07/1/25

Caitlin Johnstone: Kleines Erste-Hilfe-Büchlein gegen Propaganda

Buchkritik von Thomas Barth

Anhand messerscharfer Beobachtungen fragt Caitlin Johnstone, ob unsere Demokratien wirklich auf den Willen des Volkes ausgerichtet sind, ob die wichtigen Entscheidungen nur noch von Lobbyisten bestimmt werden, ob wir von klein auf so manipuliert werden, dass es immer schwieriger wird sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie fordert uns auf, unsere Fähigkeit zum selbstständigen Denken zurückzugewinnen. Das kann nicht verkehrt sein und ihr kleines Erste-Hilfe-Büchlein ist i.d.S. eine gute Lektüre für alle, die medienkritisch sein wollen -oder es sein sollten.

Warnungen vor Manipulation durch Medien gibt es seit einigen Jahren in wachsender Zahl. Meist beziehen sie sich jedoch auf Netzmedien oder Presseagenturen ausländischer Mächte, die von westlichen Regierungen als „Autokratien“ von den eigenen „liberalen Demokratien“ abgegrenzt werden, besonders Russland und China. Deren Trolle lauern im Internet angeblich überall und würden von „Verschwörungsideologen“ in ihren Echokammern unterstützt. Unsere Leitmedien würden der Propaganda durch ihre neutrale, objektive und ausgewogene Haltung entgegentreten. Unsere Leitmedien wären auch von kritischer Wachsamkeit auch gegenüber den Mächtigen im eigenen Land geprägt und würden uns mit qualitativ hochwertigen Nachrichten und Informationen versorgen. Dieses Narrativ unserer Leitmedien findet jedoch seine Kritiker.

Etwa der Kieler Kognitionspsychologe Prof. Dr. em. Rainer Mausfeld hat sich hierzulande in vielbeachteten Büchern und Vorträgen gegen eine zunehmende Manipulation der Menschen durch die Medien gewandt -natürlich ohne nennenswerte Resonanz in diesen Medien zu finden. Mausfeld beginnt sein Vorwort für Johnstones Buch mit dem Hinweis, Propaganda sei vielleicht das bedeutendste Thema unserer Zeit: Wenn „der gesamte Denkraum manipulativ verzerrt“ (Mausfelds Fachgebiet) würde, könnten auch geeignete Lösungen für politische Probleme „im Wortsinn undenkbar“ werden. Mausfeld empfiehlt deutschen Medienkonsumenten „diesen klugen und scharfsinnigen Text“ von Johnstone gründlich zu lesen und künftig unsere Leitmedien nur noch „mit verstärkter Wachsamkeit“ zu konsumieren.

Dem Vorwort von Rainer Mausfeld folgen 21 Kapitel, die in nicht chronologischer Reihenfolge jeweils Blogeinträge der Autorin, die zwischen dem 6. April 2023 und dem 27. Juni 2023 publiziert wurden, in deutscher Übersetzung wiedergeben; es folgen die nach Kapiteln sortierten Anmerkungen, die meist Internetquellen wiedergeben, etwa den Guardian, die Washington Post, Wikipedia, oft andere Artikel auf dem Blog von Johnstone selbst: https://caitlinjohnstone.com/; alle Quellen werden auf der Website des Westdeutschen Verlags wiedergegeben, sodass man sie nicht selbst eintippen muss.

Kapitel 1. „Westliche Nachrichtenmedien existieren, um Propaganda zu verbreiten“ konfrontiert bislang unkritische Medienkonsumenten mit der schockierenden, aber im Buch ausgiebig dokumentierten Tatsache, dass nicht nur Gegner der westlichen Regierungen Medienmanipulation betreiben, sondern auch Machthaber im Westen selbst: Staatsmedien wären auch im Westen weniger unabhängig als behauptet, Privatmedien würden von kapitalistischen Medienbaronen und anderen Superreichen beherrscht, die selbst zu diesen Machthabern gehören. Erstes Beispiel ist die Empörung westlicher Medien über Elon Musk, der das Netzmedium „Bellingcat“ beschuldigt habe, „Psyops“ (Geheimdienst-Jargon für psychologische Propaganda-Operationen) zu betreiben; umgekehrt wäre es, so Johnstone, aber als „Informationswäsche“ zu verurteilen, dass Westmedien beim Verbreiten der Meldungen von Bellingcat notorisch verschweigen, dass Bellingcat von westlichen Regierungen bezahlt würde. Diesen Interessenkonflikt nicht offenzulegen, gehöre in den Bereich der Kriegspropaganda (S. 10). Johnstone sympathisiert über die Bewertung von Bellingcat hinaus nicht mit Musk und kennzeichnet ihn später als „Vertreter des Status quo des globalen Kapitalismus“ S. 89).

Westmedien spielten, so Johnstone, in letzter Zeit ihre Rolle als Propagandisten des US-Imperiums immer offener (was wohl dem Kontext entsprechend nicht im Sinne von „transparenter“, sondern von „unverschämter“ verstanden werden muss). Beispiel ist auch die Aussage eines CNN-Reporters, er habe nicht darüber berichten dürfen, dass Russland ein ukrainisches Waffendepot angegriffen habe, denn solche Information würde Russland helfen, seine Angriffe zu optimieren. Dies mache CNN zum parteiischen Propagandisten. Die immens einflussreiche, aber kaum bekannte Denkfabrik CFR (Council on Foreign Relations) sei maßgeblich mit Rüstungslobbyisten besetzt, etwa von Lockheed Martin, Carlyle, Raytheon, die für explodierende Rüstungsausgaben des Westens Propaganda und Lobbyarbeit machen. Unser Informationsumfeld „würde sich erheblich verbessern, wenn sich mehr Menschen dessen bewusst wären“ (S. 13). Caitlin Johnstone macht sich dann noch lustig über Virginia Heffernans Loblied auf Hillary Clinton von 2016, in dem es in „Wired“ hieß: „Vielleicht ist sie mehr als eine Präsidentin. Vielleicht ist sie eine Idee, eine weltgeschichtliche Heldin, das Licht selbst. Die Präsidentschaft ist zu klein für sie.“ (S. 15)

Kapitel 2 „Das verdeckte Imperium der USA“ bezieht sich auf ein Zitat des berühmten Enthüllers der Pentagon-Papers über US-Regierungslügen im Vietnamkrieg, Daniel Ellsberg, der kurz vor seinem Tod vor selbigem „verdeckten Imperium“ der USA gewarnt habe; dieses Imperium bestehe aus einem „Haufen von Nationen, die sich im Einklang mit dem Diktat von Washington“ bewegen würden; Westmedien hätten die Aufgabe, die westlichen Öffentlichkeiten von geopolitischen Operationen des Imperiums abzulenken. Welche Operationen? Die Westmedien hätten etwa Trump nur einmal gelobt (als er Syrien bombardieren ließ) und Biden nur einmal getadelt (als er den Rückzug aus Afghanistan befahl) und: „Vielleicht ist da irgendwo eine Lektion versteckt?“ (S. 17). Die New York Times hätte ukrainischen Nazis vom öffentlichen Tragen ihrer Hakenkreuz- und Wolfsangel-Symbole abgeraten, „nicht weil Nazismus falsch ist, sondern weil es sich um schlechte Kriegspropaganda handelt“ (S. 18).

Kapitel 3 „Australien verschärft seine Zensur- und Propagandakampagne weiter“ erörtert, wie die Propaganda dafür trommelt, Australiens Aufrüstung zu fördern, weil ein Krieg mit China drohe; dafür würden die Medien die australische Bevölkerung manipulieren, mit oder ohne Regierungsbefehle, etwa wenn sie Rüstungslobbyisten als unabhängige Experten für die geopolitische Lage hinstellen; die Schlagzeile solcher „Nicht-Nachrichten“ sollte lauten: „Kriegsmaschinen-finanzierter Kriegstreiber will mehr Krieg“ (S. 27). Kapitel 4 „Das Dümmste, was das Imperium uns glauben machen will“ kommt schnell auf den Punkt: Besagtes Dümmstes sei, „dass die militärische Einkreisung seiner beiden größten geopolitischen Rivalen eine Verteidigungsmaßnahme und kein Akt extremer Aggression ist.“ (S. 28) Das US-Imperium gefährde uns alle in „seinem letzten verzweifelten Versuch, die unipolare planetarische Hegemonie zu sichern“, bevor eine künftige Multipolarität komme (S. 30).

Kapitel 5 „15 Gründe, aus denen Mitarbeiter der Massenmedien wie Propagandisten handeln“ ist mit 25 Seiten das umfangreichste Kapitel und dokumentiert, wie Medienzensur im Kapitalismus funktioniert: Über die Verflechtung von Klasseninteressen der Regierungen, Medienmogule und Oligarchen (so im Ausland benannt, im Westen bewundernd als „Milliardäre“ gepriesen), das Feuern von Journalisten, die ideologisch nicht auf Linie sind, bis nur noch Konformisten vorhanden sind, die Steuerung von Zugang zu Regierungsinformation; so würde alles aus den Medien getilgt, was sozialistisch sei, den Reichen auch nur höhere Steuern auferlegen wolle, „wie wir an den heftigen Hetzkampagnen gegen progressive Persönlichkeiten wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn gesehen haben.“ (S. 45) Früher habe die CIA Medien zwecks Manipulation noch infiltrieren müssen, heute würde man dort „ganz offen Geheimdienstveteranen“ beschäftigen (S. 54), wobei „offen“ wiederum nicht als „transparent“, sondern als „unverschämt“ zu verstehen ist. Kapitel 8 „Washington sagt ‚Journalismus ist kein Verbrechen‘ und arbeitet gleichzeitig an der Kriminalisierung des Journalismus“ bezieht sich auf westliche Vorhaltungen über Pressefreiheit an die Adressen von China und Russland, während man selbst im berüchtigten Hochsicherheits-Gefängnis Belmarsh den bedeutendsten Journalisten der Welt inhaftiere: Wikileaks-Gründer Julian Assange, der Kriegsverbrechen des US-Imperiums aufgedeckt habe. Kapitel 9 „Mehrere US-Beamte am Welttag der Pressefreiheit mit US-Assange-Heuchelei konfrontiert“ schließt dort an; dies zeige, „dass dem US-Imperium die Pressefreiheit völlig egal ist, außer in dem Maße, dass es reicht, um mit dem Finger auf andere Regierungen zeigen zu können, die es nicht mag.“ (S. 76)

Kapitel 10 folgert „Die USA könnten eine Trennung von Medien und Staat gebrauchen“ mit weiteren Belegen für die Staatsnähe von Westmedien. Im Weiteren erfahren wir, „Ideologische Echokammern machen uns alle dumm“, was ganz im Sinne der Westmedien und -regierungen sei. Die „Flucht aus dem Gefängnis der Mainstream-Kultur“ führe über kritisches Denken und Mediennutzung, ohne sich von deren Forderung nach optimierter Arbeitsleistung verrückt machen zu lassen ( Sie sind nicht mangelhaft, Sie werden nur von Idioten regiert); und „Das größte Problem der westlichen Linken ist, dass es sie nicht gibt“, wobei Dekaden der Hass-Propaganda fanatisierte Antikommunisten produziert hätten; die seien heute aus lauter Verzweiflung, keine Linken mehr vorzufinden, dabei, schon milde Sozialreformen wie Obamas Krankenkassenreform als „Kommunismus“ zu denunzieren. Abschließend folgen Ratschläge für an all diesen Enthüllungen depressiv Gewordene: „ Niemand muss sich zwischen Glück und Information entscheiden“, denn wer sich aus der „imperialen Gedankenkontrolle“ befreit hätte, bekäme sein Selbstwertgefühl nicht mehr davon, „wie erfolgreich Sie ein fleißiger Rädchendreher der kapitalistischen Maschine sein können oder wie sehr Ihr Körper dem angeblichen Ideal aus der Werbung entspricht.“(S. 129)

Alarmismus oder Realismus?

Caitlin Johnstones schonungslose Analyse der Propaganda klingt etwas zu alarmistisch, oder? Noch sitzen kritische Journalisten und Intellektuelle der westlichen Welt schließlich nicht in KZs. Wer die Enthüllungen über die CIA-Geheimarmee „Gladio“ in Europa aufmerksam verfolgte, weiß allerdings, dass genau solche KZs bereits auf Sardinien geplant waren. Dies geschah für den Fall, dass tatsächlich in Westeuropa eine kommunistische Regierung an die Macht gewählt worden wäre. KZ für Journalismus? Eigentlich ein Grund für lautstarken Medienprotest und weitere Recherchen über Gladio, die uns unsere Medien jedoch schuldig blieben und alles so verbissen totschwiegen, dass heute viele kaum noch wissen, worum es bei diesem „Skandal“ überhaupt ging. Die vergleichsweise spärlichen Berichte dazu wurden seinerzeit als mysteriöse „Geheimdienst-Sache“ mit 007-Filmmusik unterlegt und „augenzwinkernd“ als schnell wieder zu vergessendes Infotainment präsentiert. Wo unsere Medien im „feindlichen“ Ausland die Übel mit großer Trompete anprangern und gar nicht wissen wohin mit all ihrer Empörung und Betroffenheit, nehmen sie es im Inland gerne mit Humor. Aber wenn sich Johnstone auch noch beklagt, sogar die westliche Wissenschaft würde sich vor dem Thema wegducken (S. 110), ist das doch übertrieben, oder? Nicht nach meiner Erfahrung mit meinem Dissertations-Projekt über die Medienmanipulation durch Cambridge Analytica und Facebook. An einem medienwissenschaftlichen Institut in Hamburg war dies das einzige medienkritische Projekt soweit mir bekannt. Propaganda wurde schon beforscht: Solche der kommunistischen DDR-Medien und der Nazi-Diktatur. Ich dagegen bekam keinerlei Unterstützung, dafür diverse Formen von Mobbing zu spüren und 2023, vielleicht im Rahmen der neuen Kriegstauglichkeit auch unserer Medienwissenschaften, die Exmatrikulation unter reichlich dubioser Begründung.

Caitlin Johnstone studierte Journalismus am Royal Melbourne Institute of Technology und ist unabhängige Journalistin in Melbourne (Australien), die ihr eigenes Blog durch crowdfunding finanziert. Sie tritt in die ehrenhaften Fußstapfen von Izzy Stone, dessen medienkritisches Periodikum I. F. Stone’s Weekly (1953–1971) schon im Vietnamkrieg diverse US-Regierungs-Skandale enthüllte; ihre scharfzüngigen Analysen werden in bedeutenden internationalen Politblogs wie MintPress News, Zero Hedge und Telepolis übernommen. https://ifstone.org

Caitlin Johnstone: Kleines Erste-Hilfe-Büchlein gegen Propaganda. Wie wir unseren Verstand in einer verrückten Welt bewahren können. Westend Verlag GmbH (Neu-Isenburg) 2023. 143 Seiten. ISBN 978-3-86489-428-2. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR.

06/1/25
CC - by - nc - nd Funky64 (www.lucarossato.com)

Digitales Mittelalter

Trugbild: Im digitalen Mittelalter

Kolumne von Vincent Först – 01.06.2025 aus Netzpolitik

Das Versprechen einer besseren Welt durch soziale Medien steht auf der Kippe. Stehen wir kurz vor einem neuen magischen Jahrhundert?

Als gemeiner Bauer muss der Gang auf den mittelalterlichen Marktplatz recht übel gewesen sein. An jeder Ecke lauerten Gauner und Trickbetrüger, gottlose Geistliche oder am Ende gar die Pest. Am Galgen hing der liebe Freund, auf dem Scheiterhaufen verbrannte die nette Nachbarin.

Manchmal, wenn ich mich wieder einmal durch meinen Feed suchtquäle, fühle ich mich in diese Jahrhunderte zurückversetzt: Denn magisches Denken, Alchemie und allerlei Irrglauben sind auch dort auf der Tagesordnung.

