Computer sind komplex. Sie bis ins letzte Detail zu verstehen, grenzt an Unmöglichkeit. Doch wer Wert auf ein freies und selbstbestimmtes Leben legt, kommt um ein Mindestmaß an Computerverständnis nicht umhin. Denn die Digitalisierung würfelt unsere Gesellschaft ganz schön durcheinander. Damit wir für die technischen Entwicklungen als Gesellschaft Verantwortung übernehmen können, sollten wir unabhängig davon entscheidungsfähig sein. Um mündig zu sein ist es nicht nötig, alles immer und in jedem Augenblick perfekt zu machen. Digitale Mündigkeit bedeutet Verantwortung für das eigene Handeln im digitalen Raum selbst zu tragen.
Was ist digitale Mündigkeit?
„Mündigkeit“ ist zunächst ein Rechtsbegriff. Er bedeutet, dass ein Mensch verantwortlich für sein Leben ist. Historisch leitet er sich ab von altdeutsch Munt, der Bezeichnung für die Verantwortung des früheren Hausherren über seine Frau, Kinder und Gesinde. Mündig konnten damals nur Männer werden, nämlich dann, wenn sie aus der Munt des Vaters heraustraten und für ihr eigenes Leben Verantwortung übernahmen. Frauen gingen über von der Munt des Vaters in die Munt des Ehemannes. Heute ist Mündigkeit vor allem ein rechtlicher Status, der einem Menschen z.B. das Wahlrecht oder das Recht, die Ehe einzugehen, zuspricht. Mündig sein bedeutet Verantwortung für das eigene Leben zu tragen. Neben der rechtlichen Bedeutung gibt es auch eine philosophische Definition von Mündigkeit. Immanuel Kant griff den rechtlichen Begriff auf und wendete ihn auf eine ganze Gesellschaft an. Er vergleicht die Geschichte der Menschheit mit dem Heranreifen eines Kindes. Damit legte die Aufklärung die Grundlagen der modernen Demokratie. Wir tragen also doppelte Verantwortung: Für unser eigenes Leben und für den Fortbestand unserer Gemeinschaft. Dieser Verantwortung müssen wir uns bewusst sein, vor allem dann, wenn wir uns im Internet bewegen. Denn wir tragen ebenfalls Verantwortung für den Fortbestand unserer Kommunikationsgemeinschaft… Doch Kant warnte damals schon, dass es nicht möglich sei, ad hoc mündig zu werden, wenn man zuvor noch gar nicht frei war. Mündigkeit ist Übungssache. Auch in der digitalen Welt: Menschen werden mit unfreier und komplizierter Software konfrontiert, die ihnen gar nicht die Möglichkeit bietet, deren Funktionsweise zu studieren. Der Umgang mit dem Computer wird oft nur minimal und oberflächlich antrainiert und später nicht mehr hinterfragt.
Heimliche Entmündigung: Meist nehmen wir gar nicht mehr so deutlich wahr, wo und wie wir überall entmündigt werden. Wenn wir einen Kredit nicht erhalten, weil uns eine Datenbank (anhand der statistischen Eigenschaften unserer Nachbarn) als nicht zuverlässig eingestuft hat, oder einen Job nicht antreten dürfen, weil wir vermeintlich Asthmatiker sind (dabei hatten wir nur für den Vater die Medikamente gekauft): Wir kennen diese Gründe nicht und können daher nicht beurteilen, wie sehr die weltweite Datensammlung schon unseren Alltag beeinflusst. Wie soll man da noch Verantwortung für das eigene Leben übernehmen?
Die Filterblase: Um im großen Datendickicht den Überblick zu wahren, wird im Internet – auch zu unserem Nutzen – vieles für uns personalisiert. Beispielsweise die Suchergebnisse, werden von der Suchmaschine auf uns optimiert. Das ist praktisch, denn so findet man viel schneller das, was man wirklich sucht. Doch es ist auch problematisch, da wir meist nur stets das angezeigt bekommen, was wir schon kennen. Eli Pariser nennt das die „Filterblase“. Treffer, die unsere Gewohnheiten angreifen, oder eine Gegenposition zu unserer Meinung darstellen, sehen wir immer seltener. Und so bewegen wir uns mehr und mehr in einer Umgebung, die nur scheinbar neutral die Realität darstellt: In Wirklichkeit befinden wir uns in einer Blase, die uns die eigene Weltvorstellung als allgemeingültig vorspielt. Und das ist Gift für einen freien Geist, der sich ständig hinterfragen und neu ausrichten können möchte. In Konflikten liegt großes Wachstumspotential, um das wir uns berauben, wenn wir vor lauter Bequemlichkeit andere Meinungen einfach ausblenden.
Verantwortungsbewusstsein: Gegen Personalisierung und heimliche Entmündigung können wir uns zunächst nicht wehren. Daher ist es besonders wichtig, sich diese Phänomene stets ins Bewusstsein zu rufen. Wer sich dabei erwischt, ein Google-Ergebnis unterbewusst als „neutrale Suche“ verbucht zu haben, ist schon einen Schritt weiter, als wer noch immer glaubt, sie sei tatsächlich neutral. Der erste und wichtigste Schritt in die digitale Mündigkeit ist Verantwortungsbewusstsein. Verantwortung tragen bedeutet nicht, immer alles richtig zu machen, sondern die richtigen Fragen zu stellen und sich mit den Konsequenzen des eigenen Handelns zu konfrontieren. Machen Sie sich stets bewusst, wie viel Ihnen nicht bewusst ist und verhalten Sie sich entsprechend. Unterstützen und schützen Sie Strukturen, die Transparenz und Offenheit ermöglichen, und hinterfragen Sie Strukturen, die Ihnen vorschreiben wollen, was Sie tun oder denken sollen. Üben Sie sich in Eigenwilligkeit, wenn Ihnen Technik Vorschriften machen möchte. Besonders wichtig dabei: Üben Sie, auch Menschen oder Systeme zu hinterfragen, denen Sie vertrauen. Das ist besonders schwer, aber genau hier sind sie besonders leicht hinters Licht zu führen.
Leena Simon: Digitale Mündigkeit. Wie wir mit einer neuen Haltung die Welt retten können, 336 Seiten, Hardcover, 32,00 EUR, ISBN: 978-3-934636-49-1
Dieses Buch weist Wege in die digitale Mündigkeit und liefert das Rüstzeug zum kritischen Denken und Handeln. Denn mit Mut, Entschlossenheit und Übung können wir wieder mündig sein. Dann finden wir auch die Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit. Online bestellen oder mit der ISBN: 978-3-934636-49-1 im Buchhandel bestellen. Buchvorstellung im Blog von Digitalcourage. Dieser Beitrag wurde nach CC by sa 4.0 rebogged von https://muendigkeit.digital/
Ein Austauschkanal für Eltern, die rechtlich gegen datensammelnde Software an Schulen vorgehen möchten, und für Jurist.innen, die dabei helfen möchten.
Immer wieder erreichen uns Anfragen von Eltern, die nicht mehr weiter wissen, weil die Schule ihrer Kinder nicht von datensammelnder, rechtlich bedenklicher Schulsoftware abrücken möchte. Während einige Eltern der Schule noch gut zureden und Argumente für den Einsatz freier Software sammeln, kontaktieren uns andere bereits, um sich wegen erster rechtlicher Schritte zu erkundigen. Einige Eltern sind schon weitergegangen und haben bereits Kontakt zu Anwält.innen aufgenommen, um den Klageweg zu beschreiten.
