01/15/25

Psychoanalyse & Internetkultur

Klaus Grabska u.a. (Hg.): Virtuelle Berührung – zersplitternde Realität. Zur Psychoanalyse von Digitalisierung und Internetkultur. Gießen 2023, Psychosozial-Verlag. 263 S.

Rezension von Thomas Barth

Die psychoanalytische Perspektive thematisiert was bei der Debatte um die Digitalisierung oft übersehen wird: Fantasien, Wünsche, Ängste, Begierden und Bewältigungsmöglichkeiten des Subjekts im Netz. Dabei wird versucht, den in der Analytiker-Zunft dominierenden Kulturpessimismus zu hinterfragen, aber man bleibt doch am Ende mehrheitlich skeptisch. Der Band enthält Beiträge der psychoanalytischen Jahrestagung „Virtuelle Berührung – zersplitterte Realität“ (12.-15.Mai 2022) und spiegelt eine langsame Öffnung für Netzkultur in dieser traditionsreichen Richtung der Psychologie, die auf Sigmund Freud zurückgeht.

Digitalisierung und Netzkultur prägen, so der Ausgangspunkt, immer mehr unsere Gesellschaft sowie Erleben und Verhalten der Menschen. Unsere Psyche ist mit neuen virtuellen Welten konfrontiert, die uns in ihren Bann ziehen, unser Wirklichkeits- und Körpergefühl neu prägen. Was hat die heutige Psychoanalyse zu diesen Entwicklungen zu sagen? Welche Erkenntnisse ergeben sich aus der psychoanalytischen Behandlungspraxis, aus ihren theoretischen Sichtweisen und wie verändert sich die Psychoanalyse selbst?

Die Psychoanalyse fragt, wie es heute um unser sinnliches Erleben steht, wie sich die virtuellen Berührungen ohne Körper verstehen lassen, welche unbewussten Fantasien wir im virtuellen Raum haben. Kann die digitale und mediale Revolution die Versprechen nach mehr gesellschaftlicher Teilhabe einlösen? Oder verstärkt sie im Gegenteil psychische Probleme und Pathologien sowie gesellschaftliche und politische Spaltungen? Die Beiträge sind sich nicht einig, doch die „Zersplitternde Realität“, die sie ansprechen, verweist auch eher negative Folgen aus psychoanalytischer Sicht. Neben Praxisberichten und kulturphilosophischen Reflexionen enthält der Band drei empirischen Untersuchungen zu den Netzmedien Youtube, Instagram und Tinder

Patienten tragen ihre Netzerfahrung in die Psychoanalyse

Das Vorwort der vier Herausgeber*innen gibt eine kritische Perspektive vor: Psychoanalytische Praxen würden zunehmend von Patient*innen aufgesucht, die mit dem Digitalen in einer Internetkultur groß geworden wären. Die „sozialen“ Medien hätten die Öffentlichkeit umgewälzt und das Virtuelle wäre zum dominanten Erfahrungsmodus geworden: „Mit dem Handy in der Tasche werden wir alle scheinbar zu globalisierten Weltbürgern, ohne einen wirklichen Schritt aus der stets begrenzten individuellen Wirklichkeit heraustreten zu müssen. Wir können uns ’sozial vernetzen‘, ohne irgendeine persönliche Verbundenheit einzugehen. Gewonnene Freiheiten und Spielräume gehen mit Ängsten vor Verlassensein und Resonanzverlusten einher.“

Im ersten Teil „Subjekt und Medium“ geht es um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Subjektbildung in einer zunehmend digital-medial vermittelten Kultur und wie dieser Prozess aus einer psychoanalytischen Perspektive zu erfassen wäre. Elfriede Löchel kann als eine Begründerin der psychoanalytischen Reflexion über Digitalisierung gelten. Sie erörtert in „Subjekt und Medium in der digitalen Welt“ ihre psychoanalytischen Erkenntnisse bezüglich Subjektkonstitution und Verständnis des Medialen und bezieht sich dabei auf Klassiker der Computer-Reflexion wie Joseph Weizenbaum und Sherry Turkle. Sie bemängelt besonders bei den Klinikern ihrer Zunft mangelnde Nüchternheit: „Anders als die frühen analytisch-sozialpsychologischen Arbeiten zum Computer…klangen die, die ersten Reaktionen aus dem Kontext der klinischen Psychoanalyse, die nach der Verbreitung des Internets auftauchten, wie Aufschreie. Der seelische Innenraum, die Erregungsregulierung, und Beziehungsfähigkeit der Subjekte schienen in höchster Gefahr.“ (S. 48) Neben dem Ödipuskomplex, der ihr medienanalytisch ungeeignet erscheint, und dem „intermediären Raum“ der Übergangsobjekte, den Löchel nicht mit dem Internet identifizieren möchte, diskutiert sie Sigmund Freuds Konzept der Abwesenheit, dargelegt im Fort-Da-Spiel. Dieses frühkindliche spielerische Erkunden der Existenz von Dingen (und des Selbst im Spiegel) sei „ein grundlegendes Medium…hilfreich, psychoanalytisch auch über andere Medien nachzudenken. (…) Indem ein abwesendes, sich entziehendes Objekt strukturell gesichert wird, konstituiert sich das Subjekt.“ (S. 57) Das virtuelle Leben im Internet lasse uns potenziell zu unendlich vielen Objekten, unabhängig von Raum und Zeit, in medialen Kontakt treten, artikuliere eine neue „Sprache des Abwesenden“ (Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“) und damit auch „eine neue Art, Subjekte ins Verhältnis zu Abwesendem zu setzen.“ (S. 58)

Kino und Netze: Odysse im Cyberspace

Netzmedien sind Teil unserer Medienumwelt, die uns durch SF-Filme und Literatur auf die Netzwelten vorbereitet hat. Der Filmpsychoanalytiker Andreas Hamburger ist ein Nestor der Medienforschung seiner Zunft. Er fordert in „Das digitale Unbewusste: Psychoanalytische Gedanken zu einem brennenden Zeitproblem“, das Unbewusste in einer digitalen Welt neu zu denken. Dabei greift Hamburger auf den SF-Autor P.K.Dick zurück, dem das Kino die „Bladerunner“-Filme verdankt, sowie auf Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ mit der tödlichen KI, die fragt, ob sie nun träumen könne, was der Analytiker verneint: „Androiden träumen nicht…weil sie keinen Leib haben, der ihre Kognitionen stört.“ In einer Zone zwischen menschlicher und maschineller Kognition sucht er ein digital konzipiertes „technisches Unbewusstes“, das außerhalb des Menschen agiert. Das Internet sei ein „algorithmisches, multizentrisches Subjekt“ geworden: „Hypes und Shitstorms sind die affektiven Eltern des Netzsubjekts und Reinigungsalgorithmen seine Windeln.“ Unser Unbewusstes wird „sich in diesem digitalen Spiegel neu erfinden“. (S. 34)

Der Lehranalytiker Lutz Garrels bezieht sich aus kulturtheoretischer Sicht in „Entfesselung und Zähmung des Feuers: Notizen zur digitalen Formung von Subjektivität“ metaphorisch auf den Prometheus-Mythos. Er deutet dabei digitale Objekte als Prothesen des Subjekts und formuliert seine vier Risikodimensionen digitaler Medien: Dauererregung und Übersättigung; narzisstische Aufblähung und Zentrierung auf das eigene Ego; Prothesen und Omnipotenz; sowie Spaltung und Destruktion. Wo das Selbst paranoid-projektiv agiere, fänden sich Foren der Verschwörungstheoretiker und Rechtsextremen mit ihren Destruktionsfantasien. „Likes“ würden wie libidinöse Energie verschickt und empfangen, es gehe dabei aber weniger um erotisches Feuer als um narzisstische Partialtriebhaftigkeit und eine Gefahr „schwerer Verbrennungen“. Er schließt mit dem Satz: „Wir sollten dann unsere ganze Lust sammeln und mit all unserer weiblichen und männlichen Kraft in das digitale Feuer hinein pinkeln.“

Corona, Ferntherapie und Zwischenleiblichkeit

Der zweite Teil „Klinik und Internet“ behandelt schwerpunktmäßig die in der analytischen Gemeinschaft diskutierte Frage, welchen Einfluss es hat, wenn das Therapiegespräch, wie durch die Corona-Pandemie vielfach nötig, digital vermittelt am Bildschirm stattfindet. Alessandra Lemma verweist dabei auf die Bedeutung einer vorangehenden Erfahrung von körperlicher Präsenz, um einen analytischen Prozess bewahren zu können, und warnt vor dem „schlüpfrigen Gefälle“ der Virtualität, die sehr heikel auf einer verführerisch informellen Beziehungsebene operiere. Giuseppe Civitarese verweist ähnlich auf die schwindende Dimension der „Zwischenleiblichkeit“ und Bernd Heimerl sieht für Video-Online-Meetings eine verunsichernde magische Erfahrungsqualität in der digital vermittelten Kommunikation: Das Unheimliche einer Doppelpräsenz, deren Geschichte er im Horrorgenre nachzeichnet.

Der dritte Teil „Zersplitterung im öffentlichen Raum“ erörtert soziale, kulturelle und auch politpsychologische Aspekte von Digitalisierung und Internetkultur. Zunächst zeigt Gudrun Brockhaus in „Ich fühle mich wie Sophie Scholl‹. Rechte Opferspiele“, wie sich viele rechtsradikale Bewegungen mithilfe des Internets als Empörungs- und Hassbewegungen massenwirksam inszenieren und politisch organisieren. Das im Titel angeführte Zitat stammt von einer Rednerin bei einer Impfgegner-Demonstration. Brockhaus analysiert, inwiefern es rechtsradikalen Bedrohungsideologemen trotz darin enthaltener Realitätsverdrehungen in den „sozialen“ Medien gelingt zu dominieren: Mittels Emotionalisierung, Personalisierung, Dramatisierung, Polarisierung, Übertreibung und Radikalisierung. Rechtspopulismus, Neue Rechte und „profitorientierte Plattformen“ (wie Facebook) teilen dabei Mechanismen zur Generierung von Aufmerksamkeit. In den „Echokammern des Grauens“ würde die virtuelle Realitätswahrnehmung Verschwörungsideologien untergeordnet, wobei einige sich zu Opfern stilisieren. Andere würden destruktiv bis hin zu Tötungs- und Suizidhandlungen nur wegen einer behaupteten bzw. imaginierten „Impfdiktatur“. Seit Donald Trump habe Politik sich zunehmend nach dem Modell des Reality-TV inszeniert: „Die Zerstörung von Empathie und Mitleidensfähigkeit entspricht der Entwirklichung in der Gamification des Politischen.“ (S. 153)

Von Sigmund Freud zu Günther Anders

Andreas P. Herrmann begibt sich in seinem Text „Unser mediales Spiegelbild. Der Psychoanalytiker als Held der Fernsehserie in Therapie“ in das Medienfeld der Online-Streaming-Angebote. Seine weniger auf Digitalisierung bezogene Frage betrifft die in der französischen Serie bewältigten Ängste nach dem verheerenden Anschlag auf das Pariser Konzerthaus Bataclan am 13.11.2015. Psychische Traumatisierungen werden an den fiktiven Therapieverläufen der Serie erörtert, die Herrmann als überzeugende Darstellung der klinischen Psychoanalyse einschätzt: „In Therapie ist ein Beispiel dafür, welche mediale Faszination von der Psychoanalyse ausgehen kann und welche Ängste sie zugleich mobilisiert.“ (S. 190) Er diskutiert ausführlich die sexuelle Übergriffigkeit des Serienhelden.

Franz Oberlehner geht in „Körperaugmentation und Wirklichkeitssinn“ von Günther Anders‚ prometheischer Scham und Sigmund Freuds Prothesengott-Theorem aus, um unseren Wirklichkeitssinn nach Ferenczi zu erörtern. Das Smartphone augmentiere (ergänze) unsere Wirklichkeit so anschmiegsam, dass es mit unserer Psyche eine symbiotische Beziehung eingehe. Dies käme „unseren sehr frühen Fantasien von Allmacht und Ungetrennt-sein so sehr entgegen, dass unsere Realitätsprüfung immer mehr an Schärfe und Konturen verliert“ (S. 166). „Big Data“ (die Plattformkonzerne) würden kontrollieren, was uns interessiert, und steuern, wie wir unsere Wünsche erfüllen. Dabei verändert die Digitalisierung „die Grenze unseres Körper-Ichs, die unbewusste Bestimmung von Innen und Außen und damit unseren Wirklichkeitssinn“. (S. 174)

Youtube, Instagram und Tinder

Der vierte Teil „Begegnungen im Internet“ stellt drei empirischen Untersuchungen zu den Netzmedien Youtube, Instagram und Tinder vor, deren Ansatz qualitativ-psychoanalytischen Forschungsmethoden folgt und das szenische Verstehen (Argelander) zur Erschließung des Latenten nutzt. Clara-Sophie Adamidis findet bei der tiefenhermeneutischen Auswertung zweier themenzentrierter Interviews von Nutzer*innen von Youtube-Vlogs (Videoblogs) ein „beziehungsnahelegendes Format“, das Kontaktwünsche enttäuschen kann.

Julia Katharina Degenhardt untersucht in „#BorderlineRecovery“ die Instagram-Auftritte einer 19- und einer 26-jährigen Borderlinerin. Dort werden „häufig Selbstverletzungen, verheilt oder frisch versorgt“ dokumentiert und ein psychischer Heilungsprozess öffentlich diskutiert. Auf dem Bildmedium Instagram werden oft glamourös-narzisstische Selfies gepostet und im ernsteren „Recovery“-Bereich finden sich hundertmal mehr Einträge zu Magersucht (die durch dieses Medium besonders bei jungen Frauen und Mädchen ausgelöst werden kann). Degenhardt zeigt das Widerstandspotenzial im digital vermittelten Genesungswunsch auf und betont dabei die psychoanalytisch-psychotherapeutische Relevanz des sozial-medialen Daseins.

Carolin Schnackenberg fragt nach der psychodynamischen Bedeutungsdimension der Dating-App Tinder und findet sie in der immer wieder erneuerten Evokation Wünsche erfüllender Vorstellungen noch vor einer Realisierung geäußerter Beziehungswünsche.

Geschlecht und Virtualität

Das Thema Sex darf bei Psychoanalytikern natürlich nicht zu kurz kommen, so thematisiert der abschließende fünfte Teil „Geschlecht und Virtualität“ sexuelle Aspekte der Internetkultur. Nils F. Töpfer arbeitet in „Die Verschleierung des Begehrens in der Internet-Pornografie. Paradoxie und Pluralität der Identifikation“ die subjektive Bedeutung von Pornografie im Internet anhand der Suchbegriffe Anal, Femdom und Cuckold heraus. Er strebt dabei eine differenzierte Sicht bewusst ohne moralische Voreingenommenheit an, die Paradoxien und Pluralität möglicher Identifikationen mehr Aufmerksamkeit widmet. Die Besonderheit der Internet-Pornografie liege in der relativ verzögerungsfreien Befriedigung des Begehrens, die dem Unbewussten mehr Raum gebe. Die pornografische Fixierung auf Analsex mit Frauen ermögliche etwa „Männern indirekt auch auf annehmbare Weise die Identifikation mit dem Penetriert-werden.“ (S. 243)

Sebastian Thrul dokumentiert seine psychoanalytische Arbeit mit trans* Menschen bzw. wie er sich eine psychoanalytische Position zur Frage der Geschlechtsumwandlung mittels Hormonen bzw. OP erarbeitete. Dies geschah im Rahmen seiner psychoanalytischen Ausbildung, wo er Probleme seiner Position als Oberarzt in einer neu geschaffenen ambulanten Sprechstunde für geschlechtsdysphorische Personen verarbeiten konnte. Digitalisierung spielt dabei nur insoweit eine Rolle, als in Netzmedien besonders drastische Debatten zu diesem Thema stattzufinden scheinen, deren öffentliche Wirkung auch betroffene Patient*innen stigmatisiert.

Diskussion

Die psychoanalytische Perspektive bringt bei der Debatte um die Digitalisierung Fantasien, Wünsche, Ängste, Begierden, Befriedigungen und Bewältigungsmöglichkeiten des Subjekts ins Spiel. Dabei versuchen hier einige Autor*innen den in der Analytiker-Zunft grassierenden Kulturpessimismus zu hinterfragen und bleiben doch am Ende weitgehend skeptisch. Die Versuche, das Unbewusste bei ihren Patienten, bei den Nutzern des Internets und auch bei sich selbst deutend zu ergründen, wirken dabei mehr oder weniger plausibel. Die Feinheiten der psychoanalytischen Begrifflichkeit bleiben dem ungeschulten Leser vermutlich verborgen, denn sie wird meist vorausgesetzt. Die Literaturlisten verweisen fast immer auf Freud, nie auf Adler oder Jung, und die inner-psychoanalytische Uneinigkeit wird an keiner Stelle diskutiert.

Deutungen bleiben oft spekulativ und zuweilen fallen im vorliegenden Band auch Details auf, die einer Deutung bedürfen könnten. Der Beitrag von Herrmann untersucht z.B. das „mediale Spiegelbild“ des Psychoanalytikers, wenn dieser als Held der Fernsehserie „In Therapie“ auftritt. Bei seiner Deutung kritisiert er zwar die unethische Verstrickung des Helden in eine Gegenübertragung, die diesen in eine verbotene Liebesaffäre mit einer jungen attraktiven Patientin geraten lässt. Er übersieht aber einen noch viel gravierenderen Verdacht, der in der Serie aufkommt: Der Analytiker gerät in Eifersucht zu einem anderen Patienten, der mit besagter Patientin eine sexuell erfolgreichere Beziehung herstellte als der Therapeut. Als Polizist war er wegen posttraumatischer Belastungen nach Einsatz beim Bataclan-Anschlag in Behandlung, am Ende geht er als Freiwilliger in einen militärischen Polizeieinsatz gegen den Islamischen Staat und wird erschossen. Der Vater des Toten macht dem Analytiker viele Vorwürfe und ein Verdacht liegt in der Luft: War die Psychoanalyse hier eine (wenn auch eventuell nur unbewusst eingesetzte) Mordwaffe gegen den Nebenbuhler? Herrmann scheint diese drastische, eine fragwürdige Machtausübung in der Behandlung problematisierende Nuance des Seriendramas vollkommen zu entgehen, obwohl er besonderes Augenmerk auf die öffentliche Darstellung und Bewertung der Psychoanalyse in der Fernsehserie legt.

Der Beitrag von Gudrun Brockhaus geht hart mit Impfskeptikern ins Gericht, rückt sie undifferenziert in die Nähe von Rechtsextremismus und Verschwörungstheorie, ohne zu erwähnen, dass es unter Psychoanalytikern auch prominente Gegner der Corona-Politik gab. Der Berliner Psychologie-Professor und Psychoanalytiker Klaus-Jürgen Bruder gab 2021 zusammen mit Almuth Bezzel-Bruder, Lehranalytikerin (Adlerianerin) und Rechtspopulismus-Forscherin, den Sammelband „Macht: Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird“ heraus, der impfskeptische und medienkritische Positionen versammelte. Bruder selbst, der im Psychosozial-Verlag sogar eine Schriftenreihe zu „Subjektivität und Postmoderne“ herausgibt, schrieb in „Macht“, das freilich im Westend Verlag erschien, zum Thema „Der Diskurs der Macht in Zeiten von Corona“. Gudrun Brockhaus scheinen diese psychoanalytischen Diskurse nicht bekannt zu sein, vielleicht weicht sie ihnen auch aus. Psychoanalytisch gesehen könnte man wohl auch hier über „Verdrängung“ spekulieren. 

Fazit

Die Vertreter*innen der Psychoanalyse liefern in diesem Tagungsband einen reichen Fundus an metaphernreichen Deutungen und – manchmal vielleicht allzu – fantasievollen Ideen zur Frage des Subjekts in der Digitalisierung. Besonders die virtuellen Welten der sogenannten „sozialen Medien“ heutiger Plattformkonzerne wie Facebook oder Instagram werden zu ihrem Einfluss auf die Konstituierung heutiger Subjekte befragt, politische, psychische und tiefe gesellschaftliche Konsequenzen werden diskutiert, wenn auch meist unter Ausblendung sozioökonomischer Faktoren. Die Konsequenzen der Digitalisierung werden überwiegend als negativ für die Subjektbildung bewertet, doch in einigen Texten klingt auch ein Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen an, sich auf kognitiver, emotionaler und unbewusster Ebene an die Bedingungen eines Lebens in der digitalisierten Medienwelt anpassen zu können. 

Herausgeber: Klaus Grabska, Vorsitzender der DPG (Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft), Falk Stakelbeck, Leiter der Vorbereitungsgruppe der dokumentierten DPG-Tagung, Angela Mauss-Hanke und Utz Palußek; mit Einzelbeiträgen von Clara-Sophie Adamidis, Gudrun Brockhaus, Giuseppe Civitarese, Julia Katharina Degenhardt, Lutz Garrels, Andreas Hamburger, Bernd Heimerl, Andreas P. Herrmann, Alessandra Lemma, Elfriede Löchel, Franz Oberlehner, Carolin Schnackenberg, Sebastian Thrul und Nils F. Töpfer.

Der Band publiziert Beiträge der Jahrestagung der DPG, die unter dem leicht abweichenden Titel „Virtuelle Berührung – zersplitterte Realität“ vom 12. Bis 15.5.2022 in München stattfand. Die DPG ist einer von zwei großen freudianischen Verbänden hierzulande, der andere ist die DPV (Deutsche Psychoanalytische Vereinigung); die DPV war als Abspaltung der DPG von 1951 bis 2001 in der IPV (Weltdachverband) als einziger deutscher Verband anerkannt, wohl weil in der IPV gravierende Zweifel an einer Aufarbeitung der NS-Verwicklungen der DPG bestanden. Heute kooperieren die beiden freudianischen Gruppen und etliche weitere (u.a. Jungianer, Adlerianer), grenzen sich jedoch weiterhin voneinander ab.

Klaus Grabska, Angela Mauss-Hanke, J. Utz Palußek, Falk Stakelbeck (Hrsg.): Virtuelle Berührung – zersplitternde Realität. Zur Psychoanalyse von Digitalisierung und Internetkultur. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2023. 263 Seiten. ISBN 978-3-8379-3238-6. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.

12/28/24

Isabella Hermann: Science-Fiction-Einführung

Isabella Hermann: Science-Fiction zur Einführung, Hamburg 2023, Junius Verlag

Buchkritik von Thomas Barth

Isabella Hermann fragt sich in ihrer hochinstruktiven Einführung, wie SF-Literatur und -Filme neue Technologien, sozialpolitische Wertesysteme, globale Politik reflektieren und inwiefern wir dies nutzen können. Die Einleitung beginnt augenzwinkernd mit einem Blick in die aktuelle Animationsserie „Love, Death & Robots“, wo die selbstverschuldete Apokalypse der Menschheit nur Roboter überdauert haben; die nehmen es mit Humor, dass auch auf dem Mars keine Menschen, sondern nur intelligente Katzen überlebten; typische Heilsversprechen des Silicon Valley werden dabei schwarzhumorig entlarvt. Isabella Hermann schreibt keine Genre- oder Mediengeschichte, ihr geht es um die Inhalte der SF in unserer „Welt, die durch ständigen Fortschritt geprägt ist.“ (S.10) Als Politikwissenschaftlerin interessieren sie SF-Werke „in einem diskursanalytischen Sinn“ als Texte, die durch sozialpolitische Aussagen und intertextuelle Verbindungen auf Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft hinweisen.

