem Höhepunkt der Aids-Pandemie prophezeiten einige Auguren nichts weniger als die Auslöschung allen Lebens auf dem afrikanischen Kontinent. Soll diese Ansammlung von Elend doch von einer Gesundheitskatastrophe zugrunde gerichtet werden, der übrigen Menschheit kann es dann nur besser gehen.“ (S.9)

Deshalb ist „Afrika“ auch unter Ägide des Postkolonialismus ein finsteres Wort geblieben: „Dunkler Kontinent“, „Elendsgebiet“, „Rohstofflager der Welt“. Weiterhin wird Afrika mit Stereotypen belegt, die Unterentwicklung und Armut betonen. Weiterhin werden die Perspektiven des Kontinents an westlichen Fortschrittsmaßstäben gemessen, obwohl sich diese längst als unbrauchbar, wenn nicht gar zerstörerisch erwiesen haben. In seinem bahnbrechenden Manifest, das Analyse und Utopie anstrebt, fordert Felwine Sarr eine wirkliche Entkolonialisierung Afrikas, die auch auf die Kolonialzeit zurückgehende Institutionen und Handelsbeziehungen überwindet. Afrikanische Probleme können nur durch ein umfassenderes Verständnis ihrer Ursachen und nur durch die Afrikanerinnen und Afrikaner selbst gelöst werden.

Entwicklung“ -ein ideologisches Konzept

Wenn im Westen von „entwickelten“ oder gar von „unterentwickelten“ Ländern geredet wird, werden diese Begriffe selten reflektiert. Sarr analysiert diesen Begriff, der sich bis in die UNO-Milleniums-Entwicklungsziele verfolgen lässt, als Worthülse, die darauf zielt, „die Mythen des Westens auf die Entwicklungsverläufe afrikanischer Gesellschaften zu projizieren; der Westen habe habe damit „fremden mythologischen Universen“ sein „Interpretationsraster aufoktroyiert“ (S.17).

Ein begriffliches Defizit sei dabei die „quantophrenische Schieflage“, der „Zwang, alles zu zählen, zu bewerten, zu quantifizieren und in Gleichungen einzufügen.“ Bei einer solchen „mathematischen Reduktion der Realität bestehe die Gefahr, dass unvollkommene Maßeinheiten und Bezugspunkte unter der Hand in Zwecke des gesellschaftlichen Abenteuers umgedeutet werden.“ Sogar der Lebensqualität einbeziehende „Index der menschlichen Entwicklung“ diene letztlich dazu, Nationen zu klassifizieren und Rangordnungen zu erstellen, „mit Klassenbesten und Klassenschlechtesten“. Dabei sagen solche Indikatoren „nichts über das Leben selbst“ (S.18).

Etymologisch sei „Entwickeln“ der Gegensatz des „Einwickelns“ und genau das habe der Westen in Wirklichkeit mit nichtwestlichen Gesellschaften in seiner „Entwicklungspolitik“ getan: „Man hat sie in gesellschaftliche Formen eingewickelt, die ihnen nicht entsprechen.“ (S.23). Geködert mit Wohlstand, den der Westen der Plünderung seiner Kolonialreiche verdankt, wären viele dieser Ideologie auf den Leim gegangen. Deren scheinbare Objektivität des Bruttosozialprodukts basiere auf einem Weltbild der westlichen Neuzeit-Kultur, das Rationalität mit bestimmten westlichen Mythen verbinde: Gesellschaftlicher Evolutionismus, sprich: „Entwicklung“, sei analog biologischer Prozesse konstruiert; die Utopie grenzenlosen Wirtschaftswachstums wurzelt nach Sarr in „der Vorstellung eines unbegrenzten Himmelsreichs, wie man sie aus der christlichen Eschatologie kennt“ (S.22). Profanisiert zu westlichen Leitbegriffen wie Ordnung, Vernunft, Fortschritt und Wachstum finde sich dort die „Utopie einer deterministischen und vorhersagbaren Welt“, die im Europa des 17.Jahrhunderts entstand.

Ein Kernbegriff der Kritik von Falwine Sarr ist leider schwer ins Deutsche zu übersetzen: Ökomythos (S.25). Die Vorsilbe „Öko“ ist bei uns fest mit „Ökologie“ verknüpft, meint aber bei Sarr die Ökonomie. Da es kein naheliegendes deutsches Wort gibt („Kapitalismus“, „Instrumentelle Rationalität“ wären zu holprig) blieb es missverständlich im Text stehen -besser wäre vielleicht noch „Finanzmythos“, doch das fasst die Begriffsgeschichte erst ab der neoliberalen Finanzialisierung der Weltökonomie.