Es ist kein Wunder, dass sich Eltern für den juristischen Weg entscheiden. Bei Schulträgern und Ministerien finden sie kein Gehör oder die Schule behauptet, die Entscheidung zu Microsoft Teams oder Zoom sei in Absprache mit dem Datenschutzbeauftragten erfolgt, als unbedenklich eingestuft worden und schon allein aus praktischen Gründen nicht mehr zu ändern. Manchen Eltern hat die Schule sogar gedroht, den Schulvertrag zu kündigen, wenn sie der Nutzung der Schulsoftware nicht zustimmen, und diese sei nun einmal Microsoft 365. Das geht zu weit! Dass Behörden widerwillig auf Kritik und Veränderungen reagieren und immer mal wieder den falschen Weg einschlagen, ist nicht neu. Doch an einzelnen Schulen erreicht das Thema mit Erpressung, dem Verstoß gegen datenschutzrechtliche Grundsätze und der Missachtung von Grundrechten ein neues Niveau.
Wir möchten Sie als Eltern mit Ihren Sorgen nicht alleine lassen. Argumente, die gegen den Einsatz datensammelnder Software an Schulen sprechen, stellen wir auf unserer Website zur Verfügung. Wir erarbeiten dazu immer wieder neues Informationsmaterial und schaffen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene Aufmerksamkeit für die Problematik. Digitalcourage hat jedoch nicht die Ressourcen, Sie juristisch zu beraten oder an fachkundige Anwält.innen zu verweisen. Wir möchten Betroffene aber vernetzen und dabei unterstützen, einander zu helfen, zum Beispiel indem sie sich gegenseitig berichten, welche juristischen Maßnahmen bereits Erfolg hatten und was ihre Anwältinnen und Anwälte ihnen empfohlen haben.
In der AG Eltern und Schulsoftware finden Sie Eltern, die bereits juristisch gegen den Einsatz von Microsoft 365, Zoom, Google und anderen datensammelnden Programmen an ihrer Schule vorgegangen sind oder dies noch vorhaben. Auch wenn Sie gegen die Entscheidung eines Schulträgers oder eines Ministeriums vorgehen möchten, sind Sie hier richtig. Herzlich eingeladen sind außerdem Juristinnen und Juristen, die sich dieses Themas bereits angenommen haben und betroffene Eltern ehrenamtlich unterstützen möchten. Wenn Sie sich für die Teilnahme an der AG interessieren, melden Sie sich bitte per E-Mail bei uns (mail@digitalcourage.de).
Die Gruppe wird durch die Teilnehmenden selbst geleitet. Digitalcourage moderiert den Austausch nur geringfügig, um den thematischen Fokus nicht aus dem Blick zu verlieren.
Die AG Eltern und Schulsoftware bietet explizit Eltern und Jurist.innen einen Austauschkanal. Pädagogische Fachkräfte aus der (vor)schulischen und außerschulischen Bildung, die sich aktiv für Datenschutz und Grundrechte in der digitalen Bildung einsetzen möchten und beispielsweise bereits auf freie Materialien und freie Software setzten, sind herzlich eingeladen, sich in einer anderen Arbeitsgruppe von Digitalcourage einzubringen: in der AG Pädagogik.
Spannung und Datenschutz: Oliver Stones neuer Film „SNOWDEN“ kommt am 22. September 2016 in die deutschen Kinos und zeigt, dass Privatheit absolut kein langweiliges Anliegen ist.
Er war nun wahrlich kein Kritiker eines repressiven Staates: Edward Snowden war überzeugt, das Richtige zu tun, als er der National Security Agency (NSA) beitrat. Am 22. September 2016 startet der Kinofilm SNOWDEN in Deutschland, der erzählt, wie Edward Snowden vom Patrioten zum Helden wurde.
Zu argumentieren, dass Sie keine Privatsphäre brauchen, weil Sie nichts zu verbergen haben, ist so, als würden Sie sagen, dass Sie keine Freiheit der Meinungsäußerung brauchen, weil Sie nichts zu sagen haben. (Edward Snowden (siehe netzpolitik.org))
Edward Snowden will Gutes für sein Land tun und bietet seine Fähigkeiten zunächst als Soldat und dann als Mitarbeiter der NSA an. Aus dem Inneren des Geheimdienstes erhält er sodann Einblicke, die ihn erschüttern: Die NSA ist nicht nur im Ausland aktiv, sondern überwacht die eigenen Bürgerinnen und Bürger. Er wird selbst zum Täter, indem er diese Informationen freiweg nutzt und ausspielt, um einen Botschafter über den Umweg seiner Familie unter Druck zu setzen. Hier gelingt es Oliver Stone einfühlsam zu vermitteln, wie lebensnah es werden kann, wenn man zum Spielball eines Machtspiels wird, bei dem jemand ganz anderes das Angriffsziel ist. Das stürzt ihn zunehmend in innere Konflikte, die ihn fürchten lassen, auch er oder seine progressive Freundin könnten z.B. über die Webcam ihres Rechners beobachtet werden. Und so versucht plötzlich der Patriot dem Freigeist zu erklären, warum sie eben doch etwas zu verbergen haben.
Der Film erzählt sehr einfühlsam die Geschichte von Edward Snowden, grandios gespielt von Joseph Gordon-Levitt, der nach und nach begreift, dass hier etwas gewaltig schief läuft. Er muss zusehen, wie Frauen sich vor ihren Laptops umziehen, ohne zu ahnen, dass sie beobachtet werden. Er ist Zeuge, als Erwachsene und Kinder in Afghanistan von Drohnen niedergeschossen werden, weil ein Datenauswertungsprogramm sagt, sie seien Terroristen. Snowden plant seinen Ausstieg und nimmt belastende Informationen über die Machenschaften der NSA mit.
Der Film ist packend und aufklärend zugleich. Er veranschaulicht die mächtigen Analysewerkzeuge der NSA und zeigt wie der amerikanische Geheimdienst sie systematisch missbraucht. Es ist Oliver Stone in diesem Film gelungen zu zeigen, wie aus einem normalen Mann mit Charakter ein Held wurde, der gar kein Held sein wollte und dennoch sein eigentlich sorgenfreies Leben aufgegeben hat, um seinem Gewissen zu folgen. (reblogged von https://digitalcourage.de/blog/2016/snowden-im-kino )
David Bernets Kinofilm bringt kaum Neues zum Datenschutz, man bekommt stattdessen ein rosarot gemaltes Bild der EU-Legislative und ihrer engen Beziehung zum Lobbyismus: Dokumentarfilmoder Propagandastreifen für die Diktatur des Geldes in einer korrupten Europäischen Union?
Der Kinofilm Democracy -Im Rausch der Daten dokumentiert den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess der EU anhand des europäischen Datenschutzes. Der handwerklich gut gemachte Film ergreift zwar Partei für den Datenschutz, aber er tut dies aus der unreflektierten Perspektive eines von Industrielobbyisten vorgegebenen Rahmens. Nur aus dieser Perspektive erscheint am Ende der vorgelegte Gesetzentwurf als großartiger Erfolg. Tatsächlich hat die Politik hier nur ausnahmsweise und auch nur teilweise endlich einmal das getan hat, wofür wir sie gewählt haben: Unsere Rechte zu verteidigen. Aber das Gesetz, dessen Werdegang von 2012-2013 dargestellt wird, ist bis heute nicht in Kraft.