Kapitel 1 Was ist Science-Fiction und was kann man damit machen? SF vermittelt Ideen, Werte, Ängste und Hoffnungen, ermöglicht Reflexion und Gedankenspiele. Hermann modelliert SF „als ein Kontinuum zwischen dem tatsächlich Möglichen und dem Metaphorischen“ (S.14). Das Mögliche ist dabei künftig wissenschaftlich-technisch denkbar und sozialpolitisch realisierbar, SF mithin auch „narrative Technikfolgenabschätzung“; das Metaphorische sei demgegenüber Bild, Projektionsfläche und Gedankenexperiment, „die Zukunft selbst im Grunde eine Metapher“; z.B. versinnbildliche im dystopischen Film „Blade-Runner“ (1982) die geniale Filmkulisse des düsteren L.A. einen damals schon zeitgenössischen „unmenschlichen Hyperkapitalismus“ (S.18). Vermittelt würden implizite wie explizite Werturteile über aktuelle Trends und Ereignisse, gesellschaftspolitische Aspekte, Sehnsüchte und Ängste des Menschseins sowie philosophische und ethische Fragen (S.22). Sie sieht SF als Teil der Tradition utopischer Literatur von Morus‘ „Utopia“ über Mary Shelleys „Frankenstein“ bis zu „Star Trek“ und grenzt sie von Horror und Fantasy ab, die jedoch SF sein können, „wenn die Geschichten nach plausiblen Kriterien begründet werden. (S.31) Hermann zitiert den SF-Autor und –Experten Dietmar Dath, der SF von Religion, Mythos, Märchen und Sage abgrenzt. Mit dem Horrorgenre sieht Hermann Überschneidungen wie das „Alien-Franchise“ (seit 1979) oder Zombie-Filme. In ihrer Einführung will sie den Fokus auf Themen legen, die „gerade vermeintlich oder tatsächlich die Gegenwart einholen: Künstliche Intelligenz, Eroberung des Weltraums und Klimawandel“ (S.38). In den folgenden drei thematischen Kapiteln praktiziert sie diese politologische Diskursanalyse jeweils an etlichen Werken, meist Romanen, Filmen, Serien und erörtert dabei politische Strukturen, Werte und Weltanschauungen in und hinter der SF-Story.

Kapitel 2 Roboter und Künstliche Intelligenz beginnt mit der Google-KI LaMDA, die vom deshalb suspendierten Google-Mitarbeiter Blake Lemoine für ein tatsächlich über Bewusstsein verfügendes Wesen gehalten wurde. (Falls dies ein Marketingtrick war, scheint der bislang nicht aufgeflogen zu sein.) Schon der Kino-SF-Klassiker „2001: A Space Odyssee“ (1968) hatte mit „HAL 9000“ eine KI an Bord, deren Bewusstsein sie morden ließ, aus Furcht, abgeschaltet zu werden. Hermann diskutiert KI und Robotik, Asimov’s Robotergesetze, und den Facebook-Algorithmus, der zwecks Profitmaximierung Hassrede förderte, bis hin zu Mr.Data, einem Androiden aus Star Trek, der seine Rechte höchstrichterlich einklagen kann. Anhand des Kinofilms „Ex Machina“ (2014) geht es um Gyndroids, Fembots, Sexismus und Genderfragen, wobei der beseelte Sexroboter „Ava“ für Frauenbefreiung stehe, während das KI-Sprachsystem GPT-3 von OpenAI zu frauenfeindlichen und rassistischen Äußerungen tendierte (S.65). Solche fehlerhaften KI widersprechen der Idee des „Solutionismus“ aus dem Silicon Valley, der alle Probleme mit Big Data lösen wolle und dabei laut SF-Dystopien wie in The Circle (2013) oder im Film Zero (2021) zu totalitären Regimen führen könne. Die Terminator- und Matrix-Franchises behandeln den Überlebenskampf der Menschheit gegen selbstgeschaffene KI. Unter „Cyberpunk und digitale Welten“ verweist Hermann auf William Gibsons genrebildende Romantrilogie „Neuromancer“ (1984) sowie die Matrix-Filme; sie verweist in der Realität das Projekt „Metaverse“ von Mark Zuckerberg, das eine Digitalwelt entwickeln will, sowie auf Elon Musk, der mit „Neuralink“ Schnittstellen zwischen Hirn und Computer bauen will –wie bei Gibson beschrieben. Transhumanistische Cyberpunk-Ideen eines mit Technik verschmolzenen und optimierten Menschen sieht sie als Metaphern für eine „Real zunehmende Digitalisierung der Welt“. Gegenentwurf zum Cyberspace der digitalen Welt sei „der Weltraum als grenzenloser Sehnsuchtsort“ (S.84).

Kapitel 3 Die Eroberung des Weltraums startet bei Elon Musk der mit seiner Firma SpaceX 2017 öffentlich die baldige Besiedelung des Planeten Mars proklamierte, Amazon-Milliardär Jeff Bezos schiele realistischer auf einen beginnenden Weltraum-Tourismus für Multimillionäre. Literarisch dienten Marsbewohner als Prototyp des meist feindseligen Aliens in der SF Tradition, von H.G.Wells „“Krieg der Welten“ (1898) bis zur SF-Satire „Mars Attacks!“ (1996). Krieg gegen Aliens berge jedoch ein die Menschheit einendes politisches Potential, wie schon 1965 Susan Sontag erkannt hätte und heutige Politikwissenschaft weiterverfolge; so wird „dem Kontakt mit dem Weltraum die Kraft zugeschrieben, die Menschheit einen zu können.“ (S.97) Dies zeige sich auch in SF-Ideen zur Kooperation der USA mit China oder Russland. Das Star-Trek-Franchise hat ein eigenes Kapitel, das erörtert ob seine politische Ausrichtung wirklich ungetrübt liberale Demokratie und Menschenrechte propagiere und die kommunistische Utopie einer nicht-kapitalistischen Welt materiellen Überflusses zeichne. Dagegen stehe die militärisch-hierachische Organisation der im Zentrum stehenden „Sternenflotte“ und eine milde-imperialistische „Föderation der Planeten“, mit den (sehr US-amerikanisch agierenden) Menschen an der Spitze. Star Trek habe jedoch viele Meriten durch frühes Überwinden von sexistischen und rassistischen Diskriminierung, besonders in den USA. In neueren Space Operas habe besonders der deutsche Autor Dietmar Dath in seinen Romanen „Venus siegt“ (2015) und „Neptunation“ (2019) „gewaltige marxistische Ideenfeuerwerke“ für die Selbstbestimmung der Menschen gezündet, für ihre Befreiung von Ausbeutung und für individuelle Rechte auf ein erfülltes Leben (S.114). Tarkowskis Verfilmung des gleichnamigen Romans von Stanislaw Lem „Solaris“ (1972), gelte als sowjetisches Gegenstück zu Kubricks schon erwähntem Film „2001“, beide zeigten exemplarisch den „Sense of Wonder“, der SF-Konsumenten eine Art von Bewusstseinserweiterung bescheren könne.

Kapitel 4 Klimawandel und Umweltkatastrophen beginnt mit der Klimaaktivistin Greta Thunberg, zitiert ihre Reden vor UNO und Weltwirtschaftsforum. Extremwetter, Dürren, Ressourcenkriege, Anstieg des Meeresspiegels und Welthungers infolge Klimawandel seien schon Realität geworden. Die SF-Literatur reagiere heute verstärkt mit einem neuen Subgenre, der Climat Fiction (CliFi), habe jedoch schon in zahlreichen Dystopien davor gewarnt, jeweils auf dem Stand der Klimaforschung. Warnte die Wissenschaft in den 1950ern vor einer neuen Eiszeit, speziell nach einem Atomkrieg vor dem nuklearen Winter, so sah sie seit den 1970ern eine Hitzekrise kommen. Der Bericht an den Club of Rome (1972), die Gründung des IPCC durch die UNO 1988 machten Hitze-, Dürre- und Überschwemmungs-Szenarien zu Themen der SF, letztere etwa im Kevin-Kostner-Film „Waterworld“ (1995), Umweltzerstörung und Überbevölkerung zeigte etwa schon der Ökothriller „Soylent Green“, dt. „2022 – Die überleben wollen“.

Viel Raum nimmt der Roland-Emmerich-Blockbuster „The Day after Tomorrow“ (2004) ein, wo die Hitzekrise den Golfstrom kollabieren und die USA schockartig einfrieren lässt. Der Film habe auf das „Versagen der Klimapolitik unter US-Präsident G.W.Bush jr.“ hingewiesen, der „sich geweigert hatte, das 1997 ausgehandelte Kyoto-Protokoll umzusetzen“ (S.142). Übersehen wird im Buch der mindestens ebenso wichtige Film „The Day After“ (1983), an dessen Namen sich Emmerich anlehnte: In diesem viel beachteten Atom-Schocker wurde der Tag nach dem nuklearen Schlagabtausch in quälenden Bildern von radioaktivem Siechtum und Tod der US-Bevölkerung gezeigt; der amtierend US-Präsident Ronald Reagan, selbst Schauspieler und rechtskonservativer Hardliner, soll erst nach diesem Film von seinem konfrontativen Kurs gegenüber der UdSSR abgerückt sein. Bis dahin wollte seine Regierung einen auf Europa begrenzten Atomkrieg riskieren, um die Sowjets totzurüsten oder per Erstschlag zu „Enthaupten“; die Nato-“Nachrüstung“, gegen die in Westdeutschland eine breite Friedensbewegung unter Führung der damaligen Grünen (!) massiv auf die Straße ging, sollte mit Pershing-Raketen diese Drohpolitik durchsetzen. Reagans Einlenken mit Gorbatschow könnte also auf „The Day After“ zurückgehen -ein schöner Beleg für Hermans Thesen vom politischen Einfluss der SF.

Wie „Blade Runner“ und „Alien“ den Neoliberalismus für Privatisierung, Lohndumping und Sozialabbau kritisierten, gerät heute dessen profitgesteuerte Klima- und Umweltzerstörung ins Visier der SF. Das neue Subgenre „Solarpunk“ stelle den Krisen des Kapitalozäns (Donna Haraway 2016) Optimismus entgegen: utopische Solartechnologie und queere-punkiger Widerstand gegen Konzerne.

Schluss: Science-Fiction als Bildung betont den auch pädagogischen Nutzen des SF-Genres. Depressionen bei jungen Menschen nehmen zu und ein wichtiger Grund dafür sind Zukunftsängste. Kriege, Inflation, Armut und speziell die immer bedrohlicher werdende Öko- und Klimakrise verdichten sich zu einer „Multi-Krise“. Das Genre der Science-Fiction (SF) bietet nicht nur Eskapismus durch gute Unterhaltung, sondern befasst sich auch mit Zukunftsängsten sowie hoffnungsvollen Utopien. Dystopische SF-Szenarien warnen vor künftigen Gefahren, prangern aber auch gegenwärtige Probleme an, etwa Kriegstreiberei, Profitgier, Umweltzerstörung, koloniale Ausbeutung. Auch im Schulunterricht wird das SF-Genre gerne genutzt, als Inspiration für Gedankenexperimente, Projektionsraum für Zukunftsängste und -hoffnungen und als sozialpolitischer Gegenwartskommentar, vielleicht sogar als Anregung zur philosophischen Reflexion über die Bedingungen des Menschseins.

Die populärkulturelle Darstellung imaginärer Ereignisse bildet für viele gerade jüngere Menschen einen Zugang zu Debatten um aktuelle Zukunftsfragen. SF-Blockbuster erreichen und bewegen Millionen, vermitteln ihnen Wertaussagen über wissenschaftlich-technischen, aber auch gesellschaftlichen Fortschritt. So ließen sich „Zukunftssorgen und Climate Anxiety“ in Bildern und Texten reflektieren und durch „positive Zukunftswerte wie im Solarpunk“ lindern (S.171). Ein weiterer pädagogischer Pluspunkt bildet den Schlusssatz: „SF vermag beim Nachdenken zugleich wunderbar zu unterhalten.“ (S.173)

Diskussion

Isabella Hermann hat in ihrer emphatischen Einführung ein anno dazumal noch als Schund abgekanzeltes Genre in vielen wichtigen Aspekten instruktiv dargestellt. Ihre zielsicheren Einschätzungen stellen zahlreiche treffende Bezüge von SF und Politik dar, die ihr Modell zwischen dem metaphorischen oder prognostischen Pol verortet, wobei sie vielleicht den Spuren der strukturalen Analyse des SF-Theoretikers und –Autors Stanislaw Lem folgt (vgl. Lem 1979). Diesen lehnt sie allerdings mit Dietmar Dath eher als Misanthropen ab (S.79) –Roda Becher nannte Lems SF den Traum eines Kybernetikers, der alles Regelkreisen unterwerfen wolle, aber zur kritischen Sicht auf die Naturwissenschaft unfähig sei (Becher 1983 S.104f.). Die strukturalen Abgrenzungen, die der Fantastik-Theoretiker Todorov weiter trieb, überwindet Daniel Lüthi, um der „postmodernen Fragmentierung“ und mit Foucault einer netzförmigen Welterfahrung anstelle von linearen Polaritäten den Vorzug zu geben (Lüthi 2017 S.159).

Angesichts des monumentalen Themas und der bewältigten Literaturmassen bleibt es nicht aus, dass sich kleine Ungenauigkeiten einschleichen. Für technische SF-Erfindungen, etwa eine Zeitmaschine, habe, so Hermann, der SF-Kritiker Darko Suvin den Begriff „Novum“ geprägt (S.23); leider sind die Quellen (Suvin 1976), und vier Seiten später (Suvin 1979) ohne Seitenangabe, die Suvin-Texte fehlen zudem im Literaturverzeichnis; vermutlich ist Suvins einschlägige „Poetik der Science Fiction“ (1979) gemeint, wo dieser jedoch betont, dass er den Begriff „Novum“ bei Ernst Bloch entlehnt habe, und dieser bei Suvin nicht „in erster Linie wissenschaftliche Tatsachen“ (Suvin 1979 S.95) betreffe, sondern sich auf das beziehe, „was Bloch die ‚Frontlinie des historischen Fortschritts‘ nannte“ (Suvin 1979 S.113). Bei der Erörterung von Cyberpunk, Transhumanismus und (technischem) Posthumanismus anhand des Junius-Einführungsbandes von Janina Loh (S.82), vermisst man schmerzlich den Hinweis auf den von Loh (2018) gegenüber dem „technischen“ präferierten „kritischen Posthumanismus“, dessen an der Postmoderne-Bewegung orientierte Anthropozentrismus-Kritik in wichtigen Aspekten den postmodern-dekonstruktiven Cyberpunk eher betrifft (vgl. Gözen 2012, S.130 ff.). Diese kleinen Fragezeichen schmälern jedoch nicht den Wert des Buches, sie regen eher zum Weiterlesen und –denken an.

Fazit

Das kleine, gut lesbare Buch gibt einen Überblick über SF-Literatur, Filme und Serien. Isabella Hermann zeigt die politische, kulturelle und soziale Wirkung dieses beliebten Genres, reflektiert Inhalte, deren metaphorische Deutung und die Vermittlung von Werten zu aktuellen Themen wie KI, Klimakrise, Kolonialismus. Die Einführung richtet sich an Studierende der Literatur, generell an Menschen, die sich Gedanken über die Zukunft machen, und explizit auch an Pädagogen, die Science-Fiction-Werke zu Bildungszwecken verwenden wollen.

Isabella Hermann: Science-Fiction zur Einführung, Hamburg 2023, Junius Verlag, 208 Seiten, 15,90 Euro, ISBN 978-3-96060-321-4

Dr. Isabella Hermann ist Politikwissenschaftlerin, Ko-Direktorin des Berlin Sci-fi Filmfestes, Analystin und Speakerin im Feld der Science-Fiction, Mitglied im Vorstand der Stiftung Zukunft Berlin.

Literatur

Becher, Martin Roda: Der kybernetische Denker: Stanislaw Lem, in: An den Grenzen des Staunens: Aufsätze zur phantastischen Literatur, Frankfurt/M. 1983, Suhrkamp, S.101-105.

Gözen, Jire Emine: Cyberpunk Science Fiction: Literarische Fiktionen und Medientheorie, Bielefeld 2012, transcript Verlag.

Hermann, Isabella: Science-Fiction zur Einführung, Hamburg 2023, Junius Verlag.

Lem, Stanislaw: Science Fiction –strukturalistisch gesehen, in: Rottensteiner, F. (Hg.), ‚Quarber Merkur‘: Aufsätze zur Science Fiction, Frankfurt/M. 1979, Suhrkamp, S.17-32.

Loh, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, Hamburg 2018, Junius Verlag.

Lüthi, Daniel: Jenseits der Todorovschen Grenze: Versuch eines Brückenschlags zwischen Fantastik und Fantasy, in:Klimek, Sonja u.a. (Hg.): Funktionen der Fantastik. Neue Formen des Weltbezugs von Literatur und Film nach 1945, Heidelberg 2017, Universitätsverlag Winter, S.155-171.

Suvin, Darko: Poetik der Science Fiction, Frankfurt/M. 1979, Suhrkamp.

12/6/24

Michel Foucault: Philosophie Diskurs Netz

Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie, Suhrkamp, Berlin 2024, 349 S.

Rezension von Thomas Barth

Der Netzphilosoph Michel Foucault begann nicht erst mit seiner Theorie der Machtnetze in Netzstrukturen zu denken, wie das vorliegende Buch zeigt: Schon seine Diskursanalyse und Archäologie zielten auf das „Netz des philosophischen Diskurses“ als Teil eines Diskursuniversums. Denn Kultur sei ein Netz von Beziehungen, das Sprechakte und Diskurse, aber auch Objekte, Materialien und Institutionen zu einem Diskurs-Archiv verbinde. Der „fröhliche Positivist“ nahm lockere 50 Jahre den heute postulierten „material turn“ der Geisteswissenschaften vorweg. Alphabete, Bibliotheken, Buchdruck schufen demnach neue Netzwerke der Zirkulation der Diskurse, die sich, wie der 1966 von Foucault verfasste Text bereits andeutete, in Daten-, Computer- und Kommunikationsnetzen fortsetzen würden.

Ausgangspunkt ist eine nietzscheanische Philosophie der Zeitdiagnostik, und viele sagen ja auch, unsere Gesellschaft, unsere Kultur, unsere Zeit seien krank. Doch welchen Arzt können wir für sie rufen? Foucault erklärt uns: Den Philosophen. Denn schon seit Beginn der griechischen Philosophie laute deren Daseinsberechtigung „interpretieren und heilen“ (S.14). Dies überrascht, gilt Foucault doch als harscher Kritiker der Humanwissenschaften und Heilberufe, insbesondere der Kriminologie, Psychologie und Psychiatrie. In jungen Jahren selbst psychiatrisiert, entwickelte er eine Machttheorie, die neben Justiz und Strafvollzug besonders vordergründig wohlmeinende Zugriffe der Gesellschaft auf das Subjekt kritisiert. Dafür erarbeitete Foucault einen ganz eigenen methodisch-theoretischen Zugang über die (post-) strukturalistische Analyse gesellschaftlicher und kultureller Diskurse. Seine Konzepte sind heute ein fester Bestandteil unterschiedlichster Disziplinen und Ansätze in den Geisteswissenschaften, etwa Queer- und Genderstudies, Pädagogik, Pflege-, Sozial- und Medienwissenschaften, Disability Studies (Kammler/Parr 2007).

Autor und Hintergrund

Michel Foucault (1926-1984) lehrte ab 1970 am renommierten College de France in Paris, war sozialpolitisch engagiert und gilt heute zunehmend als einer der wichtigsten Denker des 20.Jahrhunderts. In Deutschland jahrzehntelang nur schleppend rezipiert, wird er heute in den meisten Geisteswissenschaften immer mehr wahrgenommen. Seine (Ideen-) Geschichten des Wahnsinns, der Medizin, des Gefängnisses sowie sein vierbändiges Werk „Sexualität und Wahrheit“ sind Meilensteine der Sozialphilosophie. Foucault lehnte jedoch disziplinäre Zuordnungen ebenso ab, wie Bekenntnisse zu Denkschulen oder –richtungen wie dem Poststrukturalismus oder der Postmoderne. Das vorliegende, schon 1966 verfasste Buch wurde von Foucault nie publiziert, posthume Publikationen hatte er testamentarisch untersagt. Seine Erben und Nachlassverwalter setzen sich seit Jahren darüber hinweg und im Suhrkampverlag erschienen diverse posthume Werke, etwa Sammlungen von transkribierten Tonbandmitschnitten seiner Vorlesungen. Das vorliegende Buchmanuskript fällt zwischen Foucaults bahnbrechendes Buch „Die Ordnung der Dinge“, das ihn international auch als Widersacher Sartres berühmt machte, und dessen Fortsetzung „Die Archäologie des Wissens“.

Aufbau und Inhalt

Ein Vorwort von Francois Ewald, editorische Anmerkungen, 15 Kapitel mit je eigenen Fuß- und Endnoten bilden den Kern des Textes. Ein Anhang mit Notizen Foucaults, die dem Text verbunden erschienen, und einer einordnenden und zusammenfassenden „Situierung“ durch Orazio Irrera und Daniele Lorenzini lassen den Leser an der editorischen Arbeit des anfangs elfköpfigen Redaktionskomitees (Daniel Defert verstarb während des Projekts) teilnehmen. Fußnoten dokumentieren Probleme mit dem Text, etwa die Ergänzung fehlender oder unleserlicher Wörter, sowie seltener falscher Angaben Foucaults, auch von ihm durchgestrichene Passagen werden hier dokumentiert und zeigen Varianten des Textes, die der Autor erwogen hatte. Die teilweise umfangreichen Endnoten der Kapitel liefern hilfreiche Anmerkungen der Herausgeber und erklären biographische, zeitgeschichtliche, theoretische Hintergründe.

1. Die Diagnose führt die Philosophie als diagnostisches Unternehmen ein, nach Nietzsche solle sie „Arzt der Cultur“ sein (S.17), könne aber nicht heilen, sondern nur „sagen, was ist“ (ebd.).

2. Jetzt erklärt das „Heute“ des Philosophen, der in der Triade des „Ich-Hier-Jetzt“ den Alltagsdiskurs überschreitet und sich von Literatur und Wissenschaft abgrenzt. Endnote 2 ordnet Foucaults Ansatz theoretisch zwischen Philosophie und Philologie ein (Roman Jakobson, de Saussure, Levi-Strauss, Althusser, Lacan, Husserl, Sartre, Merleau-Ponti, Todorov).

3. Der philosophische Diskurs und der wissenschaftliche Diskurs grenzt Philosophie von Wissenschaft ab, deren Erkenntnisse nicht so eng an das sprechende Subjekt gebunden seien. Für den Wahrheitsgehalt der Wissenschaft sei nur wichtig was gesagt würde, aber nicht wo, wann und von wem; Philosophie bedürfe des „Ich-Hier-Jetzt“, weshalb „von Descart bis Kant und von Kant bis Husserl das gleiche Projekt von Neuem begonnen“ (S.35) und „die Frage des Subjekts so hartnäckig“ (S.40) gestellt wurde.

4. Fiktion und Philosophie grenzt Philosophie von Literatur bzw. Fiktion ab, deren Werke zwar auch an das sprechende (zuweilen fiktive) Subjekt gebunden seien, aber nicht dazu bestimmt, wahr zu sein (S.52); Philosophie ziele vordringlich auf Wahrheit, Vernunft und insbesondere auf das Wesen des Subjekts (S.60).

5. Die Philosophie und der Alltag grenzt Philosophie vom Alltagsdiskurs ab, da sie eine kritische Funktion ausübe, alles „was stumm ist“ in eine Rede übertrage, zur „Kritik allen Wissens“ werde, zum „Diskurs aller anderen Diskurse“ (S.77).

6. Die Geburt des philosophischen Diskurses vertieft die These der Singularität des philosophischen Diskurses seit Descartes, auch anhand der neuen Diskursmodi seit Cervantes und Galilei: Literatur, Wissenschaft und Gott selbst hätten „anders zu sprechen“ begonnen (S.96), der philosophische Diskurs hätte den Anspruch erhoben, „durch die Wahrheit des Jetzt, das ihn trägt, zur Wahrheit zu gelangen“ (S.100).

7. Die allgemeine Anordnung des philosophischen Diskurses entwickelt dessen vier Grundaufgaben und Funktionen (Begründung, Interpretation, Kritik, Kommentar) und entlang dieser Hauptlinien das „gesamte Netz des philosophischen Diskurses“ (S.105); die alten metaphysischen Fragen nach Gott, Welt und Seele werden insofern neu beantwortet, als Gott nun optional würde, die zuvor beseelte Welt nur noch leerer Raum nebst relativer Zeit sei und von der unsterblichen Seele ein geistiges Prinzip, „ein reines Subjekt“ mit Innerlichkeit und Körper verbleibe (S.115), was man aber „nicht mit dem Ende der Metaphysik verwechseln“ dürfe (S.116); Kant habe Gott, Seele und Welt als Illusionen betrachtet und der Metaphysik eine neue Ontologie entgegengesetzt.