„Goldmacher“ der Gegenwart

Das Wunder unserer zeitgenössischen Alchemisten heißt Meme-Coin. Es sind Kryptowährungen ohne realen Gegenwert, deren Ursprung und Markenidentität stark von Netz- und Popkultur geprägt sind. Anders als herkömmliche Coins verfolgen sie meist kein technologisches Innovationsziel. Die Fußballer Lionel Messi oder Lukas Podolski werben fleißig für die Spaßwährungen.

Stars wie Caitlyn Jenner, Jason Derulo, Soulja Boy brachten bereits eigene Meme-Coins auf den Markt. Nach einem anfänglichen Hoch sanken die Marktwerte der Coins drastisch. Die drei Prominenten stehen im Verdacht, mithilfe der sogenannten „Pump-and-Dump“-Strategie ihren Fans das Geld aus der Tasche gezogen zu haben – das bedeutet, den Kurs durch gezielte Eigenkäufe und Hype künstlich in die Höhe zu treiben, um dann heimlich mit Gewinn auszusteigen, während die Fans auf wertlosen Coins sitzen bleiben.

Auch US-Präsident Donald Trump veröffentlichte kürzlich seinen eigenen Meme-Coin. Für wichtige Investoren veranstaltete er ein pompöses Dinner. Crypto-Mogul Justin Sun erhielt dabei von Trump persönlich eine Uhr im Wert von über 100.000 Dollar. So machen die Menschen, die Wählern und Fans als Vorbilder dienen sollten, zwielichtige Geschäftspraktiken salonfähig.

Zwischen Narren und Nihilismus

Derweil überschwemmen die Hofnarren der Herrscher das Netz mit schlechten Witzen. Vor rund sieben Jahren ging ein Interview mit der damals noch unbekannten Dasha Nekrasova auf einer Demonstration viral. Eine Reporterin der rechtsextremen Verschwörungs-Plattform InfoWars interviewte Nekrasova zu ihrer Meinung über Sozialismus. Nekrasova in japanischer Matrosen-Schuluniform tippte gelangweilt ins Smartphone, schlürfte Kaffee und antwortete mit arrogantem Gleichmut auf die banalen Fragen.

Das Video brachte Nekrasova den Internetspitznamen „Sailor Socialism“ ein und trug maßgeblich zur Bekanntheit des Podcasts bei, den sie kurz vorher gegründet hatte. Sieben Jahre später hat sich der Wind gedreht. Während die ehemalige InfoWars-Journalistin namens Ashton Blaise heute als bisexuell geoutete Onlyfans-Influencerin ihr Twitter-Profil mit einer Regenbogenfahne schmückt, hat Nekrasova Alex Jones, den Gründer von InfoWars, in ihren Podcast eingeladen.

Zwischendurch ging es noch gemeinsam mit Jones auf den Schießstand in Texas. Dem Zuschauer dieser amerikanischen Medien-Folklore bleibt kaum etwas anderes übrig, als an Magie zu glauben.

Moderner Mystizismus

Ohnehin ist das magische Denken in die Feeds zurückgekehrt. Vielleicht ist es auch nie so ganz verschwunden: Wenige Kraftübungen sollen die gewünschte Figur formen, einige Klicks für schnellen Reichtum sorgen. Viral gehen können alle immerzu und Geld lässt sich manifestieren – man müsse nur fest daran glauben und den jeweiligen Coaches oder einem besonders findigen Creator gut genug zuhören.

Die modernen Unternehmer haben vom römisch-katholischen Geschäftsmodell der Ablassbriefe gelernt: Ob Himmel oder American Dream – wer nur fest daran glaubt, dem gelingt schließlich der Aufstieg. Mit der Hoffnung auf Erlösung und Angst vor dem Abstieg in die (finanzielle) Hölle lässt sich gutes Geld verdienen.

Abschalten oder wehren?

Dabei hat die ganze Unvernunft der Bilderhöllen – oder des Bilderhimmels, je nach Stimmung – sicherlich auch etwas Faszinierendes, würden da nicht im Minutentakt neue Hiobsbotschaften von Trump und Konsorten, Meldungen über falsche Nazis, echte Nazis oder alte Nazis hereinprasseln. Findige politische Akteure und Geschäftemacher wissen die Dynamik der neuen Medien und die Bildersucht der Gesellschaft für sich zu nutzen. Sie arbeiten im Takt eines Internets, dessen Geschwindigkeit unaufhörlich zunimmt.

Reale Skandale wie der Fall um den Immobilien-Millionär und verurteilten Sexualstraftäter Jeffrey Epstein muten tatsächlich wie mittelalterliche Gräuel an. Sie erscheinen in Medien, denen viele längst nicht mehr trauen, und stehen neben Inhalten, die irgendwo zwischen dreister Lüge und diffuser Halbwahrheit schweben. Dann fühlt sich das Netz doch wieder wie das Innenleben eines Gemäldes des Renaissance-Malers Hieronymus Bosch an.

Auf die Bilder- und Informationsflut folgt eine Abstumpfung in Denken und Ausdruck. Dieser Flut dauerhaft ausgesetzt zu sein, macht irgendwann zuerst bitter und dann im schlimmsten Fall teilnahmslos. Eine soziale Schönheit, die sich im analogen Umgang mit Menschen ergibt, ist online zunehmend schwer herzustellen. Die Lösung für dieses Problem findet sich nicht bei den Plattformen. Es bleibt den Nutzern überlassen, entweder ganz abzuschalten, oder sich mit viel Kraft den neuen magischen Zeiten entgegenzustemmen.

Über die Autor:in Vincent Först

Vincent arbeitet als Journalist und Autor. An der Universität der Künste lehrt er Texttheorie- und Textgestaltung. Wenn er nicht gerade an seinem Schreibtisch sitzt, organisiert er Kulturveranstaltungen in Berlin.

Kontakt: Instagram, Mastodon, Bluesky

05/28/25

Big Tech & Kolonialismus

„Kommunikationsinfrastrukturen waren schon immer Werkzeuge der Kontrolle“

Die Künstlerin Esther Mwema erforscht verborgene digitale Machtstrukturen. Auf der re:publica in Berlin sprach sie über die Parallelen zwischen kolonialen Infrastrukturen und den modernen Kabel- und Satellitenprojekten von Big Tech. Wir haben sie zu ihren Recherchen und ihrer Kunst befragt.

Ingo Dachwitz 28.05.2025 aus Netzpolitik

Esther Mwema ist mehrfach ausgezeichnete Künstlerin und Expertin für digitale Ungleichheit aus Sambia. Sie arbeitet unter anderem zu versteckten Machtstrukturen, seien es physische wie Internetunterseekabel und Satelliten oder soziale wie digitaler Kolonialismus und Geschlechterungleicheit. Seit mehr als zehn Jahren setzt sie sich mit den NGOs Digital Grassroots und Safety First for Girls (SAFIGI) für digitale Inklusion ein.

Auf der diesjährigen re:publica sprach Esther über „The Cosmology of Internet Infrastructure“, ihr Paper „Cosmologies of Internet Infrastructure: Three visions for bridging the digital divide” erschien im Juni. und veröffentlichte kurz darauf ein. Wir haben sie zu Parallelen zwischen damals und heute befragt und warum Kosmologie dabei eine Rolle spielt.

Vermeintlich großzügige Tech-Geschenke

netzpolitik.org: Infrastruktur gilt ja eigentlich als trockenes und schwer zu greifendes Thema. Was reizt dich als Künstlerin daran?

Esther Mwema: Ich war schon immer daran interessiert, wie die Dinge funktionieren. Mein erster Job war in einem Internetcafé und da habe ich mich gefragt: Oh, wie funktioniert eigentlich das Internet? Also habe ich mich mit der Architektur des Netzes und den verschiedenen Schichten beschäftigt. Dabei habe ich gelernt, dass das Internet über den Meeresgrund fließt. 95 Prozent des weltweiten Datenverkehrs läuft durch Unterseekabel. Das war eine krasse Erkenntnis: Das Internet ist nicht in der Cloud, sondern hat eine total physische Materialität.

Dann gab es da diesen Internet Health Report von Mozilla, ich glaube der von 2019 [PDF], der die Eigentümerschaft von Internetinfrastrukturen zum Thema machte. Früher hatte Big Tech sich vor allem auf die Anwendungsschicht im Internet-Stack beschränkt und jetzt investierten sie plötzlich heftig in Unterseekabel. Also habe ich mir das genauer angeschaut. 2022 konnte ich dank des Mozilla Creative Media Awards über Kabel im afrikanischen Kontext recherchieren: Wem gehören sie? Wo liegen sie? Wohin führen sie?

Man gerät bei der Recherche leicht in Rabbitholes, weil so wenig öffentlich darüber bekannt ist. Aber genau zu dieser Zeit kündigte Meta ein Unterseekabel an, das als erstes den gesamten Kontinent umrunden sollte. Sie nannten es ernsthaft „Simba“, nach dem Disney-Charakter. Später benannten sie es in „2 Africa“ um, als wäre es ein Geschenk an Afrika. Da sieht man, welche Machtdynamiken hier am Werk sind.

netzpolitik.org: In deinem Vortrag hier auf der re:publica hast du über Parallelen zwischen kolonialen und heutigen Infrastrukturprojekten gesprochen. Unter anderem sagst du, dass Infrastrukturen eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen. Wie meinst du das?

Esther Mwema: Kommunikationsinfrastrukturen waren schon immer Werkzeuge der Kontrolle. Es ist kein Zufall, dass die frühen Telegrafenleitungen bald nach dem Ende der Sklaverei aufkamen. Es ging darum, die Kolonien besser beherrschen und wirtschaftlich ausnutzen zu können. Es gibt auch große Ähnlichkeiten zwischen den Routen der damaligen Telegraphenleitungen und heutigen Unterseekabeln. Sie waren übrigens auch damals schon häufig in privater Hand.

Viele Telegrafenleitungen gehörten dem britischen Unternehmer John Pender. Er war mit Textilfabriken reich geworden, in denen Baumwolle aus Sklavenarbeit von amerikanischen Plantagen verarbeitet wurde. Auch die kolonialen Vorstellungswelten von Infrastruktur ähneln sehr den Vorstellungen von Big Tech bei ihren Infrastrukturprojekten.

Kolonisation als „zivilisatorische Mission“

netzpolitik.org: Die Kolonisatoren damals haben einfach behauptet, dass sie unbeanspruchtes, leeres Land einnehmen. Die Tech-Milliardäre machen es heute genauso, sagst du.

Esther Mwema: Sie nannten das damals „Tabula Rasa“ oder schlicht „leeren Raum“. Das stimmte natürlich nicht. Da lebten Menschen mit eigenen Kosmologien, in denen Natur, Geister und die Struktur des Raumes heilig waren. Die Kolonisatoren kamen mit einer Kosmologie des Extraktivismus und mit einer hierarchischen, patriarchalen Weltordnung. Der weiße Mann ganz oben, die Kolonisierten darunter und die Natur noch weiter unten. Die Existenz von allem Spirituellen wurde komplett geleugnet, weshalb die Kolonisatoren heilige Orte nicht respektierten.

Gleichzeitig haben sie ihre Eroberungen als „zivilisatorische Mission“ geradezu mystisch aufgeladen. Ich arbeite zum Beispiel mit Plakaten aus dem 19. Jahrhundert, die den Telegrafen als Instrument des Friedens und der Religion preisen. Auf einem Plakat segnet Vater Neptun aus dem Meer Uncle Sam und Britannica, also die USA und Großbritannien, die durch Telegrafenleitungen verbunden waren.

Die gleiche Rhetorik erleben wir heute bei Big Tech und dem Digital Divide: Es gibt da diese noch-nicht-angeschlossenen Regionen und wir müssen Brücken zu ihnen bauen. Connecting the unconnected. Also: Wir müssen die Unvernetzten vernetzen. Wir müssen ihnen Technologie bringen, damit sie so wie wir werden. Es ist eine neue zivilisatorische Mission, aber am Ende geht es doch wieder nur um Eroberung. Mehr Land. Mehr Daten. Mehr Material, um ihre Rechenzentren zu befüllen und ihre KI zu trainieren. Am Ende geht natürlich auch um physische Rohstoffe, die man aus den Ländern extrahieren möchte, die man anschließt.

netzpolitik.org: Du hast auch in deinem Vortrag über die „Kosmologie von Internetinfrastrukturen“ gesprochen. Was meinst du damit?

Esther Mwema: Kosmologie meint im Grunde, das Universum zu studieren. Bei meiner Beschäftigung mit der Internetinfrastruktur bin ich immer wieder auf dieses Thema gestoßen: das Weltall, das Universum. Vint Cerf, der das Internetprotokoll miterfunden hat und Vizepräsident und „Chief Internet Evangelist“ bei Google ist, arbeitet inzwischen an einem interplanetaren Kommunikationssystem. OpenAI will für 500 Milliarden Dollar den größten Verbund von Rechenzentren für KI bauen, den sie „Stargate“ nennen. Jeff Bezos hat seine Milliardengewinne aus der Ausbeutung von Amazon-Angestellten investiert, um zehnminütige Spritztouren ins All zu ermöglichen. Und natürlich Elon Musk, dem heute mehr als 60 Prozent aller aktiven Satelliten gehören.

Satelliten übrigens, von denen pro Tag drei bis fünf kaputtgehen und ersetzt werden müssen. Allein im Januar dieses Jahres sind 120 von Musks Satelliten verglüht. Neuere Satelliten verfügen auch über Überwachungskapazitäten, die die Privatsphäre und Demokratie gefährden. Deshalb glaube ich, dass wir die Kosmologie der Infrastruktur verstehen müssen, wenn wir die digitale Gesellschaft verstehen wollen, in der wir leben. Zur Kosmologie gehören der Ozean, das Land und das Weltall. Wir müssen die Auswirkungen unseres Handelns auf das Ganze betrachten.

Verfestigung ausbeuterischer Strukturen

netzpolitik.org: Mit dem Projekt Afrogrids versuchst du, andere Vorstellungswelten von Infrastruktur zu ermöglichen. Wie sieht das aus?

Esther Mwema: Afrogrids ist mein Kunstforschungsprojekt zur Internetinfrastruktur, das die vielfältigen Kosmologien anerkennen soll, die heute existieren und die auch lange vor dem Kolonialismus bestanden haben. Wir wollen diese Räume zurückerobern. Ich stelle den heutigen Vorstellungen von Infrastruktur zum Beispiel das BaKongo-Kosmogramm gegenüber. Es ist ein altes Symbol eines vorkolonialen kongolesischen Volkes, das eine Verbindung zwischen physischen und spirituellen Welten darstellt. Es beschreibt vier Aspekte des Seins: von der Geburt über das Aufwachsen zum Tod und zu dem, was nach dem Tod ist.

Das Kosmogramm erlaubt es uns, über Übergänge nachzudenken und steht im krassen Widerspruch zur kolonialen Wachstumlogik und dem Streben der Tech-Milliardäre nach Ewigkeit. In afrikanischen Kosmologien geht es sehr viel darum, den Dingen zu erlauben, ihre Zeit zu haben. Nach einer bestimmten Lebensspanne ist etwas Neues dran. Es geht um Respekt vor der Natur und die Fähigkeit, keine Spuren in der Landschaft zu hinterlassen. Heutige Internetinfrastrukturen aber müssen immer größer werden, dienen Monopolen und zerstören jede alternative Vorstellungswelt.