Die Grünen wird der Film freuen, denn ihr Protagonist, der EU-Parlamentarier Jan Philipp Albrecht, wird neben der EU-Kommissarin Viviane Reding als Hauptfigur des Datenschutzes präsentiert. Im Januar 2012 hatte Reding für die EU-Kommission eine Reform der EU-Datenschutzvorschriften vorgeschlagen, der im Oktober 2013 der Vorschlag eines im EU-Parlament unter Federführung von Albrecht ausgehandelten Gesetzesentwurfs folgte, der den Datenschutz noch weiter verschärfen sollte. Besagte Verhandlungen werden im Film „Democracy“ akribisch verfolgt.
Der Kampf um das Thema außerhalb der EU-Bürokratie wird dagegen in nur fünf Filmminuten abgehandelt, die von Snowdens Enthüllungen handeln. Die europaweite Entstehung einer einer neuen politischen Bewegung zum Thema Netzpolitik und Datenschutz, der Piratenpartei, blendet „Democracy -Im Rausch der Daten“ fast völlig aus. Nur eine halbe Sekunde ist am unteren Rand eines Plakats mit Edward Snowdens Gesicht unter dem Slogan „Stop watching us“ das Wort „Piratenpartei“ zu erhaschen, dann drängen sich wieder Werbe-Luftballons der Grünen ins Bild. Klasse Parteipropaganda, oder?
Aber waren die überraschend großen Wahlerfolge der Piraten, die gerade in Deutschland bis in den zweistelligen Bereich emporschossen und ihnen teilweise bis heute Einfluss in Landesparlamenten von Berlin und NRW sicherten, wirklich so unbedeutend für den Datenschutz, dass eine solche Doku sie weglassen darf? Zählen Millionen Wählerstimmen für den Film „Democracy“ weniger als das PR-Gerede von Industrie-Lobbyisten in Brüssel? Welches Bild von Demokratie wird so vermittelt?
Lobbyismus wird nicht hinterfragt
Die äußerst dubiose Rolle des Lobbyismus im EU-Gesetzgebungsprozess wird von Bernet weniger hinterfragt als vielmehr zur Naturgewalt stilisiert: Korrupte Politiker werden zu Heroen geschönt, die gegen einen „Lobbyorkan“ ankämpfen müssen (dem sie, das leuchtet jedem ein, hie und da einfach erliegen müssen -wo genau wird jedoch verschwiegen). Dass diese Politiker die Lobbyisten erst in die Gesetzgebung hinein gelassen haben und sich von ihnen mit Kaviarempfängen und unzähligen mehr oder weniger korruptiven Gaben umschmeicheln lassen und sich sogar die angeblich von ihnen, den Politikern mühsam erarbeiteten Gesetzestexte von den Lobbykraten formulieren lassen, verschweigt Bernets Film. Korruption wird damit zugleich verharmlost, vertuscht und in ihren konkreten Folgen verschwiegen.
Jacques Santer und die EU-Bangemann-Affäre
Ist Bernets Film selbst eine dreiste PR-Produktion, die uns ein weichgespültes Bild der EU vorsetzt? Wer uns über die EU-Demokratie informieren will, kann sich, so sollte man meinen, kaum um die zahlreichen Korruptionsfälle herum drücken, bis zum Sturz einer kompletten EU-Kommission unter Jacques Santer 1999 wg. einer korrupten Édith Cresson, die beim Griff in die Kasse erwischt, letztlich sogar ungestraft davon kam. Mit der Bangemann-Affäre gab es einen der größten Skandale überhaupt genau im Bereich Netz- und Datenwirtschaft: Der dafür zuständige EU-Kommissar Bangemann (FDP) wollte nach Dienstende flugs zur IT-Firma Telefonica wechseln, die dank der vom Industriefreund Bangemann durchgesetzten Liberalisierung der Kommunikationsnetze saftige Gewinne einstreichen konnte. Das hatte eine Debatte über Mechanismen der Korruption ausgelöst.
Jacques Santer (Luxemburg), Staatsminister a. D., Präsident der EU-Kommission a. D. ist inzwischen im Führungskreis des INEA an den Schalthebeln der Lobby-Macht: Das Institute for European Affairs e.V. (INEA) mit Sitz in Düsseldorf ist eine europaweit – mit Schwerpunkt Osteuropa – tätige Beratungs- und Lobbyorganisation. Sie ist eng mit dem Baltic Sea Forum verflochten, mit dem sie im Ostseeraum kooperiert. Führende Mitarbeiter des INEA waren früher in die Aktivitäten der Sicherheitsfirma Prevent involviert. All diese Hintergründe lässt der Kinofilm im launigen Hahaha der Sektempfänge im Lobbyland verschwinden. Bestechung, Personalkarussell und Lobbyismus gehören zusammen und sind Grundübel unseres politischen Systems, die dringend öffentlicher Aufklärung bedürfen. Doch stattdessen gewährt Dokumentarfilmer Bernet vielen Lobbyisten ein Forum zur Selbstdarstellung, das dieser in PR und Rhetorik bestens geschulte „Berufsstand“ zu nutzen versteht. Der Film wird damit Teil der lobbykratischen Korruption und ihrer Propaganda.
Datenschutz kommt zu kurz
Datenschutz war in der deutschen Politik immer ein wichtiges Thema, schon beim Volkszählungsboykott in den 1980er-Jahren über das Erstreiten eines „Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung“ vor dem Verfassungsgericht bis zu den aktuell tobenden Gefechten gegen die Vorratsdatenspeicherung.
Die internationale Dimension zeigte sich spätestens beim Echelon-Skandal, der einen Konflikt Washingtons mit Westeuropa (außer Großbritannien) offen legte: NSA und andere Geheimdienste greifen in größtmöglicher Weise illegal auf die Daten der Europäer zu. Im diplomatischen Krypto-War um die Freigabe von Verschlüsselungstechnik für die Bürger eskalierte zwischen USA und EU ein Streit um den Datenschutz, der nie wirklich beigelegt werden konnte.
Mit den Enthüllungen von WikiLeaks wurde der „panoptische Blick“ der alles-sehenden Augen von NSA & Co. erstmals in großem Maßstab umgekehrt. Die alte Utopie von Hacker-Bewegung und Netzkultur, die Vision eines „Inversen Panoptismus“, wurde ansatzweise zur Realität.
Eine zweite, noch größere Bresche schlugen die NSA-Leaks von Edward Snowden in die Palisaden der globalen Überwacher. Während heute Geheimdienste um den Schutz ihrer Geheimdaten bangen, stacheln sie zugleich die Netz- und Medienwirtschaft an, den Datenschutz der Bürger immer aggressiver zu untergraben – wie Snowden enthüllte.