8. Die zwei Modelle des Diskurses zeigt zwei philosophische Serien von Wahlmöglichkeiten auf: 1. Enthüllung, Ursprung, Schein, Enzyklopädie sowie 2. Manifestation, Bedeutung, Unbewusstes, Gedächtnis; die jeweiligen Entscheidungen dekliniert Foucault anhand seiner vier Diskursfunktionen: So kann etwa die Funktion der Begründung des Diskurses durch eine Theorie der Enthüllung oder der Manifestation ausgeübt werden; Modell Eins begründet sich als Enthüllung der Wahrheit, interpretiert dies als Entdeckung ihres Ursprungs, kritisiert mittels einer Theorie des überwundenen Scheins und kommentiert den Logos der Welt in enzyklopädischer Form; Modell Zwei begründet sich als Manifestation der Wahrheit in den Phänomenen des Hier und Jetzt des Subjekts, das nicht nach deren Ursprung, sondern nach ihrer Bedeutung fragt und die Kritikfunktion gegen sein eigenes Unbewusstes richtet; kommentiert wird hier nicht mehr als Enzyklopädie der Wahrheit, sondern als Gedächtnis, das die „Versöhnung der Erfahrung mit dem, was in ihr fremd ist“ festhält, also das, was Foucault als „Ent-Entfremdung“ bezeichnet (S.139f.). Modell Eins steht für Philosophie, die sich auf dem Weg linearen Fortschritts zu universalen Wahrheiten und aufgeklärten Werten glaubt; Modell Zwei eröffnet in den „Beziehungen des Subjekts und der Geschichte ein unendliches Labyrinth“ und eine „unaufhörliche Unruhe“ (S.141f.).

9. Philosophie, Metaphysik, Ontologie erörtert die beiden Modelle in ihren Beziehungen zu Ontologie und Metaphysik; 1. die vorkantische Philosophie der Enthüllung als Metaphysik der Repräsentation und Ontologie innerhalb des Diskurses; 2. die nachkantische Philosophie der Manifestation als Anthropologie und Ontologie außerhalb des Diskurses; im 1. Modell enthüllt sich dem Subjekt des Philosophen die Existenz der Seele, deren Analyse „offenbart, dass Gott existiert, …der die Ordnung der Welt garantiert“ (S.155); im 2.Modell kann das Subjekt „nur als phänomenale Manifestation erscheinen… weit davon entfernt, auf eine tiefere Existenz zu verweisen“ entdeckt es nicht die Ordnung der Natur, sondern nur die Bedeutungen, die der Mensch ihr zuschreibt, entdeckt es „nur das Sein des Menschen, das über all die Dinge der Welt und die Ereignisse der Geschichte zum Ausdruck kommt“; dieser „anthropologische Zirkel“ führe zu zwei gegensätzlichen Philosophien: Der Positivismus sucht im biologischen, sozialen und psychologischen Sein des Menschen Aufschluss „über das Sein der Phänomene“; die anderen Philosophen wollen „das Sein der Endlichkeit von all den Bedingungen, die ihm auf der Ebene der Phänomene zugewiesen werden können, lösen“, um ein grundlegenderes Fundament zu finden. Diese Philosophen sehen sich selbst in ihrem Sein „zu einem Phänomen der Geschichte geworden“ (S.156f), das Sein der Geschichte wird sichtbar in philosophischen Diskursen, die sich selbst „unaufhörlich die Frage nach ihrem Verhältnis zur Geschichte“ stellen; erst die kantische Kritik brachte die „systematische Verschiebung der Elemente“ vom ersten zum zweiten Modell (S.158). Nun wurde deutlich, warum Foucault in seinem 7.Kapitel Kants Werk als „den Gravitationspunkt der gesamten abendländischen Philosophie“ sah (S.116).

Kant, dem –was Foucault nicht erwähnt– auch bedeutende Einsichten der Astrophysik zuzurechnen sind, etwa dass sich das Sonnensystem überhaupt entwickelt haben könnte, dass dies Milliarden Jahre gedauert haben könnte (Kants zeitgenössische Physiker bezifferten das Alter der Erde eher mit Zehntausenden von Jahren) sowie dass dies in einer Scheibenform geschah, standen die Erkenntnisfortschritte der Physik vor Augen, „während die Metaphysik endlos weiter dieselben Debatten führte“ (S.159); folgerichtig strebte Kant nach besserer Legitimation der Philosophie durch Suche nach Methoden und Formen der Erkenntnis: „Die Idee von einer Dialektik als Analyse der Bedingungen und Notwendigkeiten der Täuschung tritt an die Stelle der Idee einer Enzyklopädie der Wahrheit.“ (S.160)

Damit stehe Kants Werk „genau im Zentrum, im Gleichgewichtspunkt der gesamten abendländischen Philosophie“, womit Kant für den philosophischen Diskurs, „wie die Logiker sagen würden, eine neue Semantik gefunden“ habe (ebd.). Weiterentwicklungen sieht Foucault bei Fichte in der Lehre vom absoluten Ich mit reiner Subjektivität sowie in der Phänomenologie von Hegel bis Husserl, die transzendentale Subjektivität an den impliziten Horizont der empirischen Inhalte zu binden“ suche (S.167 Fn 12). Tatsächlich könne, so Foucault, der philosophische Diskurs nach der „Zerstörung der Metaphysik“ nur durch eine „Theorie der Repräsentation“ oder „mittels einer Analyse des Seins des Menschen eine Beziehung zum Sein haben.“ (S.165)

10. Beschreibung der Philosophie zeigt vier Haupttypen der Philosophiegeschichte als funktionale Elemente des philosophischen Diskurses und grenzt Foucaults eigenen Ansatz davon ab, der die Philosophiegeschichte in seiner funktionalen Beschreibung der Philosophie als Teil derselben einbezieht (S.185); die Philosophiegeschichte wendet sich als Teil des philosophischen Diskurses in der Funktion der Legitimation den Systemen zu, im Kommentar der Erfahrung, in der Kritik der Ideologie, in der Interpretation der Entzifferung einer Philosophie; für die Ideologisierung der Philosophie bedeutet dies, „dass die Philosophie tatsächlich… selbst eine Praxis darstellt und dass sie das Gesicht der Welt wirklich verändern kann, allerdings unter der Bedingung, dass sie demselben Diskursmodus angehört wie die politischen oder alltäglichen Aussagen.“ (S.183) Foucault geht es aber darum, den philosophischen Diskurs von außerhalb einzelner Werke zu analysieren (S.188).

11. Der neue Wandel fragt nach der Legitimation des Ansatz von Foucault selbst, die Philosophie als nur „eine Diskursform unter anderen“ (S.199) und verweist dabei auf die Krise der Philosophie, die, ihrer Gegenstände, Konzepte und Methoden beraubt, nur noch sich selbst in Frage stellen könne; mit Friedrich Nietzsche könne die Philosophie sich jedoch statt an der Wissenschaft an der Poesie orientieren, eine „Zersplitterung des philosophierenden Subjekts, seine multiple Existenz, seine Zerstreuung in alle Winde des Diskurses“ (S.216) lege nahe, „den Philosophen als reale Figur zu entlassen und aus seiner inhaltsleeren Identität eine Vielheit von Masken oder Gesichtern hervorgehen zu lassen“ (S.213), um von nun an „jeden Wahnsinn“ auch danach zu befragen „was er in seinem Abgrund an Philosophie aussagen kann“ (S.218).

12. Denken nach Nietzsche erörtert die postnietzscheanische Neuordnung der Diskurse; der logische Empirismus wolle aus dem philosophischen Diskurs alles als metaphysisch ausschließen, was nicht mit den Mitteln der Wissenschaft verifizierbar sei; eine politisch verstandene Philosophie wolle dagegen alles als metaphysisch verwerfen, was seinen Praxisbezug nur aus Kritik des Scheins oder des Impliziten herstelle und sich in Freiheit, Aktivität und Geschichte der Menschen involvieren (S.229f); postnietzscheanisch sei Husserls Phänomenologie aufgrund ihres radikalen Vorhabens, „zu den Sachen selbst zurückzukehren“, jedoch zugleich „die komplexeste, historisch überladenste Organisation, die man in den letzten drei Jahrhunderten aufkommen sah“ (S.240).

13. Das Archiv stellt die Frage nach der Sprache und postuliert die Konstituierung eines integralen Archivs als kultureller Form der Auswahl, Aufbewahrung und Zirkulation der Diskurse; der gegenwärtige Wandel unserer Kultur lässt sich anhand des Interesses an der Sprache charakterisieren, daran, dass formale Systeme, wie Sprachen, aus Symbolen mit Regeln bestehen (S.246), dass Literatur, Musik, Kunst sich entsprechend formaler Möglichkeiten entfalten, in einem neu organisierten Diskursuniversum; Kultur ist ein Netz von Beziehungen, das Sprechakte, Formen des Diskurses, Objekte, Materialien, Institutionen zu einem Diskurs-Archiv verbindet; es bildet ein System der Zwänge von Sprache und Geschichte, seine Gesetze untersucht die Disziplin der Archäologie (S.262).

14. Die Geschichte des Diskurs-Archivs verdeutlicht die Unmöglichkeit für jede Kultur, aus dem System ihres eigenen Diskurs-Archivs auszubrechen; die Archäologie als „Analyse des Diskurs-Archivs fungiert als eine Art immanente Ethnologie“ unserer Kultur, „dessen was als Bedingung, Element und Raum für alles dient, was wir sagen und denken können“ (267); Alphabete, Bibliotheken, Buchdruck schufen neue Netzwerke der Zirkulation der Diskurse, zahlreiche Brüche machen es unmöglich, „eine Gesamtgeschichte des Diskursarchivs“ zu schreiben (S.278); Endnote 15 konkretisiert durch Zitat aus Foucaults Buch „Die Archäologie des Wissens“: das Archiv umfasse also „ein privilegiertes Gebiet: gleichzeitig uns nahe, aber von unserer Aktualität abgehoben… es ist das, was uns außerhalb von uns begrenzt“ (S.281).

15 Der heutige Wandel beschließt das Buch mit der Einführung des Begriffs eines „integralen Archivs“, das unsere heutige Kultur von ihren Vorgängerinnen unterscheide; unsere Kultur habe sich die Aufgabe gestellt, „im Grunde alles vom Diskurs aufzubewahren“ (282); das Archiv dehne sich immer mehr aus, werde überhäuft, verliere seine Selektivität, es sei „anstatt der Ort der Rekonstruktion von Sprechakten zu sein, nur der Raum für die Aneinanderreihung von Diskursen… ein Netz neutraler Diskurse… Insofern ein Diskurs im Archiv gegeben ist, kann er durch Akte reaktiviert werden, die… dem ursprünglichen Akt absolut fremd sein können (Kommentare, Suche nach einem verborgenen Sinn, linguistische Analyse, Definition und Klassifizierung von Themen, Katalogisierung von Bildern und rhetorischen Figuren, Übersetzung in eine formale Sprache, Zerlegung im Hinblick auf eine statistische Auswertung…)“ (S.284f); die Diskursivität, durch die sich nunmehr die Erfahrung definiere, komme „immer nur dem Diskurs selbst zu“ (S.290); Fußnote a enthält eine offenbar verworfene Variante des letzten Kapitels, die verstärkt auf den Systembegriff setzt und sich abschließend auf Wittgenstein beruft (S.292).

Der Anhang enthält einige Notizen Foucaults, darunter recht instruktive Tabellen seines funktionalen Diskursmodells, und die „Situierung“ von Orazio Irrera und Daniele Lorenzini (S.305-345). Die beiden Editoren bescheinigen Foucault eine „entschieden originelle Antwort“ auf die seinerzeit heiß diskutierte Frage: „Was ist Philosophie?“ (S.309) und ordnen den Text in die damalige Debatte ein, die durch Foucaults Werk „Die Ordnung der Dinge“ befeuert wurde, unter anderem werden Sartre, Althusser, Merloth-Ponty, Derrida und Heidegger genannt. Foucault stelle im vorliegenden Buch die Philosophie als spezifische Art von Diskurs dar, der eine singuläre Beziehung zu seiner eigenen Aktualität unterhalte; der Mythos einer Geschichte, die aus tiefgründiger Bestimmung „von einem geheimen Ursprung zur Klarheit eines Horizonts verläuft“ könne verworfen werden (S.324); einen „blinden Fleck in der Foucaultschen Archäologie“ zeige zwar die Frage, von wo aus denn seine Diskursanalyse die in sich abgeschlossenen Diskursnetze von außen betrachten könne (S.336), doch er habe von Gaston Bachelard die Methode übernommen, Diskurse von ihren marginalisierten Rändern her zu analysieren; es ging Foucault „sein ganzes Leben lang“ darum, so ihr Schlusssatz, „seine eigene Kultur -und uns- in eine Falle zu locken, um die Möglichkeit zu eröffnen, anders zu denken und zu leben.“

Diskussion

Foucault habe wenig über Philosophie geschrieben, seine Themen seien nicht die der Philosophen: der Wahnsinn, das Krankenhaus, das Gefängnis, die Sexualität; so begann 1991 der Foucault-Kritiker Rudi Visker seine Abrechnung mit den Widersprüchen, in die sich Foucault mit seiner Kritik der Humanwissenschaften verwickelt habe. Das „Foucault-Lexikon“ des Wissenschaftstheoretikers Michael Ruoff kennt nur das Stichwort „Philosophie (praktizierte)“, für das es ganze vier Absätze übrig hat und Foucault so zitiert: „vielleicht ist Philosophie die allgemeinste kulturelle Form, in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist.“ Foucault habe die Bezeichnung „Philosoph“ 1970 deutlich abgelehnt, sie sei ein „Professorenberuf“; der späte Foucault, der eine Ethik der Sorge um sich selbst entwickelte, habe in der Philosophie aber jene Form des Denkens entdeckt, welche „die Bedingungen und Grenzen des Zugangs des Subjekts zur Wahrheit zu bestimmen versucht.“ (S.165f)

Das größte Hindernis für die deutsche Foucault-Rezeption war vermutlich die eloquente Polemik, die der staatstragende „Großdenker“ Jürgen Habermas 1985, also ein Jahr nach Foucaults Tod, mit „Der philosophische Diskurs der Moderne“ vorlegte; eine Abrechnung mit der französischen Postmoderne, als deren technokratische Ausgeburt er die Systemtheorie Niklas Luhmanns sah; insbesondere mit Foucaults Machttheorie geht Habermas hart ins Gericht, sucht Foucault in die Nähe des in Deutschland mehr als in Frankreich als Nazi-Philosophen gesehenen Heideggers zu rücken. Der Nachfolger Habermas‘ im Amt des Frankfurter Schuldirektors, Axel Honneth, ließ dort 2001 eine vielbeachtete „Foucault-Konferenz“ stattfinden, die eine differenziertere Sicht zeigte; in seinem Einführungstext zum Tagungsband scheint Honneth Abbitte für Habermas‘ Polemik leisten zu wollen, grenzt Foucault pointiert von Heidegger ab, stellt ihn in die Tradition des späten Wittgenstein. Foucaults Ziel sei die Subversion der gegebenen Gesellschaftsform gewesen, sein Werk habe in den Humanwissenschaften hergebrachte Begriffe des Sozialen, der Macht, des Wissens, des Subjekts tiefgreifend verändert. Foucault habe den „paradigmenbildenden Kern einer Disziplin, sei es die der Psychoanalyse, der Sexualwissenschaft oder der Kriminologie“ in seiner konstitutiven Evidenz entzaubert (S.17). Die Kritische Theorie seiner Frankfurter Schule, so Honneth, hätte bei unvoreingenommener Auseinandersetzung viel früher von den Einsichten Foucaults lernen können. 1988 hatte sich Honneth selbst noch polemisch an Foucault gerieben, dessen Machttheorie habe „am Ende zu einer systemtheoretisch reduzierten Version der Dialektik der Aufklärung verkümmern“ müssen (S.142).

Die von Suhrkamp als „kleine Sensation“ gefeierte Publikation des Diskurs der Philosophie zeigt das ungebrochene Interesse einer immer noch wachsenden Leserschaft an einem Denker, der gegenwärtige Machtregime mit seiner Kritik ins Mark traf und viele Menschen zum Widerstand motivierte. Das Buch, das der „Philosoph mit der Maske“ seinen zeitgenössischen Lesern offenbar vorenthalten wollte, ist unter anderem eine tiefgreifende Begründung seiner Ablehnung jeglicher „Großtheorien“, mit denen „Großdenker“ wie Habermas auf die universale Geltung westlicher Werte und ihrer globalen Normativität pochen. Foucault verweist demgegenüber auf die Verstrickung des erkennenden Subjekts in das Labyrinth seiner eigenen und der Geschichte der Philosophie, der allgemeinsten kulturellen Form, „in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist“. Die vermeintlich ewigen Werte westlicher Aufklärung, ihrer liberalen Demokratien –die er keineswegs ablehnt, sondern nur deren Unwilligkeit zu Analyse und Selbstkritik eigener Machtstrukturen–, verblassen für Foucault hinter „dem Ereignis“, das man vielleicht heute mit den Namen Guantanamo oder Belmarsh (wo man Julian Assange gefangen hielt) bezeichnen könnte.

Fazit

Das nicht einfache, aber elegant formulierte Buch stellt Foucaults Diskursanalyse der Philosophie in die Traditionen Kants und Nietzsches. Michel Foucault scheut sich nicht, die Philosophie im Sinne seines den Strukturalismus weit überschreitenden Ansatzes komplett neu zu denken. Mit seiner auf eine Gegenwartsdiagnostik zielenden Argumentation richtet sich das Buch an Studierende der Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch an Interessierte anderer Fachrichtungen.

Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 349 S., 34,00 Euro. ISBN: 978-3-518-58811-6

Verlagswerbung zum Buch: Was ist Philosophie? Und welche Rolle spielt sie in der Gegenwartsgesellschaft? Zwischen Juli und Oktober 1966, einige Monate nachdem er durch das Erscheinen von Die Ordnung der Dinge schlagartig zum neuen Star der Philosophie aufgestiegen war, gab Michel Foucault in einem sorgfältig durchkomponierten Manuskript seine Antwort auf diese bis heute viel diskutierten Fragen. Im Gegensatz zu denjenigen, die entweder das Wesen der Philosophie enthüllen oder sie gleich für tot erklären wollen, begreift Foucault sie als einen Diskurs, dessen Ökonomie im Vergleich mit anderen Diskursen – wissenschaftlichen, literarischen, alltäglichen, religiösen – herausgearbeitet werden muss. Der Diskurs der Philosophie schlägt somit eine neue Art und Weise der Philosophiegeschichtsschreibung vor, die von der reinen Kommentierung der großen Denker wegführt. Nietzsche nimmt allerdings einen besonderen Platz ein, da er eine neue Epoche einleitet, in der die Philosophie zur Gegenwartsdiagnose wird: Von nun an ist es ihre Aufgabe, einer Gesellschaft zu erklären, was ihr Zeitalter ausmacht. Nirgendwo hat Michel Foucault die Ambitionen seines intellektuellen Programms so deutlich gemacht wie in diesem Werk, das fast 60 Jahre nach seiner Niederschrift nun erstmals veröffentlicht wird. Eine kleine Sensation!

Literatur

Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, Suhrkamp Verlag

Honneth, Axel: Foucault und Adorno: Zwei Formen einer Kritik der Moderne, in: Peter Kemper (Hg.): „Postmoderne“ oder der Kampf um die Zukunft. Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988, Fischer Verlag, S.127-144

Honneth, Axel u. Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt/M. 2003, Suhrkamp Verlag

Kammler, Clemens und Rolf Parr: Foucault in den Kulturwissenschaften: Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007, Synchron Verlag

Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1974, Suhrkamp Verlag

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, Suhrkamp Verlag

Foucault, Michel: Der Diskurs der Philosophie, Berlin 2024, Suhrkamp Verlag

Visker, Rudi: „Foucault“: Genealogie als Kritik, München 1991, UTB W.Fink Verlag

11/9/24

Gerd Schumann: Patrice Lumumba

Rezensent: Thomas Barth

Gerd Schumann: Patrice Lumumba, Papyrossa Verlag, Köln 2024, 135 Seiten, 12,00 Euro

Patrice Lumumba war der erste freigewählte Premier der 1960 befreiten belgischen Kolonie Kongo, damals und noch mehr heute eine Schatzkammer an bedeutenden Rohstoffen: Coltan, Kobalt, Uran, Kupfer. Lumumbas immense historische Bedeutung ist hierzulande weitgehend unbekannt, was der Kolonialismus-Experte Gerd Schumann mit seiner Biographie des großen Staatsmannes ändern will.

Die Handels- und Ausbeutungsnetze des Kolonialismus gingen den Medien- und Kommunikationsnetzen der heutigen Digitalkultur voraus und sind ihr ökonomisch, politisch und technologisch verbunden. Rassistische Propaganda und Desinformation über koloniale Verbrechen flankieren bis heute die Ausplünderung des Südens („Dritte Welt“) durch den Westen (die „liberalen Demokratien“) medial.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir in unserem Mediensystem und auch in unserer historischen Literatur sehr viel über die Verfehlungen und Verbrechen nichtwestlicher Länder hören. Vorzugsweise trifft die Kritik solche Länder, die sich dem Westen widersetzten, besonders wenn sie sich selbst auch noch „sozialistisch“ nennen oder nannten. Sehr viel weniger hören wir über Untaten westlicher Länder, wobei derzeit immerhin Verbrechen der Kolonialzeit im Gespräch sind, etwa der deutsche Völkermord an Nama und Herero. Dabei wird jedoch regelmäßig die Frage ausgeklammert, warum die in den 1960er Jahren von der europäischen Kolonialherrschaft befreiten Länder insbesondere Afrikas trotz ihres Reichtums an Plantagen und Bodenschätzen fast alle dennoch seit über 60 Jahren in bitterer Armut verharren.

Eine platt-rassistische Weltsicht führt dies auf Defizite nicht-weißer Menschen zurück, die zu dumm oder zu faul sind, ihre Länder selbst zu regieren; westliche Mainstream-Ökonomen unterfüttern diese Ideologie mit windigen Theorien von einem „Rohstoff-Fluch“, der die an Naturschätzen reichen Länder angeblich quasi gesetzmäßig in Korruption und Armut stürzt. Beide blenden natürlich aus, dass die alten Kolonialmächte sich mit Zähnen und Klauen an ihre Privilegien klammern, also mit Intrigen, Bestechung, Erpressung, Terrorismus, Attentaten und Massenmorden. All dies versteckt man hinter einem Schirm von Propaganda, die in wechselnder Gestalt die Mär von der Zivilisation fortschreibt, die der Weiße den Farbigen gönnerhaft zuteil werden lässt, etwa als „Entwicklungshilfe“ (siehe die Kritik von Felwine Sarr).

Schatzkammer und Armenhaus Kongo

Dies gilt besonders für den gewaltigen Kongo, die Schatzkammer Afrikas, aber zugleich ein von Gewalt zerrüttetes Armenhaus. Das Wissen unserer Kultureliten über den Kongo endet oft bei Bismarcks Afrika-Konferenz 1885 und den vom belgischen König Leopold begangenen „Kongo-Gräueln“, einem der grausamsten Völkermorde der Geschichte. Vielen offenbar unbekannt ist die Ermordung von Patrice Lumumba durch westliche Schergen 1961, die unmittelbar zur weiteren und bis heute andauernden Ausbeutung und Verarmung des Landes führte: Siehe etwa die kürzlich ausgestrahlte Scobel-Sendung „Aufbruch Afrika“, die afrikanische Verelendung sehr bequem auf korrupte lokale Despoten zurückführte; es fehlte jedoch die Frage, ob diese Diktatoren durch die alten Kolonialherren an die Macht gekommen sein könnten. Schumanns Buch leistet hier dringend benötigte Aufklärungsarbeit und erklärt, wie westliche Intrigen, Interventionen und Gewalttaten den Hoffnungsträger Lumumba durch willfährige Despoten ersetzten.