Nehmen wir als Beispiel das Konzept der rotierenden Unterkünfte, das es in einigen afrikanischen Gesellschaften lange gab. Die Menschen haben hier in provisorischen Unterkünften gelebt, das Land bearbeitet und sind dann an einen anderen Ort gezogen, damit sich das Land erholen konnte. Dies steht im Einklang mit der Philosophie des Cosmo-Ubuntu, die laut Forscher:innen auf maschinelles Lernen und KI angewendet werden kann. Stattdessen bauen wir heute Infrastrukturen, die permanent Ressourcen ausbeuten. Sie sind nicht regenerativ und werden so zu einer Art dauerhafter Strukturen, die das Land auslaugen und erschöpfen. Das trifft selbst auf einen immateriellen Rohstoff wie Daten zu: Es gibt nie genug Daten, es gibt immer eine Nachfrage nach mehr.

Über die Autor:in ingo

Ingo ist Journalist und Kommunikationswissenschaftler. Seit 2016 ist er Redakteur bei netzpolitik.org und u.a. Ko-Host des Podcasts Off/On. Er schreibt häufig über Datenmissbrauch und Datenschutz, Big Tech, Plattformregulierung, Transparenz, Lobbyismus, Online-Werbung, Wahlkämpfe und die Polizei. 2024 wurde er mit dem Alternativen Medienpreis und dem Grimme-Online-Award ausgezeichnet. Ingo ist Mitglied des Vereins Digitale Gesellschaft sowie der Evangelischen Kirche. Seit 02/2025 ist sein Buch erhältlich: „Digitaler Kolonialismus: Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen“

Kontakt: E-Mail (OpenPGP), Mastodon, Bluesky, FragDenStaat

12/6/24

Michel Foucault: Philosophie Diskurs Netz

Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie, Suhrkamp, Berlin 2024, 349 S.

Rezension von Thomas Barth

Der Netzphilosoph Michel Foucault begann nicht erst mit seiner Theorie der Machtnetze in Netzstrukturen zu denken, wie das vorliegende Buch zeigt: Schon seine Diskursanalyse und Archäologie zielten auf das „Netz des philosophischen Diskurses“ als Teil eines Diskursuniversums. Denn Kultur sei ein Netz von Beziehungen, das Sprechakte und Diskurse, aber auch Objekte, Materialien und Institutionen zu einem Diskurs-Archiv verbinde. Der „fröhliche Positivist“ nahm lockere 50 Jahre den heute postulierten „material turn“ der Geisteswissenschaften vorweg. Alphabete, Bibliotheken, Buchdruck schufen demnach neue Netzwerke der Zirkulation der Diskurse, die sich, wie der 1966 von Foucault verfasste Text bereits andeutete, in Daten-, Computer- und Kommunikationsnetzen fortsetzen würden.

Ausgangspunkt ist eine nietzscheanische Philosophie der Zeitdiagnostik, und viele sagen ja auch, unsere Gesellschaft, unsere Kultur, unsere Zeit seien krank. Doch welchen Arzt können wir für sie rufen? Foucault erklärt uns: Den Philosophen. Denn schon seit Beginn der griechischen Philosophie laute deren Daseinsberechtigung „interpretieren und heilen“ (S.14). Dies überrascht, gilt Foucault doch als harscher Kritiker der Humanwissenschaften und Heilberufe, insbesondere der Kriminologie, Psychologie und Psychiatrie. In jungen Jahren selbst psychiatrisiert, entwickelte er eine Machttheorie, die neben Justiz und Strafvollzug besonders vordergründig wohlmeinende Zugriffe der Gesellschaft auf das Subjekt kritisiert. Dafür erarbeitete Foucault einen ganz eigenen methodisch-theoretischen Zugang über die (post-) strukturalistische Analyse gesellschaftlicher und kultureller Diskurse. Seine Konzepte sind heute ein fester Bestandteil unterschiedlichster Disziplinen und Ansätze in den Geisteswissenschaften, etwa Queer- und Genderstudies, Pädagogik, Pflege-, Sozial- und Medienwissenschaften, Disability Studies (Kammler/Parr 2007).

Autor und Hintergrund

Michel Foucault (1926-1984) lehrte ab 1970 am renommierten College de France in Paris, war sozialpolitisch engagiert und gilt heute zunehmend als einer der wichtigsten Denker des 20.Jahrhunderts. In Deutschland jahrzehntelang nur schleppend rezipiert, wird er heute in den meisten Geisteswissenschaften immer mehr wahrgenommen. Seine (Ideen-) Geschichten des Wahnsinns, der Medizin, des Gefängnisses sowie sein vierbändiges Werk „Sexualität und Wahrheit“ sind Meilensteine der Sozialphilosophie. Foucault lehnte jedoch disziplinäre Zuordnungen ebenso ab, wie Bekenntnisse zu Denkschulen oder –richtungen wie dem Poststrukturalismus oder der Postmoderne. Das vorliegende, schon 1966 verfasste Buch wurde von Foucault nie publiziert, posthume Publikationen hatte er testamentarisch untersagt. Seine Erben und Nachlassverwalter setzen sich seit Jahren darüber hinweg und im Suhrkampverlag erschienen diverse posthume Werke, etwa Sammlungen von transkribierten Tonbandmitschnitten seiner Vorlesungen. Das vorliegende Buchmanuskript fällt zwischen Foucaults bahnbrechendes Buch „Die Ordnung der Dinge“, das ihn international auch als Widersacher Sartres berühmt machte, und dessen Fortsetzung „Die Archäologie des Wissens“.

Aufbau und Inhalt

Ein Vorwort von Francois Ewald, editorische Anmerkungen, 15 Kapitel mit je eigenen Fuß- und Endnoten bilden den Kern des Textes. Ein Anhang mit Notizen Foucaults, die dem Text verbunden erschienen, und einer einordnenden und zusammenfassenden „Situierung“ durch Orazio Irrera und Daniele Lorenzini lassen den Leser an der editorischen Arbeit des anfangs elfköpfigen Redaktionskomitees (Daniel Defert verstarb während des Projekts) teilnehmen. Fußnoten dokumentieren Probleme mit dem Text, etwa die Ergänzung fehlender oder unleserlicher Wörter, sowie seltener falscher Angaben Foucaults, auch von ihm durchgestrichene Passagen werden hier dokumentiert und zeigen Varianten des Textes, die der Autor erwogen hatte. Die teilweise umfangreichen Endnoten der Kapitel liefern hilfreiche Anmerkungen der Herausgeber und erklären biographische, zeitgeschichtliche, theoretische Hintergründe.

1. Die Diagnose führt die Philosophie als diagnostisches Unternehmen ein, nach Nietzsche solle sie „Arzt der Cultur“ sein (S.17), könne aber nicht heilen, sondern nur „sagen, was ist“ (ebd.).

2. Jetzt erklärt das „Heute“ des Philosophen, der in der Triade des „Ich-Hier-Jetzt“ den Alltagsdiskurs überschreitet und sich von Literatur und Wissenschaft abgrenzt. Endnote 2 ordnet Foucaults Ansatz theoretisch zwischen Philosophie und Philologie ein (Roman Jakobson, de Saussure, Levi-Strauss, Althusser, Lacan, Husserl, Sartre, Merleau-Ponti, Todorov).

3. Der philosophische Diskurs und der wissenschaftliche Diskurs grenzt Philosophie von Wissenschaft ab, deren Erkenntnisse nicht so eng an das sprechende Subjekt gebunden seien. Für den Wahrheitsgehalt der Wissenschaft sei nur wichtig was gesagt würde, aber nicht wo, wann und von wem; Philosophie bedürfe des „Ich-Hier-Jetzt“, weshalb „von Descart bis Kant und von Kant bis Husserl das gleiche Projekt von Neuem begonnen“ (S.35) und „die Frage des Subjekts so hartnäckig“ (S.40) gestellt wurde.

4. Fiktion und Philosophie grenzt Philosophie von Literatur bzw. Fiktion ab, deren Werke zwar auch an das sprechende (zuweilen fiktive) Subjekt gebunden seien, aber nicht dazu bestimmt, wahr zu sein (S.52); Philosophie ziele vordringlich auf Wahrheit, Vernunft und insbesondere auf das Wesen des Subjekts (S.60).

5. Die Philosophie und der Alltag grenzt Philosophie vom Alltagsdiskurs ab, da sie eine kritische Funktion ausübe, alles „was stumm ist“ in eine Rede übertrage, zur „Kritik allen Wissens“ werde, zum „Diskurs aller anderen Diskurse“ (S.77).

6. Die Geburt des philosophischen Diskurses vertieft die These der Singularität des philosophischen Diskurses seit Descartes, auch anhand der neuen Diskursmodi seit Cervantes und Galilei: Literatur, Wissenschaft und Gott selbst hätten „anders zu sprechen“ begonnen (S.96), der philosophische Diskurs hätte den Anspruch erhoben, „durch die Wahrheit des Jetzt, das ihn trägt, zur Wahrheit zu gelangen“ (S.100).

7. Die allgemeine Anordnung des philosophischen Diskurses entwickelt dessen vier Grundaufgaben und Funktionen (Begründung, Interpretation, Kritik, Kommentar) und entlang dieser Hauptlinien das „gesamte Netz des philosophischen Diskurses“ (S.105); die alten metaphysischen Fragen nach Gott, Welt und Seele werden insofern neu beantwortet, als Gott nun optional würde, die zuvor beseelte Welt nur noch leerer Raum nebst relativer Zeit sei und von der unsterblichen Seele ein geistiges Prinzip, „ein reines Subjekt“ mit Innerlichkeit und Körper verbleibe (S.115), was man aber „nicht mit dem Ende der Metaphysik verwechseln“ dürfe (S.116); Kant habe Gott, Seele und Welt als Illusionen betrachtet und der Metaphysik eine neue Ontologie entgegengesetzt.

8. Die zwei Modelle des Diskurses zeigt zwei philosophische Serien von Wahlmöglichkeiten auf: 1. Enthüllung, Ursprung, Schein, Enzyklopädie sowie 2. Manifestation, Bedeutung, Unbewusstes, Gedächtnis; die jeweiligen Entscheidungen dekliniert Foucault anhand seiner vier Diskursfunktionen: So kann etwa die Funktion der Begründung des Diskurses durch eine Theorie der Enthüllung oder der Manifestation ausgeübt werden; Modell Eins begründet sich als Enthüllung der Wahrheit, interpretiert dies als Entdeckung ihres Ursprungs, kritisiert mittels einer Theorie des überwundenen Scheins und kommentiert den Logos der Welt in enzyklopädischer Form; Modell Zwei begründet sich als Manifestation der Wahrheit in den Phänomenen des Hier und Jetzt des Subjekts, das nicht nach deren Ursprung, sondern nach ihrer Bedeutung fragt und die Kritikfunktion gegen sein eigenes Unbewusstes richtet; kommentiert wird hier nicht mehr als Enzyklopädie der Wahrheit, sondern als Gedächtnis, das die „Versöhnung der Erfahrung mit dem, was in ihr fremd ist“ festhält, also das, was Foucault als „Ent-Entfremdung“ bezeichnet (S.139f.). Modell Eins steht für Philosophie, die sich auf dem Weg linearen Fortschritts zu universalen Wahrheiten und aufgeklärten Werten glaubt; Modell Zwei eröffnet in den „Beziehungen des Subjekts und der Geschichte ein unendliches Labyrinth“ und eine „unaufhörliche Unruhe“ (S.141f.).

9. Philosophie, Metaphysik, Ontologie erörtert die beiden Modelle in ihren Beziehungen zu Ontologie und Metaphysik; 1. die vorkantische Philosophie der Enthüllung als Metaphysik der Repräsentation und Ontologie innerhalb des Diskurses; 2. die nachkantische Philosophie der Manifestation als Anthropologie und Ontologie außerhalb des Diskurses; im 1. Modell enthüllt sich dem Subjekt des Philosophen die Existenz der Seele, deren Analyse „offenbart, dass Gott existiert, …der die Ordnung der Welt garantiert“ (S.155); im 2.Modell kann das Subjekt „nur als phänomenale Manifestation erscheinen… weit davon entfernt, auf eine tiefere Existenz zu verweisen“ entdeckt es nicht die Ordnung der Natur, sondern nur die Bedeutungen, die der Mensch ihr zuschreibt, entdeckt es „nur das Sein des Menschen, das über all die Dinge der Welt und die Ereignisse der Geschichte zum Ausdruck kommt“; dieser „anthropologische Zirkel“ führe zu zwei gegensätzlichen Philosophien: Der Positivismus sucht im biologischen, sozialen und psychologischen Sein des Menschen Aufschluss „über das Sein der Phänomene“; die anderen Philosophen wollen „das Sein der Endlichkeit von all den Bedingungen, die ihm auf der Ebene der Phänomene zugewiesen werden können, lösen“, um ein grundlegenderes Fundament zu finden. Diese Philosophen sehen sich selbst in ihrem Sein „zu einem Phänomen der Geschichte geworden“ (S.156f), das Sein der Geschichte wird sichtbar in philosophischen Diskursen, die sich selbst „unaufhörlich die Frage nach ihrem Verhältnis zur Geschichte“ stellen; erst die kantische Kritik brachte die „systematische Verschiebung der Elemente“ vom ersten zum zweiten Modell (S.158). Nun wurde deutlich, warum Foucault in seinem 7.Kapitel Kants Werk als „den Gravitationspunkt der gesamten abendländischen Philosophie“ sah (S.116).

Kant, dem –was Foucault nicht erwähnt– auch bedeutende Einsichten der Astrophysik zuzurechnen sind, etwa dass sich das Sonnensystem überhaupt entwickelt haben könnte, dass dies Milliarden Jahre gedauert haben könnte (Kants zeitgenössische Physiker bezifferten das Alter der Erde eher mit Zehntausenden von Jahren) sowie dass dies in einer Scheibenform geschah, standen die Erkenntnisfortschritte der Physik vor Augen, „während die Metaphysik endlos weiter dieselben Debatten führte“ (S.159); folgerichtig strebte Kant nach besserer Legitimation der Philosophie durch Suche nach Methoden und Formen der Erkenntnis: „Die Idee von einer Dialektik als Analyse der Bedingungen und Notwendigkeiten der Täuschung tritt an die Stelle der Idee einer Enzyklopädie der Wahrheit.“ (S.160)

Damit stehe Kants Werk „genau im Zentrum, im Gleichgewichtspunkt der gesamten abendländischen Philosophie“, womit Kant für den philosophischen Diskurs, „wie die Logiker sagen würden, eine neue Semantik gefunden“ habe (ebd.). Weiterentwicklungen sieht Foucault bei Fichte in der Lehre vom absoluten Ich mit reiner Subjektivität sowie in der Phänomenologie von Hegel bis Husserl, die transzendentale Subjektivität an den impliziten Horizont der empirischen Inhalte zu binden“ suche (S.167 Fn 12). Tatsächlich könne, so Foucault, der philosophische Diskurs nach der „Zerstörung der Metaphysik“ nur durch eine „Theorie der Repräsentation“ oder „mittels einer Analyse des Seins des Menschen eine Beziehung zum Sein haben.“ (S.165)

10. Beschreibung der Philosophie zeigt vier Haupttypen der Philosophiegeschichte als funktionale Elemente des philosophischen Diskurses und grenzt Foucaults eigenen Ansatz davon ab, der die Philosophiegeschichte in seiner funktionalen Beschreibung der Philosophie als Teil derselben einbezieht (S.185); die Philosophiegeschichte wendet sich als Teil des philosophischen Diskurses in der Funktion der Legitimation den Systemen zu, im Kommentar der Erfahrung, in der Kritik der Ideologie, in der Interpretation der Entzifferung einer Philosophie; für die Ideologisierung der Philosophie bedeutet dies, „dass die Philosophie tatsächlich… selbst eine Praxis darstellt und dass sie das Gesicht der Welt wirklich verändern kann, allerdings unter der Bedingung, dass sie demselben Diskursmodus angehört wie die politischen oder alltäglichen Aussagen.“ (S.183) Foucault geht es aber darum, den philosophischen Diskurs von außerhalb einzelner Werke zu analysieren (S.188).