Big Data ist das Stichwort und die „sozialen Netzwerke“ von Facebook, Google & Co. sind ihre „digitalen Fischgründe“. Aber Bernets Film bleibt beim Thema Datenschutz leider sehr oberflächlich. Die netzpolitische Debatte, deren Intensität seit Snowden noch einmal enorm gestiegen ist, streift er nur allzu knapp. Nur fünf Minuten, von Filmminute 80 bis 85, von 100, widmet er einigen reißerischen Bildern der außerparlamentarischen Kämpfe, von „Snowden – Held oder Verbrecher?“ bis zur Demo „Freiheit statt Angst“ aus Kreisen der deutschen Hacker-Netzkultur. Das ist zu wenig. Und die Rolle der EU-Kommission wird anbiedernd heroisiert: Waren Kommissarin Reding & Co. -insbesondere angesichts der Snowden-Enthüllungen- wirklich so engagiert für den Datenschutz, wie ihre PR-Leute und dieser Film uns weismachen wollen? Regierungskritiker der Hackerszene sind da ganz anderer Ansicht:
„Als der Guardian am 5. Juni die ersten Informationen über die gigantische Überwachung aller Bürger/innen durch amerikanische Geheimdienste publik machte war die Reaktion in der EU verhalten. Nur einzelne Abgeordnete des EU-Parlaments veröffentlichten kritische Presseaussendungen und versuchten mehr Informationen durch Anfragen an die Kommission zu erlangen. Erst als auch die Überwachung durch europäische Geheimdienste, etwa durch Tempora und die Datenweitergabe der USA an europäische Dienste thematisiert wurde, wachten auch die EU-Politiker/innen langsam auf… Erst am 14.Juni äußerten sich die beiden Kommissarinnen Viviane Reding, zuständig für Justiz, und Cecilia Malmström, zuständig für Inneres, zu dem Überwachungsskandal… Und auch bei der Beantwortung der unzähligen parlamentarischen Anfragen zeigt die Kommission keinen besonders großen Willen, den Skandal aufzuklären. Am Ende bleibt ein zahnloser Ausschuss… (Es ist) zu befürchten, dass sich die Kommission weiter von den Amerikanern die Bedingungen der Aufklärung diktieren lässt und am Ende keine ausreichend verwertbaren Informationen vorlegen kann, um gegen die gigantische Überwachung aktiv werden zu können.“ Alexander Sander: Aufklärung à la EU, in: Hrsg. Markus Beckedahl & Andre Meister (Hg.): Überwachtes Netz. Edward Snowden und der größte Überwachungsskandal der Geschichte, 2013, S.128-130.
Es ergibt sich beim Blick auf das EU-Parlament in diesem Film ein auf seine beiden politischen Akteure beschränktes Bild. Besonders gefährlich ist die großzügige Einbindung der Industrie-Lobbyisten, deren Weltsicht geradezu als „natürlicher“ Hintergrund der Debatte präsentiert wird.
Es entsteht ein pseudo-ausgewogenes Storybord zur Geschichte des Datenschutzes: Hier die Wirtschaft, dort die Politik. Doch geht es nicht um unsere künftigen Menschenrechte? Würden wir bei der Debatte um Frauen-, Kinder- oder Organhandel, jene in die Diskussion einbinden wollen, die am Raub menschlichen Lebens und menschlicher Freiheit ihren schmutzigen Profit erwirtschaften wollen?
Betonung der Sicht der Lobbyisten
Bernets Film kritisiert zwar die Lobbyisten der IT-Industrie, aber er lässt sich von ihnen das Spielfeld vorgeben, auf dem das geschieht. Schon der Beginn seines Film steckt dieses Spielfeld ab. Erste Szene: Ein Hubschrauber fliegt über Athen. Eine Stimme aus dem Off (wie wir später erfahren, ein Lobbyist) erklärt uns im Ton eines Dokumentarfilms:
Viele Leute sagen, Daten sind das neue Öl, das Öl des 21.Jahrhunderts. Ein guter Vergleich, wenn man bedenkt, wie Öl unsere Welt geformt hat. Es hat uns globale Mobilität ermöglicht. Öl liefert uns Energie, hat unser Leben für immer verändert und Daten werden dasselbe tun. Je mehr Daten wir haben, umso interessantere, weltverändernde und bislang undenkbare Dinge werden Wirklichkeit. Aber wer keine Daten hat, hat auch kein Öl. Leider gibt es einen großen Widerspruch zwischen BigData und dem Wunsch nach Privatsphäre. Es werden riesige Mengen an Daten generiert, die persönliche Informationen enthalten. Die Frage ist nun: Wie sollen diese Daten genutzt oder geschützt werden? Wer hat die Kontrolle darüber? Wem gehören sie? Es ist entscheidend, dass wir die richtige Antwort finden.
Die erste Szene führt dann die beiden Hauptprotagonisten ein, EU-Kommissarin Reding und den Grünen Jan-Philipp Albrecht. Von Albrecht sieht man zunächst zwei ungeschickte Hände, die versuchen eine Krawatte zu binden. Er blättert dabei auf seinem Smartphone in einer Online-Anleitung zum Krawattenbinden. Albrecht wird als unangepasster Grüner präsentiert, vielleicht auch als Grünschnabel, der jedoch mit dem Internet umgehen kann.
Dann tritt Reding auf, in Politikerpose. Man ahnt, sie saß als VIP im angeflogenen Hubschrauber, der zugleich die „globale Mobilität“ durch Erdöl aus dem Lobbyistentext visualisierte. Sie steht vor Journalisten, redet souverän auf sie ein. Die Rollen von Reding und Albrecht werden in dieser Szene ebenso abgesteckt, wie die der EU-Industrie-Lobbyisten als Stichwortgeber, Drahtzieher und Spielmacher im Hintergrund.
David Bernet fängt mit Bildern, Musik und Schnitttechnik Stimmungen ein, vermittelt ein kurzweilig-emotionales Erlebnis der trockenen EU-Parlamentswelt. Die Personen werden plastisch gemacht, besonders Albrecht, dessen Gewohnheiten und Gefühle dokumentiert werden: Beim Kekseknabbern, bei der Arbeit, in seiner Rolle als von der mächtigen Kommissarin Reding gefördertes, ursympathisches Nachwuchstalent. Hier liegt der Schwerpunkt des Films, nicht bei der Thematik des Datenschutzes. Dies liegt vielleicht auch daran, dass Bernet quasi zufällig über das Thema stolperte, wie er selbst berichtet.
Auf die Frage, wie er auf die Idee kam, einen Dokumentarfilm über die EU-Datenschutzreform und das damit verbundene Gesetzgebungsverfahren zu drehen, antwortet David Bernet laut Presseheft:
Als ich vor ungefähr fünf Jahren die Recherche für DEMOCRACY – IM RAUSCH DER DATEN aufnahm, ging es noch nicht um Datenschutz, sondern um zwei grundsätzliche Fragen: Werde ich den Zugang bekommen, um einen solchen Dokumentarfilm im Inneren der EU-Institutionen zu drehen? Und falls ja, welches Gesetz würde von so großer Relevanz sein, dass die Debatte dazu während des Drehzeitraums europaweit heiß laufen könnte? (…)
Als ich nach (…) vielen Wochen Recherche meinen Produzenten mitteilte, dass die EU-Datenschutzreform wohl dieses heiße Eisen werden wird und ich den Film zu diesem Thema sehe, schlugen sie berechtigterweise die Hände über dem Kopf zusammen. Denn es war 2010. Das Thema Datenschutz war damals komplett außer Reichweite und nur die politischen Avantgardisten in Brüssel konnten wissen, wie bedeutsam dieses Gesetz für die Zukunft unserer Gesellschaft werden wird.
Über die Idee, „nur die politischen Avantgardisten“ hätten 2010 erkennen können, wie bedeutsam Datenschutz für die Zukunft unserer Gesellschaft werden wird, kann man nach drei Jahrzehnten politischer Kämpfe um das Thema nur die Stirn runzeln. Immerhin kommen auch NGO-Vertreter zu Wort, von denen die kritischeren Beiträge zum Thema stammen. Dabei werden leider Industrie-Lobbyisten mit NGO-Bürgerrechtlern schwer unterscheidbar gemischt.