Lumumba versuchte das Unmögliche, als er den Kongo vom belgischen Kolonialsystem unabhängig machen und aus der kolonialen Herrschaft befreien wollte. „Eine Treibjagd westlicher Geheimdienste folgte und endete am 17. Januar 1961 tragisch in Kongo-Katanga: Mit der Ermordung des charismatischen Redners, Denkers und erklärten Panafrikaners war ein Epochenwechsel hin zu einem vereinten, freien Afrika vorerst gescheitert. Auch das geostrategisch bedeutende, rohstoffreiche Land am Kongo-Strom würde in neokolonialen Strukturen verharren.” (Verlagstext)

Gerd Schumann zu Lumumba

Einführend beschreibt Schumann im Vorwort wie er als junger Zeitzeuge die fehlenden Reaktionen der westdeutschen Öffentlichkeit auf die Ermordung von Patrice Lumumba im Januar 1961 erlebte, wie der ganze Kontinent als primitives Buschland, bewohnt von Wilden hingestellt wurde. Das Afrikabild hierzulande sei immer noch durch die Völkerschauen Hagenbecks und andere Kolonialausstellungen geprägt gewesen: „106 nichteuropäische Menschen werden fünfeinhalb Monate öffentlich vorgeführt, die Bevölkerung glotzt wie im Zoo… und der gütige weiße Mann bringt hoch zu Ross mit Tropenhelm und in weißer Uniform die europäische ‚Zivilisation‘ in Strohhüttendörfer.“ (S.8)

Doch die Völker im Süden wollten nicht mehr so wie ihre weiße Herrschaft und der Vietnamkrieg machte die Generation ’68 hellhörig für imperialistische Verbrechen, begangen von Weißen an farbigen Menschen. Da sei Patrice Lumumba jedoch längst tot gewesen, „der erste frei gewählte Premier Kongos ermordet, sein Körper zerstückelt und in einem Säurefass aufgelöst“ (ebd.) Einzelheiten und Verantwortliche kamen erst viel später ans Licht, teils erst nach der Jahrtausendwende. Bei einer feierlichen Zeremonie in Belgien wurden Lumumbas Nachfahren erst 2022 jene Goldzähne zurückgegeben, die sich der verantwortliche belgische Kolonialoffizier aus dem Mund des Toten gebrochen hatte. Anschließend hatte er dem afrikanischen Staatsmann auch noch einige Finger abgeschnitten -ein perverses Souvenier, das deutlich dokumentiert, wer in diesem Kontext die „Wilden“ waren. Im keineswegs allzu reuigen Belgien dachte niemand an Reparationszahlungen, an die Rückgabe geraubter Reichtümer, man tat so als sei „die Horrortat ein, vielleicht durchaus schändliches, aber doch ein Kavaliersdelikt gewesen.“ (ebd.)

Rückblick: Bismarck und die Kongo-Gräuel

Im ersten Kapitel „Belgisch-Kongo“ wird erzählt, wie mit der Berliner Konferenz 1885/86 eine Schreckensherrschaft des belgischen Königs Leopold II beginnt, der etwa die Hälfte der Bevölkerung des Kongo massakrierte (S.13).

Der ehrgeizige belgische König strebte wie bald darauf Kaiser Wilhelm II nach einem Imperium nach Vorbild der Briten und Franzosen. Er engagierte im Vorfeld der Aufteilung Afrikas schon 1878 den berühmten britischen Afrikaforscher Henry Morton Stanley, um seine gewaltige Kolonie mit Gewalt, List und Tücke zu unterwerfen. Der Brite vertrat später in Berlin die belgischen Belange und Bismarck hielt es für schlau, den Kongo an das kleine Königreich zu vergeben, um die Großmächte London und Paris zu schwächen. Stanley hatte bei einer Rundreise etwa 450 lokale „Häuptlinge“ gegen die buchstäblichen Glasperlen-“Geschenke“ ihre Kreuze unter ihnen völlig unverständliche Papierstücke setzen lassen. Mit diesen „Verträgen“ befanden sich Land und Menschen somit (aus europäischer Sicht) im Besitz des Belgiers.

Gönnerhafter Kolonialismus, der sich selbstgefällig im Gefühl eigener Überlegenheit sonnt, mag das als Beweis sehen, dass diese „Wilden“ dringend europäischer Führung bedurften; psychopathischer Rassismus, der das Ziel brutaler Ausbeutung sogar realistischer sieht, wird hier stolz den schlauen Weißen preisen, der den „Primitiven“ ihr Land abgaunert. Aus Sicht der Indigenen waren die Unterzeichnungen solcher „Verträge“ wohl eher ein absonderliches Ritual der bedrohlich mit überlegenen Schusswaffen auftretenden Kolonialisten. Ein Ritual, bei dem man aus höflicher Gastfreundlichkeit teilnahm, vielleicht auch, um die darauf drängenden martialischen Fremden schnell wieder loszuwerden. Dass derartige „Verträge“ der gewaltsamen Landnahme und Versklavung der indigenen Bevölkerung als Rechtfertigung dienen sollten, war lokalen Eliten eher nicht offengelegt worden.

Leopolds Kolonialfürst Stanley ließ dann „unter Einsatz massiver Gewalt und Unterdrückung“ (S.19) Eisenbahnen zur Ausbeutung des Kongo und seiner Bevölkerung bauen, ca. 20.000 Zwangsarbeiter wurden dabei zu Tode geschunden. Ziel war zunächst Elfenbein, später Kautschuk, den Belgien an die Automobil-Industrie verkaufte. Die „Kongogräuel“ dienten der Motorisierung der reichen weißen Eliten, etwa zehn Millionen Menschen wurden massakriert, um die Fronarbeit zu erzwingen; Abertausende wurden verstümmelt, meist durch Abschlagen der rechten Hand (S.28). Der Kolonialdiktator versechzigfachte von 1890 bis 1901 die Kautschukausbeute, bis seine Gräueltaten an die Öffentlichkeit kamen, unter anderem durch den Roman Heart of Darkness (1899) von Joseph Conrad. Dann verkaufte Leopold „seine“ Kolonie an die belgische Regierung, die jedoch die Ausbeutung kaum weniger brutal fortsetzte (S.30).

Patrice Lumumba als „neuer Hitler“

Im zweiten Kapitel, „Das ganze Afrika“ versucht Schumann eine biografische Annäherung an den kongolesischen Freiheitskämpfer Patrice Lumumba. Der charismatische junge Mann beherrschte neben Französisch vier einheimische Sprachen und gehörte zu einer winzig kleinen Schicht schwarzer Kolonialbediensteter. Vom Postschalterbeamten stieg er in zehn Jahren zum Assistenten eines Soziologen auf, der den Kongo erforschen wollte. Er wurde Mitglied einer belgischen liberalen Partei und wurde 1958 Mitgründer der ersten gesamtkongolesischen Partei MNC (Mouvement National Congolais, S.44). Im Kongo gab es zahlreiche weitere, lokale Befreiungsbestrebungen. Dort fand Lumumba Mitstreiter gegen die Belgier, von denen einige ihm später in den Rücken fallen sollten. Tschombe sollte später die Provinz Katanga abspalten, Kasavubu mit den Belgiern gegen ihn putschen, mit dem späteren Despoten Mobutu glaubte sich Lumumba sogar in Freundschaft verbunden (S.49). Zunächst wollten alle Parteien und Regionen die Belgier und ihr mit Gewalt und Unterdrückung betriebenes Kolonialregime loswerden.

Die Kolonie Belgisch Kongo war inzwischen strategisch wichtiger Rohstofflieferant, was westliche Interessen um so fanatischer an einer Vorherrschaft festhalten ließ. Kongo förderte 75 Prozent der Weltkobalterze, Kupfer, Silber und sogar das Uran für die ersten Atombomben der USA. Lumumba traf den ersten Präsidenten des 1958 befreiten Ghana, Kwame Nkrumah (1909-1972) und organisierte Proteste gegen die Kolonialherrschaft Belgiens, wurde inhaftiert. Mitte 1960, die Entkolonialisierung stand bevor, denunzierten belgische Autoritäten den keineswegs marxistischen Lumumba in einer antikommunistischen Rufmordkampagne aggressiv als neuen „Hitler“ (S.53), die propagandistische Gleichsetzung von Nazis und Kommunisten war schon damals eine gängige Propaganda-Methode, die sich im ideologischen Medien-Jargon als undifferenziertes Gerede von „den politischen Rändern“ bis heute fortsetzt. In Bezug auf den eher sozial-liberal einzuordnenden Aktivisten Lumumba sollte die Propaganda damals einen mörderischen Putsch vorbereiten.

In Verhandlungen vor der Entlassung aus der Kolonialdiktatur hatten die Belgier trickreich ihre Herrschaft über Land und Rohstoffe fortzuschreiben gewusst. Schumann beschreibt wie belgische Experten in Brüssel schlecht vorbereitete und falsch informierte kongolesische Delegationen über den Tisch zogen. Deren primäres Ziel war ohnehin eine politische Befreiung, vielleicht glaubte man, die unverschämten belgischen Ansprüche auf Rohstoffe und Privilegien in der souveränen Republik Kongo dann später immer noch zügeln zu können. Doch die Westmächte dachten nicht daran, dem Land wirklich Souveränität zu gönnen, geschweige denn künftig faire Preise für die ausgebeuteten Rohstoffe zu zahlen.

Eine dem Anspruch nach demokratische Wahl (unter belgischer Aufsicht) machte zunächst Lumumbas MNC zur stärksten Kraft und ihn zum Premier. Einer Entlassung der Kolonie in die hart erkämpfte Unabhängigkeit stand nun scheinbar nichts mehr im Wege. Am 30.Juni hielt der belgische König zur Amtsübergabe des Regierungsmandats eine salbungsvolle Rede, die angebliche Zivilisierungserfolge pries, welche die Afrikaner Belgien angeblich zu verdanken hätten, aber Kongogräuel, Rassismus und Ausbeutung verschwieg. Lumumba, den man trotz seiner Wahl zum Premierminister wohlweislich nicht als Redner vorgesehen hatte, ergriff dennoch das Wort und stellte in maßvoller Kritik klar, dass man dies anders bewertet. Kapitel 3, „Glanzstück des Antikolonialismus“ referiert über vier Seiten im von Schumann aus dem Französischen übersetzten Wortlaut die historische Rede Lumumbas am Tag der kongolesischen Unabhängigkeit, ein panafrikanisches Manifest für Freiheit und Menschenwürde.

Propaganda, Putsch und Bürgerkrieg nach Jakarta-Methode

Kapitel 4, „Das Ende der Hoffnung“ erzählt von der Intrige, die Lumumba durch einen Putsch des kolonial-kompatiblen Präsidenten Kasavubu und des von der CIA gestützten Oberst Mobutu, des späteren Diktators, entmachtet hatte. Zuvor ließ man die Rohstoff-Provinz Katanga gegen Lumumbas Regierung rebellieren, um das Land in Chaos zu stürzen. Die Regierungstruppen standen immer noch unter Führung belgischer Offiziere und einer von ihnen, General Emile Janssen, wiegelte sie gegen Lumumba auf.

Es kam zu Unruhen im Land, westliche Medien berichteten über Vergewaltigungen weißer Frauen durch schwarze Männer und Fluchtbewegungen der belgischen Einwohner des Kongo (S.78). Der Premier griff ein, setzte den belgischen Armeechef ab, ernannte Major Lulunda zu dessen Nachfolger und „seinen vermeintlichen Freund Mobutu“ zum Stabschef, obwohl bereits Gerüchte über dessen Kontakt zur CIA und belgischem Geheimdienst kursierten. Eine Entlassung der belgischen Armeeoffiziere lähmte Lumumbas Truppen, da sie ohne ausgebildete Führung orientierungslos waren. Dazu kam eine perfide Kampagne mit aufgebauschten Horromeldungen in westlichen Leitmedien, die das Chaos im Land schüren sollte:

„Die Heraufbeschwörung des größtmöglichen Tabubruchs ‚Schwarzer Mann – Weiße Frau‘ erzeugte eine Massenpsychose, die zum Exodus führte, und man könnte meinen, das Szenarium sei in einem Thinktank entwickelt worden.“ (S.79)

Schumann fällt auf, dass ähnliche Putschpläne später in Argentinien, Chile, Guatemala und Indonesien von der CIA umgesetzt wurden (S.74). Er kennt offensichtlich nicht das Buch „Die Jakarta-Methode“ von Vincent Bevins, der genau beschreibt, wie dieser immer wieder angewandte Plot funktioniert; eine breite propagandistische Ausschlachtung angeblicher Sexualverbrechen gehört fast immer dazu. Vom CIA-initierten und gesteuerten „Indonesian Genocide“ (5-10 Millionen Todesopfer) bis zur politischen Verfolgung des Wikileaks-Gründers Julian Assange wurden Gewaltmaßnahmen so propagandistisch „gerechtfertigt“ bzw. massenpsychologisch möglich gemacht. Auch im Kongo heizte man rücksichtslos Hass und Gewalt an.

Dazu kam (ebenfalls Teil der Jakarta-Methode) ein Wirtschaftskrieg, der die Exporte des Kongo sabotierte und Land wie Regierung in eine finanzielle Krise stürzte. Premier Lumumba wandte sich in Radioansprachen an sein Volk, protestierte gegen die angezettelte Sezession von Katanga. Der belgische König hatte persönlich dem Separatisten Tschombe gratuliert. Die Unruhen nahmen zu. Belgien evakuierte erst 30.000 Weiße und marschierte am 10.Juli 1960 (natürlich völlig völkerrechtswidrig) in die gerade erst „entlassene“ Kolonie ein, angeblich um belgische Bürger vor dem afrikanischen Chaos zu schützen. Hafenstädte wurden bombardiert und besetzt, Westkongo unter Kontrolle gebracht.

Die UNO half Lumumba nicht

Lumumba suchte Hilfe gegen den Überfall der Belgier bei der UNO, jedoch ohne großen Erfolg. UNO-Friedenstruppen griffen nicht gegen die belgischen Angreifer durch. Als Lumumba, der keineswegs dem Marxismus zuneigte, in seiner Not schließlich Hilfe auch bei der Sowjetunion suchte, sah der Westen buchstäblich rot. Chruschtschow hatte als einziger im Sicherheitsrat den Kongo unterstützt, US-Präsident Eisenhower hatte dagegen Gespräche mit Lumumba verweigert. Schumann zitiert Peter Scholl-Latour, der Lumumba seinerzeit persönlich interviewt hatte, der berichtete, wie die CIA einen Giftanschlag auf den Premierminister vorbereitete; 1982 enthüllte „Congo-Cables“ hätten später die von Scholl-Latour berichteten Mordpläne der CIA bestätigt (S.88).

Am 5.September 1960 putschten Kasavubu und Mobutu, doch das Parlament bestätigte den Premier zwei Tage später und erteilte Lumumba am 13.September Notstandsvollmachten. Ein weiterer Putsch entmachtete den Premier „mit Unterstützung der CIA“ endgültig (S.93). Vom gewaltsam erzwungenen Hausarrest aus gelang es Lumumba jedoch, Widerstand zu organisieren und während belgische Truppen Westkongo besetzten, blieb der Ostkongo zunächst in der Hand von Lumumbisten. Das Kapitel beschreibt drastisch, wie der Hoffnungsträger, der von Felwine Sarr in seinem Manifest „Afrotopia“ neben Nelson Mandela und Kwame Nkrumah gestellt wird (S.96), von geheimdienstlichen Verschwörern schließlich nach einer gescheiterten Flucht mittels lokaler Schergen vor laufender Kamera gedemütigt, gefoltert und ermordet wurde.

Die Ermordung von UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld

Der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld hatte Lumumba im Juli zu Beratungen in New York getroffen. Hammarskjöld hätte sich dabei distanziert gezeigt, später war die Zusammenarbeit mit UN-Truppen schwierig gewesen. Hammarskjöld hatte dennoch nach dem Putsch vergeblich für Lumumba plädiert (S.93). Er starb am 18.September 1961 beim mysteriösen Absturz, wie sich später herausstellte, Abschuss seines Flugzeugs durch Katanga-Söldner „wohl auch mit Billigung der CIA“ und der Briten (S.103). Man kann annehmen, dass er den Interessen jener entgegenstand, die ungehemmten Zugriff auf die Reichtümer Kongos, insbesondere auf das kriegswichtige Uran, wollten und dafür sogar über die Leichen bedeutender weißer Männer zu gehen bereit waren.

Kritisch zu hinterfragen ist vielleicht eine ansonsten sensationelle und in anderen Kongokriegs-Darstellungen fehlende Behauptung Gerd Schumanns hinsichtlich ihrer dürftigen Quellenlage. „Ein Bruder“ von Dag Hammarskjöld sei „mit der belgischen Krone verschwägert“ gewesen, hätte Aktienpakete des wichtigsten belgischen Rohstoff-Konzerns im Kongo besessen und war sogar „einer der Direktoren der Union Miniér“, so der Name des Konzerns (S.45). Dies sollte vielleicht die anfängliche Distanziertheit des UNO-Chefs zu Lumumba und die wirkungslose UNO-Friedensmission im Kongo erklären. Eine (zugegeben kurze) Netzrecherche zeigt jedoch nur einen Bruder von Hammarskjöld, jedoch keine Verbindung von ihm zur berüchtigten belgischen Union Miniér. Als Quelle nennt Schumann dafür nur ein Buch aus der DDR: Kurt Rückmann „Schlagzeile Mord. Fälle, die die Welt erregten“ (1964). Zu dieser Zeit, im tiefsten Kalten Krieg, wurden in der DDR jedoch gelegentlich auch Desinformationen über den kapitalistischen Gegner verbreitet. Andererseits waren DDR-Bürger bei anderen Weltereignissen auch besser informiert als Westdeutsche, etwa über den im Westen totgeschwiegenen „Indonesian Holocaust“. Im Fall der Verbindung Hammarskjöld – Union Miniér ist also weitere Nachforschung nötig.

BRICS, IWF, Che Guevara und Lumumba

Kapitel 5, „Che Guevara und Lumumba“, erzählt wie eine kleine kubanische Guerillagruppe unter Che Guevara vergeblich versuchte, für die Seite Lumumbas gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Putschisten, Separatisten und andere Komplizen der westlichen Kolonialverbrecher einzugreifen. Che Guevara hätte vom Anführer der Aufständischen Kabila nicht viel gehalten. Dieser sollte 1997 nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg schließlich den prowestlichen Despoten Mobutu ablösen, aber die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen (S.117).

Das abschließende Kapitel 6, „Der Kongo und wir“, beschwört die Nachhaltigkeit von Lumumbas Ideen und kritisiert den aktuellen Umgang des Nordens mit den Reichtümern und den Arbeitskräften des Südens -etwa den ausgebeuteten Kinderarbeitern, die bis heute für Hungerlöhne das Coltan für unsere Handys aus dem Boden kratzen müssen. Hoffnungsschimmer für das Land sieht Schumann in nicht-westlichen Bündnissen wie den BRICS und in China. Dessen Investitionspläne würden jedoch vom westlich dominierten IWF torpediert, der auf die 13 Milliarden Dollar Schulden pochte, die der prowestliche Despot Mobutu hinterlassen habe, bevor der Mobutu-Clan sich mit einem Privatvermögen von mindestens vier Milliarden Dollar in die Schweiz zurückzog.

„Die vormaligen Kolonialstaaten behaupten wie einst (der belgische König) Baudouin I bei seiner fatalen Rede 1960 in Elisabethville, der Kolonialismus sei nunmehr historisch. Sie selbst seien keine kolonialen Mächte mehr, sondern hätten dem globalen Süden die Unabhängigkeit gewährt. Wenn überhaupt seien die Verhältnisse ‚postkolonial‘. Im selben Atemzug bedienen sich ‚die Ehemaligen‘ weiter ungeniert in den nun ‚unabhängigen‘ Ländern… holen sich weiterhin die Reichtümer aus dem in Armut verharrenden Süden. Derweil häufen sie unvorstellbare Reichtümer an, die jeden Menschen erschaudern lassen, weil sich hinter der ungleichen Verteilung der Güter… ein unfassbares Maß an Unrecht verbirgt.“ (S.122)

Fazit

Die Biografie “Patrice Lumumba” hinterfragt unser oft selbstgefälliges Afrika-Bild durch die Dokumentation „postkolonialer“ Staatsverbrechen Belgiens, der USA und weiterer westlicher Länder. Die brutale Ermordung des großen Panafrikaners Lumumba wird in historischen und aktuellen Kontext gestellt und ihre Bedeutung für die andauernde Ausbeutung des Kontinents und insbesondere des Kongo durch westliche Konzerne engagiert und kritisch dargestellt. Das schmale Taschenbuch im Format eines Smartphones ist jedem zu empfehlen, der einen anderen als den Mainstream-Medien-Blick auf den Kolonialismus werfen möchte.

Der Autor

Gerd Schumann, geb. 1951, lebt und arbeitet als Autor und Journalist in Berlin und Mecklenburg, publizierte Reportagen und Hintergrundberichte vom Balkan, aus der Karibik und vom afrikanischen Kontinent. Zahlreiche Reportagen, Features für Hörfunk und Printmedien sowie Buchpublikationen, darunter in derselben Buchreihe „Basiswissen“: „Kolonialismus, Neokolonialismus, Rekolonisierung“ (2014). Die Buchreihe »Basiswissen« des politisch links einzuordnenden Papyrossa-Verlags bringt in handlichem Taschenbuch-Format leicht verständliche kritische Einführungen in Grundbegriffe aus Politik, Geschichte, Gesellschaft und Ökonomie.

Gerd Schumann: Patrice Lumumba, Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie, Pocketformat, Papyrossa Verlag, Köln 2024, 135 Seiten, € 12,00 [D] ISBN 978-3-89438-829-4 https://www.papyrossa.de/neuerscheinung-112

05/24/24

Theorien des digitalen Kapitalismus

Carstensen/Schaupp/Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus: Arbeit, Ökonomie, Politik, Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2023, 533 Seiten, 28,00 Euro (Leseprobe/Inhaltsverzeichnis)

Thomas Barth

Wie kann kritische Sozialwissenschaft den digitalen Kapitalismus, heute theoretisch fassen? Wie kann sie die Frage beantworten, ob sich der Kapitalismus angesichts der gegenwärtigen Digitalisierung grundlegend verändert? Der vorliegende Band gibt einen Einblick in theoretische Analysen, Zeitdiagnosen und Debatten eines digitalen Kapitalismus. Er bespricht entlang der Felder Arbeit, Ökonomie, Politik, Kultur und Subjekt die Formen und Auswirkungen des digitalen Kapitalismus. Eine integrative Theorie des digitalen Kapitalismus scheine zwar unmöglich, gleichwohl wolle man „Verbindungen der disparaten Ansätze“ ausleuchten (Backcover). Der Begriff „Kapitalismus“ deutet es an: Die meisten Autor:innen des unübersichtlichen Sammelbandes beziehen sich theoretisch auf Karl Marx oder wenigstens auf freudomarxistische Theoretiker, etwa auf Adorno oder Habermas.

Das Taschenbuch mit einem Umfang von 533 Seiten gliedert sich in vier Kapitel mit insgesamt 25 Unterkapiteln nebst Einleitung. Die Kapitel heißen: 1. „Arbeit“, 2. „Ökonomie“, 3. „Politik und Öffentlichkeit“ sowie 4. „Kultur und Subjekte“. Die Zuordnung der Beiträge ist dabei nicht immer einsichtig, etwa wenn die sehr lesenswerten Texte von Marisol Sandoval zu digitalen Genossenschaften und Felix Stalder zu Commons und Commoning nicht unter Ökonomie, sondern im dritten bzw. vierten Kapitel landen.