11. Der neue Wandel fragt nach der Legitimation des Ansatz von Foucault selbst, die Philosophie als nur „eine Diskursform unter anderen“ (S.199) und verweist dabei auf die Krise der Philosophie, die, ihrer Gegenstände, Konzepte und Methoden beraubt, nur noch sich selbst in Frage stellen könne; mit Friedrich Nietzsche könne die Philosophie sich jedoch statt an der Wissenschaft an der Poesie orientieren, eine „Zersplitterung des philosophierenden Subjekts, seine multiple Existenz, seine Zerstreuung in alle Winde des Diskurses“ (S.216) lege nahe, „den Philosophen als reale Figur zu entlassen und aus seiner inhaltsleeren Identität eine Vielheit von Masken oder Gesichtern hervorgehen zu lassen“ (S.213), um von nun an „jeden Wahnsinn“ auch danach zu befragen „was er in seinem Abgrund an Philosophie aussagen kann“ (S.218).

12. Denken nach Nietzsche erörtert die postnietzscheanische Neuordnung der Diskurse; der logische Empirismus wolle aus dem philosophischen Diskurs alles als metaphysisch ausschließen, was nicht mit den Mitteln der Wissenschaft verifizierbar sei; eine politisch verstandene Philosophie wolle dagegen alles als metaphysisch verwerfen, was seinen Praxisbezug nur aus Kritik des Scheins oder des Impliziten herstelle und sich in Freiheit, Aktivität und Geschichte der Menschen involvieren (S.229f); postnietzscheanisch sei Husserls Phänomenologie aufgrund ihres radikalen Vorhabens, „zu den Sachen selbst zurückzukehren“, jedoch zugleich „die komplexeste, historisch überladenste Organisation, die man in den letzten drei Jahrhunderten aufkommen sah“ (S.240).

13. Das Archiv stellt die Frage nach der Sprache und postuliert die Konstituierung eines integralen Archivs als kultureller Form der Auswahl, Aufbewahrung und Zirkulation der Diskurse; der gegenwärtige Wandel unserer Kultur lässt sich anhand des Interesses an der Sprache charakterisieren, daran, dass formale Systeme, wie Sprachen, aus Symbolen mit Regeln bestehen (S.246), dass Literatur, Musik, Kunst sich entsprechend formaler Möglichkeiten entfalten, in einem neu organisierten Diskursuniversum; Kultur ist ein Netz von Beziehungen, das Sprechakte, Formen des Diskurses, Objekte, Materialien, Institutionen zu einem Diskurs-Archiv verbindet; es bildet ein System der Zwänge von Sprache und Geschichte, seine Gesetze untersucht die Disziplin der Archäologie (S.262).

14. Die Geschichte des Diskurs-Archivs verdeutlicht die Unmöglichkeit für jede Kultur, aus dem System ihres eigenen Diskurs-Archivs auszubrechen; die Archäologie als „Analyse des Diskurs-Archivs fungiert als eine Art immanente Ethnologie“ unserer Kultur, „dessen was als Bedingung, Element und Raum für alles dient, was wir sagen und denken können“ (267); Alphabete, Bibliotheken, Buchdruck schufen neue Netzwerke der Zirkulation der Diskurse, zahlreiche Brüche machen es unmöglich, „eine Gesamtgeschichte des Diskursarchivs“ zu schreiben (S.278); Endnote 15 konkretisiert durch Zitat aus Foucaults Buch „Die Archäologie des Wissens“: das Archiv umfasse also „ein privilegiertes Gebiet: gleichzeitig uns nahe, aber von unserer Aktualität abgehoben… es ist das, was uns außerhalb von uns begrenzt“ (S.281).

15 Der heutige Wandel beschließt das Buch mit der Einführung des Begriffs eines „integralen Archivs“, das unsere heutige Kultur von ihren Vorgängerinnen unterscheide; unsere Kultur habe sich die Aufgabe gestellt, „im Grunde alles vom Diskurs aufzubewahren“ (282); das Archiv dehne sich immer mehr aus, werde überhäuft, verliere seine Selektivität, es sei „anstatt der Ort der Rekonstruktion von Sprechakten zu sein, nur der Raum für die Aneinanderreihung von Diskursen… ein Netz neutraler Diskurse… Insofern ein Diskurs im Archiv gegeben ist, kann er durch Akte reaktiviert werden, die… dem ursprünglichen Akt absolut fremd sein können (Kommentare, Suche nach einem verborgenen Sinn, linguistische Analyse, Definition und Klassifizierung von Themen, Katalogisierung von Bildern und rhetorischen Figuren, Übersetzung in eine formale Sprache, Zerlegung im Hinblick auf eine statistische Auswertung…)“ (S.284f); die Diskursivität, durch die sich nunmehr die Erfahrung definiere, komme „immer nur dem Diskurs selbst zu“ (S.290); Fußnote a enthält eine offenbar verworfene Variante des letzten Kapitels, die verstärkt auf den Systembegriff setzt und sich abschließend auf Wittgenstein beruft (S.292).

Der Anhang enthält einige Notizen Foucaults, darunter recht instruktive Tabellen seines funktionalen Diskursmodells, und die „Situierung“ von Orazio Irrera und Daniele Lorenzini (S.305-345). Die beiden Editoren bescheinigen Foucault eine „entschieden originelle Antwort“ auf die seinerzeit heiß diskutierte Frage: „Was ist Philosophie?“ (S.309) und ordnen den Text in die damalige Debatte ein, die durch Foucaults Werk „Die Ordnung der Dinge“ befeuert wurde, unter anderem werden Sartre, Althusser, Merloth-Ponty, Derrida und Heidegger genannt. Foucault stelle im vorliegenden Buch die Philosophie als spezifische Art von Diskurs dar, der eine singuläre Beziehung zu seiner eigenen Aktualität unterhalte; der Mythos einer Geschichte, die aus tiefgründiger Bestimmung „von einem geheimen Ursprung zur Klarheit eines Horizonts verläuft“ könne verworfen werden (S.324); einen „blinden Fleck in der Foucaultschen Archäologie“ zeige zwar die Frage, von wo aus denn seine Diskursanalyse die in sich abgeschlossenen Diskursnetze von außen betrachten könne (S.336), doch er habe von Gaston Bachelard die Methode übernommen, Diskurse von ihren marginalisierten Rändern her zu analysieren; es ging Foucault „sein ganzes Leben lang“ darum, so ihr Schlusssatz, „seine eigene Kultur -und uns- in eine Falle zu locken, um die Möglichkeit zu eröffnen, anders zu denken und zu leben.“

Diskussion

Foucault habe wenig über Philosophie geschrieben, seine Themen seien nicht die der Philosophen: der Wahnsinn, das Krankenhaus, das Gefängnis, die Sexualität; so begann 1991 der Foucault-Kritiker Rudi Visker seine Abrechnung mit den Widersprüchen, in die sich Foucault mit seiner Kritik der Humanwissenschaften verwickelt habe. Das „Foucault-Lexikon“ des Wissenschaftstheoretikers Michael Ruoff kennt nur das Stichwort „Philosophie (praktizierte)“, für das es ganze vier Absätze übrig hat und Foucault so zitiert: „vielleicht ist Philosophie die allgemeinste kulturelle Form, in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist.“ Foucault habe die Bezeichnung „Philosoph“ 1970 deutlich abgelehnt, sie sei ein „Professorenberuf“; der späte Foucault, der eine Ethik der Sorge um sich selbst entwickelte, habe in der Philosophie aber jene Form des Denkens entdeckt, welche „die Bedingungen und Grenzen des Zugangs des Subjekts zur Wahrheit zu bestimmen versucht.“ (S.165f)

Das größte Hindernis für die deutsche Foucault-Rezeption war vermutlich die eloquente Polemik, die der staatstragende „Großdenker“ Jürgen Habermas 1985, also ein Jahr nach Foucaults Tod, mit „Der philosophische Diskurs der Moderne“ vorlegte; eine Abrechnung mit der französischen Postmoderne, als deren technokratische Ausgeburt er die Systemtheorie Niklas Luhmanns sah; insbesondere mit Foucaults Machttheorie geht Habermas hart ins Gericht, sucht Foucault in die Nähe des in Deutschland mehr als in Frankreich als Nazi-Philosophen gesehenen Heideggers zu rücken. Der Nachfolger Habermas‘ im Amt des Frankfurter Schuldirektors, Axel Honneth, ließ dort 2001 eine vielbeachtete „Foucault-Konferenz“ stattfinden, die eine differenziertere Sicht zeigte; in seinem Einführungstext zum Tagungsband scheint Honneth Abbitte für Habermas‘ Polemik leisten zu wollen, grenzt Foucault pointiert von Heidegger ab, stellt ihn in die Tradition des späten Wittgenstein. Foucaults Ziel sei die Subversion der gegebenen Gesellschaftsform gewesen, sein Werk habe in den Humanwissenschaften hergebrachte Begriffe des Sozialen, der Macht, des Wissens, des Subjekts tiefgreifend verändert. Foucault habe den „paradigmenbildenden Kern einer Disziplin, sei es die der Psychoanalyse, der Sexualwissenschaft oder der Kriminologie“ in seiner konstitutiven Evidenz entzaubert (S.17). Die Kritische Theorie seiner Frankfurter Schule, so Honneth, hätte bei unvoreingenommener Auseinandersetzung viel früher von den Einsichten Foucaults lernen können. 1988 hatte sich Honneth selbst noch polemisch an Foucault gerieben, dessen Machttheorie habe „am Ende zu einer systemtheoretisch reduzierten Version der Dialektik der Aufklärung verkümmern“ müssen (S.142).

Die von Suhrkamp als „kleine Sensation“ gefeierte Publikation des Diskurs der Philosophie zeigt das ungebrochene Interesse einer immer noch wachsenden Leserschaft an einem Denker, der gegenwärtige Machtregime mit seiner Kritik ins Mark traf und viele Menschen zum Widerstand motivierte. Das Buch, das der „Philosoph mit der Maske“ seinen zeitgenössischen Lesern offenbar vorenthalten wollte, ist unter anderem eine tiefgreifende Begründung seiner Ablehnung jeglicher „Großtheorien“, mit denen „Großdenker“ wie Habermas auf die universale Geltung westlicher Werte und ihrer globalen Normativität pochen. Foucault verweist demgegenüber auf die Verstrickung des erkennenden Subjekts in das Labyrinth seiner eigenen und der Geschichte der Philosophie, der allgemeinsten kulturellen Form, „in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist“. Die vermeintlich ewigen Werte westlicher Aufklärung, ihrer liberalen Demokratien –die er keineswegs ablehnt, sondern nur deren Unwilligkeit zu Analyse und Selbstkritik eigener Machtstrukturen–, verblassen für Foucault hinter „dem Ereignis“, das man vielleicht heute mit den Namen Guantanamo oder Belmarsh (wo man Julian Assange gefangen hielt) bezeichnen könnte.

Fazit

Das nicht einfache, aber elegant formulierte Buch stellt Foucaults Diskursanalyse der Philosophie in die Traditionen Kants und Nietzsches. Michel Foucault scheut sich nicht, die Philosophie im Sinne seines den Strukturalismus weit überschreitenden Ansatzes komplett neu zu denken. Mit seiner auf eine Gegenwartsdiagnostik zielenden Argumentation richtet sich das Buch an Studierende der Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch an Interessierte anderer Fachrichtungen.

Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 349 S., 34,00 Euro. ISBN: 978-3-518-58811-6

Verlagswerbung zum Buch: Was ist Philosophie? Und welche Rolle spielt sie in der Gegenwartsgesellschaft? Zwischen Juli und Oktober 1966, einige Monate nachdem er durch das Erscheinen von Die Ordnung der Dinge schlagartig zum neuen Star der Philosophie aufgestiegen war, gab Michel Foucault in einem sorgfältig durchkomponierten Manuskript seine Antwort auf diese bis heute viel diskutierten Fragen. Im Gegensatz zu denjenigen, die entweder das Wesen der Philosophie enthüllen oder sie gleich für tot erklären wollen, begreift Foucault sie als einen Diskurs, dessen Ökonomie im Vergleich mit anderen Diskursen – wissenschaftlichen, literarischen, alltäglichen, religiösen – herausgearbeitet werden muss. Der Diskurs der Philosophie schlägt somit eine neue Art und Weise der Philosophiegeschichtsschreibung vor, die von der reinen Kommentierung der großen Denker wegführt. Nietzsche nimmt allerdings einen besonderen Platz ein, da er eine neue Epoche einleitet, in der die Philosophie zur Gegenwartsdiagnose wird: Von nun an ist es ihre Aufgabe, einer Gesellschaft zu erklären, was ihr Zeitalter ausmacht. Nirgendwo hat Michel Foucault die Ambitionen seines intellektuellen Programms so deutlich gemacht wie in diesem Werk, das fast 60 Jahre nach seiner Niederschrift nun erstmals veröffentlicht wird. Eine kleine Sensation!

Literatur

Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, Suhrkamp Verlag

Honneth, Axel: Foucault und Adorno: Zwei Formen einer Kritik der Moderne, in: Peter Kemper (Hg.): „Postmoderne“ oder der Kampf um die Zukunft. Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988, Fischer Verlag, S.127-144

Honneth, Axel u. Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt/M. 2003, Suhrkamp Verlag

Kammler, Clemens und Rolf Parr: Foucault in den Kulturwissenschaften: Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007, Synchron Verlag

Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1974, Suhrkamp Verlag

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, Suhrkamp Verlag

Foucault, Michel: Der Diskurs der Philosophie, Berlin 2024, Suhrkamp Verlag

Visker, Rudi: „Foucault“: Genealogie als Kritik, München 1991, UTB W.Fink Verlag

10/17/24

EU-Kommission: Pro X (Twitter)

Kommission kommt zu dem Schluss, dass der Online-Social-Networking-Dienst von X nicht nach dem Gesetz über digitale Märkte ausgewiesen werden sollte

Die Kommission kam heute zu dem Schluss, dass der Online-Social-Networking-Dienst von X nicht als zentraler Plattformdienst gemäß dem Gesetz über digitale Märkte (DMA) ausgewiesen werden sollte.

Der heutigen Entscheidung ging eine eingehende Marktuntersuchung voraus, die am 13. Mai 2024 eingeleitet wurde, nachdem X seinen Status als potenzieller Gatekeeper gemeldet hatte. Zusammen mit der Anmeldung reichte X auch Gegenargumente ein, in denen es erläuterte, warum sein sozialer Online-Netzwerkdienst seiner Ansicht nach nicht als wichtige Schnittstelle zwischen Unternehmen und Verbrauchern angesehen werden kann, selbst wenn X die quantitativen Schwellenwerte des DMA erfüllt.

Nach eingehender Prüfung aller Argumente, einschließlich der Beiträge der einschlägigen Interessengruppen, und nach Anhörung des Beratenden Ausschusses für digitale Märkte kam die Kommission zu dem Schluss, dass X in Bezug auf seinen sozialen Online-Netzwerkdienst tatsächlich nicht als Gatekeeper in Frage kommt, da die Untersuchung ergab, dass X kein wichtiges Gateway für Unternehmen ist, um Endnutzer zu erreichen.

Die Kommission wird die Entwicklungen auf dem Markt in Bezug auf diesen Dienst weiter beobachten, sollten sich wesentliche Änderungen ergeben.

Die nicht vertrauliche Fassung der Entscheidung wird auf der DMA-Website der Kommission veröffentlicht. -Übersetzt mit DeepL.com (kostenlose Version); mit Dank an den Newsticker von Netzpolitik.org.

Anm. Wie genau diese Entscheidung der eher demokratiefernen und konzernnahen EU-Kommission zustande kam, wird wohl trotz der scheinbaren Transparenz (?) nicht leicht nachvollziehbar sein.