Von der modernen Pest der BONGOs und GONGOs (Business- bzw. Government Organised NGO) hat Bernet scheinbar auch noch nichts gehört. Wenigstens erfährt man, dass in Brüssel 99 Prozent der Lobbyarbeit durch offen agierende Industrie-Lobbyisten geleistet wird. Besonders viel Raum bekommt Kataryna Szymielewicz, Gründerin und Vorsitzende der NGO „Panoptykon Foundation“ (Warschau). Die Kamera folgt der jungen attraktiven Juristin, die erläutert:
Überwachung bedeutet nicht, dass jemand weiß, wie man nackt aussieht oder mit wem man seine Nächte verbringt. Das ist Kinderkram, für den sich niemand interessiert. Tatsächlich geht es bei der Überwachung darum, Menschen und Bevölkerungsgruppen zu steuern.
Die Industrie wolle ihre Kundenprofile auf Kosten der Freiheit aufbauen und etwa jungen Frauen in polnischen Dörfern Töpfe und Pfannen verkaufen, statt roten Highheels, die ihnen Flausen in den Kopf setzen könnten. Szymielewicz‘ Bewertung der Überwachung ist richtig, wenn sie auch bei Webcams irren mag, deren Missbrauch durchaus der Gewinnung pornographischer Bilder dienen kann.
Auch finden sich vermutlich viele Onlinefirmen, die gerne jedwedes Schuhwerk in die polnische Provinz liefern würden. Warum aber zitiert die Doku Szymielewicz ausgerechnet mit Nacktheit, Bett- und Highheels? Dies lenkt nur von der politisch bedeutsameren Manipulation und Bevölkerungssteuerung durch BigData ab.
Data-Mining versus Menschenrecht
Mit Data-Mining in unserer Netzkommunikation wird das Marketing an Kundenprofilen perfektioniert, die jede Stasi-Akte in den Schatten stellen. Damit wird auch Geld verdient, aber ein wichtiger Aspekt ist zweifellos das Abschöpfen dieser Profile durch Geheimdienste, denen jede Privatsphäre ein Gräuel ist (außer ihrer eigenen). Nach außen propagieren Werbe-Abteilungen und Lobbyisten diese kriminelle, zumindest aber ethisch fragwürdige Praxis mit PR-Parolen wie „Daten sind das neue Öl“.
Mit genau diesem Satz beginnt der Film „Democracy -Im Rausch der Daten“ und viele Lobbyisten bekommen Gelegenheit, ihn in Variationen zu wiederholen. Der Hauptprotagonist der Doku, der grüne EU-Politiker Jan Philipp Albrecht, hört ihnen geduldig zu, während er um einen Kompromiss für die europäische Datenschutzverordnung im EU-Parlament ringt. Seine Devise ist: „Wenn Daten das neue Öl sind, ist Datenschutz der neue Umweltschutz“ -und somit Sache der Grünen. Die Botschaft: Kritik ist erlaubt, wenn sie im Rahmen der von Industrie-Lobbyisten vorgegebenen Weltsicht bleibt.
Dass es bei unseren persönlichen Daten um etwas fundamental anderes geht als um einen neuen Rohstoff, dass es hier um den Zugriff auf unser Grund- und Menschenrecht auf informationelle Selbstbestimmung geht, tritt in den Hintergrund. Dass es damit um die Macht geht, uns alle in bislang undenkbarem Ausmaß zu kontrollieren und zu manipulieren, bleibt ungesagt. Die oft wiederholte Parole, künftig wären unsere privaten Daten eben die Währung, in der wir die Netzkonzerne für „kostenlose“ Dienstleistungen bezahlen müssten, bleibt unhinterfragt.
Vielleicht zeigt sich hier eine besonders perfide Wirkung der Ideologie des Neoliberalismus: In einer Welt, in der alles zum Wirtschaftsgut gemacht werden darf (unsere Beziehungen im Netz, unsere ausgeforschte Persönlichkeit, unser Leben) werden die Menschenrechte in die Ecke gedrängt. Nicht mehr die Industrie soll sich rechtfertigen, unsere Daten abzugreifen, wenn wir sie in unseren öffentlichen Netzen Geld verdienen lassen – Wir sollen uns rechtfertigen müssen, wenn wir dies verweigern oder begrenzen wollen.
Die neoliberale Ideologie des „Wer zahlt befiehlt“ gewinnt an Macht durch die immer weiter gehende Privatisierung öffentlicher Infrastruktur. Im Netz genügt den Unternehmen nicht mehr die zu Beginn des Netzfirmen-Booms propagierte „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, bei der sie unsere Weltsicht hemmungslos mit Werbung verkleistern darf.
Jetzt wollen die zu global dominierenden Multi-Milliarden-Konzernen angeschwollenen Firmen auch noch unser Recht auf Selbstbestimmung in Geiselhaft nehmen. Und das, obwohl wir inzwischen nicht mehr nur befürchten, sondern definitiv wissen, dass hinter ihnen die Geheimdienste lauern, die in krimineller Weise unsere Daten missbrauchen.
Bei der Abwägung dieser menschlichen Güter gegen Begierden der Wirtschaft darf es keine kompromisslerische Haltung geben. Nur weil der virtuelle Raum der Daten und Netze abstrakter scheint und heute von vielen erst ansatzweise verstanden wird, darf hier nicht mit Lobbyisten geschachert werden. Ebenso wenig wie in der Frage der Sklaverei, für deren Fortsetzung Wirtschaftsunternehmen sicherlich auch zahlreiche ökonomische Argumente angeführt haben. Letztlich geht es um die Frage, ob die Wirtschaft der Gesellschaft dienen soll oder umgekehrt.
Bernets Film „Democracy“ präsentiert uns das EU-Datenschutzgesetz, dessen Umsetzung bis heute verschleppt wird, als grandiosen Sieg von Parlament und vernünftigem Kompromiss von Politik und Lobbyisten. Aber eher dokumentiert er wohl die dringende Reformbedürftigkeit unserer durch eine systemintern installierte Lobby-Diktatur zutiefst korrumpierte Gesetzgebungsprozesse.
(Eine gekürzte Version dieser Kinokritik erschien auf Telepolis.)
Nach dem mehr oder weniger bewussten Fauxpas, mit dem Bundeskanzlerin Merkel das Internet als #Neuland bezeichnete, brodelte Twitter nur so vor sich hin. Da hat es nicht lange gedauert, bis die klassischen Medien das Thema aufgriffen und schon war vom eigentlichen Thema wieder brav abgelenkt: Der Überwachung. Gut gemacht, Frau Merkel. Mit dem Erschaffen eines Begriffs, über den sich jeder lustig machen kann, haben Sie ganz wunderbar davon abgelenkt, dass es eigentlich darum geht, die Daten, die die amerikanischen Geheimdienste über uns Deutsche sammeln, austauschen zu können. Es ist immerhin doch ganz praktisch, wenn schon jemand anders die Arbeit gemacht hat. Das umschifft das Dirty-Hands-Problem nur mittelbar, lenkt aber ein wenig davon ab.
Wenn eine neue Welt entsteht, braucht es frühzeitig Regeln, die die Freiheit ihrer Bewohnerinnen und Bewohner garantiert.