„Dieser Ökomythos ist zum einen dadurch hegemonial geworden, dass er westliche Vorstellungen des gesellschaftlichen Abenteuers auf Afrika projiziert hat, zum anderen dadurch, dass er stets dazu tendierte, sich in sämtliche soziale Praktiken einzuschreiben.“ (S.26) Das verhängnisvolle Versagen dieses Öko– bzw. Finanzmythos zeige sich in „Krise der Weltwirtschaft, die wir heute durchleben“. Die seit 2008 gärende Finanzkrise, deren Schockwellen, ausgehend von der Lehman-Pleite, weltweit Krisen verursachten, war für Sarr 2016 noch gegenwärtiger als heute. Abgelenkt von der endlich nicht mehr abzuleugnenden Klimakrise und vor allem vom Ukrainekrieg, sind sie fast schon wieder vergessen, die Bruchstellen im Finanzsystem -sie sind jedoch nur dürftig gekittet. Derzeitig explodierende Rüstungsetats im Westen könnten sogar als brandgefährlicher Versuch gedeutet werden, die Finanzkrise weiter zu verbergen und einer fatalen „Lösung“ in einem Dritten Weltkrieg zuzuführen.

Kein Wunder, dass Sarr dazu rät, „sich von der Herrschaft der mechanischen Vernunft zu befreien, indem man aufhört, den Geboten der herrschenden Wirtschaftsordnung zu folgen (Entwicklung, Ökonomismus, unbegrenztes Wachstum, Massenkonsum).“ (S.27) Die Wirtschaft solle, ihres dominierenden Selbstzwecks entkleidet, endlich wieder zu einem Mittel werden, das „den von der Gruppe definierten gesellschaftlichen Zwecken dient“ (S.28).

Afrika sollte sich auf seine verfemten und verdrängten geistigen Ressourcen zurückbesinnen, ohne den Kontakt mit der Moderne zu verleugnen. So findet sich eine Fülle kulturellen und geistigen Reichtums, die auf ein anderes, ausgeglicheneres Verhältnis zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur verweist. Die afrikanische Kulturrevolution bietet dabei auch für den Rest des Planeten dringend benötigte Ansätze, um eine postkolonialistische Zivilisation zu begründen. Afrika muss niemanden einholen auf Pfaden, die man ihm vorgibt. Es muss einen Weg gehen, den es für sich selbst gewählt hat. Es muss sich aus dem Wettbewerb lösen, aus einer kindischen Haltung, in der sich die Nationen vergleichen, um zu sehen, wer den größten Reichtum angehäuft hat -im Fall der westlichen Nationen fast immer, ohne zu fragen wie dies geschah. Und Afrika hat auch das Potential, so der Ökonom Sarr, sich aus diesem unverantwortlichen Wettbewerb zu lösen, der unsere sozialen und ökologischen Lebensgrundlagen zu zerstören droht.

frz.Original Édition Philippe Rey 2016

Eigene Zeit, eigene Netzwerke
Oft hysterische, angeblich immer wohlmeinende westliche Entwicklungshilfe kann man angesichts der dürftigen Ergebnisse kritisch sehen. Afrikas einzige Dringlichkeit besteht darin, so Felwine Sarr, endlich seinem Potenzial gerecht zu werden. Afrika muss seine Entkolonialisierung durch eine fruchtbare Begegnung mit sich selbst vollenden. In 35 Jahren wird seine Bevölkerung ein Viertel der Weltbevölkerung ausmachen und die lebendige Kraft einer alternden, hoffentlich nicht mehr von „alten weißen Männern“ regierten Welt sein. Ein demografisches Gewicht und eine Vitalität, die das soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Gleichgewicht des Planeten beeinflussen werden. Schon heute verfügt der jüngste Kontinent der Welt über eine Jugend, die sich in den stereotypen Nachrichtenbildern von Hunger und Elend in den europäischen Medien nicht wiederfinden kann. Felwine Sarr wendet sich selbstbewusst gerade an die ehemaligen Kolonialisten in Paris:

„Diese Jugend nutzt die sozialen Netzwerke, betreibt Blogs, tweetet, kommentiert Nachrichtenmeldungen, äußert ihre Meinung und beobachtet den Lauf der Welt. Sie ist rasch zur Stelle, wenn es auf einen im Gewand der Frankofonie auftretenden kulturellen Imperialismus zu reagieren gilt. Wo doch demografische und soziolinguistische Dynamiken aus dem Französischen nicht nur eine afrikanische Sprache gemacht haben, sondern auch eine, die nur dank afrikanischer Demografie überleben und ihren internationalen Status behalten wird.“ (S.93)

Um ein treibender Akteur der Geschichte zu werden, muss Afrika eine tiefgreifende kulturelle Revolution durchlaufen. Es muss sich von den Versuchungen des Westens lösen, wie Sarr unter Berufung auf den indischen Kritiker westlicher Dominanz, Pankaj Mishra, betont, und den „Reichtum der eigenen gesellschaftlichen Besonderheiten“ retten (S.122). Es muss am Aufbau einer bewussteren Zivilisation mitwirken, die sich kraftvoller um das Gemeinwohl, das Gleichgewicht verschiedener soziokultureller Ordnungen und um die Würde des Menschen bemüht. Afrotopia ist ein Ausdruck des Vertrauens in diese beherzte Utopie: Sarr fordert ein Afrika, das dazu beiträgt, unsere globale Gesellschaft auf eine neue Stufe zu heben. So schließt Afrotopia optimistisch:

„Afrika muss auch die Rolle seiner Kultur neu überdenken. Kultur als Suche nach Zwecken, nach Zielen und Gründen, überhaupt zu leben, als Verfahren, um dem menschlichen Abenteuer einen Sinn zu verleihen. Um Kultur in diesem Sinn zu verwirklichen, bedarf es einer radikalen Kritik all dessen, was in den heutigen afrikanischen Kulturen die Menschheit und die Menschlichkeit eindämmt, behindert, begrenzt oder herabsetzt. Zugleich müssen aber bestimmte afrikanische Werte rehabilitiert werden: jom (Würde), Gemeinschaftlichkeit, téraanga (Gastfreundschaft), kersa (Bescheidenheit), ngor (Ehrgefühl). Es gilt, den tiefgreifenden Humanismus der afrikanischen Kulturen zutage zu fördern und zu erneuern. Die Revolution, die es auf den Weg zu bringen gilt, ist eine spirituelle. Und es scheint uns, dass die Zukunft der Menschheit von ihr abhängt. Am Tag der Revolution wird Afrika, wie zur Zeit der ersten Morgenanbrüche, wieder das spirituelle Zentrum der Welt sein.“ (S.156)

Die Afrotopia-Buchbesprechung im staatsnahen Deutschlandfunk meinte offenbar der deutschen Öffentlichkeit in seinem Zitat genau dieser Passage weder die afrikanischen Worte zumuten zu können, noch den auf „den Tag der Revolution“ verweisenden Schlusssatz. Besser lässt sich die Notwendigkeit der deutschen Fassung von Felwine Sarrs Manifest wohl nicht dokumentieren als mit dieser eurozentrischen Verkürzung, die fremde Sichtweisen noch dort zum Verstummen bringen will, wo sie ihnen vermeintlich lobend das Wort erteilt.

Der Autor: Felwine Sarr wurde 1972 in Niodior im Senegal geboren. Er ist Schriftsteller, Musiker und lehrt als Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Gaston Berger Universitat in Saint-Louis, Senegal. Im März 2018 wurde er gemeinsam mit Benedicte Savoy von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beauftragt, die Rückgabe von französischer Raubkunst nach Afrika vorzubereiten. Felwine Sarr gilt als einer der meistdiskutierten Denker Afrikas. Zusammen mit Bénédicte Savoy wurde Felwine Sarr vom Time Magazin zu den 100 einflussreichsten Menschen 2021 gewählt. Bénédicte Savoy, 1972 in Paris geboren, lehrt Kunstgeschichte an der TU Berlin. Ihre Forschungsinteressen sind Kunst und Kulturtransfer in Europa, Museumsgeschichte sowie Kunstraub und Beutekunst. 2016 erhielt sie den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Das Buch von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy: „Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“ stellt die Kolonialisten zur Rede. Der von Präsident Macron beauftragte Bericht zur Rückgabe des in französischen Museen befindlichen afrikanischen Kulturerbes lag im November 2018 vor. Er löste eine bis heute anhaltende Debatte aus, die über Frankreichs Grenzen hinausging. Sarr und Savoy zeigen, dass ein großer Teil der afrikanischen Sammlungen in den ethnologischen Museen Europas gewaltsam im Zuge des Kolonialismus oder durch die Übervorteilung der Einheimischen geraubt wurde. Bis heute befinden sich ca. 90 Prozent des afrikanischen Kulturerbes außerhalb des Kontinents. Nötig ist eine radikale Revision der bisherigen Sammlungspraxis, die auch deutsche Museen und nicht zuletzt das geplante Humboldt Forum berührt. Die Debatte über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes sollte einen neuen gleichberechtigten Dialog zwischen Afrika und Europa eröffnen. Doch es kam anders: Der französische Präsident wollte seinen Rat, wie er mit kolonialer Raubkunst umgehen solle – und schlug ihn in den Wind, so Felwine Sarr am 29.7.2019 in der „ZEIT“ über die Arroganz der Europäer und die große Chance der Restitutionsdebatte.

Das französische Original wurde erstmals im Jahr 2016 veröffentlicht, die deutsche Übersetzung folgte 2019 im Verlag Matthes & Seitz und seit 2020 liegt bei der staatlichen Bundeszentrale für Politische Bildung eine billige Ausgabe vor. Dieser Buchbesprechung lag die erste deutsche Übersetzung vom Verlag Matthes & Seitz zugrunde, der auch den Bericht an den Präsidenten der französischen Republik, Emmanuel Macron, übersetzte:

Sarr, Felwine: Afrotopia, Berlin 2019, Matthes & Seitz, 175 Seiten, 20,00 Euro, ISBN: 978-3-95757-677-4, 2020 erschien die druckgleiche, im Rahmen des Förderprogramms des Institute fancais herausgegebene BPB-Ausgabe mit dem Hinweis: „Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.“

Sarr, Felwine und Bénédicte Savoy: Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin 2019, Matthes & Seitz Berlin, 18,00 Euro, ISBN: 978-3-95757-763-4