Derweil läuft in der EU eine Petition gegen X von Elon Musk: BanX

10/15/24

Petition BAN X in EUROPE

Das Institute of Network Cultures ruft auf:

Unterzeichnen Sie die Petition BAN X in EUROPE und beteiligen Sie sich an der Kampagne

Von admin, 12. Oktober 2024 um 3:09 Uhr.

Die Europäer müssen sich gegen den Einfluss von Elon Musk vereinen. Wenn Sie in der EU leben oder deren Werte unterstützen, bitten wir Sie dringend, diese Petition zum Verbot seiner Plattform X zu unterzeichnen.

Bitte unterzeichnen Sie die Petition auf change.org hier. Ihr Name und Ihre Daten werden nicht veröffentlicht. Weitere Informationen und Aktualisierungen finden Sie auf der Website der Kampagne.

Die Social Media Plattform X muss in Europa verboten werden. Hören Sie auf, sie zu nutzen, organisieren Sie gemeinsam den Exodus und wechseln Sie zu sichereren und besseren Alternativen wie Mastodon – schließen Sie sich hier an <https://joinmastodon.org/>.

Dies ist ein Aufruf für ein sofortiges Verbot von Elon Musks Social-Media-Plattform X (früher bekannt als Twitter) in der Europäischen Union. Diese Plattform ist zu einem Nährboden für Desinformation, Hassreden und Missbrauch geworden, die die Werte der Inklusivität und Wahrheit in unserer Gesellschaft bedrohen. X wird zunehmend als Instrument zur Verbreitung von Desinformationen über kritische Themen wie politische Debatten, Klimawandel und soziale Gleichberechtigung missbraucht. Fehlinformationen führen nicht nur die öffentliche Meinung in die Irre, sondern untergraben auch das Vertrauen in demokratische Institutionen.

So hat Musk beispielsweise rechtsgerichtete Politiker wie Trump und Meloni in Italien offen unterstützt und ihnen das Eindringen in die Politik erleichtert, um seine rechtsextreme Agenda voranzutreiben. Diese Normalisierung extremistischer Ansichten und die Verstärkung von Hassreden stehen im direkten Widerspruch zum Engagement der EU für Menschenrechte und Gleichheit.

Darüber hinaus fördert X kein faires Umfeld für freie Meinungsäußerung; es wird von Elon Musks persönlicher Propaganda und der Unterdrückung alternativer Standpunkte angetrieben, was zu Zensur und der Radikalisierung falscher Narrative führt.

Vor allem aber verstößt X gegen europäische Gesetze, darunter den Digital Services Act (DSA). Musk hat diese Vorschriften ignoriert und ist illegal in der EU tätig. Mehrere europäische Abgeordnete haben ihn bereits wegen dieser Verstöße verwarnt, doch er missachtet weiterhin den Rechtsrahmen, der unsere Bürger schützen soll. Vor kurzem wurde X in Brasilien aus ähnlichen Gründen verboten, was den dringenden Handlungsbedarf in der EU verdeutlicht.

In Anbetracht dieser Bedenken fordern wir die Europäische Kommission dringend auf, entschlossen zu handeln und X zu verbieten.

Der Schutz der europäischen Bürger vor Desinformation und Hassreden ist unerlässlich, um einen gesunden öffentlichen Diskurs zu fördern und die Sicherheit und Würde aller Menschen zu gewährleisten.

Schließen Sie sich uns an und fordern Sie ein sichereres Online-Umfeld für alle Menschen in Europa. Unterzeichnen Sie die Petition zum Verbot von X hier: <https://www.change.org/p/ban-x-in-europe-elon-musk-must-be-stopped-in-eu> und setzen Sie sich für die Werte der Wahrheit, des Respekts und der Inklusivität ein.

Andere Versionen dieses Aufrufs finden Sie unter https://BAN-X-in.EU, dem Hashtag #BAN_X_in_EU, Mastodon <https://mastodon.social/@BAN_X_in_EU> und auf X selbst <https://x.com/BAN_X_in_EU>. Pressemappe und Banner: Bilder und Fotos <https://drive.google.com/drive/folders/1pxgzfWOd9DPtGe8zQpUstBHFyibNoVak?usp=sharing>. Anfragen: ban.x.in.eu@gmail.com.

Übersetzt mit DeepL.com (kostenlose Version) reblogged von Institute of Network Cultures (wurde von Geert Lovink gegründet). Im März war in den USA eine Klage gegen Hassrede auf X abgewiesen worden.

05/24/24

Theorien des digitalen Kapitalismus

Carstensen/Schaupp/Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus: Arbeit, Ökonomie, Politik, Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2023, 533 Seiten, 28,00 Euro (Leseprobe/Inhaltsverzeichnis)

Thomas Barth

Wie kann kritische Sozialwissenschaft den digitalen Kapitalismus, heute theoretisch fassen? Wie kann sie die Frage beantworten, ob sich der Kapitalismus angesichts der gegenwärtigen Digitalisierung grundlegend verändert? Der vorliegende Band gibt einen Einblick in theoretische Analysen, Zeitdiagnosen und Debatten eines digitalen Kapitalismus. Er bespricht entlang der Felder Arbeit, Ökonomie, Politik, Kultur und Subjekt die Formen und Auswirkungen des digitalen Kapitalismus. Eine integrative Theorie des digitalen Kapitalismus scheine zwar unmöglich, gleichwohl wolle man „Verbindungen der disparaten Ansätze“ ausleuchten (Backcover). Der Begriff „Kapitalismus“ deutet es an: Die meisten Autor:innen des unübersichtlichen Sammelbandes beziehen sich theoretisch auf Karl Marx oder wenigstens auf freudomarxistische Theoretiker, etwa auf Adorno oder Habermas.

Das Taschenbuch mit einem Umfang von 533 Seiten gliedert sich in vier Kapitel mit insgesamt 25 Unterkapiteln nebst Einleitung. Die Kapitel heißen: 1. „Arbeit“, 2. „Ökonomie“, 3. „Politik und Öffentlichkeit“ sowie 4. „Kultur und Subjekte“. Die Zuordnung der Beiträge ist dabei nicht immer einsichtig, etwa wenn die sehr lesenswerten Texte von Marisol Sandoval zu digitalen Genossenschaften und Felix Stalder zu Commons und Commoning nicht unter Ökonomie, sondern im dritten bzw. vierten Kapitel landen.

Progressive Perspektive auf Digitalisierung

Eine progressive Perspektive wird markiert durch Berichte über Arbeitskämpfe gegen Digitalkonzerne, deren unethische Geschäftspolitik, feministische Beiträge zum Thema Care und Digitales sowie ökologische Kritik –bei Thomas Barth (nicht identisch mit dem Rezensenten), auf dessen Text „Nachhaltigkeit im digitalen Kapitalismus“ jedoch niemand weiter eingeht. Oft wird auch versucht, Kulturkritik am digitalen Kapitalismus zu üben, politisch die Sache der (digital) Arbeitenden gegen die Seite des (Dotcom-) Kapitals zu vertreten oder marxistische Begriffe auf die Thematik der Digitalisierung anzuwenden.

Der Marxismus wurde oft tot gesagt, erweist sich aber langlebiger als erwartet. Der renommierte Suhrkamp-Wissenschaftsverlag brachte im Herbst 2023 diesen Sammelband überwiegend marxistischer Theoretiker:innen zum „Digitalen Kapitalismus“ heraus. Deren Beiträge sind fast alle politisch links, feministisch, ökologisch, marxistisch. Aber sie dokumentieren auch eine offenbar langjährige hartnäckige Weigerung vieler Marxist:innen, sich mit politischen Debatten rund um Informationsgesellschaft, Netzwerkkultur, Web2.0 und zuletzt „Digitalisierung“ auseinanderzusetzen. Erst mit der Plattformkritik scheint hier eine Debatte eingesetzt zu haben, der aber marxistische Perspektiven punktuell durchaus nützlich sind.

So entmystifiziert und kritisiert etwa Jamie Woodcock Dotcom-Konzerne und setzt im Text „Plattformarbeit“ (S.85-101) bei Nick Srniceks „Typologie der Plattformen“ an. Plattformen profitieren von Netzwerkeffekten und ihrer Tendenz zu Monopolisierung und kämen dem nahe, was Marx einen „Kaufmannskapitalisten“ nannte, der billig kaufe und teuer verkaufe (S.90). Auf einem abstrakten Niveau werden hehre PR-Selbstdarstellungen von Woodcock auf ein simples Profitmodell zurecht gestutzt, das nur als Trittbrettfahrer des Neoliberalismus seine Erfolge feierte:. Die Zunahme der Plattformarbeit sei Teil des neoliberalen „Wandels von Arbeit, Gesellschaft und Staat“ (S.93) mit grassierender Aushöhlung von Arbeitsrechten, Prekarisierung und Abwälzung von Risiken auf die Arbeitenden. Dabei würde etwa bei Amazon Mechanical Turk menschliche Arbeitskraft als „billigere Form von Software“ ausgebeutet (S.97). „Plattformen haben sich bisher als Laboratorium für das Kapital erwiesen, könnten aber auch ein Testfeld für neue Formen des Widerstands und der Organisation von Arbeitnehmer:innen darstellen.“ (S.101)

In diesem Sinne betont etwa Simon Schaupp die Möglichkeiten von Betriebsräten, bei Digitalisierung in Unternehmen Datenschutzgesetze für die Verteidigung von Arbeitnehmerrechten zu nutzen (S.334ff.); Tanja Carstensen widmet sich dem digitalen Ringen um Handlungsfähigkeit in Kämpfen, die um gender, race, class und ability geführt werden (S.404) und kritisiert mit Nancy Fraser die idealisierte Vorstellung von Öffentlichkeit nach Habermas (S.412); das Autorentrio Nachtwey/Truffer/Seidl kritisiert den „solutionistischen Geist des Kapitalismus“, aber ohne den Transhumanismus beim Namen zu nennen (S.458ff.); Helen Hester blickt zurück auf die Geschichte des Cyberfeminismus, der Beziehung von Frau und Technik vom Flechten und Weben über die feminisierte Schreibmaschine bis zum Cyberpunk-Genre (S.424ff.), seltsamerweise ohne dabei Donna Haraway zu erwähnen, obwohl sie sich auf deren Konzept vom situierten Wissen beruft (S.434); Jodi Dean ruft zum Kampf gegen den digitalen Neofeudalismus auf, der Arbeitende zu rechtlosen Bauern in einem „Game-of-Throne-Machtkampf“ (S.439) degradiert, beruft sich dabei auch auf den sozialistischen Ökonomen Yanis Varoufakis, den griechischen Ex-Finanzminister, dessen Europa-Wahlkampf-Auftritt in Deutschland jüngst verboten wurde -was man als Zeichen feudaler Willkür sehen könnte. Aus dem Wimmelbild kritischer Ansätze wichtige Argumentationsfiguren und Diskursarenen herauszufiltern ist verständlicherweise schwierig. Eine kritische Rezension muss einige Defizite des Sammelbandes benennen.

Digitalisierung und Informatisierung

Die Einleitung klärt zunächst die Begriffe Digitalisierung und Informatisierung, wobei letzere die Vergegenständlichung geistiger, regulierend-orientierender Tätigkeiten meint. In Zeichen oder Information erlange dabei nur ein Teil menschlicher Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissens „eine eigenständige Gestalt“. Andere Kommunikationspartner:innen müssten die vergegenständlichten Informationen dann wieder in ihr Wissen und ihre Erfahrungen einbetten. Diese kooperative „Arbeit an den Zeichen“ (Fn1) bediene sich auch unterschiedlicher Informationstechniken. Informatisierung meine in einem zweiten Sinn die „Materialisierung des Informationsgebrauchs“ (Fn2) in Informationssystemen. Es ginge hier um den organisierten und vergegenständlichten Umgang mit Informationen. Digitalisierung sei demgegenüber die Formalisierung, Reduktion und Integration von Information die in virtuellen Modellen gipfle, welche Tätigkeiten, Arbeit und der Herstellung von Technik vorausgehe (S.10).

Gleich die erste Fußnote der Einleitung verweist auf einen posthum erschienenen Band mit Schriften von Arne Raeithel (1943-96) „Selbstorganisation, Kooperation, Zeichenprozess“ (1998), die zweite auf den Beitrag von Andreas Boes und Tobias Kämpf, „Informatisierung und Informationsraum: Eine Theorie der digitalen Transformation“ (S.141-161), so als hätten diese Raeithels für das Thema des Sammelbandes einschlägige Arbeiten weiterentwickelt. Leider nehmen Boes und Kaempf keinen Bezug auf Raeithel und auch sonst keiner der Beiträge -die drei weiteren Texte der Herausgeber:innen inbegriffen.

Boes und Kämpf blicken in ihrem Beitrag auf die Informatisierung als zentrales Element der Produktivkräfte, aus „historischer Perspektive“ sogar als „Teil der conditio humana“ sowie auf Information als soziale Kategorie (S.143). Wir werden sehen, dass Arne Raeithel in den 1980er und –90er Jahren die Ehre hatte, diese drei „konzeptionellen Säulen“ nicht nur als grundlegend vorauszuahnen, sondern zumindest teilweise auch bereits tiefer und detaillierter auszuarbeiten als Boes und Kämpf in ihrem Text erkennen lassen. Sie monieren am Stand der Forschung, dass wegen der Marx’schen Fokussierung auf industrielle Handarbeit die „Sphäre der Kopfarbeit“ vernachlässigt wurde. Ihr „Konzept der Informatisierung“ will „an dieser analytischen Leerstelle“ ansetzen, doch die vermeintliche Leerstelle hätte sich durch Lektüre von Raeithel mehr als schließen lassen. Ihr historischer Rückblick auf Zeichensysteme bis Buchdruck (S.150ff.) bleibt deutlich hinter Raeithels Geschichte der „symbolischen Herstellung sozialer Kohärenz“ zurück, der Vor- und Frühgeschichte bis Ethnologie aufbietet (Raeithel 1998, S.189-208) vgl. Raeithel 1996.

Die multimediale Welt des heutigen WWW konnte Raeithel noch nicht kennen, doch der von Boes und Kämpf als Fazit ihrer Analyse präsentierte, von „Bild, Ton, Zeichen usw.“ (S.154) erfüllte „Informationsraum“ überzeugt nicht wirklich: Er sei sozialer Handlungsraum, durchdringe die Gesellschaft, „eröffne das Potenzial für einen egalitären Modus der gesellschaftlichen Produktion von Wissen“ (S.158). Dies sind heute Gemeinplätze oder schon lange fragwürdig gewordene Hoffnungen der „Kalifornischen Ideologie“ des Slicon Valley (Barth 1999). Die Raummetapher für das Internet stammt aus den 80er-Jahren, der Cyberspace, den die Matrix-Filme auf die Leinwand brachten. Sie ist seit einer guten Dekade als ein Ordnungsmodell des Internets in den Medienwissenschaften kanonisiert –Raummodelle: Cyberspace, Portal, Plattform (Bleicher 2010, S.46 ff.); heute sind die Raummodelle nur noch eines von einem Dutzend Ordnungsmodelle, von „Dispositiv“ bis „Suchmaschinen“ (Bleicher 2022, S.109 ff.) –hier scheinen den Marxisten schlicht wichtige Basiskenntnisse aus der einschlägigen Nachbarwissenschaft zu fehlen. Das ist schlecht, wenn man ein nur interdisziplinär fassbares Thema bearbeiten will.