Zum Glück gab es in all dem Shitstorm aber auch ein paar recht sinnvolle Kommentare und Blogbeiträge. Und auch padeluun hat sich bei ZDF-Login großartig geschlagen – und mir nebenbei ein wenig Hoffnung in meine Generation wieder gegeben, von der ich meist nur höre, dass es ihr völlig egal sei, ob sie nun überwacht wird oder nicht. Aber anscheindend habe ich mich da getäuscht. Offensichtlich ist es der Facebook- und Twitter-Generation doch nicht so ganz egal, wer ihr über die Schulter sieht. Trotzdem kam die eine oder andere Kleinigkeit in der ganzen Diskussion zu kurz. Insbesondere dort, wo das Spannungsfeld zwischen Datenschutz und Menschenwürde aufgemacht wurde, wo von Terrorismus die Rede war, wo plötzlich Feinde lauern und keine Straftäter und wo Freiheit und Sicherheit gegeneinander abgewogen werden sollten.
Nun, für enige von uns Philosphinnen und Philosophen ist das Internet tatsächlich Neuland. Aber glücklicherweise nicht für alle. Und so möchten gerade wir Netzphilosophen versuchen, ein wenig Licht in die trübe Dunkelheit zu bringen – und die philosophische Entdeckungsreise ins Neuland voranbringen.
Wohlan! mount wisdom /dev/brain xxxrrrwww
Die Daten eines Menschen sind unantastbar
Was hat es nun auf sich, mit der Menschenwürde und dem Datenschutz, respektive dem Schutz vor staatlicher Überwachung, denn um genau den geht es ja? Nun, das deutsche Grundgesetz sagt, dass die Menschenwürde unantastbar ist und dass sie zu achten und zu schützen Aufgabe aller staatlichen Gewalt ist. Wichtig daran ist, dass achten vor schützen steht. Ein Blick in einen Grundrechtskommentar [1] macht deutlich was das heißt: Es heißt, dass der Staat zu allererst in der Pflicht ist, nicht in die Grundrechte der Menschen einzugreifen. Erst an zweiter Stelle kommt die Pflicht, diese Grundrechte zu schützen. Wenn nun also ein Grundrecht in Gefahr ist, darf der Staat keinesfalls ein anderes Grundrecht einschränken um Ersteres zu schützen. Aus diesem Grund wurde das Luftsicherheitsgesetz vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Der Staat könnte die Grundrechte der Menschen am Boden nicht schützen oder die Grundrechte der Menschen im Flugzeug zu verletzten. Da die Achtungspflicht aber Vorrang vor der Schutzpflicht hat, wäre ein Abschuss eine eklatante Verletzung eben dieser höchsten Pflicht aller staatlichen Gewalt.
Was das mit Datenschutz zu tun hat? Nun – recht einfach: Das Bundesverfassungsgericht bescheinigte uns ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Eine Privatsphäre zu haben (also einen Informationsbereich, der nur mit einem sehr kleinen Kreis von Menschen geteilt wird), zählt in den Bereich der Menschenwürde. Es gibt sogar Foltermethoden, die auf Deprivation setzen und eben diesen intimen Privatbereich bewusst verletzten – und niemand würde behaupten wollen, dass Folter mit Menschenwürde vereinbar wäre, oder?
Nein, sicher nicht. Einen Menschen würdevoll zu behandeln, heißt auch, seine Privatsphäre zu respektieren, sein Recht darauf, welche Informationen er über sich selbst mit anderen teilen will und vor allem, mit wem er diese Informationen teilen will.
Es gibt allerdings noch ein weiteres Problem mit dem Grundgesetz. Der Staat muss nämlich auch alles in seiner Macht stehende unternehmen, um die Grundrechte seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Unter „schützen“ versteht das Grundgesetz hier den Eingriff von „Dritten“. Ein ausländischer Geheimdienst ist zweifelsohne ein solcher „Dritter“. Ein inländischer übrigens auch. „Dritter“ ist jede Person, die nicht die vom Eingriff betroffen ist. Einfach ausgedrückt: Wenn meine Nachbarn auf die Idee kommen, mich in meiner Wohnung einsperren zu wollen, dann berauben sie mich meiner Bewegungsfreiheit – und damit einem Grundrecht. Ich kann also die Polizei rufen, als staatliche Institution, die mich vor diesem Eingriff schützen muss. Mit allen Mitteln, die sie dazu zur Verfügung hat, sofern sie ihrerseits nicht ebenfalls in schützenswerte Grundrechte eingreift.
Aber die Terroristen…
Wirklich erschreckend. Aber kein Grund, die Menschenrechte außer Kraft zu setzen.
In der medialen Debatte wird immer wieder gern so getan, als wären Terroristen das Böse schlechthin und „Terror“ überhaupt ist ein unglaublich beliebtes Schlagwort, mit dem scheinbar jeder staatliche Übergriff gerechtfertigt ist. Nun – eine kurze Recherche in der wissenschaftlichen Literatur ergibt, dass es Hunderte von Definitionen von Terrorismus gibt. So schreibt es auch C.A.J. (Tony) Coady in seinem Text „Was ist Terrorismus?“ [2] Die meisten beziehen sich auf das Erzeugen von Angst (meist durch Ausübung von Gewalt gegenüber Menschen, Tieren oder Sachen), um politische Ziele zu erreichen. Ich will hier nicht die 130. Definition von Terrorismus auf den Tisch werfen. Aber ich will versuchen darzustellen, was denn ein Terrorist ist. Also: Ein Terrorist ist eine Person, die sich der Methode des Terrorismus bedient, um ihre Ziele zu erreichen. Entscheidend ist, dass ein Terrorist eine Person ist. Grundsätzlich ein Mensch wie du und ich. Ein Mensch wie du und ich, der sich allerdings einer Methode zur Erreichung seiner Ziele bedient, die für sich genommen, moralisch höchst tadelnswert ist. Wie tadelnswert seine Methode auch sein mag: Der Terrorist bleibt ein Mensch. Er bleibt Träger von Rechten. Und auch von Menschenwürde.
Die Menschenwürde ist nämlich nicht verwirkbar und nicht aufgebbar. Sie ist inhärenter Teil eines jeden Menschen und egal wie verabscheuungswürdig er sich auch immer verhalten mag, er behält seine Würde trotzdem. Der deutsche Staat hat also auch die Menschenwürde des Terroristen mit aller Gewalt zu achten und zu schützen. Und dazu gehört, wie oben schon erwähnt, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Und da die Achtungspflicht Vorrang vor der Schutzpflicht hat, darf der Staat den Terroristen gar nicht überwachen, um andere Menschen vor ihm zu schützen. Macht er es dennoch, verstößt er gegen diese Pflicht – und ein Staat, der gegen die höchste Pflicht verstößt, der er selbst unterliegt, entzieht sich im Grunde seine Legitimation selbst.
Von Feinden und Gegnern unserer Lebensweise
Frau Merkel sprach von „Feinden und Gegnern“. Ich bin nicht sicher, was sie damit sagen wollte. Feinde und Gegner sind zwei von einander verschiedene Begriffe und beide haben enge Verwandtschaft mit den Theorien des gerechten Krieges. Nun kann gegen Terroristen kein Krieg im klassischen Sinne geführt werden und überhaupt ist der Kriegsbegriff mittlerweile ziemlich überholt. Ich will statt dessen lieber von Kampf reden. Kämpfen kann man für und gegen vieles. Wenn ich nun also einen Terroristen bekämpfe und ihn als Gegner betrachte, dann räume ich ihm Rechte ein. Liest man einmal die Kriegstheorien, der Haager Landkriegsordnung , der Genfer Konvention , der UN-Charta etc. pp. quer, lässt sich ein Bild davon gewinnen. Einen Gegner muss ich gut behandeln. Die Haager Landkriegsordnung beschreibt zum Beispiel, wie man mit Kriegsgefangenen umzugehen hat. Gegner sind Menschen, denen in einem aktiven Kampf der Kombattantenstatus zugeschrieben wird – also Menschen, die aktiv an Kampfhandlungen beteiligt sind und von denen eine direkte Bedrohung ausgeht. Qua Mensch haben sie aber dennoch ihre unverwirkbare Menschenwürde und müssen entsprechend behandelt werden.