Progressive Perspektive auf Digitalisierung

Eine progressive Perspektive wird markiert durch Berichte über Arbeitskämpfe gegen Digitalkonzerne, deren unethische Geschäftspolitik, feministische Beiträge zum Thema Care und Digitales sowie ökologische Kritik –bei Thomas Barth (nicht identisch mit dem Rezensenten), auf dessen Text „Nachhaltigkeit im digitalen Kapitalismus“ jedoch niemand weiter eingeht. Oft wird auch versucht, Kulturkritik am digitalen Kapitalismus zu üben, politisch die Sache der (digital) Arbeitenden gegen die Seite des (Dotcom-) Kapitals zu vertreten oder marxistische Begriffe auf die Thematik der Digitalisierung anzuwenden.

Der Marxismus wurde oft tot gesagt, erweist sich aber langlebiger als erwartet. Der renommierte Suhrkamp-Wissenschaftsverlag brachte im Herbst 2023 diesen Sammelband überwiegend marxistischer Theoretiker:innen zum „Digitalen Kapitalismus“ heraus. Deren Beiträge sind fast alle politisch links, feministisch, ökologisch, marxistisch. Aber sie dokumentieren auch eine offenbar langjährige hartnäckige Weigerung vieler Marxist:innen, sich mit politischen Debatten rund um Informationsgesellschaft, Netzwerkkultur, Web2.0 und zuletzt „Digitalisierung“ auseinanderzusetzen. Erst mit der Plattformkritik scheint hier eine Debatte eingesetzt zu haben, der aber marxistische Perspektiven punktuell durchaus nützlich sind.

So entmystifiziert und kritisiert etwa Jamie Woodcock Dotcom-Konzerne und setzt im Text „Plattformarbeit“ (S.85-101) bei Nick Srniceks „Typologie der Plattformen“ an. Plattformen profitieren von Netzwerkeffekten und ihrer Tendenz zu Monopolisierung und kämen dem nahe, was Marx einen „Kaufmannskapitalisten“ nannte, der billig kaufe und teuer verkaufe (S.90). Auf einem abstrakten Niveau werden hehre PR-Selbstdarstellungen von Woodcock auf ein simples Profitmodell zurecht gestutzt, das nur als Trittbrettfahrer des Neoliberalismus seine Erfolge feierte:. Die Zunahme der Plattformarbeit sei Teil des neoliberalen „Wandels von Arbeit, Gesellschaft und Staat“ (S.93) mit grassierender Aushöhlung von Arbeitsrechten, Prekarisierung und Abwälzung von Risiken auf die Arbeitenden. Dabei würde etwa bei Amazon Mechanical Turk menschliche Arbeitskraft als „billigere Form von Software“ ausgebeutet (S.97). „Plattformen haben sich bisher als Laboratorium für das Kapital erwiesen, könnten aber auch ein Testfeld für neue Formen des Widerstands und der Organisation von Arbeitnehmer:innen darstellen.“ (S.101)

In diesem Sinne betont etwa Simon Schaupp die Möglichkeiten von Betriebsräten, bei Digitalisierung in Unternehmen Datenschutzgesetze für die Verteidigung von Arbeitnehmerrechten zu nutzen (S.334ff.); Tanja Carstensen widmet sich dem digitalen Ringen um Handlungsfähigkeit in Kämpfen, die um gender, race, class und ability geführt werden (S.404) und kritisiert mit Nancy Fraser die idealisierte Vorstellung von Öffentlichkeit nach Habermas (S.412); das Autorentrio Nachtwey/Truffer/Seidl kritisiert den „solutionistischen Geist des Kapitalismus“, aber ohne den Transhumanismus beim Namen zu nennen (S.458ff.); Helen Hester blickt zurück auf die Geschichte des Cyberfeminismus, der Beziehung von Frau und Technik vom Flechten und Weben über die feminisierte Schreibmaschine bis zum Cyberpunk-Genre (S.424ff.), seltsamerweise ohne dabei Donna Haraway zu erwähnen, obwohl sie sich auf deren Konzept vom situierten Wissen beruft (S.434); Jodi Dean ruft zum Kampf gegen den digitalen Neofeudalismus auf, der Arbeitende zu rechtlosen Bauern in einem „Game-of-Throne-Machtkampf“ (S.439) degradiert, beruft sich dabei auch auf den sozialistischen Ökonomen Yanis Varoufakis, den griechischen Ex-Finanzminister, dessen Europa-Wahlkampf-Auftritt in Deutschland jüngst verboten wurde -was man als Zeichen feudaler Willkür sehen könnte. Aus dem Wimmelbild kritischer Ansätze wichtige Argumentationsfiguren und Diskursarenen herauszufiltern ist verständlicherweise schwierig. Eine kritische Rezension muss einige Defizite des Sammelbandes benennen.

Digitalisierung und Informatisierung

Die Einleitung klärt zunächst die Begriffe Digitalisierung und Informatisierung, wobei letzere die Vergegenständlichung geistiger, regulierend-orientierender Tätigkeiten meint. In Zeichen oder Information erlange dabei nur ein Teil menschlicher Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissens „eine eigenständige Gestalt“. Andere Kommunikationspartner:innen müssten die vergegenständlichten Informationen dann wieder in ihr Wissen und ihre Erfahrungen einbetten. Diese kooperative „Arbeit an den Zeichen“ (Fn1) bediene sich auch unterschiedlicher Informationstechniken. Informatisierung meine in einem zweiten Sinn die „Materialisierung des Informationsgebrauchs“ (Fn2) in Informationssystemen. Es ginge hier um den organisierten und vergegenständlichten Umgang mit Informationen. Digitalisierung sei demgegenüber die Formalisierung, Reduktion und Integration von Information die in virtuellen Modellen gipfle, welche Tätigkeiten, Arbeit und der Herstellung von Technik vorausgehe (S.10).

Gleich die erste Fußnote der Einleitung verweist auf einen posthum erschienenen Band mit Schriften von Arne Raeithel (1943-96) „Selbstorganisation, Kooperation, Zeichenprozess“ (1998), die zweite auf den Beitrag von Andreas Boes und Tobias Kämpf, „Informatisierung und Informationsraum: Eine Theorie der digitalen Transformation“ (S.141-161), so als hätten diese Raeithels für das Thema des Sammelbandes einschlägige Arbeiten weiterentwickelt. Leider nehmen Boes und Kaempf keinen Bezug auf Raeithel und auch sonst keiner der Beiträge -die drei weiteren Texte der Herausgeber:innen inbegriffen.

Boes und Kämpf blicken in ihrem Beitrag auf die Informatisierung als zentrales Element der Produktivkräfte, aus „historischer Perspektive“ sogar als „Teil der conditio humana“ sowie auf Information als soziale Kategorie (S.143). Wir werden sehen, dass Arne Raeithel in den 1980er und –90er Jahren die Ehre hatte, diese drei „konzeptionellen Säulen“ nicht nur als grundlegend vorauszuahnen, sondern zumindest teilweise auch bereits tiefer und detaillierter auszuarbeiten als Boes und Kämpf in ihrem Text erkennen lassen. Sie monieren am Stand der Forschung, dass wegen der Marx’schen Fokussierung auf industrielle Handarbeit die „Sphäre der Kopfarbeit“ vernachlässigt wurde. Ihr „Konzept der Informatisierung“ will „an dieser analytischen Leerstelle“ ansetzen, doch die vermeintliche Leerstelle hätte sich durch Lektüre von Raeithel mehr als schließen lassen. Ihr historischer Rückblick auf Zeichensysteme bis Buchdruck (S.150ff.) bleibt deutlich hinter Raeithels Geschichte der „symbolischen Herstellung sozialer Kohärenz“ zurück, der Vor- und Frühgeschichte bis Ethnologie aufbietet (Raeithel 1998, S.189-208) vgl. Raeithel 1996.

Die multimediale Welt des heutigen WWW konnte Raeithel noch nicht kennen, doch der von Boes und Kämpf als Fazit ihrer Analyse präsentierte, von „Bild, Ton, Zeichen usw.“ (S.154) erfüllte „Informationsraum“ überzeugt nicht wirklich: Er sei sozialer Handlungsraum, durchdringe die Gesellschaft, „eröffne das Potenzial für einen egalitären Modus der gesellschaftlichen Produktion von Wissen“ (S.158). Dies sind heute Gemeinplätze oder schon lange fragwürdig gewordene Hoffnungen der „Kalifornischen Ideologie“ des Slicon Valley (Barth 1999). Die Raummetapher für das Internet stammt aus den 80er-Jahren, der Cyberspace, den die Matrix-Filme auf die Leinwand brachten. Sie ist seit einer guten Dekade als ein Ordnungsmodell des Internets in den Medienwissenschaften kanonisiert –Raummodelle: Cyberspace, Portal, Plattform (Bleicher 2010, S.46 ff.); heute sind die Raummodelle nur noch eines von einem Dutzend Ordnungsmodelle, von „Dispositiv“ bis „Suchmaschinen“ (Bleicher 2022, S.109 ff.) –hier scheinen den Marxisten schlicht wichtige Basiskenntnisse aus der einschlägigen Nachbarwissenschaft zu fehlen. Das ist schlecht, wenn man ein nur interdisziplinär fassbares Thema bearbeiten will.

Arne Raeithel und Mark Poster als vergessene Klassiker

Thomas Barth (der Rezensent, nicht der Beiträger zum Suhrkamp-Band) zeichnete 1995 im Exkurs „Marxistische Ansätze zur Informationsgesellschaft“ die marxistische Begriffsentwicklung zur Informatisierung u.a. beim US-Marxisten Mark Poster und beim marxistischen Psychologen Arne Raeithel nach (Barth 1997, S.79ff.). Poster entwickelte aus dem Marx’schen Begriff der „Produktionsverhältnisse“ unter Bezug auf postmoderne Theorie (Baudrillard, Foucault) seinen auf die kommende Informationsgesellschaft zugeschnittenen Begriff der „Informationsverhältnisse“ -aber keiner der Suhrkamp-Beiträge bezieht sich auf Poster. Am weitesten ausgearbeitet war die marxistische Analyse der Digitalisierung, die man damals noch Informatisierung nannte, m.W. jedoch bei Arne Raeithel.

Raeithel analysierte soziale Kommunikation als Form gesellschaftlicher Arbeit, basierend auf einem vergegenständlichten Begriff von Sprechhandlungen bzw. generell von Information als Trägerin einer symbolisch geteilten Welt (Raeithel 1989). Dies greift der zweiten „Säule“ der Konzeption von Boes und Kämpf vor, Informatisierung als soziales Verhältnis und gesellschaftlichen Prozess zu verstehen, wobei Raeithel mit „Zur Naturgeschichte der Zeichenprozesse – Drei Stufen der Entwicklung von Kommunikation und Denken“ (Raeithel 1998, S.243-255) auch die dritte „Säule“, die historische Perspektive auf die informatorische conditio humana vorwegnahm. Dabei schloss Raeithel, der zu den sehr frühen Anwendern von Computer und Internet zählte und selbst programmieren konnte, ausdrücklich „rechnergestützte“ Arbeit, d.h. Arbeit im digitalen Bereich, ein (Raeithel 1992).

Raeithels Ansatz gründete auf der sowjetischen kulturhistorischen Schule von Leontjew und Wygotsky, die im Stalinismus marginalisiert wurde. Er formulierte einen Arbeitsbegriff aus, der kognitive Tätigkeit an symbolischen Gegenständen ins Visier nahm. Der so gezeichnete Arbeitsprozess zielt auf Veränderungen von Können, Begriffen und Werkzeugen, also auf die sich entwickelnde Reproduktion der inneren und äußeren Verhältnisse der Subjekte (Raeithel 1998, S.35). Raeithel ging damit bereits nicht nur über die theoretische Analyse von Boes und Kaempf hinaus, sondern bewegte sich in Bereichen, die der vorliegende Sammelband eher defizitär im Kapitel „Kultur und Subjekte“ behandelt.

Regulierung digitaler Plattformen

Ulrich Dolata und Jan-Felix Schrape entwerfen in ihrem Beitrag „Politische Ökonomie und Regulierung digitaler Plattformen“ ein –zumindest für diesen Sammelband- überraschend unkritisches, teils fast affirmatives Bild der Plattformkonzerne. Aus Sicht der Organisations- und Innovationssoziologie verteidigen sie zunächst die US-Technologiekonzerne Amazon, Apple, Alphabet/Google und Meta/Facebook gegen die Vorhaltung, dort würde in einem „asset-light-Geschäftsmodell“ weitgehendes Outsourcing betrieben (S.346). Unklar bleibt dabei, warum sie Microsoft ausnehmen. Ihre analytische Teilung von „Plattformunternehmen als organisatorischer Kern“ und der „Plattform als sozialer Handlungsraum“ scheint die Unabhängigkeit besagter „Handlungsräume“ von den Konzernen zu betonen. Das spielt deren Management in die Hände, das die Freiheit ihrer Nutzer gegenüber eigener manipulativer Eingriffe herausstellt. Dolata und Schrape erwähnen zwar das Machtgefälle zwischen Nutzer:innen und Konzernen, haben aber wenig Einwände gegen konzernseitige „lückenlose Beobachtung“ des Nutzerverhaltens, dessen Daten „zunächst als Rohmaterial anfallen“ (S.349).

Sie kritisieren den Ansatz von Shoshana Zuboff, weil deren „Überwachungskapitalismus“ bei der Entstehung dieser Daten fälschlich von „unbezahlter digitaler Arbeit“ der Nutzer ausgehe, obwohl es doch „viel trivialer“ um die „bereitwillige Offenlegung… alltäglichen Verhaltens“ ginge. Was den Nutzer:innen, die ihre „Datenspuren oft achtlos und im Vorbeigehen liefern“, entzogen wird seien wertlose Rohstoffe. Diese werden erst von den Konzernen durch „Aufbereitungs- und Veredelungsleistungen“ zur Ware erhoben. Die Konzerne erwerben damit offenbar nicht nur das ökonomische, sondern auch noch das moralische Recht, private Kommunikation als „handelbare Datensätze und personalisierte Werbemöglichkeiten“ zu Geld zu machen (S.358). Die Fixierung auf marxsche Wertlehre verstellt hier womöglich den Blick auf die Manipulation der Nutzer:innen, deren Daten nicht „achtlos im Vorbeigehen“, sondern in vorsätzlich süchtig machenden Strukturen produziert werden.

Beim Thema Regulierung sehen Dolata und Schrape die Plattformen unter „intensiver Beobachtung“ einer „politischen Öffentlichkeit“. Zivilgesellschaft und Journalisten hätten „Desinformationsdynamiken“ und „Verletzungen der Privatsphäre“ aufgedeckt –nebenbei bemerkt: in jenen Konzernaktivitäten, die Dolata und Schrape als „Veredelungsleistungen“ bezeichneten. Doch die Plattformkonzerne hätten auf die Kritik „durchaus reagiert –etwa mit Transparenzinitiativen sowie Versuchen einer institutionalisierten Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in ihre eigenen Regulierungsstrukturen“. (S.360) Beispiele nennen die Autoren nicht, daher kommt die Frage nicht auf, ob es sich dabei nur um die üblichen PR-Spektakel gehandelt haben könnte.

Felix Stalder: Plattform-Demokratie-Spektakel

Facebook wurde nach diversen Skandalen in den USA besonders das Ziel von öffentlicher Kritik. Senatsanhörungen brachten Konzernchef Zuckerberg persönlich ins Schwitzen (was sogar wörtlich stimmte: man konnte in der TV-Übertragung sehen, wie der CEO mit Schweißtropfen auf der Stirn sein Sakko ablegen musste). Dennoch bewertete Felix Stalder 2016 Facebooks Reformen der „eigenen Regelungsstruktur“ kritisch.

Facebook habe sich zwar 2009 selbst auferlegt, Änderungen der Geschäftsordnung einer Abstimmung vorzulegen, sobald 7000 Kommentare dazu abgegeben würden; doch das Quorum von 30 Prozent der User:innen wäre bis zur Abschaffung der Regel 2012 nie erreicht worden, auch weil die Konzern-Demokratie dazu neigte die Wahlurnen zu verstecken. Überhaupt hätten Anbieter wie Facebook sich bemüht „mit jeder Neuerung das Machtgefälle zwischen Nutzern und Betreibern“ zu verschärfen (Stalder 2016, S.217). Kannten Dolata und Schrape das Buch ihres Kollegen Stalder nicht?

Felix Stalder lieferte auch einen äußerst lesenswerten Beitrag zum hier besprochenen Suhrkamp-Band, der sein recht bekanntes Werk „Kultur der Digitalität“ von 2016 selbstkritisch hinterfragt. Stalders 2016 noch große Begeisterung für die digitale Allmende („Commons“) der Open-Source-Bewegung wurde inzwischen gedämpft. Der Neoliberalismus instrumentalisiere zunehmend Commons als Trostpflaster für soziale Raubzüge, etwa wenn mittels Crowdsourcing bezahlte Arbeit durch schlechtbezahlte Arbeit ersetzt würde.

Der Geist der freien Software mit Gnu-Public-Licence (GPL) würde von der Software-Industrie heute unterlaufen, indem ihre Dienstleistung über die Cloud angeboten würde –ohne den Quellcode der spezifisch angepassten GPL-Programme offenlegen zu müssen: Eine neue Form kapitalistischer Einhegung einer Allmende. Kombination mit firmeneigenem Code sei eine weitere Einhegung, etwa bei Googles dadurch nicht wirklich offenem Android-System. Kulturelles Commoning diene auf Plattformen der Kommerzialisierung von Nutzerdaten-Extraktion. Schlimmer noch:

„Aber die Einhegung findet nicht nur als Form des Datenextraktivismus statt, sondern auch durch vielfache Möglichkeiten des ‚nudging‘, das die aus Nutzer:innensicht nichtkommerzielle Tätigkeiten in für Plattformbetreiber kommerziell interessante Richtungen lenkt, mit allen problematischen Konsequenzen.“ Felix Stalder 2023, S.510

Kulturproduktion im Internet wird so hinter dem Rücken der User doch wieder für eine Kulturindustrie vereinnahmt. Da wir von der Frankfurter Schule gelernt haben, so Mark Poster 2003, wie verheerend sich die Kulturindustrie auf die Arbeiterklasse und andere demokratisierende Bewegungen auswirkt, sei es unsere Pflicht, die Möglichkeiten ihrer Technologie zu verstehen. Wir sollten lernen, wie sie bei der Konstruktion kultureller Formen eingesetzt werden können, die einer demokratischen Lebenswelt angemessener sind.

Habermas und Plattform-Kapitalismus

An den Adorno-Schüler Habermas knüpfen immerhin zwei Beiträge an: Nosthoff/Maschewski untersuchen mit einem brandneuen Habermas-Text „Plattformökonomische Öffentlichkeiten“, denen der Nestor der kommunikativen Vernunft „höchst ambivalente und möglicherweise disruptive Auswirkungen auf die politische Öffentlichkeit“ zuschrieb. Die Fragmentierung des Publikums in emotionalisierte Teilöffentlichkeiten, Fakenews, Donald Trump und Gereiztheit plagen uns: „Kommunikation und Kontrolle bilden so das dominante wie dialektische Signum der Social-Media-Plattformen: Wer die Strukturen der Kommunikation kontrolliert, definiert auch die Strukturen der öffentlichen Sphäre“ (S.371f.). Nicht, dass nicht schon vor dem Start des WWW, aus dem die Plattformen dann entsprangen, vor dem Zusammenfließen von panoptischer Kontrolle und Verhaltenssteuerung gewarnt worden wäre: Das von mir seit 1996 empfohlene Gegengift eines „Inversen Panoptismus“, einer Umkehrung der Kontrolltechnologie gegen die Machtzentren, scheint den akademischen Autoren wohl zu radikal (Barth 1996). Keiner wagt es auf den 533 Seiten, die hier profilierteste Anti-Plattform auch nur zu erwähnen –Wikileaks und ihren wegen „Geheimnisverrat“ seit fünf Jahren inhaftierten Gründer Julian Assange.

Der zweite Habermas-affine Text ist von Evan Fisher: „Algorithmen und das Selbst“ (S.514-532) und beschließt den Band. Er untersucht die Rolle des Wissens in der Ko-Konstituierung von Mensch und Maschine, wobei Plattformen als „epistemische Medien“ analysiert werden. Mit Friedrich Kittler sieht Fisher Medien als Kulturtechniken, die Wissen über das Selbst schaffen, und dem Selbst in der öffentlichen Sphäre Selbstreflexion erlauben, so Habermas. Dessen emanzipatorisches Erkenntnisinteresse leitet Fisher aus der Psychoanalyse her und verfolgt es bis in die heutige Medienwelt der Plattformen. Deren Algorithmen schaffen zwar Wissen über das Selbst, jedoch ohne Selbstreflexion wie die Psychoanalyse, die Habermas der kritischen Theorie zuordnet. So endet der Sammelband pessimistisch, wobei Fisher noch die Profit-Eigeninteressen der Plattformen unterschätzt und ihr User-Profiling als auf „quasi-freiwilliger“ Selbstbewertung sieht (S.528).

Andere Beiträge, wie jener von Felix Stalder belehren ihn jedoch eines Besseren und wenn alle versammelten Autoren den ganzen Band rezipieren und die Wissenslücken ihrer divergierenden Ansätze damit schließen würden, hätte die Debatte schon viel gewonnen. Es fehlten gleichwohl, wie in dieser Buchkritik ausgeführt, noch viele Erkenntnisse der Medienwissenschaft und aus den kritischen Diskursen der Netzkultur (-Wissenschaft). Etwa aus den Texten des -von keinem der Suhrkamp-Beiträge zitierten- Experten Geert Lovink, der es in den liberalen Niederlanden vom Aktivisten und Netzkritiker zum Professor für Kunst und Netzwerkkulturen brachte. Lovink sieht uns „In der Plattformfalle“ und plädiert seit Jahren für eine „Rückeroberung des Internets“, dabei warnt er spöttisch:

„Man sollte sich nicht in pedantischen Übungen verlieren, um akademische Territorien mit ihren Kanons und Methoden zu definieren und zu verteidigen… Wir sollten die momentane Leichtigkeit annehmen und uns über die Verwirrung unter jenen amüsieren, die versuchen, ‚Digitalisierung‘ zu kartieren.“ Lovink 2022, S.29

Nicht Marx, aber Marxisten ignorieren Technologie

Vor über 20 Jahren zeigte sich Mark Poster (1941-2012) erstaunt über das Ausmaß, in dem viele Marxisten dazu neigten, neue Technologien „fast vollständig zu ignorieren“. Diese nahmen an, dass der Kapitalismus den entstehenden Cyberspace, das Internet vollständig übernehmen würde. Poster fand das sehr überraschend, weil Marx doch stets darauf geachtet habe, die Art und Weise zu untersuchen, wie soziale Innovationen sowohl für bestehende Institutionen als auch in Richtung ihrer Infragestellung wirkten. Marx selber wäre sogar so weit gegangen, disruptiv-brutale Ereignisse wie die Zerstörung der indischen Baumwollindustrie durch britische Kolonialisten insofern zu begrüßen, als sie die historische Entwicklung zum Sozialismus fördern könnten. Das Misstrauen marxistischer Kritiker gegenüber dem Internet erschien Mark Poster daher übertrieben, besonders angesichts der Chancen progressiver Netzkultur in der Open-Source und Hacker-Szene. Sein Optimismus speiste sich aus dem, was damals als „Kalifornische Ideologie“ wegen Ignoranz gegenüber der sozialen Frage kritisiert und heute auch als Transhumanismus bezeichnet wird.

Es war die Zeit einer ersten Verbreitung von Unternehmens-Websites, gefolgt von Börsen-Hype und Dotcom-Crash 2001, als im Kampf um die Netzkultur noch vieles offen war. Für Marxisten war es damals jedoch schon offensichtlich, so Mark Poster, dass das Internet nur eine weitere Teufelei war, um die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer zu machen. Heute, nach der Durchsetzung des Plattform- oder Überwachungskapitalismus, müssen wir leider feststellen, dass die Pessimisten nicht völlig falsch lagen. Zwar hat sich die widerständige Netzkultur weiterhin gehalten, doch Dotcom-Konzerne stehen in der Öffentlichkeit und an den Börsen als Sieger da. Marxistische Kritik an der Plattform-Industrie leidet heute unter deren Ignoranz zwar nicht mehr gegenüber der Technologie selbst, aber gegenüber den sie betreffenden Diskursen. Technik- und Netzkritik, wie sie auf Netzphilosophie gepflegt wird, scheint in vielen Suhrkamp-Beiträgen leider eher unbekannt zu sein. Erst mit der Plattformkritik scheint hier eine Debatte eingesetzt zu haben, der aber marxistische Perspektiven punktuell durchaus nützlich sind.