Arne Raeithel und Mark Poster als vergessene Klassiker

Thomas Barth (der Rezensent, nicht der Beiträger zum Suhrkamp-Band) zeichnete 1995 im Exkurs „Marxistische Ansätze zur Informationsgesellschaft“ die marxistische Begriffsentwicklung zur Informatisierung u.a. beim US-Marxisten Mark Poster und beim marxistischen Psychologen Arne Raeithel nach (Barth 1997, S.79ff.). Poster entwickelte aus dem Marx’schen Begriff der „Produktionsverhältnisse“ unter Bezug auf postmoderne Theorie (Baudrillard, Foucault) seinen auf die kommende Informationsgesellschaft zugeschnittenen Begriff der „Informationsverhältnisse“ -aber keiner der Suhrkamp-Beiträge bezieht sich auf Poster. Am weitesten ausgearbeitet war die marxistische Analyse der Digitalisierung, die man damals noch Informatisierung nannte, m.W. jedoch bei Arne Raeithel.

Raeithel analysierte soziale Kommunikation als Form gesellschaftlicher Arbeit, basierend auf einem vergegenständlichten Begriff von Sprechhandlungen bzw. generell von Information als Trägerin einer symbolisch geteilten Welt (Raeithel 1989). Dies greift der zweiten „Säule“ der Konzeption von Boes und Kämpf vor, Informatisierung als soziales Verhältnis und gesellschaftlichen Prozess zu verstehen, wobei Raeithel mit „Zur Naturgeschichte der Zeichenprozesse – Drei Stufen der Entwicklung von Kommunikation und Denken“ (Raeithel 1998, S.243-255) auch die dritte „Säule“, die historische Perspektive auf die informatorische conditio humana vorwegnahm. Dabei schloss Raeithel, der zu den sehr frühen Anwendern von Computer und Internet zählte und selbst programmieren konnte, ausdrücklich „rechnergestützte“ Arbeit, d.h. Arbeit im digitalen Bereich, ein (Raeithel 1992).

Raeithels Ansatz gründete auf der sowjetischen kulturhistorischen Schule von Leontjew und Wygotsky, die im Stalinismus marginalisiert wurde. Er formulierte einen Arbeitsbegriff aus, der kognitive Tätigkeit an symbolischen Gegenständen ins Visier nahm. Der so gezeichnete Arbeitsprozess zielt auf Veränderungen von Können, Begriffen und Werkzeugen, also auf die sich entwickelnde Reproduktion der inneren und äußeren Verhältnisse der Subjekte (Raeithel 1998, S.35). Raeithel ging damit bereits nicht nur über die theoretische Analyse von Boes und Kaempf hinaus, sondern bewegte sich in Bereichen, die der vorliegende Sammelband eher defizitär im Kapitel „Kultur und Subjekte“ behandelt.

Regulierung digitaler Plattformen

Ulrich Dolata und Jan-Felix Schrape entwerfen in ihrem Beitrag „Politische Ökonomie und Regulierung digitaler Plattformen“ ein –zumindest für diesen Sammelband- überraschend unkritisches, teils fast affirmatives Bild der Plattformkonzerne. Aus Sicht der Organisations- und Innovationssoziologie verteidigen sie zunächst die US-Technologiekonzerne Amazon, Apple, Alphabet/Google und Meta/Facebook gegen die Vorhaltung, dort würde in einem „asset-light-Geschäftsmodell“ weitgehendes Outsourcing betrieben (S.346). Unklar bleibt dabei, warum sie Microsoft ausnehmen. Ihre analytische Teilung von „Plattformunternehmen als organisatorischer Kern“ und der „Plattform als sozialer Handlungsraum“ scheint die Unabhängigkeit besagter „Handlungsräume“ von den Konzernen zu betonen. Das spielt deren Management in die Hände, das die Freiheit ihrer Nutzer gegenüber eigener manipulativer Eingriffe herausstellt. Dolata und Schrape erwähnen zwar das Machtgefälle zwischen Nutzer:innen und Konzernen, haben aber wenig Einwände gegen konzernseitige „lückenlose Beobachtung“ des Nutzerverhaltens, dessen Daten „zunächst als Rohmaterial anfallen“ (S.349).

Sie kritisieren den Ansatz von Shoshana Zuboff, weil deren „Überwachungskapitalismus“ bei der Entstehung dieser Daten fälschlich von „unbezahlter digitaler Arbeit“ der Nutzer ausgehe, obwohl es doch „viel trivialer“ um die „bereitwillige Offenlegung… alltäglichen Verhaltens“ ginge. Was den Nutzer:innen, die ihre „Datenspuren oft achtlos und im Vorbeigehen liefern“, entzogen wird seien wertlose Rohstoffe. Diese werden erst von den Konzernen durch „Aufbereitungs- und Veredelungsleistungen“ zur Ware erhoben. Die Konzerne erwerben damit offenbar nicht nur das ökonomische, sondern auch noch das moralische Recht, private Kommunikation als „handelbare Datensätze und personalisierte Werbemöglichkeiten“ zu Geld zu machen (S.358). Die Fixierung auf marxsche Wertlehre verstellt hier womöglich den Blick auf die Manipulation der Nutzer:innen, deren Daten nicht „achtlos im Vorbeigehen“, sondern in vorsätzlich süchtig machenden Strukturen produziert werden.

Beim Thema Regulierung sehen Dolata und Schrape die Plattformen unter „intensiver Beobachtung“ einer „politischen Öffentlichkeit“. Zivilgesellschaft und Journalisten hätten „Desinformationsdynamiken“ und „Verletzungen der Privatsphäre“ aufgedeckt –nebenbei bemerkt: in jenen Konzernaktivitäten, die Dolata und Schrape als „Veredelungsleistungen“ bezeichneten. Doch die Plattformkonzerne hätten auf die Kritik „durchaus reagiert –etwa mit Transparenzinitiativen sowie Versuchen einer institutionalisierten Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in ihre eigenen Regulierungsstrukturen“. (S.360) Beispiele nennen die Autoren nicht, daher kommt die Frage nicht auf, ob es sich dabei nur um die üblichen PR-Spektakel gehandelt haben könnte.

Felix Stalder: Plattform-Demokratie-Spektakel

Facebook wurde nach diversen Skandalen in den USA besonders das Ziel von öffentlicher Kritik. Senatsanhörungen brachten Konzernchef Zuckerberg persönlich ins Schwitzen (was sogar wörtlich stimmte: man konnte in der TV-Übertragung sehen, wie der CEO mit Schweißtropfen auf der Stirn sein Sakko ablegen musste). Dennoch bewertete Felix Stalder 2016 Facebooks Reformen der „eigenen Regelungsstruktur“ kritisch.

Facebook habe sich zwar 2009 selbst auferlegt, Änderungen der Geschäftsordnung einer Abstimmung vorzulegen, sobald 7000 Kommentare dazu abgegeben würden; doch das Quorum von 30 Prozent der User:innen wäre bis zur Abschaffung der Regel 2012 nie erreicht worden, auch weil die Konzern-Demokratie dazu neigte die Wahlurnen zu verstecken. Überhaupt hätten Anbieter wie Facebook sich bemüht „mit jeder Neuerung das Machtgefälle zwischen Nutzern und Betreibern“ zu verschärfen (Stalder 2016, S.217). Kannten Dolata und Schrape das Buch ihres Kollegen Stalder nicht?

Felix Stalder lieferte auch einen äußerst lesenswerten Beitrag zum hier besprochenen Suhrkamp-Band, der sein recht bekanntes Werk „Kultur der Digitalität“ von 2016 selbstkritisch hinterfragt. Stalders 2016 noch große Begeisterung für die digitale Allmende („Commons“) der Open-Source-Bewegung wurde inzwischen gedämpft. Der Neoliberalismus instrumentalisiere zunehmend Commons als Trostpflaster für soziale Raubzüge, etwa wenn mittels Crowdsourcing bezahlte Arbeit durch schlechtbezahlte Arbeit ersetzt würde.

Der Geist der freien Software mit Gnu-Public-Licence (GPL) würde von der Software-Industrie heute unterlaufen, indem ihre Dienstleistung über die Cloud angeboten würde –ohne den Quellcode der spezifisch angepassten GPL-Programme offenlegen zu müssen: Eine neue Form kapitalistischer Einhegung einer Allmende. Kombination mit firmeneigenem Code sei eine weitere Einhegung, etwa bei Googles dadurch nicht wirklich offenem Android-System. Kulturelles Commoning diene auf Plattformen der Kommerzialisierung von Nutzerdaten-Extraktion. Schlimmer noch:

„Aber die Einhegung findet nicht nur als Form des Datenextraktivismus statt, sondern auch durch vielfache Möglichkeiten des ‚nudging‘, das die aus Nutzer:innensicht nichtkommerzielle Tätigkeiten in für Plattformbetreiber kommerziell interessante Richtungen lenkt, mit allen problematischen Konsequenzen.“ Felix Stalder 2023, S.510

Kulturproduktion im Internet wird so hinter dem Rücken der User doch wieder für eine Kulturindustrie vereinnahmt. Da wir von der Frankfurter Schule gelernt haben, so Mark Poster 2003, wie verheerend sich die Kulturindustrie auf die Arbeiterklasse und andere demokratisierende Bewegungen auswirkt, sei es unsere Pflicht, die Möglichkeiten ihrer Technologie zu verstehen. Wir sollten lernen, wie sie bei der Konstruktion kultureller Formen eingesetzt werden können, die einer demokratischen Lebenswelt angemessener sind.

Habermas und Plattform-Kapitalismus

An den Adorno-Schüler Habermas knüpfen immerhin zwei Beiträge an: Nosthoff/Maschewski untersuchen mit einem brandneuen Habermas-Text „Plattformökonomische Öffentlichkeiten“, denen der Nestor der kommunikativen Vernunft „höchst ambivalente und möglicherweise disruptive Auswirkungen auf die politische Öffentlichkeit“ zuschrieb. Die Fragmentierung des Publikums in emotionalisierte Teilöffentlichkeiten, Fakenews, Donald Trump und Gereiztheit plagen uns: „Kommunikation und Kontrolle bilden so das dominante wie dialektische Signum der Social-Media-Plattformen: Wer die Strukturen der Kommunikation kontrolliert, definiert auch die Strukturen der öffentlichen Sphäre“ (S.371f.). Nicht, dass nicht schon vor dem Start des WWW, aus dem die Plattformen dann entsprangen, vor dem Zusammenfließen von panoptischer Kontrolle und Verhaltenssteuerung gewarnt worden wäre: Das von mir seit 1996 empfohlene Gegengift eines „Inversen Panoptismus“, einer Umkehrung der Kontrolltechnologie gegen die Machtzentren, scheint den akademischen Autoren wohl zu radikal (Barth 1996). Keiner wagt es auf den 533 Seiten, die hier profilierteste Anti-Plattform auch nur zu erwähnen –Wikileaks und ihren wegen „Geheimnisverrat“ seit fünf Jahren inhaftierten Gründer Julian Assange.

Der zweite Habermas-affine Text ist von Evan Fisher: „Algorithmen und das Selbst“ (S.514-532) und beschließt den Band. Er untersucht die Rolle des Wissens in der Ko-Konstituierung von Mensch und Maschine, wobei Plattformen als „epistemische Medien“ analysiert werden. Mit Friedrich Kittler sieht Fisher Medien als Kulturtechniken, die Wissen über das Selbst schaffen, und dem Selbst in der öffentlichen Sphäre Selbstreflexion erlauben, so Habermas. Dessen emanzipatorisches Erkenntnisinteresse leitet Fisher aus der Psychoanalyse her und verfolgt es bis in die heutige Medienwelt der Plattformen. Deren Algorithmen schaffen zwar Wissen über das Selbst, jedoch ohne Selbstreflexion wie die Psychoanalyse, die Habermas der kritischen Theorie zuordnet. So endet der Sammelband pessimistisch, wobei Fisher noch die Profit-Eigeninteressen der Plattformen unterschätzt und ihr User-Profiling als auf „quasi-freiwilliger“ Selbstbewertung sieht (S.528).

Andere Beiträge, wie jener von Felix Stalder belehren ihn jedoch eines Besseren und wenn alle versammelten Autoren den ganzen Band rezipieren und die Wissenslücken ihrer divergierenden Ansätze damit schließen würden, hätte die Debatte schon viel gewonnen. Es fehlten gleichwohl, wie in dieser Buchkritik ausgeführt, noch viele Erkenntnisse der Medienwissenschaft und aus den kritischen Diskursen der Netzkultur (-Wissenschaft). Etwa aus den Texten des -von keinem der Suhrkamp-Beiträge zitierten- Experten Geert Lovink, der es in den liberalen Niederlanden vom Aktivisten und Netzkritiker zum Professor für Kunst und Netzwerkkulturen brachte. Lovink sieht uns „In der Plattformfalle“ und plädiert seit Jahren für eine „Rückeroberung des Internets“, dabei warnt er spöttisch:

„Man sollte sich nicht in pedantischen Übungen verlieren, um akademische Territorien mit ihren Kanons und Methoden zu definieren und zu verteidigen… Wir sollten die momentane Leichtigkeit annehmen und uns über die Verwirrung unter jenen amüsieren, die versuchen, ‚Digitalisierung‘ zu kartieren.“ Lovink 2022, S.29

Nicht Marx, aber Marxisten ignorieren Technologie

Vor über 20 Jahren zeigte sich Mark Poster (1941-2012) erstaunt über das Ausmaß, in dem viele Marxisten dazu neigten, neue Technologien „fast vollständig zu ignorieren“. Diese nahmen an, dass der Kapitalismus den entstehenden Cyberspace, das Internet vollständig übernehmen würde. Poster fand das sehr überraschend, weil Marx doch stets darauf geachtet habe, die Art und Weise zu untersuchen, wie soziale Innovationen sowohl für bestehende Institutionen als auch in Richtung ihrer Infragestellung wirkten. Marx selber wäre sogar so weit gegangen, disruptiv-brutale Ereignisse wie die Zerstörung der indischen Baumwollindustrie durch britische Kolonialisten insofern zu begrüßen, als sie die historische Entwicklung zum Sozialismus fördern könnten. Das Misstrauen marxistischer Kritiker gegenüber dem Internet erschien Mark Poster daher übertrieben, besonders angesichts der Chancen progressiver Netzkultur in der Open-Source und Hacker-Szene. Sein Optimismus speiste sich aus dem, was damals als „Kalifornische Ideologie“ wegen Ignoranz gegenüber der sozialen Frage kritisiert und heute auch als Transhumanismus bezeichnet wird.

Es war die Zeit einer ersten Verbreitung von Unternehmens-Websites, gefolgt von Börsen-Hype und Dotcom-Crash 2001, als im Kampf um die Netzkultur noch vieles offen war. Für Marxisten war es damals jedoch schon offensichtlich, so Mark Poster, dass das Internet nur eine weitere Teufelei war, um die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer zu machen. Heute, nach der Durchsetzung des Plattform- oder Überwachungskapitalismus, müssen wir leider feststellen, dass die Pessimisten nicht völlig falsch lagen. Zwar hat sich die widerständige Netzkultur weiterhin gehalten, doch Dotcom-Konzerne stehen in der Öffentlichkeit und an den Börsen als Sieger da. Marxistische Kritik an der Plattform-Industrie leidet heute unter deren Ignoranz zwar nicht mehr gegenüber der Technologie selbst, aber gegenüber den sie betreffenden Diskursen. Technik- und Netzkritik, wie sie auf Netzphilosophie gepflegt wird, scheint in vielen Suhrkamp-Beiträgen leider eher unbekannt zu sein. Erst mit der Plattformkritik scheint hier eine Debatte eingesetzt zu haben, der aber marxistische Perspektiven punktuell durchaus nützlich sind.