Wenn Gegner zu Feinden stilisiert werden, sind die Menschenrechte in großer Gefahr.
Und Feinde? Nun, Feinden werden solche Rechte nicht gewährt. Der Feindbegriff ist vielmehr ein emotionalisierter. Feinde sitzen in Guantanamo ein. Und wie man sie behandelt und welche Rechte ihnen gewährt werden, ist durchaus mehrfach durch die Medien gegangen. Diese Behandlung ist fasch, denn auch Feinde sind Menschen und verfügen demnach über unverwirkbare Menschenwürde. Diese Falschheit ändert nur leider nichts an der juristischen Wirklichkeit, in der es eben schon einen Unterschied macht, ob jemand nun Gegner oder Feind ist. Selbst hierzulande wurde ja schon laut über ein „Feindstrafrecht“ nachgedacht, welches intensive Einschnitte in die Grundrechte mit sich gebracht hätte.
Dass Terroristen als Gegner unserer Lebensweise bezeichnet werden, halte ich für gerechtfertigt. Und gegen Gegner kann sich ein Staat mit den Mitteln, die ihm innerhalb des gesetzlichen Rahmens zur Verfügung stehen auch wehren. Aber Feinde? Nein. Ich will keine Feinde haben. Ja, ich verweigere einem Terroristen den Feind-Status. Denn damit wäre Tür und Tor dafür geöffnet, auch ihre Menschenwürde zu unterminieren. Genau das ist aber das Problem: Gegen Feinde kann man sich auf andere Art wehren, als es gegen Gegner der Fall wäre. Gegner beschränken die Möglichkeiten.
Dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass es sich bei all diesen Begriffen um „Kriegsrethorik“ handelt. Nun – von Kriegen wird seit einiger Zeit nicht mehr gesprochen, sondern nur noch von Konflikten. Ich frage mich an dieser Stelle: Existiert tatsächlich ein Konflikt zwischen Deutschland und etwaigen Terroristen? Befinden wir uns in einem Konfliktfall? Oder wäre es nicht viel sinnvoller einfach von „Verbrechen“ auszugehen? Letzteres würde die rechtsstaatlichen Maßnahmen nicht unnötig ausweiten müssen. Ersteres würde eine Art „Ausnahmezustand“ bedeuten.
Macht nun aber keinen Unterschied, ob sich Feinde oder Gegner unter der Bevölkerung verstecken. Überwachen darf der Staat sie dennoch nicht. Denn selbst wenn eine Missachtung der Menschenwürde von Feinden zulässig wäre (ich wage das zu bezweifeln!), ist es das der restlichen, nicht-feindlichen, Bevölkerung keineswegs. Denn: Wenn der Staat versucht, die Bevölkerung vor „Feinden und Gegnern“ zu schützen, dann achtet er sie nicht mehr. Und, wie eingangs schon erwähnt, geht das Achten vor dem Schützen. Und um einen weiteren Bogen zu schlagen: Feinde, Gegner und Bürger sind zweifellos Menschen mit Würde und Grundrechten. Und obwohl sie „unsere Lebensweise“ bekämpfen, muss der Staat sie dennoch mit aller Gewalt achten und schützen. Das heißt ja nicht, dass der Staat sie nicht zur Rechenschaft ziehen darf oder, dass Sanktionen zu unterbleiben haben. Das heißt nur, dass ein Eingriff in die unverwirkbare Menschenwürde, denn den stellt die Überwachung dar, unzulässig ist.
Ein paar abschließende Worte zum Terrorismus
Ich habe bereits deutlich gemacht, dass Terrorismus als Methode im Kampf moralisch verachtenswert ist. Es ist aber falsch, verachtenswerte Methoden mit ebenso verachtenswerten Methoden zu bekämpfen. Statt dessen schließe ich mich einer Argumentation von Dietmar Mieth an: Terrorismus bekämpft man nicht mit Waffen und Überwachung. Der „Kampf gegen den Terrorismus“ bewirkt, im Gegenteil, sogar eine Verstärkung des Terrorismus . Terrorismus bekämpft man effektiv nur an der Wurzel – nämlich an den Gründen, die die Leute in eine derartige Verzweiflung treiben, dass sie zu solchen Methoden zu Kämpfen greifen. Bekämpft man diese Gründe (sie liegen meist auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene), haben die Personen, die da kämpfen, keinen Grund mehr, zu extremen Methoden wie dem Terrorismus zu greifen. Denn Terrorismus ist immer falsch. Es gibt keine Ausnahmen und keine Gründe und keinen Notstand, mag die Situation auch noch so extrem sein, die Terrorismus rechtfertigen könnten.
Dennoch ist die Angst vor Terrorismus in den meisten Fällen übertrieben. Tatsächlich verursacht die Angst vor Terrorismus mehr Tote als die Terroranschläge selbst. Hierzu gibt es einen sehr sehenswerten Beitrag der Serie „Nano“.
Ausgehend vom Begriff des Panoptikums, gilt es die Frage nach dem Subjekt neu zu stellen und nach einer politischen Utopie für den künftigen Cyberspace zu suchen. Es geht um den Kampf der Subjekte um ihre Autonomie durch Subversion der sich durch IT-Technik rapide ausweitenden panoptischen Machtmechanismen. Jeremy Benthams (1784-1832) Gefängnisbau, die architektonische Erfindung des Panoptikums, besteht aus einer runden Architektur, welche durch einen Beobachtungsturm im Zentrum die Zellen permanenter Beobachtung preis gibt. Die Gefangenen des Panoptikums sehen also die Wächter nicht, sind aber einer dauernden potentiellen Überwachung ausgesetzt, die ein diszipliniertes Verhalten erzwingen soll.
So könnte ein Panoptikum aussehen. Foto: I. Friman CC-BY-SA
Michel Foucaults Analyse der Disziplinargesellschaft sieht im Panoptikum den Kern des utilitaristisch-demokratischen Gesellschaftsmodells und betrachtet es gleichzeitig als Metapher der bürgerlichen Gesellschaft. Wichtiger als die konkrete architektonische Umsetzung erscheint Foucault die Idee eines „Panoptismus“, die in den verschiedensten Bereichen, in Schulen, Hospitälern, Fabriken Fuß fassen konnte: Die disziplinierende Beobachtung vieler durch wenige – Schülerinnen durch Lehrer, Arbeiter durch Vorarbeiterinnen, Bürger durch Verwaltungsbeamte. Bentham ging es einerseits darum, eine vollkommene Disziplinarinstitution zu entwerfen, aber andererseits auch um eine Methode, die Disziplinen vielseitig und diffus verteilt in der ganzen Gesellschaft wirken zu lassen.
