Thomas Barth
Was bedeuten die rasanten medialen und digitalen Transformationen für das Leben von Kindern? Diese Frage wurde „in der deutschsprachigen Kindheitsforschung bislang wenig untersucht“ (Klappentext). Das Handbuch thematisiert zentrale Zusammenhänge und interdisziplinäre Diskurse über Gesellschaft, Technik und Kindheit mit dem Ziel, emanzipatorische Bildungs- und Lernprozesse zu fördern.
Die Herausgeber*innen kommen aus den Bereichen Pädagogik, Sozialpädagogik und Soziologie, ebenso die meisten der insgesamt 26 Beiträger*innen unter denen acht aus Digitalisierungs- oder Medienwissenschaften stammen. Charlotte Röhner und Heinz Sünker, beide emiritiert, sind Nestor*innen der deutschen Kindheitsforschung, Sünker ist zudem Adorno-Experte und sein Blick auf das Digitale geprägt von der Kritischen Theorie der freudomarxistischen Frankfurter Schule. Überwiegend aus dieser kritischen Perspektive diskutiert der erste von vier Teilen des Bandes „Technik und Gesellschaft“, also die sozialen, kulturellen, pädagogischen und politischen Folgen der Digitalisierung. „Welche neuen Zugriffsmöglichkeiten auf kindliche Subjektivität ergeben sich aus der Techniknutzung und welche Widerstandspotentiale (Adorno, Erziehung zur Mündigkeit)? Welche veränderten Konzeptualisierungsansätze von Kindheitspolitik ergeben sich?“ (Verlagstext).
Soziale Aufgaben wie Wert schätzen, Bindung schaffen, Trennung verarbeiten, Grenzen setzen, Identität und Autonomie gewinnen, sie alle unterliegen durch allgegenwärtige Digitalmedien neuen Risiken, etwa prekärer Datensicherheit, leicht zugänglichen jugendgefährdenden Inhalten oder Cybermobbing. Doch das Handbuch thematisiert auch neue Chancen der Digitalmedien. Im zweiten Teil „Digitalisierung und Mediatisierung von Kindheit“ wird die Sozialisation und Kinder als Akteur*innen thematisiert. Der dritte Teil „Digitales Konstruieren, Spielen und Handeln“ legt den Fokus auf die früher meist negativ bewerteten Computer-, Video- und heute auch Online-Spiele, sucht nach kreativen Potentialen, warnt aber auch, etwa vor unreflektiertem Konsum gewalthaltiger Spiele. Der letzte Teil „Digitalisierung und digitale Bildung in Institutionen“ nimmt Probleme und Lösungsansätze in Kitas und Schulen des Elementar- und Primarbereichs in den Blick.
Technologie, Adoption und Pflegefamilien
Prof. Rita Braches-Chyrek war 2010 Mitherausgeberin des Bandes „Kindheit in Pflegefamilien“, doch dieser Aspekt der Kindheitsforschung klingt im vorliegenden Handbuch nur in zwei Beiträgen an: 1. Die Afrikanistin Konstanze N‘Guessan streift mit „Verwandtschaft und Kindheit im Zeitalter assistierter Reproduktion – Einblicke in die ethnographische Erforschung des doing family“ das Thema Adoption und Islam. 2. Der Beitrag „Beobachtung der Beobachteten: Technologie, Schutz und Fürsorge an einem Tag im Leben von Jasmine“ von Rachel Thomson und Ester McGeeney, berichtet aus einer „alternativen Erziehungseinrichtung für Jugendliche, die keinen Zugang zur Regelschule haben“; sie beobachten dort den Medienalltag der fünfzehnjährigen Mutter Jasmine, die in einer Pflegefamilie untergebracht ist (s.u.2.).