Fazit

Leider kann der Sammelband trotz vieler herausragender Beiträge seine Versprechen nicht einlösen, vor allem nicht jenes, die „Verbindungen der disparaten Ansätze“ auszuleuchten. Schon die Gliederung in die Kapitel „Arbeit“, „Ökonomie“, „Politik und Öffentlichkeit“ sowie „Kultur und Subjekte“ überzeugte wohl nicht jeden. Abweichend davon benennen die Herausgeber:innen sie in den Titeln der Unterkapitel ihrer Einleitung „Produktivkraftentwicklung und Arbeit“, „Wertschöpfung und Ökonomie“, „Politische Regulation und Öffentlichkeit“ sowie „Kulturelle Regulation und Subjekte“. Zu Beginn der Einleitung findet sich zudem der noch weitgehender abweichende Vorschlag zur „Strukturierung des Feldes anhand der kapitalismustheoretischen Basiskategorien Produktivkraftentwicklung, Arbeit, Wertschöpfung, politische Regulation sowie Kultur und Subjekte“ (S.11).

Die nicht immer einsichtige Zuordnung der Beiträge zu diesen Kapiteln bzw. Kategorien sowie insbesondere das Fehlen editorischer Orientierungshilfen machen den Sammelband äußerst unübersichtlich. Am Ende des Buches findet sich lediglich eine Liste mit Textnachweisen für die sieben Beiträge, die keine Originalbeiträge sind. Es fehlen biographische Angaben zu den Autor:innen, Literaturlisten zu den Beiträgen, ein Schlagwort- oder wenigstens Namensregister. Es fehlt mithin alles, was der Leser gebraucht hätte, um wirklich Verbindungen der disparaten Ansätze ausleuchten zu können. Einen Überblick über die verwendete Literatur gewinnt man nur mühselig aus den weit über tausend Fußnoten. Bezugnahmen der Beiträge oder Autor:innen aufeinander sind seltene Ausnahmen, bleiben fast immer beim bloßen Namedropping -selbst bei der in den Leitmedien herumgereichten und daher schwer ignorierbaren Shoshana Zuboff. Die renommierte Havard-Professorin gehört mit ihrer Kritik des „Überwachungskapitalismus“ zu den am häufigsten zitierten Autor:innen im Sammelband, leider fast immer nur als inhaltsleerer Verweis auf das Problem der Überwachung (das damit oft als abgehandelt betrachtet wird). Eine lebendige Diskussionskultur, Diskurse und Debatten, für die es allein schon innerhalb der marxistischen Digitalisierungsforschung genügend Themenfelder gäbe, sucht man bislang offenbar weitgehend vergeblich.

Herausgeber:innen und Autor:innen des Sammelbandes

Die drei Herausgeber:innen, die selbst Beiträge liefern und gemeinsam die Einleitung verfassten, sind: Tanja Carstensen, Privatdozentin für Soziologie der LMU München und Koordinatorin des Forschungsverbunds Sorgetransformationen an der Universität Hamburg, Simon Schaupp, Gastprofessor am Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft am KIT in Karlsruhe und Oberassistent für Soziologie der Universität Basel, Sebastian Sevignani, Akademischer Rat für Soziologie der Schiller-Universität Jena. Weitere Beiträger:innen sind: Thomas Barth (mit dem Rezensenten weder identisch noch verwandt noch bekannt), Kean Birch, Andreas Boes, Florian Butollo, D. T. Cochrane, Jodi Dean, Ulrich Dolata, Emma Dowling, Marlen van den Ecker, Eran Fisher, Christian Fuchs, Helen Hester, Ursula Huws, Kylie Jarrett, Tobias Kämpf, Felix Maschewski, Oliver Nachtwey, Anna-Verena Nosthoff, Tilman Reitz, Sarah T. Roberts, Marisol Sandoval, Stefan Schmalz, Jan-Felix Schrape, Timo Seidl, Nick Srnicek, Philipp Staab, Felix Stalder, Johannes Truffer, Judy Wajcman, Jamie Woodcock.

Literatur

Barth, Thomas, Das inverse Panoptikum: Ein postmoderner Ansatz für die politische Informationsstruktur des Cyberspace, zuerst in: Informatik Forum, Nr.2 1996, S.68-71.

Barth, Thomas: Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft, Centaurus, Pfaffenweiler 1997.

Barth, Thomas: Die “Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace” und der Panoptismus der globalen Netze, in: Medienwissenschaft, Nr.4, 1999, S.402-407.

Bleicher, Joan Kristin: Internet, UVK (UTB), Konstanz 2010.

Bleicher, Joan Kristin: Grundwissen Internet, UVK (UTB), Konstanz 2022.

Carstensen, Tanja, Simon Schaupp und Sebastian Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus: Arbeit, Ökonomie, Politik, Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2023.

Poster, Mark: The Mode of Information: Poststructuralism and Social Context, Polity Press, Cambridge 1990.

Poster, Mark: The Second Media Age, Polity Press, Cambridge 1995.

Raeithel, Arne: Kommunikation als gegenständliche Tätigkeit, in: Knobloch, C. (Hg.): Kommunikation und Kognition, Nodus, Münster 1989, S.29-70.

Raeithel, Arne: Ein kulturhistorischer Blick auf rechnergestützte Arbeit, in: Wolfgang Coy et al. (Hg.): Sichtweisen der Informatik, vieweg, Wiesbaden 1992, S.125-139.

Raeithel, Arne: Selbstorganisation, Kooperation, Zeichenprozess: Arbeiten zu einer kulturwissenschaftlichen, anwendungsbezogenen Psychologie, Westdt.Vlg., Wiesbaden 1998.

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität, Suhrkamp, Berlin 2016.

Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus, Frankfurt/M. 2018.

-Siehe auch die etwas reißerische Polemik (der Kampf um Aufmerksamkeit ist hart) des Rezensenten auf Telepolis: Warum Marxisten die Digitalisierung nicht verstehen

03/31/24

Hass, Twitter, X – Vor Gericht: Elon Musk

X Corp. hat das Center for Countering Digital Hate verklagt. Die gemeinnützige Organisation hatte Hassrede und fehlende Moderation auf X kritisiert. Ein US-Gericht hat die Klage nun abgewiesen – und dafür klare Worte gefunden. Hassrede und Desinformation haben auf X (vormals Twitter) deutlich zugenommen – insbesondere seit der Übernahme der sozialen Plattform durch Elon Musk vor knapp eineinhalb Jahren. Das bestätigen zahlreiche Studien wie jene des Center for Countering Digital Hate (CCDH).

Im Juni vergangenen Jahres hatte die gemeinnützige Organisation eine Studie über Hassrede auf der Plattform X (ehemals Twitter) veröffentlicht. Demnach ergreife X keine Maßnahmen gegen einen Großteil der verifizierten Konten, die in dem sozialen Netzwerk Hass verbreiteten. Einen weiteren Bericht, der zu ähnlichen Ergebnissen kam, veröffentlichte das CCDH im vergangenen November.

Die Kritik passte dem damals noch recht neuen Besitzer des Kurznachrichtendienstes, Elon Musk, nicht. X Corp., die Muttergesellschaft des Social-Media-Konzerns X, reichte im Juli vergangenen Jahres eine Klage gegen das CCDH ein, die ein US-Bundesgericht am vergangenen Montag abwies.

(…)

Ganzer Text auf Netzpolitik, 27.03.2024 von Lea

03/14/24

Rezension Märzendorfer/Glasmeier: Eine Klavierzerlegung

Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier: smashed to pieces… Eine Klavierzerlegung / A Piano Dismantling, hg. v. Carsten Seiffarth, Textem Verlag, Hamburg 2023

Thomas Barth

Kunst und Philosophie suchen oft jenseits der Alltagswelt nach Erkenntnis: Wie Netzphilosoph Felix Stalder und Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein mit einer Performance zusammenhängen und was das mit Millenials, Snowflakes, Digital Natives und „Mr.Robot“ zu tun hat.

Der originelle Aktionskunstband funktioniert als Daumenkino im DIN-A-5-Format, das auf den rechten Seiten die De- bzw. umgekehrt Remontage des zerlegten Klaviers illustriert: Eine Performance von Claudia Märzendorfer. Die Bühne wird dabei statisch von oben aufgenommen, so dass man jeweils bis zu fünf Personen kommen, gehen und agieren sieht. Die ca. 75 Fotos zeigen die systematische Zerlegung des Instruments, bei der nur selten Schusswaffen, meist aber handelsübliche Werkzeuge, Schraubendreher, Zangen zum Einsatz kommen. Linker Hand finden sich begleitende und kommentierende Texte, insbesondere ein langer Essay von Michael Glasmeier, der den kunstgeschichtlichen Rahmen aufspannt –auch in englischer Übersetzung: „Das Buch markiert den Versuch, Kunstwerk und Bilddenken, Filmzeit und Lesezeit, Gegenwart und Geistesgeschichte in unmittelbaren Nachbarschaften reflektieren zu können.“ Prof. Glasmeier ist Kunsthistoriker, Lyriker und Ausstellungsmacher und befasst sich mit bildender Kunst, Musik, Sprache, Film, Fotografie sowie Komik, Subversion und Politik.

Neben der Bühne mit Motorroller und Klavier befindet sich, wie eingangs weitere Aufnahmen zeigen, eine seltsame Schreibmaschine auf einem Stapel Papier: Eine aus Tinten-Eis geformte Attrappe der vom Komponisten Arnold Schönberg erfundenen, aber nie gebauten „Notenschreibmaschine“, die langsam schmilzt und sich in die unter ihr aufgestapelten Notenblätter ergießt. Man ahnt: Es geht um Zeit, Musik, Mechanik und das Ringen des Menschen um Bedeutung in einer von Kultur überfluteten Welt.

In ihrem Videofilm smashed to pieces … (2018) zeigt die Wiener Künstlerin Claudia Märzendorfer die Zerlegung eines Klaviers in einem konzentrierten Live-Act, an dem acht Personen, Werkzeuge, ein Gewehr und ein Motorrad beteiligt sind. Im Gegensatz zu den zahlreichen Klavierzerstörungen – ein seit dem 19. Jahrhundert spezielles Sujet von Comedy bis zur Wiener Gruppe oder Fluxus – führt bei Märzendorfer der destruktive Akt zu stets neuen starken und überraschenden Bildfindungen und Tableaus.“ (Verlagstext)

Welt und Hand: Das Manual digitalisiert Sinnliches

Die Computertastatur, das magische Keyboard der Hacker, hat klangvolle Vorfahren in der Ahnenreihe der Tasteninstrumente. Orgel, Cembalo, das moderne Klavier digitalisierten Musik schon lange bevor Charles Babbage die erste Rechenmaschine montierte. Digitalisiert im weiten Sinne sind nach Felix Stalder Informationen, wenn sie mittels eines Systems diskreter Zeichen gespeichert werden (Stalder 2016, S.100): Bunte Scherben im Mosaik, Schriftzeichen oder eben Noten. Ab 1709, als der florentiner Instrumentenbauer Bartolomeo Cristofori (1655-1731) das Klavier erfand, werden den zarten Saiten der Muse die Noten virtuos eingehämmert. Als großbürgerliches Kulturmöbelstück, Prestige- und Kultobjekt besonders in Wien steht es, so meint Glasmeier, wie kein anderes Instrument für die KuK-Bourgeoisie und führt als Beleg Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin an. Deren Protagonistin rüttelte bekanntlich relativ vergeblich an den gesellschaftlichen Gitterstäben im bourgeoisen „Gefängnis ihres alternden Körpers“ -dem biopolitischen Dispositiv, dem das musisch-mechanische Dispositiv des Klavierkorpus zugeordnet ist (zit.n. Creutzburg S.37).

In Jelineks Roman wird das strenge Regime einer auf Status und Konkurrenz angelegten Klavierausbildung drastisch beschrieben. Die Versuche der Protagonistin, sich von der dominanten Mutter zu befreien und ihre erotischen Fantasien auszuleben, bleiben im zähen Normengefüge einer verkrusteten Gesellschaft stecken. Die masochistischen Neigungen der Klavierspielerin werden von Jelinek mit der Strenge der Musikausbildung durch ihre Mutter in Verbindung gebracht und lesen sich wie ein früher Beitrag zur Erziehungsdebatte, die später das Buch Battle Hymn of the Tiger Mother (2011) der US-chinesischen Autorin Amy Chua auslösen sollte. Gerade die autoritäre Erziehung zur klassischen Musik (Klavier und Geige) habe der Tiger-Mutter ermöglicht, so Chua, ihren beiden Töchtern Leistungswillen einzupauken.

Chua lieferte der neoreaktionären NRx-Bewegung in den USA Munition für den Kulturkampf gegen die angeblich übermäßig verhätschelte „Generation Snowflake“ der Millenials, auch Gen Y oder Digital Natives genannt. Deren von der 68er-Bewegungen geprägte Hippie-Eltern hätten ihren Nachwuchs in Watte gepackt und ihm ständig dessen Einmaligkeit (wie eine Schneeflocke) trotz tatsächlicher Mittelmäßigkeit versichert. Die neoreaktionäre Alt-Right-Bewegung beruft sich auf Film und Buch „Fight Club“, wo so benannte Snowflakes brutal zu Kämpfern umerzogen werden. A.N.Smith sieht als Reaktion der Kabelsender auf Annahmen über die Persönlichkeiten, Vorlieben und Verhaltensweisen von Millenials bzw. Snowflakes die TV-Serie „Mr.Robot“. Bei Mr.Robot steht ein Digital Native als Hacker im Mittelpunkt, der sich -was als Antwort auf „Fight Club“ gelesen werden kann- trotz psychischer Probleme und Sensibilität zu wehren versteht. Im deutschen Kino setzte sich Oskar Roehlers Film Tod den Hippies! Es lebe der Punk! mit der Problematik auseinander.

Im deutschen Diskurs wurde Chua unter dem Topos einer „Rückkehr des Rohrstocks„, d.h. von Zucht und Ordnung in der Erziehung diskutiert und fand konservative wie leistungsorientierte Anhänger (Springer-Zeitung „Die Welt„). Wenn sich in Märzendorfers Performance aggressive Impulse gegen das Klavier richten, erfüllen sie den Wunsch nach biopolitischer Rebellion und stehen überdies in langer künstlerischer Tradition. Das Backcover zitiert Emerson zweisprachig nach Musil:

Ralph Waldo Emerson 1857

»Die Dinge, die durch den Dunst von gestern
so gewaltig erschienen – Eigentum, Klima,
Erziehung, persönliche Schönheit und anderes
mehr, haben ihre Verhältnisse merkwürdig
verändert. Alles, was wir für fest hielten,
schwankt u. klappert …«

“The facts which loomed so large in the fogs of
yesterday,—property, climate, breeding, personal
beauty, and the like, have strangely changed their
proportions. All that we reckoned settled shakes
and rattles …”

Ralph Waldo Emerson (zitiert von / quoted by Robert Musil)

Im April 1959 hätten, so Glasmeier, die skandalisierten Künstler der Wiener Gruppe daher durch Fechtmasken geschützt (und, wie der Rezensent anmerken möchte, als Burschenschaftler maskiert) mit Beilen ein Instrument zerlegt. Friedrich Achleitner fuhr dazu mit einem Motorroller auf die Bühne, was 2018 von der destruierenden Claudia Märzendorfer referenziert wurde: Die Wiener Künstlerin Nicole Six durfte bei dieser Klavierzertrümmerung auf der Vespa vorfahren und zückte, weil Künstler sich gerne gegenseitig übertreffen, ein Gewehr, um mit zwei Schüssen ins geöffnete Piano den Reigen der Gewalt zu eröffnen. Danach erfolgt die systematische Demontage, einer Vivisektion am Instrument gleich -womit die Performance gleich noch symbolisch das beliebteste Mediengenre nachstellt: Den Fernseh-Krimi: Ein Schuss, ein Schrei und alles Weitere nach der Obduktion, bis das Kleinbürgertum vor der Mattscheibe am Ende den Übeltäter in Handschellen vom Polizisten abgeführt sieht und mit zwei Lektionen in den süßen Schlaf sinken kann: Fürchte deinen Nächsten, er könnte ein Mörder sein, und nur die Staatsgewalt steht zwischen dir und dem Chaos. Chaos verbreiten gerne Künstler als Bürgerschreck, wie z.B. auch Fluxus. Fluxus, die Künstlergruppe, der auch Nam June Paik angehörte (der bei Netzphilosoph Felix Stalder als Nestor elektronischer Medienkunst herbei zitiert wird), sprach einst vom Kampf gegen die Bürgermusik.