Fazit

Leider kann der Sammelband trotz vieler herausragender Beiträge seine Versprechen nicht einlösen, vor allem nicht jenes, die „Verbindungen der disparaten Ansätze“ auszuleuchten. Schon die Gliederung in die Kapitel „Arbeit“, „Ökonomie“, „Politik und Öffentlichkeit“ sowie „Kultur und Subjekte“ überzeugte wohl nicht jeden. Abweichend davon benennen die Herausgeber:innen sie in den Titeln der Unterkapitel ihrer Einleitung „Produktivkraftentwicklung und Arbeit“, „Wertschöpfung und Ökonomie“, „Politische Regulation und Öffentlichkeit“ sowie „Kulturelle Regulation und Subjekte“. Zu Beginn der Einleitung findet sich zudem der noch weitgehender abweichende Vorschlag zur „Strukturierung des Feldes anhand der kapitalismustheoretischen Basiskategorien Produktivkraftentwicklung, Arbeit, Wertschöpfung, politische Regulation sowie Kultur und Subjekte“ (S.11).

Die nicht immer einsichtige Zuordnung der Beiträge zu diesen Kapiteln bzw. Kategorien sowie insbesondere das Fehlen editorischer Orientierungshilfen machen den Sammelband äußerst unübersichtlich. Am Ende des Buches findet sich lediglich eine Liste mit Textnachweisen für die sieben Beiträge, die keine Originalbeiträge sind. Es fehlen biographische Angaben zu den Autor:innen, Literaturlisten zu den Beiträgen, ein Schlagwort- oder wenigstens Namensregister. Es fehlt mithin alles, was der Leser gebraucht hätte, um wirklich Verbindungen der disparaten Ansätze ausleuchten zu können. Einen Überblick über die verwendete Literatur gewinnt man nur mühselig aus den weit über tausend Fußnoten. Bezugnahmen der Beiträge oder Autor:innen aufeinander sind seltene Ausnahmen, bleiben fast immer beim bloßen Namedropping -selbst bei der in den Leitmedien herumgereichten und daher schwer ignorierbaren Shoshana Zuboff. Die renommierte Havard-Professorin gehört mit ihrer Kritik des „Überwachungskapitalismus“ zu den am häufigsten zitierten Autor:innen im Sammelband, leider fast immer nur als inhaltsleerer Verweis auf das Problem der Überwachung (das damit oft als abgehandelt betrachtet wird). Eine lebendige Diskussionskultur, Diskurse und Debatten, für die es allein schon innerhalb der marxistischen Digitalisierungsforschung genügend Themenfelder gäbe, sucht man bislang offenbar weitgehend vergeblich.

Herausgeber:innen und Autor:innen des Sammelbandes

Die drei Herausgeber:innen, die selbst Beiträge liefern und gemeinsam die Einleitung verfassten, sind: Tanja Carstensen, Privatdozentin für Soziologie der LMU München und Koordinatorin des Forschungsverbunds Sorgetransformationen an der Universität Hamburg, Simon Schaupp, Gastprofessor am Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft am KIT in Karlsruhe und Oberassistent für Soziologie der Universität Basel, Sebastian Sevignani, Akademischer Rat für Soziologie der Schiller-Universität Jena. Weitere Beiträger:innen sind: Thomas Barth (mit dem Rezensenten weder identisch noch verwandt noch bekannt), Kean Birch, Andreas Boes, Florian Butollo, D. T. Cochrane, Jodi Dean, Ulrich Dolata, Emma Dowling, Marlen van den Ecker, Eran Fisher, Christian Fuchs, Helen Hester, Ursula Huws, Kylie Jarrett, Tobias Kämpf, Felix Maschewski, Oliver Nachtwey, Anna-Verena Nosthoff, Tilman Reitz, Sarah T. Roberts, Marisol Sandoval, Stefan Schmalz, Jan-Felix Schrape, Timo Seidl, Nick Srnicek, Philipp Staab, Felix Stalder, Johannes Truffer, Judy Wajcman, Jamie Woodcock.

Literatur

Barth, Thomas, Das inverse Panoptikum: Ein postmoderner Ansatz für die politische Informationsstruktur des Cyberspace, zuerst in: Informatik Forum, Nr.2 1996, S.68-71.

Barth, Thomas: Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft, Centaurus, Pfaffenweiler 1997.

Barth, Thomas: Die “Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace” und der Panoptismus der globalen Netze, in: Medienwissenschaft, Nr.4, 1999, S.402-407.

Bleicher, Joan Kristin: Internet, UVK (UTB), Konstanz 2010.

Bleicher, Joan Kristin: Grundwissen Internet, UVK (UTB), Konstanz 2022.

Carstensen, Tanja, Simon Schaupp und Sebastian Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus: Arbeit, Ökonomie, Politik, Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2023.

Poster, Mark: The Mode of Information: Poststructuralism and Social Context, Polity Press, Cambridge 1990.

Poster, Mark: The Second Media Age, Polity Press, Cambridge 1995.

Raeithel, Arne: Kommunikation als gegenständliche Tätigkeit, in: Knobloch, C. (Hg.): Kommunikation und Kognition, Nodus, Münster 1989, S.29-70.

Raeithel, Arne: Ein kulturhistorischer Blick auf rechnergestützte Arbeit, in: Wolfgang Coy et al. (Hg.): Sichtweisen der Informatik, vieweg, Wiesbaden 1992, S.125-139.

Raeithel, Arne: Selbstorganisation, Kooperation, Zeichenprozess: Arbeiten zu einer kulturwissenschaftlichen, anwendungsbezogenen Psychologie, Westdt.Vlg., Wiesbaden 1998.

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität, Suhrkamp, Berlin 2016.

Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus, Frankfurt/M. 2018.

-Siehe auch die etwas reißerische Polemik (der Kampf um Aufmerksamkeit ist hart) des Rezensenten auf Telepolis: Warum Marxisten die Digitalisierung nicht verstehen

03/14/24

Rezension Märzendorfer/Glasmeier: Eine Klavierzerlegung

Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier: smashed to pieces… Eine Klavierzerlegung / A Piano Dismantling, hg. v. Carsten Seiffarth, Textem Verlag, Hamburg 2023

Thomas Barth

Kunst und Philosophie suchen oft jenseits der Alltagswelt nach Erkenntnis: Wie Netzphilosoph Felix Stalder und Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein mit einer Performance zusammenhängen und was das mit Millenials, Snowflakes, Digital Natives und „Mr.Robot“ zu tun hat.

Der originelle Aktionskunstband funktioniert als Daumenkino im DIN-A-5-Format, das auf den rechten Seiten die De- bzw. umgekehrt Remontage des zerlegten Klaviers illustriert: Eine Performance von Claudia Märzendorfer. Die Bühne wird dabei statisch von oben aufgenommen, so dass man jeweils bis zu fünf Personen kommen, gehen und agieren sieht. Die ca. 75 Fotos zeigen die systematische Zerlegung des Instruments, bei der nur selten Schusswaffen, meist aber handelsübliche Werkzeuge, Schraubendreher, Zangen zum Einsatz kommen. Linker Hand finden sich begleitende und kommentierende Texte, insbesondere ein langer Essay von Michael Glasmeier, der den kunstgeschichtlichen Rahmen aufspannt –auch in englischer Übersetzung: „Das Buch markiert den Versuch, Kunstwerk und Bilddenken, Filmzeit und Lesezeit, Gegenwart und Geistesgeschichte in unmittelbaren Nachbarschaften reflektieren zu können.“ Prof. Glasmeier ist Kunsthistoriker, Lyriker und Ausstellungsmacher und befasst sich mit bildender Kunst, Musik, Sprache, Film, Fotografie sowie Komik, Subversion und Politik.

Neben der Bühne mit Motorroller und Klavier befindet sich, wie eingangs weitere Aufnahmen zeigen, eine seltsame Schreibmaschine auf einem Stapel Papier: Eine aus Tinten-Eis geformte Attrappe der vom Komponisten Arnold Schönberg erfundenen, aber nie gebauten „Notenschreibmaschine“, die langsam schmilzt und sich in die unter ihr aufgestapelten Notenblätter ergießt. Man ahnt: Es geht um Zeit, Musik, Mechanik und das Ringen des Menschen um Bedeutung in einer von Kultur überfluteten Welt.

In ihrem Videofilm smashed to pieces … (2018) zeigt die Wiener Künstlerin Claudia Märzendorfer die Zerlegung eines Klaviers in einem konzentrierten Live-Act, an dem acht Personen, Werkzeuge, ein Gewehr und ein Motorrad beteiligt sind. Im Gegensatz zu den zahlreichen Klavierzerstörungen – ein seit dem 19. Jahrhundert spezielles Sujet von Comedy bis zur Wiener Gruppe oder Fluxus – führt bei Märzendorfer der destruktive Akt zu stets neuen starken und überraschenden Bildfindungen und Tableaus.“ (Verlagstext)

Welt und Hand: Das Manual digitalisiert Sinnliches

Die Computertastatur, das magische Keyboard der Hacker, hat klangvolle Vorfahren in der Ahnenreihe der Tasteninstrumente. Orgel, Cembalo, das moderne Klavier digitalisierten Musik schon lange bevor Charles Babbage die erste Rechenmaschine montierte. Digitalisiert im weiten Sinne sind nach Felix Stalder Informationen, wenn sie mittels eines Systems diskreter Zeichen gespeichert werden (Stalder 2016, S.100): Bunte Scherben im Mosaik, Schriftzeichen oder eben Noten. Ab 1709, als der florentiner Instrumentenbauer Bartolomeo Cristofori (1655-1731) das Klavier erfand, werden den zarten Saiten der Muse die Noten virtuos eingehämmert. Als großbürgerliches Kulturmöbelstück, Prestige- und Kultobjekt besonders in Wien steht es, so meint Glasmeier, wie kein anderes Instrument für die KuK-Bourgeoisie und führt als Beleg Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin an. Deren Protagonistin rüttelte bekanntlich relativ vergeblich an den gesellschaftlichen Gitterstäben im bourgeoisen „Gefängnis ihres alternden Körpers“ -dem biopolitischen Dispositiv, dem das musisch-mechanische Dispositiv des Klavierkorpus zugeordnet ist (zit.n. Creutzburg S.37).

In Jelineks Roman wird das strenge Regime einer auf Status und Konkurrenz angelegten Klavierausbildung drastisch beschrieben. Die Versuche der Protagonistin, sich von der dominanten Mutter zu befreien und ihre erotischen Fantasien auszuleben, bleiben im zähen Normengefüge einer verkrusteten Gesellschaft stecken. Die masochistischen Neigungen der Klavierspielerin werden von Jelinek mit der Strenge der Musikausbildung durch ihre Mutter in Verbindung gebracht und lesen sich wie ein früher Beitrag zur Erziehungsdebatte, die später das Buch Battle Hymn of the Tiger Mother (2011) der US-chinesischen Autorin Amy Chua auslösen sollte. Gerade die autoritäre Erziehung zur klassischen Musik (Klavier und Geige) habe der Tiger-Mutter ermöglicht, so Chua, ihren beiden Töchtern Leistungswillen einzupauken.

Chua lieferte der neoreaktionären NRx-Bewegung in den USA Munition für den Kulturkampf gegen die angeblich übermäßig verhätschelte „Generation Snowflake“ der Millenials, auch Gen Y oder Digital Natives genannt. Deren von der 68er-Bewegungen geprägte Hippie-Eltern hätten ihren Nachwuchs in Watte gepackt und ihm ständig dessen Einmaligkeit (wie eine Schneeflocke) trotz tatsächlicher Mittelmäßigkeit versichert. Die neoreaktionäre Alt-Right-Bewegung beruft sich auf Film und Buch „Fight Club“, wo so benannte Snowflakes brutal zu Kämpfern umerzogen werden. A.N.Smith sieht als Reaktion der Kabelsender auf Annahmen über die Persönlichkeiten, Vorlieben und Verhaltensweisen von Millenials bzw. Snowflakes die TV-Serie „Mr.Robot“. Bei Mr.Robot steht ein Digital Native als Hacker im Mittelpunkt, der sich -was als Antwort auf „Fight Club“ gelesen werden kann- trotz psychischer Probleme und Sensibilität zu wehren versteht. Im deutschen Kino setzte sich Oskar Roehlers Film Tod den Hippies! Es lebe der Punk! mit der Problematik auseinander.

Im deutschen Diskurs wurde Chua unter dem Topos einer „Rückkehr des Rohrstocks„, d.h. von Zucht und Ordnung in der Erziehung diskutiert und fand konservative wie leistungsorientierte Anhänger (Springer-Zeitung „Die Welt„). Wenn sich in Märzendorfers Performance aggressive Impulse gegen das Klavier richten, erfüllen sie den Wunsch nach biopolitischer Rebellion und stehen überdies in langer künstlerischer Tradition. Das Backcover zitiert Emerson zweisprachig nach Musil:

Ralph Waldo Emerson 1857

»Die Dinge, die durch den Dunst von gestern
so gewaltig erschienen – Eigentum, Klima,
Erziehung, persönliche Schönheit und anderes
mehr, haben ihre Verhältnisse merkwürdig
verändert. Alles, was wir für fest hielten,
schwankt u. klappert …«

“The facts which loomed so large in the fogs of
yesterday,—property, climate, breeding, personal
beauty, and the like, have strangely changed their
proportions. All that we reckoned settled shakes
and rattles …”

Ralph Waldo Emerson (zitiert von / quoted by Robert Musil)

Im April 1959 hätten, so Glasmeier, die skandalisierten Künstler der Wiener Gruppe daher durch Fechtmasken geschützt (und, wie der Rezensent anmerken möchte, als Burschenschaftler maskiert) mit Beilen ein Instrument zerlegt. Friedrich Achleitner fuhr dazu mit einem Motorroller auf die Bühne, was 2018 von der destruierenden Claudia Märzendorfer referenziert wurde: Die Wiener Künstlerin Nicole Six durfte bei dieser Klavierzertrümmerung auf der Vespa vorfahren und zückte, weil Künstler sich gerne gegenseitig übertreffen, ein Gewehr, um mit zwei Schüssen ins geöffnete Piano den Reigen der Gewalt zu eröffnen. Danach erfolgt die systematische Demontage, einer Vivisektion am Instrument gleich -womit die Performance gleich noch symbolisch das beliebteste Mediengenre nachstellt: Den Fernseh-Krimi: Ein Schuss, ein Schrei und alles Weitere nach der Obduktion, bis das Kleinbürgertum vor der Mattscheibe am Ende den Übeltäter in Handschellen vom Polizisten abgeführt sieht und mit zwei Lektionen in den süßen Schlaf sinken kann: Fürchte deinen Nächsten, er könnte ein Mörder sein, und nur die Staatsgewalt steht zwischen dir und dem Chaos. Chaos verbreiten gerne Künstler als Bürgerschreck, wie z.B. auch Fluxus. Fluxus, die Künstlergruppe, der auch Nam June Paik angehörte (der bei Netzphilosoph Felix Stalder als Nestor elektronischer Medienkunst herbei zitiert wird), sprach einst vom Kampf gegen die Bürgermusik.

Lustvolle Zerstörungsorgien treffen schon seit Stummfilmzeiten gerne das Klavier, Resonanzmöbel und absoluter Klangkörper. Neben seiner pompösen Bürgerlichkeit wäre so das Instrument für anarchische Zweckentfremdung prädestiniert „…zumal die immense Spannung, die vor allem beim Flügel auf die Saiten ausgeübt wird, es trotz seiner eher behäbigen Erscheinung ständig im übernervösen Zustand kurz vor dem Zerspringen hält.“ (S.42) Futuristen, Dadaisten und kreative Musiker wie John Cage hätten sich daran ausgetobt.

Und der destruierte Mechanismus der kulturgeschwängerten Bourgeoisie lässt sich im mechanischen Remix sogar wie ein sphärisches Netz verspinnen: US-Künstler Terry Fox löste in den 1970er- und 80er-Jahren Klaviersaiten aus dem Korpus, um damit sein Atelier, Museen und Kirchen zu bespannen, bespielen und zur Resonanz zu bringen. Seine gesponnene Sphärenmusik erinnert an andere, intellektuell-paranoide Netze, die der Konspirationskünstler Mark Lombardi mit Tinte auf Papier zeichnete: Organigramme von Politik, Geheimdiensten und Finanzwelt, deren düstere Partitur unsere Netzgesellschaften mit ihren Netzen der Macht erfüllt (wie wiederum Netzphilosoph Felix Stalder darlegt).

Die Künstlerin arbeitet „mit Installationen, Film als Skulptur, Fotografie, Zeichnung, Klang und Text. Ihre Arbeiten verfolgen eine konzeptuelle Strenge und werden häufig in Schwarz und Weiß ausgeführt. Märzendorfer arbeitet mit analogen Techniken im Digitalzeitalter, beschäftigt sich mit Archiven und macht ortsspezifische Installationen.“ (Wikipedia)

Märzendorfers Aktionen schaffen dagegen ihre eigene Welt und Glasmeiers Kommentar spannt den Bogen über Johann Sebastian Bach, Kaiser Franz Josef, und Samuel Beckett bis zum Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, den er zitiert: „Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.“ (S.94)

Die feinen Mechanismen von Märzendorfers dekonstruiertem Klavier blieben in diesem Sinne „allein als Metaphern einer schöpferischen Taktilität präsent, die nunmehr auch ohne den Umweg über die schon von Shakespear erotisierten Tastatur an die Plastizität des Korpus selbst delegiert ist: …Es ist eine Tastatur, ohne die gerade in diesen Hochzeiten der Digitalisierung… überhaupt nichts läuft… (S.30)

How oft when thou, my music, music play‘st
Upon that blessed wood whose motion sounds
With thy sweet fingers when thou gently sway’st
The wiry concord that mine ear confounds…
William Shakespear, 128.Sonett

Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier: smashed to pieces… Eine Klavierzerlegung / A Piano Dismantling, hg. v. Carsten Seiffarth, Campo Bd.5, Textem Verlag, Hamburg 2023, 176 S., 18,00 Euro, ISBN: 978-386485-295-4 (siehe auch gekürzte Rezension auf socialnet)

Creutzburg, Astrid: Gewalt und Macht: Hierarchiestrukturen in den Romanen Elfriede Jelineks, unveröffentlichte Magisterarbeit, Hamburg 1992

Anthony N. Smith: Pursuing „Generation Snowflake“: Mr. Robot and the USA Network’s Mission for Millennials. In: Television & New Media, 24. Juli 2018 abstract

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016

02/26/24

Rezension – Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet

Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet. Perspektiven der Medien- und Kommunikationswissenschaft, München 2022

Rezensiert von Thomas Barth

Für jüngere Generationen hat es das Fernsehen als dominierendes Leitmedium längst abgelöst: Das Internet ist als digitale Parallelwelt aus dem Alltag vieler Menschen nicht mehr wegzudenken. Bleicher legt den Fokus auf medienhistorische und ästhetische Aspekte der Angebotsstrukturen des Internets und macht damit plastisch, wie das Netz seine Sogwirkung auf die Nutzer stetig erhöhte. Sie scheut dabei auch vor politisch heiklen Aspekten wie der staatlichen Unterdrückung der Whistleblower-Plattform Wikileaks und der juristischen Verfolgung ihres Gründers Julian Assange nicht zurück, bleibt gerade dort aber lückenhaft.

Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher lehrt am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg. 2009 veröffentlichte sie mit „Poetik des Internets: Geschichte, Angebote und Ästhetik“ eine der ersten geisteswissenschaftlichen Gesamtdarstellungen der Netzmedien, 2010 folgte die Kurzfassung „Internet“, die ihre „Poetik“ straffte und systematisierte. Mit dem vorliegenden Band folgt eine stark erweiterte und aktualisierte Fassung. Ein Vorwort, zwölf Kapitel mit je eigenen Literaturlisten und ein Fazit geben eine umfassende Übersicht. Die Orientierung erleichtern ein Register sowie eine vorangestellte „Zeittafel zu Meilensteinen der Entwicklung des Internets“: Von Vannevar Bush’s Memex-Modell 1945, dem ArpaNet 1969 und TCP/IP 1978, über den Start des WWW 1991 und das Vorgehen von Behörden gegen Wikileaks 2010 bis zur Google-KI AlphaGo und TikTok 2016 sowie der Umstellung der Newsfeeds von Facebook auf die Bevorzugung von Beiträgen der Nutzer 2018. Kapitel 1 „Was Sie vorher wissen sollten“ verweist kurz auf die rasante Dynamik der Internetentwicklung, die viele Details schnell überholen und stetig weitere Forschung erfordern wird, sowie auf die brisanten politischen Dimensionen und wachsende Kritik an netzbezogenen Entwicklungen, die sich etwa bei Shoshana Zuboff und ihrer Streitschrift gegen den „Überwachungskapitalismus“ (2018) zeigen.

Kapitel 2 „Einführung in Theorien, Forschungsschwerpunkte und Methoden“ widmet Zuboff gleich den (nach dem basalen Technikbegriff) zweiten der didaktisch knappen „Gut zu wissen“-Kästen, die im Buch Wichtiges einprägsam markieren (S.21). Nach Prosumer-Kultur, Medialität und Privatheit zeigt das Kapitel Bezüge der Netzkultur zum Posthumanismus und betont Donna Haraways „Cyborg Manifesto“, das 1985 die Hybridisierung von Mensch und Maschinenwelten vorwegnahm (S.26). Über Baudrillards „Simulakrum“ (Blendwerk) -Kritik bis zu Politik-, Wirkungs- und Nutzungstheorien führt Bleicher in ihre Darstellung ein.

Kapitel 3 „Internet: Infrastruktur, Lebenswelt und Medium“ zeigt das Internet als Lebenswelt und Kulturraum, als Medium mit neuen Sozialen Medien, warnt vor dem Wegfall der bisherigen „Gatekeeper“-Funktion der Leitmedien, die der Verbreitung von Fake News den Boden bereite (S.44). Kapitel 4 „Technische, ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen“ beginnt bei den Netzwerkstrukturen des Internets vom Darknet über Onlinemonopole etwa von Alphabet (Google), Meta (Facebook) und Amazon (S.53). Unter Verweis auf Zuboff kritisiert Bleicher deren Geschäftsmodell des Datenhandels bis hin zum Verkauf von Facebook-Daten an die Skandalfirma Cambridge Analytica (S.58). Sie verweist auf Regulierungsbestrebungen sowie die „Amateur:innenkultur als Gegenbewegung zur Ökonomisierung“ (S.61).

Im Kapitel 5 „Historische Entwicklung des Internets“ finden wir eine (zumindest in der deutschen Medienwissenschaft) selten kritische Darstellung der Sozialen Medien, in der die öffentlich nahezu tabuisierte Whistleblower-Plattform Wikileaks gewürdigt wird:

„2006 erfolgte die Gründung der Enthüllungsplattform Wikileaks mit dem Ziel der Veröffentlichung von Dokumenten, die der staatlichen Geheimhaltung unterliegen. Diese Dokumente und Videos verdeutlichten den Machtmissbrauch und die Verletzung von Menschenrechten. Aufgrund von Regulierungen ist seit 2010 ein Datentransfer zu Wikileaks nicht mehr möglich. Der Mitbegründer Julian Assange wurde juristisch verfolgt und flüchtete in eine Botschaft, in der er 2019 festgenommen wurde und noch Anfang 2022 in der Abschiebehaft auf seine Auslieferung wartete.“ (S.79) (Hier ist die Autorin offenbar leitmedialer Falschdarstellung aufgesessen: Wikileaks war auch nach den US-Angriffen 2010, die es kurzfristig lahmlegten, weiterhin aktiv. Zahlreiche weitere Enthüllungen wurden jedoch medial totgeschwiegen, unten mehr dazu).