1. Verwandtschaft, Kindheit und Technologie
Der Beitrag von N‘Guessan ist der einzige des Bandes, der nicht von digitalen Medien handelt -dafür aber biotechnologische Bezüge zum Transhumanismus aufweist, indem dessen Biologismus auf den Boden der sozialen, kulturellen und psychologischen Tatsachen zurückgeholt wird. Im Fokus stehen medizinische Technologien der assistierten Reproduktion und die kulturelle Herstellung von Verwandtschaft und Familie in verschiedenen Kulturen. Ihre Ausgangsfragen sind: „Was ist Familie und wer gehört dazu? Welche Dimensionen hat Eltern-Sein und wie wird Abstammung kulturell konzeptualisiert?“ Solche Fragen stellt die Ethnologie der „New Kinship Studies“, die seit den 1980er-Jahren die Verwandtschaftsforschung „von der Biologie befreit, die durch euroamerikanische Prägung entstanden sei.“
Verwandtschaft wird und wurde immer kulturell gemacht -und dieser Entstehungsprozess oft mit Biologismen wie „Blut ist dicker als Wasser“ verborgen, was oft schon den Status von Adoptivkindern kompliziert habe. Neue Reproduktionstechniken (NRT) lassen die biologische Simplifizierung heute vielerorts ins Schwimmen geraten. Denn es sind dabei nicht nur zwei, sondern bis zu fünf Personen im engeren Kreis einer konstruierbaren Elternschaft vorhanden: Mutter, Vater, Eispenderin, Samenspender und Leihmutter. Dazu kämen im weiteren Umfeld noch diverse Medizintechniker*innen, die etwa mit ihren Händen unter dem Mikroskop die Eizelle besamen. „NRT und Adoption konstituieren einen Möglichkeitsraum, auf den sich unterschiedlichste Akteur*innen in ihren Überlegungen und Praxen beziehen. Durch die Linse der NRT lässt sich Verwandtschaft als Ergebnis von Handlungen verstehen.“
Konstanze N‘Guessan erläutert an diversen afrikanischen und islamischen Kulturen Praktiken des Verwandt-Machens -und ist mit dieser interkulturellen Perspektive in diesem Handbuch einmalig. Wir erfahren von einem „Unfruchtbarkeitsgürtel“ in Zentral- und Südafrika, wo NRT trotz der hohen Kosten stark gefragt sind und auf andere als die euroamerikanischen Verwandtschafts-Praktiken treffen. In matrinlinearen Gesellschaften, etwa den Macao in Mozambik, können Vaterpflichten und -privilegien auf den Mutterbruder übergehen; in anderen Kulturen gibt es die „Geist- oder Frauenheirat“, wo Vater- bzw. Schwangerschaft durch Zahlung eines Brautpreises auf einen Ahnen oder eine Frau übertragen werden.
In islamischen Kulturen ist entscheidend, ob diese schiitisch oder sunnitisch sind: Bei Sunniten kann schon die Adoption verboten sein, im weniger restriktiven Schiismus bleiben Adoptivkinder zumindest von der patrilinearen Erbfolge ausgeschlossen; seit einer permissiven Fatwa von Ayatolla Khomeini sind in Iran und Libanon NRT-Kinder erlaubt und Adoptierten gleichgestellt. „Die Frage, wie ‚fremde‘ Kinder durch soziale Praktiken und diskursive Rahmungen der Familie zugehörig gemacht werden stellt sich nicht nur bei NRT-Kindern, sondern immer“, so N‘Guessan, denn Verwandtschaft sei eine „biologisch wie sozial unterdeterminierte, gestaltungsoffene wie gestaltungsnotwendige soziale Ordnung“. Damit stellt sie sich dem reaktionär-neoliberalen Mythos von der biologistisch verabsolutierten bourgeoisen Familie ebenso entgegen, wie dies mit breiterer Perspektive der afrikanische Ökonom und Kulturwissenschaftler Felwine Sarr in seinem Manifest Afrotopia tat.
2.Technologie, Schutz und Fürsorge
Thomson und McGeeney stehen mit ihrem britischen „Kinderalltagsprojekt“ in der Tradition materialistisch-feministischer Methodologie, die ihre Forschungstätigkeit eingehend selbstkritisch reflektiert und nach Möglichkeiten „nachhaltigerer Sorge-Relationalitäten“ sucht:
„Die digitalen Medien haben ganz eigene Möglichkeiten geschaffen, die auch neue Arten von erzieherischer Führung erfordern und neue Gebiet ethischer Untersuchungen eröffnen. (…) Junge Menschen in staatlicher Obhut wurden als eine besondere Risikogruppe identifiziert, einschließlich des Risikos in Bezug auf digitale Kulturen… besonders in den Bereichen Adoption und Pflegefamilien kämpfen Sozialarbeiter*innen darum, die Kinder vor der Aufnahme oder der Fortsetzung von Kontakten mit ihren leiblichen Eltern zu bewahren, wenn diese gerichtlich eingeschränkt worden war.“
Digitale Medien, besonders das allgegenwärtige Smartphone, erschweren diese Aufgabe, denn Kinder und Jugendliche verstehen es, sich der Kontrolle zu entziehen. Im Fall der einen Tag wissenschaftlich beobachteten Jasmine wird klar, dass auch sie und ihre Mitschüler*innen die ihnen auferlegten Regeln für den Mediengebrauch zu unterlaufen wissen: „Die ‚Ein-Tag-im-Leben-Methode‘ hat uns diese Art der dichten, affektiven Geometrien einfangen lassen.“ Die Forscher*innen erfahren, wie vermutlich Instagram und Snapchat von minderjährigen Müttern verwendet werden, um Babyfotos zu posten -schon deren Aufnahme wird von der Einrichtung eigentlich untersagt.