Die laut *Michel Foucault* (1924-1986) im Panoptismus disziplinierten Individuen bilden die Basis für die modernen Massendemokratien. Panoptische Institutionen wurden ausgeweitet, um die Individuen so zu disziplinieren, dass sie einer modernen Demokratie würdig werden konnten – in den Augen der damaligen Machtelite. Foucaults Analyse interpretiert Benthams Erfindung als allgemeines Prinzip der Konstituierung des bürgerlichen Subjekts als Gleicher unter Gleichen, autonom und frei in den Grenzen, die die Zentralgewalt des Staates setzt und durch ständige Kontrolle aufrechterhält. Foucaults Motivation war dabei der kritische Hinweis auf den totalitären Aspekt dieser Sozialstruktur, auf die Leiden der Aussortierten, der Eingesperrten in Gefängnissen und Psychiatrien. Er zeigte die unmittelbare Verknüpfung von dadurch fragwürdig werdenden Freiheiten mit disziplinierenden Machtmechanismen auf. Wenn wir als Schulkinder lernen müssen stundenlang stillzusitzen, als Arbeiter zu tun, was die Chefin sagt, als Patientinnen für wirklich zu halten, was ein Psychiater nicht als wahnhaft ansieht, dann konstituieren wir uns damit als Subjekt. Dieses Subjekt passt in den Raum, der durch die Grenzen der Freiheit definiert wird, d.h. durch die körperliche Unversehrtheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Fernmelde-Geheimnis, das Recht auf Privateigentum usw. Bisher schien also ein Gleichgewicht zwischen Machtmechanismen und Subjekt-Konstitution zu bestehen.
Fingerabdrucklesegeräte gibt es noch nicht so lange. Sie ermöglichen bessere Überwachung, können aber auch ausgetrickst werden.
Was ist wenn technische Möglichkeiten „dem Subjekt” neue Möglichkeitsräume eröffnen, also eigentlich das Subjekt erweitern? Oder wenn andererseits der Zentralgewalt neue Möglichkeiten der Überwachung und Disziplinierung zuwachsen — also eigentlich das Subjekt einer Neukonstituierung „von oben” unterworfen wird?
Das Gleichgewicht muss neu austariert werden, und das ist eine politische Fragestellung. Progressive oder Liberale werden die Möglichkeitsräume begeistert begrüßen und Überwachung ablehnen; konservativen Gemütern wird die Furcht vor der Freiheit die Begeisterung erschweren. Sie werden sich eher auf die Mißbrauchsmöglichkeiten konzentrieren, vor Kriminalität und Anarchie warnen und verstärkte Kontrollmechanismen fordern, d.h. verstärkte Technokratie. Die gewährten Freiheiten waren immer per se systemkonform beschränkt. Aber selbst diese Freiheiten werden heute von den Machteliten angegriffen, eingespart und herunter gekürzt.
Foucaults Einwand ist also das Subjekt sei nicht Gegenüber, sondern erstes Produkt der Macht. Wer sich im emanzipatorischen Kampf um die Freiheit des Subjekts wähnt, der wird sich dadurch im revolutionären Elan abgebremst fühlen.
Dennoch lassen sich postmoderne Ansätze zur Kritik des status quo nutzbar machen, wenn auch ihre Zielrichtung sich nicht so klar ausmachen lässt. Das Denken in ausschließenden Gegensätzen schafft zwar Eindeutigkeit, aber die zahlreichen so abgeleiteten Rezepte, Theorien und Ideologien haben bislang nicht überzeugt. Es ist vielleicht an der Zeit, sich der Ambivalenz zu stellen, auf die Vielfalt nicht länger mit Einfalt zu reagieren. Die Postmoderne richtet sich gegen Technokraten, die vom Gipfel ihrer „technologischen Kompetenz” herab, die Welt mit ihren Dogmen betreffs „inhaltlichen Kriterien von menschenswertem Leben” beglücken wollen. Vieles was noch immer als Antwort präsentiert wird, ist inzwischen in die Position der Frage gerückt. Es knirscht im Gebälk der alten Machtstrukturen, und die, die oben sitzen, können sich des ziemlich plausiblen Gedankens nicht länger erwehren, dass sie diejenigen sind, die am tiefsten fallen könnten. Die Angst der Technokraten, seien sie Ingenieure, Informatiker oder Geisteswissenschaftler, vor ihrer Entmachtung wird ein Haupthindernis bei der Gestaltung des Cyberspace sein. Die Frage danach, was wir mit dem kommenden Cyberspace machen wollen, hat sich als durchaus politische erwiesen, die keinesfalls nur technologischer Lösungen bedarf. Es wird dort auch um die Verteilung von Macht gehen, und zwar auf einer Ebene, die in die Konstituierung der Subjekte hineinreicht. Nun gibt es Subjekte, die sich schon lange mit den Cyberspace-Technologien befassen, ohne sich einer traditionellen Machtinstanz, etwa der akademisch verfassten Wissenschaft, zuordnen zu lassen: Die Hacker.
Mit den panoptischen Machtmechanismen hat diese Gruppierung insofern Bekanntschaft gemacht, als sie Ziel von Kriminalisierungen und Pathologisierungen wurde. Aus den Reihen dieser Gruppe werden seit vielen Jahren Forderungen erhoben, die etwas ungewöhnlich klingen, etwa nach „Freiheit für die Daten”, nach „mindestens weltweit freier Kommunikation für alle” aber auch nach Datenschutz. Als inverses Panoptikum könnte man nun ein „latentes Utopiemodell” bezeichnen, welches sich in der Praxis der Hacker spiegelt. Das dem teilweise kriminalisierten „Datenreisen”, zugrunde liegende Streben nach Informationsfreiheit widerspricht nur scheinbar dem ebenfalls geforderten Recht auf die eigene Privatsphäre (Datenschutz). Nicht der gläserne Bürger, wie ihn die computerisierte Verwaltung, das Superpanoptikum, schafft, ist gefordert, sondern die gläserne Bürokratie. Wer Macht ausüben kann, soll für den Bürger sichtbar gemacht werden. Der Sicherheit der persönlichen Daten komplementär ist also der Wunsch nach Beobachtung der Machtausübenden:
Für die staatliche Seite haben wir das so formuliert: Wir fordern die maschinenlesbare Regierung. Mit Hilfe der Computer und der Netzwerke ist so was einfach möglich. Dadurch ist es möglich, Daten transparent zu machen. Diese Technologie existiert dazu. Es ist nur die Frage, wie sie eingesetzt wird.
So Andy Müller-Maguhn, langjähriger Sprecher des CCC, der es einst bis zum europäischen Icann-Direktor brachte.
Die Cyberwelt bietet ungeahnte Möglichkeiten. Ob dieser Hacker gerade die Weltherrschaft übernimmt?
Der Wunsch wird deutlich, den überwachenden Blick umzukehren: Die Insassen des Panoptikums sind es leid, in ihren Zellen dem Blick des unsichtbaren Wächters preisgegeben zu sein. Sie fordern – zunächst noch – nicht den Ausbruch aus ihren Zellen, aber sie wollen eine Invertierung jener Kontrolle, die sich durch technologische Entwicklungen gerade zu potenzieren droht. Die auf ein Zentrum hin gerichteten Gegenmächte erweisen sich als Teil der Macht oder ihr Spiegelbild. Ein neuer Ansatz muss also indirekter und lokaler, an der Peripherie angesiedelt sein.
(gekürzte Fassung von)
Barth, Thomas, Das inverse Panoptikum: Ein postmoderner Ansatz für die
politische Informationsstruktur des Cyberspace, zuerst in: Informatik Forum,
Nr.2 1996, S.68-71.