Kapitel 6 zeigt „Ästhetik und Design des Internets“ Einflüsse von Medienkunst, Netzkunst und digitaler Bildästhetik, Webdesign, Seitenstruktur bis hin zu eingebundener Bewegtbildästhetik und Sound. Über Meme und Selfieästhetik, Mashup, Podcast und Online-Werbung zeigt Bleicher traditionelle Medieneinflüsse sowie neue Qualitäten der Netzmedien auf.

Ordnungsmodelle des Internets

Kapitel 7 „Ordnungsmodelle des Internets“ versucht das Kaleidoskop der Netzkultur zu systematisieren, wobei die technische Basis, Unternehmensstrukturen, Sortierungsprinzipien der Inhalte (Flow, Stream, Raster, Raum) sowie Navigations- und Distributionsmodelle dafür Ansatzpunkte liefern. Beginnend mit dem „Dispositiv Internet“, mit dem Knut Hickethier 1995 an Michel Foucaults Diskurstheorie anknüpfend die Angebotsstrukturen analysierte (S.110), über Hypertext und Hypermedia, die Distributionsmodelle der Plattformen bis zu den bedeutsamen Raummodellen.

Diese begannen mit dem Begriff des „Cyberspace“ aus William Gibsons SF-Roman „Neuromancer (1984), der eine „virtuelle Gegenwelt“ bezeichnete (S.119), die sich in von Avataren bevölkerten Online-Welten wie Second Life und den Kultur- und Spielräumen Sozialer Medien manifestiert.

Navigations- und Orientierungsangebote liefern Suchmaschinen, Spider, Crawler und Robots (Programme, die im Netz Inhalte, Quellen und Links erkennen und indizieren, S.126).

Die Kapitel 8-11 zeigen Angebotsschwerpunkte des Internet wie Information, Dokumentation, Wissen, Unterhaltung (Musikvideos, Comedy, Spiele, Sport, Pornografie), Kultur („Grenzgänge zwischen Fakten, Fiktion, Literatur, Theater, Kunst“) sowie den Angebotsschwerpunkt Werbung, PR, politische Kommunikation, Influencer:innen-Marketing. Dort warnt ein „Gut zu wissen“-Kasten vor Cookies und ihrem uns ausspionierenden Profiling: „Sie durchsuchen Festplatten der Nutzer:innen nach relevanten Daten über Interessen und Konsumverhalten. Auch Posts in sozialen Medien liefern Verhaltensdaten, die an werbetreibende Unternehmen verkauft werden (vgl. Zuboff).“ (S.175)

Kapitel 12 erörtert abschließend die „Nutzungs- und Wirkungspotenziale des Internets“ ausgehend von neuen Potentialen zur Nutzerpartizipation durch individuelle Medienproduktion im Internet. Die virtuelle Identitätskonstruktion im Netz erlaubt veränderliche Selbstkonzepte und als „posthumane Akteur:innen agieren und kommunizieren Bots, Trolle und Influencer:innen-Avatare“ (S.188). Ist das Internet der Öffentlichkeitsraum der digitalen Gesellschaft? Wenn ja, dann kein ungefährlicher: „Gezielte Desinformation etwa in Form von Fake News oder Verschwörungsmythen gilt als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Demokratie… Propagandistische, antidemokratische Bewegungen versuchen in sozialen Medien und Messengerdiensten wie Telegram durch gezielte Fake News (wie etwa kriminelle Aktivitäten von Flüchtlingen) die Demokratiefeindlichkeit der Bevölkerung zu fördern.“ (S.189) Auf der anderen Seite gibt es Ansätze zu E-Democracy und die „Weisheit der Masse“, die sich etwa bei Wikipedia entfaltet und im Sinne einer Informationsgesellschaft „den fast unbegrenzten Zugang ihrer Mitglieder zu Informations- und Wissensbeständen aller Art“ verspricht (S.194). Unter „Probleme der Globalisierung“ zeigt Bleicher die digitale Spaltung, die sozial benachteiligte Menschen, Länder und ganze Kontinente aus der Wissenskultur ausgrenzt; bezüglich der „Konflikt- und Problempotenziale des Internets“ warnt sie vor Wirklichkeitsverlust, Suchtverhalten, Manipulation, Urheberrechtsverletzungen, Datenhandel, Hass- und Onlinekriminalität. Sie beschreibt die politischen Probleme der Regulierung und verweist auf die Macht der digitalen Großunternehmen, Google lehne eine Regulierung etwa ab, neoliberale Politik habe deren Machtzuwachs gefördert: „Deregulierungen ermöglichten u.a. in Großbritannien und den USA die Ausweitung des digitalen Kapitalismus bei gleichzeitig wachsender sozialer Ungleichheit. Ideologien wie der Neoliberalismus erklären diese Ungleichheit durch individuelle anstelle von gesellschaftlicher Verantwortung.“ (S.199) Ökonomismus und eingeschränkte Regulierung zeitige nicht zuletzt auch Onlinekriminalität, was große Herausforderungen an die Medienethik bringe. Denn das Internet erweise sich als Katalysator gesellschaftlicher und kultureller Dynamik in der immer mehr dominierenden Digitalisierung unseres Lebens (S.205).

Diskussion

Joan Kristin Bleicher scheut wie schon in ihrer „Poetik des Internets“ nicht die Hybris, ein in rasanter Entwicklung prosperierendes Medienfeld in seiner Gesamtheit zu analysieren und übergeht auch kritische Themen nicht völlig. Eine breite Quellenrezeption geht zuweilen mit mangelnder Rezeptionstiefe einher, so scheint Bleichers Darstellung von Felix Stalders Theorie einer Kultur der Digitalität unzulässig verkürzend: Stalders Theorie sehe diese Kultur „auf Grundlage einer einheitlichen digitalen Speicherung“ (S.23). Stalder verwahrte sich jedoch in seinem Buch gerade gegen eine Fixierung der Perspektive auf die (digitalen) Technologien und Medien (siehe Rezension von T.Barth). Stalders Prinzip der Referenzialität, ein Kern der Kultur der Digitalität, mit Mashup und Remix als ästhetische Prinzipien, scheint Bleicher so sehr überzeugt zu haben, dass sie es gleich mit zwei „Gut zu wissen“-Textboxen zu „Mashup-Ästhetik“ würdigt (S.94, 104), aber ohne Referenz auf Stalder. Bleicher selbst zeigt Mashup virtuos auf Textebene durch Remix von Textschnipseln aus ihren beiden vorgängigen Internet-Monografien im vorliegenden Band. Der Hinweis etwa auf Donna Haraway „Die Neuerfindung der Natur“ fand sich in der „Poetik des Internets“ (Bleicher 2009) auf S.174 im Kapitel „Wirkungspotentiale“ unter Wissensgesellschaft; in „Internet“ (Bleicher 2010) taucht Haraway bereits im Eingangskapitel „Rahmenbedingungen und Funktionsweisen“ auf (S.10); in „Grundwissen Internet“ 2022 bringt es Haraway sogar auf eine „Gut zu wissen“-Box zu ihrem Cyborg-Manifesto im Kapitel „Theorien, Forschungsschwerpunkte und Methoden“ unter Posthumanismus (S.26) sowie auf eine Erwähnung im Kapitel „Infrastruktur, Lebenswelt und Medium“ unter Medientheorie (S.47). Besser lässt sich die von ihr beschriebene Mashup-Kombination von „Material zu neuen Bedeutungseinheiten“ (S.104) kaum demonstrieren.

Leider bleibt politisch Brisantes an wichtigen Punkten eher weichgezeichnet (vor allem verglichen mit Stalder), das Stichwort „Datenschutz“ fehlt im Register ebenso wie „Privatheit“ und „Propaganda“. Bleichers Darstellung von Wikileaks erweckt sogar den falschen Eindruck, die Plattform wäre 2010 „aufgrund von Regulierungen“ stillgelegt worden (S.79). Damals gab es Angriffe durch Geheimdienste auf Wikileaks, die aber nur zu zeitweise eingeschränkter Aktivität führten (vgl. Rueger 2011). In den Leitmedien wurden allerdings den medial gehypten Irak- und Afghanistan-Leaks folgende Enthüllungen verschwiegen. Auch die mediale Denunzierung von Assange lässt Bleicher aus, obgleich sie nach der Untersuchung von Nils Melzer (2021) als konstruierte Hetzkampagne gelten können: Der diffamierende „Vergewaltigungsverdacht“ gegen Assange erwies sich dem UNO-Experten Melzer nach als Justizintrige. Unscharf blieb auch der Cambrigde Analytica-Skandal: Bleicher erwähnt nicht, dass Donald Trump den Internet-Manipulationen zumindest teilweise seinen Wahlsieg 2016 verdanken dürfte. Auch Bleichers Verweise auf Zuboffs Überwachungskapitalismus sind ausbaufähig, dort liegt das Potential einer völlig neuen Palette von Ordnungsmodellen des Internets, die auf diverse und stetig wachsende Kontrollmöglichkeiten reflektieren.

Fazit

Das systematisch und didaktisch durchdachte Buch stellt zentrale Aspekte der Medialität des Internets umfassend dar. Im Fokus stehen Rahmenbedingungen, historische Entwicklung und Angebotsschwerpunkte, beleuchtet werden theoretische Fragen, Ästhetik, Nutzungs- und Wirkungspotenziale des Internets sowie Regulierungsansätze. Mit seinem einführenden Charakter richtet sich das Buch primär an Studierende der Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaften, aber auch an Interessierte anderer Fachrichtungen.

Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet. Perspektiven der Medien- und Kommunikationswissenschaft, utb, UVK Verlag, München 2022, 230 S., 26,90 Euro. ISBN: 9783825259099

Nils Melzer: Der Fall Assange. Geschichte einer Verfolgung, München 2021.

Gerd Rueger: Julian Assange -Die Zerstörung von Wikileaks, Hamburg 2011.

Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwchungskapitalismus, Frankfurt/NY 2018.

11/21/23

August, Vincent: Technologisches Regieren

Buchkritik von Alexander Leipold

August, Vincent: Technologisches Regieren. Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Foucault, Luhmann und die Kybernetik, 480 S., transcript, Bielefeld 2021.
Der Kauf des Kurznachrichtendienstes Twitter durch den Multimilliardär Elon Musk versetzt nicht nur Branchenbeobachter in Aufruhr. Angesichts der Reichweite Twitters befürchten viele eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Denn Twitter hat Millionen Nutzer, dient der politischen Kommunikation sowie kommerziellen Zwecken. Ein Einschreiten der Politik scheint indes nicht vorstellbar, handelt es sich doch um eine übliche Börsentransaktion. Vincent Augusts 2018 zunächst als Dissertation vorgelegte Abhandlung ermöglicht eine Einordnung dieses Falls mit den Mitteln der Ideengeschichte. Dabei interessiert ihn die Frage, unter welchen Bedingungen das Netzwerk-Denken, das als Form technologischen Regierens vorgestellt wird, souveräne Politik abgelöst hat und welche demokratischen Implikationen dies hat (S. 12).

Sein Fazit: Die Vorstellung politischer Planbarkeit wurde durch Technokratiekritik und Kybernetik nachhaltig diskreditiert. Im Zeitalter des technologischen Regierens haben große Gesellschaftsentwürfe keinen Platz, da sie der gesellschaftlichen Komplexität nicht gerecht würden. Doch berge die Auflösung kollektiver Gewissheiten auch die Gefahr der gesellschaftlichen Regression, wenn das Identifikationsbedürfnis der Vielen nicht anders artikuliert wird als in der elitären Sprache der Selbststeuerung (S. 407). Ausgehend von einer mangelhaften Auseinandersetzung mit der Frage, „wie es kam und was es überhaupt bedeutet, wenn die politischen und politikwissenschaftlichen Akteure ihre westlichen Gesellschaften im Vokabular des Netzwerks beschreiben“ (S. 15) vollzieht der Autor seine Beweisführung anhand von Hermeneutik und Theorienvergleich auf der Basis von Sekundärliteratur.

Foucault und Luhmann: Musterbeispiele technologischen Denkens

Michel Foucault und Niklas Luhmann, die als Musterbeispiele technologischen Denkens vorstellt werden, erörtert August entlang ihrer Originalwerke. Zunächst arbeitet er das Souveränitätsdenken als Leitkategorie politischer Selbstbestimmung nach dem Zweiten Weltkrieg heraus. Diesem Modell ordnet der Autor anschließend zwei Gegenpole unter, die er als Varianten einer „Technologik“ (S. 106) skizziert. Die eine Seite, die unter dem Begriff der Technokratie gefasst wird, stellte wissenschaftlich-technische Vernunft in den Dienst der Politik. Sie kann als Hoffnung einer vernunftbasierten Politik nach der Barbarei des Nationalsozialismus verstanden werden und informierte ausgehend von militärstrategischen Erwägungen die Planungsdiskussionen der Nachkriegszeit.
Ihr Erfolg ist gleichwohl auf das Vorhandensein neuer Rechenkapazitäten im Zuge der Durchsetzung der Computertechnologie zurückzuführen.

Diesem Modell, für das beispielhaft die Planungseuphorie der sozialliberalen Bundesregierung Willy Brandts ab 1969 in Westdeutschland angeführt werden kann, stellt August die Kybernetik gegenüber. Diese weist den Steuerungsanspruch der Politik zurück und stellt der Idee eines homogenen politischen Steuerungsobjekts die Vielgestaltigkeit der Welt und deren Interdependenz entgegen. War die Kybernetik zu Beginn nur eine – durchaus technisch informierte – Variante der Realitätsdeutung, gelang ihr Siegeszug, als sie mit der anhaltenden Wirtschaftskrise der 1970er Jahre eine breite gesellschaftliche Rezeption erfuhr. Dafür war zunächst jedoch eine Diskreditierung der keynesianischen Wirtschaftstheorie notwendig, für die wiederum Vertreter des Neoliberalismus die passenden Argumente an die Hand gaben.
Nachdem August diese Rahmenbedingungen rekonstruiert hat, widmet er sich zwei maßgeblichen Sozialtheoretikern, die er als Beispiele des neuen technologischen Regierungsdenkens ausweisen will, welches ab Ende der 1970er Jahre – zumindest in den westlichen Industriegesellschaften – an Deutungshoheit gewann.
Während Foucaults Mikroanalyse der Macht gesellschaftliche Herrschaftsbeziehungen auf die Individuen verlagerte, verwarf Luhmann angesichts steigender Systemkomplexität die Gemeinwohlorientierung der Politik als Funktionsfehler. Und obwohl weder Foucault noch Luhmann als Proponenten des Sozialabbaus verstanden werden konnten, leistete ihre Rezeption der Kybernetik dem Autor zufolge genau jener Debatte ungewollt Vorschub.


Diskussion und Fazit

August hat eine spannend zu lesende, geistreiche Studie vorgelegt, die durch die Synthese nebeneinanderliegender Diskursstränge besticht. Die zeitgeschichtliche Forschung wird damit um eine ideengeschichtliche Perspektive erweitert. An manchen Stellen neigt der Autor dazu, seinen Gegenstand zu reifizieren. So, wenn er „wegen der Diversität moderner Gesellschaft“ (S. 407) diese nicht mehr nur als kybernetische Metapher verstehen will, sondern als wünschenswerte Realität. Schließlich ist auch die an verschiedenen Stellen im Buch vorgenommene Entgegensetzung von Neoliberalismus und Netzwerk-Denken zu hinterfragen. Denn wenn das moderne Subjekt in kybernetischer Sicht als „vernetzter User von Informationen“ (S. 402) aufgefasst wird, entspricht dies genau Friedrich Hayeks Konzeption des Marktes als überragendem Informationsprozessor, worauf Philip Mirowski und Edward Nik-Khah hingewiesen haben. Möglicherweise legt erst der Plattform-Kapitalismus, für den Elon Musk stellvertretend steht, die Dystopie des technologischen Regierens frei. #

August, Vincent: Technologisches Regieren. Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Foucault, Luhmann und die Kybernetik, 480 S., transcript, Bielefeld 2021. 38,00 Euro (print), PDF im Volltext frei

Rezensent Alexander Leipold, Zentrum für Demokratieforschung, Leuphana Universität Lüneburg, Deutschland, E-Mail: alexander.leipold@leuphana.de

(Angenommen von Neue Polit. Lit.: 1. September 2022 / Online publiziert: 20. September 2022
© Der/die Autor(en) 2022)

Quelle: Neue Polit. Lit. (2022) 67:343–345 https://doi.org/10.1007/s42520-022-00453-8
Funding Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL.
Open Access

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Auf Netzphilosophie wurden der besseren Lesbarkeit halber die Zwischenüberschriften „Foucault und Luhmann: Musterbeispiele technologischen Denkens“, „Diskussion und Fazit“ eingefügt; die Angaben zum Buch wurden um den Preis für das Buch (print) sowie den Link auf einen gratis verfügbaren PDF-Volltext ergänzt.

Das Netzwerk ist ein Grundbegriff des 21. Jahrhunderts geworden – und mit ihm die Diagnose, dass wir in einem neuen Zeitalter leben, in dem es auf Konnektivität, Flexibilität und Selbstorganisation ankommt. In einer groß angelegten Geschichte des Regierungsdenkens zeichnet Vincent August erstmals diese fundamentale Transformation nach. Er zeigt, dass unsere Welt keineswegs nur durch den Neoliberalismus geprägt wird – und dass die Netzwerk-Gesellschaft nicht einfach ein Resultat des Internets oder von Computern ist. Vielmehr griffen Berater:innen und Intellektuelle wie Foucault, Crozier oder Luhmann auf die Kybernetik zurück, um die Ideenwelt der Souveränität abzulösen und unser Regierungsdenken grundlegend zu verändern. Eine Analyse spätmoderner Gesellschaften kommt ohne eine Analyse dieses Netzwerk-Paradigmas nicht aus. (Verlagstext Transcript Verlag)

10/12/23

Ideologiekritik: Neoliberalismus – Reimers „Der absurde Kapitalismus“

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Rezension von Thomas Barth

Kann der Marxismus heute noch zu einer Kritik der Netzgesellschaften beitragen? Jürgen-Michael Reimer meint ja und legt eine philosophisch-politökonomische Analyse der Absurdität unseres digitalisierten Kapitalismus vor. Bei Marx, Adorno und Camus sucht er nach Antworten für unsere Krise und deren Unsichtbarkeit in Medien, Netzen und Denken.

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Immer wieder, so Reimer einleitend, tauche in Gesprächen über die Klimakrise ein absurder Gedanke auf: Wir könnten uns heute in unseren westlichen Gesellschaften zwar das Ende der bewohnbaren Welt vorstellen, nicht aber das Ende des Kapitalismus. Thema des Buchs ist folgerichtig die Absurdität unseres Wirtschaftssystems, insbesondere des heutigen neoliberalen Kapitalismus. Der habe sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertige, er habe ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus habe er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruhe, und in diesem Sinne sei er absurd. Dieser Kritikansatz ziele nicht auf ethische oder moralische Verfehlungen des Neoliberalismus, sondern auf seine Dysfunktionalität.

Prof. em. Jürgen-Michael Reimer, studierte Sozialwissenschaften in Hamburg und Göttingen, lehrte „Human Ressource Management“ an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg und erweist sich im vorliegenden Buch als origineller Vertreter einer marxistischen Politökonomie auf der Höhe der Zeit was Digitalisierung, sogenannte „Soziale Medien“ und Plattformkonzerne wie Apple, Microsoft, Facebook, Google oder Amazon angeht.

Besagte Verheißungen, mit denen sich der neoliberale Kapitalismus rechtfertigt, erweisen sich Reimers Analyse als pure PR: Wohlstand für alle und Gerechtigkeit werden in absurder Weise konterkariert, Bildungs- und Gesundheitswesen ausgehungert, Natur und Klima verwüstet und selbst mit dem“ liberalen Markenkern“ der Freiheit ist es nicht weit her. Im Gegenteil, neoliberale Regime bedienen sich ausgiebig modernster digitalisierter Massenmanipulation: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen“ (S.93).

Es etabliere sich eine neoliberale „Marketinggesellschaft“, die auf großflächige Manipulation des Bewusstseins setze und uns mit kulturellen und affektiven Gütern abspeise. Digitale Plattformen stellen dabei etwa über Influencerinnen Märkte der Eitelkeiten und des Sozialprestige bereit, wo mit Selfies und Partnerbörsen um Aufmerksamkeit gebuhlt würde und Luxusgüter immer größeren Raum einnehmen. „So treffen zwei unvereinbare Imperative -Lohnverzicht und unbegrenzter Konsum- im Individuum aufeinander. Das große Paradox!“ (S.102) Ergebnis sei sich ausbreitende Entfremdung, die zunächst klassisch marxistisch erläutert und dann auf den Neoliberalismus bezogen wird: „Auch das Absurde lässt sich als Entfremdung deuten“ (S.108) Die „Auswüchse des auf Algorithmisierung beruhenden digitalen Kapitalismus“ sieht Reimer schon bei Horkheimer/Adorno und ihrer „Dialektik der Aufklärung“ vorausgeahnt.

Der neoliberale Kapitalismus hat sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertigt, er hat ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus hat er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruht. In diesem Sinne ist er absurd. Die in dem Essay entfaltete Kritik am Neoliberalismus ist funktionalistisch und macht diesen als interessengeleitete Ideologie kenntlich.“ (Klappentext, PapyRossa Verlag)

Die Entwicklung des Geistes des Kapitalismus in der vorindustriellen Zeit wird vom Reimer beginnend bei Aristoteles bis zu Marx, Weber und Sombart nachgezeichnet. Letzterer sah den Luxus als Bedingung der Entstehung des kapitalistischen Geistes, wobei mit Weber (protestantische) Askese als weitere Wurzel dazu gedacht werden muss. Die Vorgeschichte des Neoliberalismus wird in marxistischer Begrifflichkeit analysiert und als ihre Folge die Pervertierung heutiger Lebenswelt herausgearbeitet:

„Als seine zentralen Merkmale werden sowohl die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation als auch deren Ausuferung zu einer ‚gesellschaftlichen Grammatik‘ herausgestellt, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränkt.“ (Klappentext)

Neoliberalismus, Staatsverachtung und machtbesoffene Konzerne

Seit den 1970er und -80er Jahren trat der neoliberale Kapitalismus seinen Siegeszug an, da mit Überproduktion und Legitimationsverlusten Krisenerscheinungen zu überwinden waren. Diese wurden der Akkumulationslogik im Sinne des Nutzens einer kleinen Minderheit von Kapitaleignern immer gefährlicher. Bereits in der Ideologie des Kapitalismus verschleierte der Liberalismus die ökonomischen Kerninteressen dieser Minderheit mit dem hehren Wert der Freiheit. Die liberalen Wurzeln des Neoliberalismus zielen auf Marktfreiheit, die eine Reduktion staatlicher Macht ins Zentrum rückt. Milton Friedman habe vertreten, dass Freiheit da beginne, wo die Politik aufhöre. Hannah Arendt habe dem entschieden widersprochen, Freiheit sei der Sinn von Politik, den der neoliberal erstrebte „Minimalstaat“ (Hayek, Nozik) schwerlich einlösen könne.

Die Haupttugenden einer freiheitlichen Gesellschaft seien nach John Rawls, so Reimer, Wahrheit und Gerechtigkeit, wobei jeder gleiche Grundfreiheiten habe und wirtschaftliche Ungleichheit so zu gestalten sei, dass sie dem Gemeinwohl diene. Dem stehen die Doktrinen des Neoliberalismus entgegen, die ausgehend von der Mont Pèlerin Society (Hayek, Popper, Friedman u.a. 1947), 1973 in der Pinochet-Diktatur in Chile erstmals umgesetzt wurden. In USA und UK folgten Thatcher und Reagan diesem Beispiel und 1989 wurden im Washington Consensus die neoliberalen Leilinien festgelegt, an denen sich auch IWF, WTO und Weltbank orientiert hatten: Reduktion der Staatsquote, Steuersenkung, Privatisierung von Staatsbetrieben, Deregulierung vor allem der Finanzmärkte, Investorenschutz. Diese Doktrinen finden sich in Austeritätsprogrammen im Euroraum unter Stichworten wie Fiskalpakt, Schuldenbremse, Privatisierung. Neoliberaler Marktradikalismus und Antikollektivismus (wurzelnd in der antikommunistischen McCarthy-Bewegung der USA) laufen damit auf eine Schwächung des Staates hinaus, deren Hauptmethode die Privatisierung sei. Zu ihrer Rechtfertigung diene die Krise der Staatsfinanzen, deren Ursache nicht in neoliberalen Steuersenkungen gesehen, sondern als „Demokratieversagen“ umgedeutet werde.