Die Konfliktsituation wird von Thomson und McGeeney aus beiden Perspektiven reflektiert: Die Schutzbefohlenen müssen einerseits „beobachtet, überwacht, geschützt und zensiert werden“, andererseits gibt es auch eine „Kinderöffentlichkeit“ mit „den Imperativen: gesehen werden, sichtbar sein, teilhaben in/an einer digitalen Kultur“. Die Autor*innen stellen fest, dass in dieser neuen Kultur „neue Arten der Subjektivität“ entstehen. „Im Kontext einer Aufmerksamkeitsökonomie können wir das Bedürfnis junger Menschen, gekannt und gesehen zu werden, nicht einfach ignorieren“. Jugendliche Medienpraxis unreflektiert „unterdrücken“ zu wollen, halten die beiden Forscher*innen „für irregehend“.
Der emanzipative Ansatz ist bei Thomson und McGeeney deutlich, doch bei der Reflexion des „Neuen“ an der „neuen Subjektivität“ ist noch Luft nach oben. Denken wir an eine 1950er-Jahre-Werbung für Dosen-Ananas: „Toast Hawaii! Da werden Ihre Nachbarn staunen!“ Foodporn auf Instagram posten ist vielleicht nur überkommene Subjektivierung in digitalisierter Werbeästhetik, die kunstvolle Beleuchtung und Belichtung von damals wird heute durch einen das Foto farblich aufpeppenden digitalen „Filter“ ersetzt.
Fazit
Die emanzipatorische Haltung ist löblich, doch leider gelingt der Transfer der Medienkritik von Adorno ff. auf die Digitalisierung durch die Bank nur ungenügend. Die zweifelhafte Referenz von Heidegger als Paten der Technikkritik überzeugt ebenso wenig wie der gelegentliche, hilflos wirkende Verweis auf neueste Ansätze wie Shoshana Zuboffs „Überwachungskapitalismus“. Dabei wäre bei Kenntnis der kritischen Diskurse zu Computer- und Internetkultur gar nicht nötig, das Rad neu zu erfinden: Der Adorno-Experte Mark Poster etwa kombiniert seit 30 Jahren Freudomarxismus mit postmodernen Ansätzen, etwa den Heidegger implizit weiterführenden Theorien von Michel Foucault, bei seiner Digitalmedienkritik.
Den meisten Beiträgen scheinen auch tiefer gehende Kenntnisse der technologischen und politischen Hintergründe der Digitalisierung zu fehlen, mit den beiden Ausnahmen des Professors für Digital Humanities (Sussex) David M. Berry und des Diplom-Informatikers Marius Melzer, der beim Chaos Computer Club ein Schülerprojekt betreibt. Bei Melzer bleibt die Warnung vor Manipulation im Internet nicht vage, sondern er führt konkret die wohl dramatischste Auseinandersetzung auf diesem Gebiet an:
„Das Beispiel Julian Assange zeigt dies deutlich: Die nach heutigem Wissensstand fingierten Vergewaltigungsvorwürfe (Melzer 2020) führten dazu, dass die vorhergegangene Wikileaks-Veröffentlichung „Collateral Murder“, die zeigte wie US-Soldaten im Irakkrieg lachend aus einem Hubschrauber auf Zivilisten und Journalisten feuerten, in Vergessenheit geriet.“ (S.114)
Die mit nur einem Satz allzu sparsame Erwähnung dieser digitalen Medienschlacht um die (nicht nur Medien-) Geschichte schreibende Enthüllungsplattform Wikileaks brachte einen gravierenden Fehler: In der Literaturliste wurde beim Quellennachweis der Vorname von N.Melzer offenbar zu M.Melzer fehlkorrigiert. Man nahm wohl ein Selbstzitat von Marius Melzer an und kannte nicht den wirklich zitierten weltberühmten Autor Nils Melzer, den UNO-Folterbeauftragten und Schweizer Professor für Völkerrecht. Nils Melzer hatte die gegenwärtige Folter des Wikileaks-Gründers Julian Assange angeprangert, den er als Opfer einer perfiden Intrige sieht. Er hatte in schockierenden Artikeln und seinem Buch „Der Fall Assange“ detailliert enthüllt, wie mutmaßlich Geheimdienste die Regierungen der USA und Großbritanniens sowie die schwedische Justiz den politisch verfolgten Assange als Vergewaltiger abgestempelt hatten. Diese Fakten wurden in westlichen Medien jedoch weitgehend vertuscht, was den Irrtum von Verlag, Lektoren und Korrekturat begründen dürfte. Somit wird dieses Handbuch selbst zu einem Beispiel gelungener Medienmanipulation im Digitalzeitalter.
Rita Braches-Chyrek, Jo Moran-Ellis, Charlotte Röhner, Heinz Sünker (Hrsg.): Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2021. 422 S., 69,90 Euro.
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