Die unermüdliche Lobbyarbeit des neoliberalen Kapitals ziele hierzulande vor allem auf die Privatisierung von Post, Verkehr, Bildung, Gesundheit, Wohnen und Daseinsvorsorge. Der Ausverkauf des Staates erfolge auch durch ppp (public privat partnership -eine Erfindung der bereits vor der Jahrtausendwende zunehmend neoliberal agierenden Grünen in ihrer ersten Regierungsbeteiligung unter Schröder. Manipuliert werde durch subtiles deep lobbying, etwa mit der Platzierung von Leihbeamten aus Privatunternehmen in Ministerien (hier waren ebendiese Grünen ebenfalls federführend und schufen Querverbindungen von Großkapital und Ökopartei-Spitzenpolitiker:innen), staatlicher Beauftragung privater Berater, Formulierung von Gesetzen durch Anwaltskanzleien usw.

Die neoliberale Finanzialisierung der Märkte hätte etwa in Finanz- und Griechenlandkrise (2008 ff.) großes Unheil bewirkt, neoliberale Digitalisierung hätte unsere Daten in kognitive Güter verwandelt, Überwachung dabei die Freiheitsrechte ausgehöhlt (Zuboff) und Leitunternehmen wie Google, Apple, Facebook, Amazon wären inzwischen zu proprietären Märkten (in Privatbesitz) geworden. Der neoliberal regierte Staat habe die Besitzenden und Unternehmen „gepampert“, durch „mehrfache und deutliche Reduzierung des Spitzensteuersatzes der Einkommenssteuer. Die hätten sich durch immer weitergehende Steuervermeidung selbst der niedrigen Steuern bedankt, bis hin zu den „extremen Cum-Ex-Skandalen“, wo kriminelle Bereicherung die Staatskasse 10 bis 30 Milliarden Euro gekostet habe (S.80). Was den Autor zur Frage führt, wie lange wir uns den Kapitalismus noch leisten können.

Die Legitimierung und Einhegung wirtschaftlicher Macht durch demokratischer Prozesse sei im Neoliberalismus nicht erwünscht (der Leser wird an die erste Anwendung neoliberaler Dogmen in der Pinochet-Diktatur erinnert). Sogar die Märkte selbst gerieten bei digitalen Plattformkonzernen in das Eigentum des Kapitals. Folge sei eine Entmachtung der Arbeitnehmerseite im Wirtschaftsprozess, eine Senkung der Lohnquote im BIP und die Demokratisierung betrieblicher Entscheidungen „steht nicht einmal zur Diskussion“ (S.94).

Der Industriekapitalismus brachte bedeutende Treiber der Produktivitätssteigerung wie Arbeitsteilung, Massenproduktion und technische Innovationen, aber auch eine industrielle Reservearmee von Arbeitslosen. Deren Verdammung zur „unfreiwilligen Askese“ der Elendsviertel diene zur Disziplinierung der Arbeiterschaft. Diese Drohkulisse zeige sich bis heute im Neoliberalismus, etwa in der Programmatik des „Forderns und Förderns“ bei Hartz IV, die Verwerfungen des Arbeitsmarktes der Eigenverantwortung des undisziplinierten Subjekts zuschreibe. Global komme in einer Privatisierung der Macht (vgl. Krysmanski) es zugleich zum Übergang einer geopolitischen zu einer geoökonomischen Ordnung, deren neoliberales Finanzregime von OECD, IWF, WTO und Weltbank unter dem Schlagwort einer „global governance“ den Charakter einer „vierten, monetativen Gewalt“ annehme (S.47). Angesichts globaler Macht ist die Demokratie in Gefahr (vgl. Barth) und auch durch bis in die intimsten Bereiche der Lebenswelt vordringende digitale Technologien sind die Menschen heute einer absurden gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesetzt, deren Lebensperspektive sich für die Mehrheit auf ein zunehmend prekäreres muddling through beschränke (S.99). Absurd in einer Gesellschaft die unsagbaren Reichtum produziert, sich selbst für rational hält und Freiheit und Individuum zu ihren höchsten Zielen erklärt.

Soziale Medien, Propaganda, Konformismus

Eine vom Liberalismus proklamierte Freiheit werde für die meisten Menschen zur zynischen Illusion, die sich nur die oberen 20 Prozent in der steiler werdenden Einkommenspyramide noch wirklich finanzieren können. Menschliches Leben würde vielmehr zwischen wachsender Unfreiheit im digitalisierten Arbeitsleben, Konsumismus und unfreiwilliger Askese des Prekariats zerrieben. Der neoliberal gepriesene Wettbewerb bringe am Ende auf dem Markt nur wenige Sieger hervor: The winner takes all. Ein absurder Effekt, weil der Wettbewerb so seine eigenen Voraussetzungen zerstört. Besonders absurd sei der Glaube, der Markt könne die Gesellschaft mit heute öffentlichen Gütern versorgen. Der Markt habe keine Lösungen in den Krisen der Umwelt, der Pandemie, der Energieversorgung oder des Ukrainekrieges erbracht. (S.75) Bei Privatisierungen sei die Effizienzsteigerung nicht eingelöst worden, Leistungen wurden teurer, die Versorgung schlechter und in der öffentlichen Infrastruktur sei hierzulande ein Investitionsstau von 450 Milliarden Euro zu verzeichnen. Der neoliberale „Schlanke Staat“ sei in Wahrheit ein Ausverkauf des Staates zu Ramschpreisen gewesen. Staatliche Behörden sind zwar für Umweltschutz, Bildung, Gesundheitswesen zuständig, aber der Medien, Parteien und Öffentlichkeit dominierende Neoliberalismus untergrabe mit seiner Forderung nach dem Rückzug des Staates seine eigenen Grundlagen.

Ein absurder Trick des Neoliberalismus sei seine Selbstdarstellung als Verteidiger der Freiheit bezüglich tatsächlicher Machtausübung: „Neoliberale Argumentationen schweigen in der Regel die Macht des Kapitals tot, eine für Ideologien typische Form selektiver Wahrnehmung. Neoliberale Manager bzw. Kapitaleigner bestreiten häufig, Macht auszuüben. Sie geben vor, mit ihren Entscheidungen der invisible hand des Marktes zu folgen.“ (S.91)

Unseren Gehorsam sichern sich neoliberale Regime auch durch (zunehmend digitalisierte) Erziehung und Propaganda vor allem durch Mobilisierung von Voreingenommenheit: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen.“ (S.93)

Camus, das Absurde und die liberale „Freiheit“

„Die Vorstellungen zur Absurdität sind dem literarischen und philosophischen Werk von Albert Camus entlehnt. Bei ihm führt das Absurde, die Begegnung des sinnsuchenden Menschen mit einer sinnlosen Welt, nicht in eine hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr bietet das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“ (Klappentext)

Die manipulative Macht der neoliberale Ideologen veranlasst auch jene Menschen, die im Neoliberalismus benachteiligt werden, zu einer unbewussten und freiwilligen Unterwerfung. Die Entfremdung der Menschen wachse im digitalen Kapitalismus, den der Neoliberalismus entlang der Dogmen des Washington Consensus durchsetze. Im so durch wachsende Entfremdung immer absurderen Dasein der Menschen kann der Neoliberalismus die von ihm aufgerissene Lücke der Sinngebung nicht füllen. Mit dem existenzialistischen Philosophen und Schriftsteller Albert Camus könne man sich nur durch Bewusstmachung des Absurden auf Freiheit, Leidenschaft und Auflehnung besinnen, um die absurden Auswüchse des Neoliberalismus in demokratischen Prozessen zu thematisieren und einzuhegen.

Dies führe nach Camus jedoch nicht, so Reimer, in hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr biete das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Reimer will der Auflehnung ein Ziel geben und macht deshalb den Neoliberalismus als interessengeleitete Ideologie kenntlich. Deren zentralen Merkmale wären die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation sowie deren Ausuferung zu einer „gesellschaftlichen Grammatik“, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränken würde.

Eine Abkehr vom absurden Neoliberalismus wäre nur durch ergebnisoffene demokratische Diskurse möglich: „Dieser Diskurs darf aber nicht den Meinungsmachern im Dienst des Kapitals überlassen bleiben. Auf dem Weg dahin dürften sich Versuche lohnen, die absurden Auswüchse des Neoliberalismus zu thematisieren und einzuhegen.“ (Schlusssätze S.119)

Reimer ist nicht der erste Altmarxist, der auch beim französischen Existenzialismus nach Antworten suchte. Bereits Wolfgang Fritz Haug befasste sich in seiner Doktorarbeit „Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden“ (1965) mit existenzialistischer Gesellschaftskritik, deren Kreisen um das Absurde er ebenfalls in der Entfremdung und Vereinzelung begründet fand. Seine Kritik am Kult leerer Freiheit bei Sartre, aber insbesondere bei Camus war, dass dieser sich, in elitärer Ferne zur Gesellschaft, eher darin gefiel, „das Absurde“ auszuhalten, als aktiv gegen die kapitalistische Entfremdung vorzugehen. Haug zitiert Hannah Arendt, die Camus Fatalismus und Schicksalsergebenheit zuschrieb (Haug 1991, S.40f., S.190f.), eine Einschätzung, die selbst konservative Philosophiehistoriker bis heute teilen (vgl. etwa Steenblock 2002, S.326f.). Reimers funktionalistische Kritik an Neoliberalismus und digitalem Kapitalismus wird dadurch jedoch nicht geschmälert. (Thomas Barth)

Quellen:

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Barth, Thomas: Controlling statt Demokratie? In: ders. Hg.: Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S.101-111.

Haug, Wolfgang Fritz: Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden, 3.Aufl., Argument-Verlag, Hamburg 1991 (Or.1966).
Krysmanski, Hans Jürgen: Die Privatisierung der Macht, in: Altvater, Elmar u.a.: Privatisierung und Korruption: Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S.25-37.
Steenblock, Volker: Kleine Philosophiegeschichte, Stuttgart 2002.

08/30/23
Total vernetzt - Nur wer sich anschließt wird nicht ausgeschlossen.

Rezension: Braches-Chyrek u.a. (Hg.): Handbuch Kindheit, Technik & das Digitale

Thomas Barth
Was bedeuten die rasanten medialen und digitalen Transformationen für das Leben von Kindern? Diese Frage wurde „in der deutschsprachigen Kindheitsforschung bislang wenig untersucht“ (Klappentext). Das Handbuch thematisiert zentrale Zusammenhänge und interdisziplinäre Diskurse über Gesellschaft, Technik und Kindheit mit dem Ziel, emanzipatorische Bildungs- und Lernprozesse zu fördern.
Die Herausgeber*innen kommen aus den Bereichen Pädagogik, Sozialpädagogik und Soziologie, ebenso die meisten der insgesamt 26 Beiträger*innen unter denen acht aus Digitalisierungs- oder Medienwissenschaften stammen. Charlotte Röhner und Heinz Sünker, beide emiritiert, sind Nestor*innen der deutschen Kindheitsforschung, Sünker ist zudem Adorno-Experte und sein Blick auf das Digitale geprägt von der Kritischen Theorie der freudomarxistischen Frankfurter Schule. Überwiegend aus dieser kritischen Perspektive diskutiert der erste von vier Teilen des Bandes „Technik und Gesellschaft“, also die sozialen, kulturellen, pädagogischen und politischen Folgen der Digitalisierung. „Welche neuen Zugriffsmöglichkeiten auf kindliche Subjektivität ergeben sich aus der Techniknutzung und welche Widerstandspotentiale (Adorno, Erziehung zur Mündigkeit)? Welche veränderten Konzeptualisierungsansätze von Kindheitspolitik ergeben sich?“ (Verlagstext).
Soziale Aufgaben wie Wert schätzen, Bindung schaffen, Trennung verarbeiten, Grenzen setzen, Identität und Autonomie gewinnen, sie alle unterliegen durch allgegenwärtige Digitalmedien neuen Risiken, etwa prekärer Datensicherheit, leicht zugänglichen jugendgefährdenden Inhalten oder Cybermobbing. Doch das Handbuch thematisiert auch neue Chancen der Digitalmedien. Im zweiten Teil „Digitalisierung und Mediatisierung von Kindheit“ wird die Sozialisation und Kinder als Akteur*innen thematisiert. Der dritte Teil „Digitales Konstruieren, Spielen und Handeln“ legt den Fokus auf die früher meist negativ bewerteten Computer-, Video- und heute auch Online-Spiele, sucht nach kreativen Potentialen, warnt aber auch, etwa vor unreflektiertem Konsum gewalthaltiger Spiele. Der letzte Teil „Digitalisierung und digitale Bildung in Institutionen“ nimmt Probleme und Lösungsansätze in Kitas und Schulen des Elementar- und Primarbereichs in den Blick.
Technologie, Adoption und Pflegefamilien
Prof. Rita Braches-Chyrek war 2010 Mitherausgeberin des Bandes „Kindheit in Pflegefamilien“, doch dieser Aspekt der Kindheitsforschung klingt im vorliegenden Handbuch nur in zwei Beiträgen an: 1. Die Afrikanistin Konstanze N‘Guessan streift mit „Verwandtschaft und Kindheit im Zeitalter assistierter Reproduktion – Einblicke in die ethnographische Erforschung des doing family“ das Thema Adoption und Islam. 2. Der Beitrag „Beobachtung der Beobachteten: Technologie, Schutz und Fürsorge an einem Tag im Leben von Jasmine“ von Rachel Thomson und Ester McGeeney, berichtet aus einer „alternativen Erziehungseinrichtung für Jugendliche, die keinen Zugang zur Regelschule haben“; sie beobachten dort den Medienalltag der fünfzehnjährigen Mutter Jasmine, die in einer Pflegefamilie untergebracht ist (s.u.2.).
1. Verwandtschaft, Kindheit und Technologie
Der Beitrag von N‘Guessan ist der einzige des Bandes, der nicht von digitalen Medien handelt -dafür aber biotechnologische Bezüge zum Transhumanismus aufweist, indem dessen Biologismus auf den Boden der sozialen, kulturellen und psychologischen Tatsachen zurückgeholt wird. Im Fokus stehen medizinische Technologien der assistierten Reproduktion und die kulturelle Herstellung von Verwandtschaft und Familie in verschiedenen Kulturen. Ihre Ausgangsfragen sind: „Was ist Familie und wer gehört dazu? Welche Dimensionen hat Eltern-Sein und wie wird Abstammung kulturell konzeptualisiert?“ Solche Fragen stellt die Ethnologie der „New Kinship Studies“, die seit den 1980er-Jahren die Verwandtschaftsforschung „von der Biologie befreit, die durch euroamerikanische Prägung entstanden sei.“
Verwandtschaft wird und wurde immer kulturell gemacht -und dieser Entstehungsprozess oft mit Biologismen wie „Blut ist dicker als Wasser“ verborgen, was oft schon den Status von Adoptivkindern kompliziert habe. Neue Reproduktionstechniken (NRT) lassen die biologische Simplifizierung heute vielerorts ins Schwimmen geraten. Denn es sind dabei nicht nur zwei, sondern bis zu fünf Personen im engeren Kreis einer konstruierbaren Elternschaft vorhanden: Mutter, Vater, Eispenderin, Samenspender und Leihmutter. Dazu kämen im weiteren Umfeld noch diverse Medizintechniker*innen, die etwa mit ihren Händen unter dem Mikroskop die Eizelle besamen. „NRT und Adoption konstituieren einen Möglichkeitsraum, auf den sich unterschiedlichste Akteur*innen in ihren Überlegungen und Praxen beziehen. Durch die Linse der NRT lässt sich Verwandtschaft als Ergebnis von Handlungen verstehen.“
Konstanze N‘Guessan erläutert an diversen afrikanischen und islamischen Kulturen Praktiken des Verwandt-Machens -und ist mit dieser interkulturellen Perspektive in diesem Handbuch einmalig. Wir erfahren von einem „Unfruchtbarkeitsgürtel“ in Zentral- und Südafrika, wo NRT trotz der hohen Kosten stark gefragt sind und auf andere als die euroamerikanischen Verwandtschafts-Praktiken treffen. In matrinlinearen Gesellschaften, etwa den Macao in Mozambik, können Vaterpflichten und -privilegien auf den Mutterbruder übergehen; in anderen Kulturen gibt es die „Geist- oder Frauenheirat“, wo Vater- bzw. Schwangerschaft durch Zahlung eines Brautpreises auf einen Ahnen oder eine Frau übertragen werden.
In islamischen Kulturen ist entscheidend, ob diese schiitisch oder sunnitisch sind: Bei Sunniten kann schon die Adoption verboten sein, im weniger restriktiven Schiismus bleiben Adoptivkinder zumindest von der patrilinearen Erbfolge ausgeschlossen; seit einer permissiven Fatwa von Ayatolla Khomeini sind in Iran und Libanon NRT-Kinder erlaubt und Adoptierten gleichgestellt. „Die Frage, wie ‚fremde‘ Kinder durch soziale Praktiken und diskursive Rahmungen der Familie zugehörig gemacht werden stellt sich nicht nur bei NRT-Kindern, sondern immer“, so N‘Guessan, denn Verwandtschaft sei eine „biologisch wie sozial unterdeterminierte, gestaltungsoffene wie gestaltungsnotwendige soziale Ordnung“. Damit stellt sie sich dem reaktionär-neoliberalen Mythos von der biologistisch verabsolutierten bourgeoisen Familie ebenso entgegen, wie dies mit breiterer Perspektive der afrikanische Ökonom und Kulturwissenschaftler Felwine Sarr in seinem Manifest Afrotopia tat.
2.Technologie, Schutz und Fürsorge
Thomson und McGeeney stehen mit ihrem britischen „Kinderalltagsprojekt“ in der Tradition materialistisch-feministischer Methodologie, die ihre Forschungstätigkeit eingehend selbstkritisch reflektiert und nach Möglichkeiten „nachhaltigerer Sorge-Relationalitäten“ sucht:
„Die digitalen Medien haben ganz eigene Möglichkeiten geschaffen, die auch neue Arten von erzieherischer Führung erfordern und neue Gebiet ethischer Untersuchungen eröffnen. (…) Junge Menschen in staatlicher Obhut wurden als eine besondere Risikogruppe identifiziert, einschließlich des Risikos in Bezug auf digitale Kulturen… besonders in den Bereichen Adoption und Pflegefamilien kämpfen Sozialarbeiter*innen darum, die Kinder vor der Aufnahme oder der Fortsetzung von Kontakten mit ihren leiblichen Eltern zu bewahren, wenn diese gerichtlich eingeschränkt worden war.“
Digitale Medien, besonders das allgegenwärtige Smartphone, erschweren diese Aufgabe, denn Kinder und Jugendliche verstehen es, sich der Kontrolle zu entziehen. Im Fall der einen Tag wissenschaftlich beobachteten Jasmine wird klar, dass auch sie und ihre Mitschüler*innen die ihnen auferlegten Regeln für den Mediengebrauch zu unterlaufen wissen: „Die ‚Ein-Tag-im-Leben-Methode‘ hat uns diese Art der dichten, affektiven Geometrien einfangen lassen.“ Die Forscher*innen erfahren, wie vermutlich Instagram und Snapchat von minderjährigen Müttern verwendet werden, um Babyfotos zu posten -schon deren Aufnahme wird von der Einrichtung eigentlich untersagt.
Die Konfliktsituation wird von Thomson und McGeeney aus beiden Perspektiven reflektiert: Die Schutzbefohlenen müssen einerseits „beobachtet, überwacht, geschützt und zensiert werden“, andererseits gibt es auch eine „Kinderöffentlichkeit“ mit „den Imperativen: gesehen werden, sichtbar sein, teilhaben in/an einer digitalen Kultur“. Die Autor*innen stellen fest, dass in dieser neuen Kultur „neue Arten der Subjektivität“ entstehen. „Im Kontext einer Aufmerksamkeitsökonomie können wir das Bedürfnis junger Menschen, gekannt und gesehen zu werden, nicht einfach ignorieren“. Jugendliche Medienpraxis unreflektiert „unterdrücken“ zu wollen, halten die beiden Forscher*innen „für irregehend“.
Der emanzipative Ansatz ist bei Thomson und McGeeney deutlich, doch bei der Reflexion des „Neuen“ an der „neuen Subjektivität“ ist noch Luft nach oben. Denken wir an eine 1950er-Jahre-Werbung für Dosen-Ananas: „Toast Hawaii! Da werden Ihre Nachbarn staunen!“ Foodporn auf Instagram posten ist vielleicht nur überkommene Subjektivierung in digitalisierter Werbeästhetik, die kunstvolle Beleuchtung und Belichtung von damals wird heute durch einen das Foto farblich aufpeppenden digitalen „Filter“ ersetzt.
Fazit
Die emanzipatorische Haltung ist löblich, doch leider gelingt der Transfer der Medienkritik von Adorno ff. auf die Digitalisierung durch die Bank nur ungenügend. Die zweifelhafte Referenz von Heidegger als Paten der Technikkritik überzeugt ebenso wenig wie der gelegentliche, hilflos wirkende Verweis auf neueste Ansätze wie Shoshana Zuboffs „Überwachungskapitalismus“. Dabei wäre bei Kenntnis der kritischen Diskurse zu Computer- und Internetkultur gar nicht nötig, das Rad neu zu erfinden: Der Adorno-Experte Mark Poster etwa kombiniert seit 30 Jahren Freudomarxismus mit postmodernen Ansätzen, etwa den Heidegger implizit weiterführenden Theorien von Michel Foucault, bei seiner Digitalmedienkritik.
Den meisten Beiträgen scheinen auch tiefer gehende Kenntnisse der technologischen und politischen Hintergründe der Digitalisierung zu fehlen, mit den beiden Ausnahmen des Professors für Digital Humanities (Sussex) David M. Berry und des Diplom-Informatikers Marius Melzer, der beim Chaos Computer Club ein Schülerprojekt betreibt. Bei Melzer bleibt die Warnung vor Manipulation im Internet nicht vage, sondern er führt konkret die wohl dramatischste Auseinandersetzung auf diesem Gebiet an:
„Das Beispiel Julian Assange zeigt dies deutlich: Die nach heutigem Wissensstand fingierten Vergewaltigungsvorwürfe (Melzer 2020) führten dazu, dass die vorhergegangene Wikileaks-Veröffentlichung „Collateral Murder“, die zeigte wie US-Soldaten im Irakkrieg lachend aus einem Hubschrauber auf Zivilisten und Journalisten feuerten, in Vergessenheit geriet.“ (S.114)
Die mit nur einem Satz allzu sparsame Erwähnung dieser digitalen Medienschlacht um die (nicht nur Medien-) Geschichte schreibende Enthüllungsplattform Wikileaks brachte einen gravierenden Fehler: In der Literaturliste wurde beim Quellennachweis der Vorname von N.Melzer offenbar zu M.Melzer fehlkorrigiert. Man nahm wohl ein Selbstzitat von Marius Melzer an und kannte nicht den wirklich zitierten weltberühmten Autor Nils Melzer, den UNO-Folterbeauftragten und Schweizer Professor für Völkerrecht. Nils Melzer hatte die gegenwärtige Folter des Wikileaks-Gründers Julian Assange angeprangert, den er als Opfer einer perfiden Intrige sieht. Er hatte in schockierenden Artikeln und seinem Buch „Der Fall Assange“ detailliert enthüllt, wie mutmaßlich Geheimdienste die Regierungen der USA und Großbritanniens sowie die schwedische Justiz den politisch verfolgten Assange als Vergewaltiger abgestempelt hatten. Diese Fakten wurden in westlichen Medien jedoch weitgehend vertuscht, was den Irrtum von Verlag, Lektoren und Korrekturat begründen dürfte. Somit wird dieses Handbuch selbst zu einem Beispiel gelungener Medienmanipulation im Digitalzeitalter.

Rita Braches-Chyrek, Jo Moran-Ellis, Charlotte Röhner, Heinz Sünker (Hrsg.): Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2021. 422 S., 69,90 Euro.