Lustvolle Zerstörungsorgien treffen schon seit Stummfilmzeiten gerne das Klavier, Resonanzmöbel und absoluter Klangkörper. Neben seiner pompösen Bürgerlichkeit wäre so das Instrument für anarchische Zweckentfremdung prädestiniert „…zumal die immense Spannung, die vor allem beim Flügel auf die Saiten ausgeübt wird, es trotz seiner eher behäbigen Erscheinung ständig im übernervösen Zustand kurz vor dem Zerspringen hält.“ (S.42) Futuristen, Dadaisten und kreative Musiker wie John Cage hätten sich daran ausgetobt.

Und der destruierte Mechanismus der kulturgeschwängerten Bourgeoisie lässt sich im mechanischen Remix sogar wie ein sphärisches Netz verspinnen: US-Künstler Terry Fox löste in den 1970er- und 80er-Jahren Klaviersaiten aus dem Korpus, um damit sein Atelier, Museen und Kirchen zu bespannen, bespielen und zur Resonanz zu bringen. Seine gesponnene Sphärenmusik erinnert an andere, intellektuell-paranoide Netze, die der Konspirationskünstler Mark Lombardi mit Tinte auf Papier zeichnete: Organigramme von Politik, Geheimdiensten und Finanzwelt, deren düstere Partitur unsere Netzgesellschaften mit ihren Netzen der Macht erfüllt (wie wiederum Netzphilosoph Felix Stalder darlegt).

Die Künstlerin arbeitet „mit Installationen, Film als Skulptur, Fotografie, Zeichnung, Klang und Text. Ihre Arbeiten verfolgen eine konzeptuelle Strenge und werden häufig in Schwarz und Weiß ausgeführt. Märzendorfer arbeitet mit analogen Techniken im Digitalzeitalter, beschäftigt sich mit Archiven und macht ortsspezifische Installationen.“ (Wikipedia)

Märzendorfers Aktionen schaffen dagegen ihre eigene Welt und Glasmeiers Kommentar spannt den Bogen über Johann Sebastian Bach, Kaiser Franz Josef, und Samuel Beckett bis zum Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, den er zitiert: „Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.“ (S.94)

Die feinen Mechanismen von Märzendorfers dekonstruiertem Klavier blieben in diesem Sinne „allein als Metaphern einer schöpferischen Taktilität präsent, die nunmehr auch ohne den Umweg über die schon von Shakespear erotisierten Tastatur an die Plastizität des Korpus selbst delegiert ist: …Es ist eine Tastatur, ohne die gerade in diesen Hochzeiten der Digitalisierung… überhaupt nichts läuft… (S.30)

How oft when thou, my music, music play‘st
Upon that blessed wood whose motion sounds
With thy sweet fingers when thou gently sway’st
The wiry concord that mine ear confounds…
William Shakespear, 128.Sonett

Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier: smashed to pieces… Eine Klavierzerlegung / A Piano Dismantling, hg. v. Carsten Seiffarth, Campo Bd.5, Textem Verlag, Hamburg 2023, 176 S., 18,00 Euro, ISBN: 978-386485-295-4 (siehe auch gekürzte Rezension auf socialnet)

Creutzburg, Astrid: Gewalt und Macht: Hierarchiestrukturen in den Romanen Elfriede Jelineks, unveröffentlichte Magisterarbeit, Hamburg 1992

Anthony N. Smith: Pursuing „Generation Snowflake“: Mr. Robot and the USA Network’s Mission for Millennials. In: Television & New Media, 24. Juli 2018 abstract

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016

08/30/23
Total vernetzt - Nur wer sich anschließt wird nicht ausgeschlossen.

Rezension: Braches-Chyrek u.a. (Hg.): Handbuch Kindheit, Technik & das Digitale

Thomas Barth
Was bedeuten die rasanten medialen und digitalen Transformationen für das Leben von Kindern? Diese Frage wurde „in der deutschsprachigen Kindheitsforschung bislang wenig untersucht“ (Klappentext). Das Handbuch thematisiert zentrale Zusammenhänge und interdisziplinäre Diskurse über Gesellschaft, Technik und Kindheit mit dem Ziel, emanzipatorische Bildungs- und Lernprozesse zu fördern.
Die Herausgeber*innen kommen aus den Bereichen Pädagogik, Sozialpädagogik und Soziologie, ebenso die meisten der insgesamt 26 Beiträger*innen unter denen acht aus Digitalisierungs- oder Medienwissenschaften stammen. Charlotte Röhner und Heinz Sünker, beide emiritiert, sind Nestor*innen der deutschen Kindheitsforschung, Sünker ist zudem Adorno-Experte und sein Blick auf das Digitale geprägt von der Kritischen Theorie der freudomarxistischen Frankfurter Schule. Überwiegend aus dieser kritischen Perspektive diskutiert der erste von vier Teilen des Bandes „Technik und Gesellschaft“, also die sozialen, kulturellen, pädagogischen und politischen Folgen der Digitalisierung. „Welche neuen Zugriffsmöglichkeiten auf kindliche Subjektivität ergeben sich aus der Techniknutzung und welche Widerstandspotentiale (Adorno, Erziehung zur Mündigkeit)? Welche veränderten Konzeptualisierungsansätze von Kindheitspolitik ergeben sich?“ (Verlagstext).
Soziale Aufgaben wie Wert schätzen, Bindung schaffen, Trennung verarbeiten, Grenzen setzen, Identität und Autonomie gewinnen, sie alle unterliegen durch allgegenwärtige Digitalmedien neuen Risiken, etwa prekärer Datensicherheit, leicht zugänglichen jugendgefährdenden Inhalten oder Cybermobbing. Doch das Handbuch thematisiert auch neue Chancen der Digitalmedien. Im zweiten Teil „Digitalisierung und Mediatisierung von Kindheit“ wird die Sozialisation und Kinder als Akteur*innen thematisiert. Der dritte Teil „Digitales Konstruieren, Spielen und Handeln“ legt den Fokus auf die früher meist negativ bewerteten Computer-, Video- und heute auch Online-Spiele, sucht nach kreativen Potentialen, warnt aber auch, etwa vor unreflektiertem Konsum gewalthaltiger Spiele. Der letzte Teil „Digitalisierung und digitale Bildung in Institutionen“ nimmt Probleme und Lösungsansätze in Kitas und Schulen des Elementar- und Primarbereichs in den Blick.
Technologie, Adoption und Pflegefamilien
Prof. Rita Braches-Chyrek war 2010 Mitherausgeberin des Bandes „Kindheit in Pflegefamilien“, doch dieser Aspekt der Kindheitsforschung klingt im vorliegenden Handbuch nur in zwei Beiträgen an: 1. Die Afrikanistin Konstanze N‘Guessan streift mit „Verwandtschaft und Kindheit im Zeitalter assistierter Reproduktion – Einblicke in die ethnographische Erforschung des doing family“ das Thema Adoption und Islam. 2. Der Beitrag „Beobachtung der Beobachteten: Technologie, Schutz und Fürsorge an einem Tag im Leben von Jasmine“ von Rachel Thomson und Ester McGeeney, berichtet aus einer „alternativen Erziehungseinrichtung für Jugendliche, die keinen Zugang zur Regelschule haben“; sie beobachten dort den Medienalltag der fünfzehnjährigen Mutter Jasmine, die in einer Pflegefamilie untergebracht ist (s.u.2.).
1. Verwandtschaft, Kindheit und Technologie
Der Beitrag von N‘Guessan ist der einzige des Bandes, der nicht von digitalen Medien handelt -dafür aber biotechnologische Bezüge zum Transhumanismus aufweist, indem dessen Biologismus auf den Boden der sozialen, kulturellen und psychologischen Tatsachen zurückgeholt wird. Im Fokus stehen medizinische Technologien der assistierten Reproduktion und die kulturelle Herstellung von Verwandtschaft und Familie in verschiedenen Kulturen. Ihre Ausgangsfragen sind: „Was ist Familie und wer gehört dazu? Welche Dimensionen hat Eltern-Sein und wie wird Abstammung kulturell konzeptualisiert?“ Solche Fragen stellt die Ethnologie der „New Kinship Studies“, die seit den 1980er-Jahren die Verwandtschaftsforschung „von der Biologie befreit, die durch euroamerikanische Prägung entstanden sei.“
Verwandtschaft wird und wurde immer kulturell gemacht -und dieser Entstehungsprozess oft mit Biologismen wie „Blut ist dicker als Wasser“ verborgen, was oft schon den Status von Adoptivkindern kompliziert habe. Neue Reproduktionstechniken (NRT) lassen die biologische Simplifizierung heute vielerorts ins Schwimmen geraten. Denn es sind dabei nicht nur zwei, sondern bis zu fünf Personen im engeren Kreis einer konstruierbaren Elternschaft vorhanden: Mutter, Vater, Eispenderin, Samenspender und Leihmutter. Dazu kämen im weiteren Umfeld noch diverse Medizintechniker*innen, die etwa mit ihren Händen unter dem Mikroskop die Eizelle besamen. „NRT und Adoption konstituieren einen Möglichkeitsraum, auf den sich unterschiedlichste Akteur*innen in ihren Überlegungen und Praxen beziehen. Durch die Linse der NRT lässt sich Verwandtschaft als Ergebnis von Handlungen verstehen.“
Konstanze N‘Guessan erläutert an diversen afrikanischen und islamischen Kulturen Praktiken des Verwandt-Machens -und ist mit dieser interkulturellen Perspektive in diesem Handbuch einmalig. Wir erfahren von einem „Unfruchtbarkeitsgürtel“ in Zentral- und Südafrika, wo NRT trotz der hohen Kosten stark gefragt sind und auf andere als die euroamerikanischen Verwandtschafts-Praktiken treffen. In matrinlinearen Gesellschaften, etwa den Macao in Mozambik, können Vaterpflichten und -privilegien auf den Mutterbruder übergehen; in anderen Kulturen gibt es die „Geist- oder Frauenheirat“, wo Vater- bzw. Schwangerschaft durch Zahlung eines Brautpreises auf einen Ahnen oder eine Frau übertragen werden.
In islamischen Kulturen ist entscheidend, ob diese schiitisch oder sunnitisch sind: Bei Sunniten kann schon die Adoption verboten sein, im weniger restriktiven Schiismus bleiben Adoptivkinder zumindest von der patrilinearen Erbfolge ausgeschlossen; seit einer permissiven Fatwa von Ayatolla Khomeini sind in Iran und Libanon NRT-Kinder erlaubt und Adoptierten gleichgestellt. „Die Frage, wie ‚fremde‘ Kinder durch soziale Praktiken und diskursive Rahmungen der Familie zugehörig gemacht werden stellt sich nicht nur bei NRT-Kindern, sondern immer“, so N‘Guessan, denn Verwandtschaft sei eine „biologisch wie sozial unterdeterminierte, gestaltungsoffene wie gestaltungsnotwendige soziale Ordnung“. Damit stellt sie sich dem reaktionär-neoliberalen Mythos von der biologistisch verabsolutierten bourgeoisen Familie ebenso entgegen, wie dies mit breiterer Perspektive der afrikanische Ökonom und Kulturwissenschaftler Felwine Sarr in seinem Manifest Afrotopia tat.
2.Technologie, Schutz und Fürsorge
Thomson und McGeeney stehen mit ihrem britischen „Kinderalltagsprojekt“ in der Tradition materialistisch-feministischer Methodologie, die ihre Forschungstätigkeit eingehend selbstkritisch reflektiert und nach Möglichkeiten „nachhaltigerer Sorge-Relationalitäten“ sucht:
„Die digitalen Medien haben ganz eigene Möglichkeiten geschaffen, die auch neue Arten von erzieherischer Führung erfordern und neue Gebiet ethischer Untersuchungen eröffnen. (…) Junge Menschen in staatlicher Obhut wurden als eine besondere Risikogruppe identifiziert, einschließlich des Risikos in Bezug auf digitale Kulturen… besonders in den Bereichen Adoption und Pflegefamilien kämpfen Sozialarbeiter*innen darum, die Kinder vor der Aufnahme oder der Fortsetzung von Kontakten mit ihren leiblichen Eltern zu bewahren, wenn diese gerichtlich eingeschränkt worden war.“
Digitale Medien, besonders das allgegenwärtige Smartphone, erschweren diese Aufgabe, denn Kinder und Jugendliche verstehen es, sich der Kontrolle zu entziehen. Im Fall der einen Tag wissenschaftlich beobachteten Jasmine wird klar, dass auch sie und ihre Mitschüler*innen die ihnen auferlegten Regeln für den Mediengebrauch zu unterlaufen wissen: „Die ‚Ein-Tag-im-Leben-Methode‘ hat uns diese Art der dichten, affektiven Geometrien einfangen lassen.“ Die Forscher*innen erfahren, wie vermutlich Instagram und Snapchat von minderjährigen Müttern verwendet werden, um Babyfotos zu posten -schon deren Aufnahme wird von der Einrichtung eigentlich untersagt.
Die Konfliktsituation wird von Thomson und McGeeney aus beiden Perspektiven reflektiert: Die Schutzbefohlenen müssen einerseits „beobachtet, überwacht, geschützt und zensiert werden“, andererseits gibt es auch eine „Kinderöffentlichkeit“ mit „den Imperativen: gesehen werden, sichtbar sein, teilhaben in/an einer digitalen Kultur“. Die Autor*innen stellen fest, dass in dieser neuen Kultur „neue Arten der Subjektivität“ entstehen. „Im Kontext einer Aufmerksamkeitsökonomie können wir das Bedürfnis junger Menschen, gekannt und gesehen zu werden, nicht einfach ignorieren“. Jugendliche Medienpraxis unreflektiert „unterdrücken“ zu wollen, halten die beiden Forscher*innen „für irregehend“.
Der emanzipative Ansatz ist bei Thomson und McGeeney deutlich, doch bei der Reflexion des „Neuen“ an der „neuen Subjektivität“ ist noch Luft nach oben. Denken wir an eine 1950er-Jahre-Werbung für Dosen-Ananas: „Toast Hawaii! Da werden Ihre Nachbarn staunen!“ Foodporn auf Instagram posten ist vielleicht nur überkommene Subjektivierung in digitalisierter Werbeästhetik, die kunstvolle Beleuchtung und Belichtung von damals wird heute durch einen das Foto farblich aufpeppenden digitalen „Filter“ ersetzt.
Fazit
Die emanzipatorische Haltung ist löblich, doch leider gelingt der Transfer der Medienkritik von Adorno ff. auf die Digitalisierung durch die Bank nur ungenügend. Die zweifelhafte Referenz von Heidegger als Paten der Technikkritik überzeugt ebenso wenig wie der gelegentliche, hilflos wirkende Verweis auf neueste Ansätze wie Shoshana Zuboffs „Überwachungskapitalismus“. Dabei wäre bei Kenntnis der kritischen Diskurse zu Computer- und Internetkultur gar nicht nötig, das Rad neu zu erfinden: Der Adorno-Experte Mark Poster etwa kombiniert seit 30 Jahren Freudomarxismus mit postmodernen Ansätzen, etwa den Heidegger implizit weiterführenden Theorien von Michel Foucault, bei seiner Digitalmedienkritik.
Den meisten Beiträgen scheinen auch tiefer gehende Kenntnisse der technologischen und politischen Hintergründe der Digitalisierung zu fehlen, mit den beiden Ausnahmen des Professors für Digital Humanities (Sussex) David M. Berry und des Diplom-Informatikers Marius Melzer, der beim Chaos Computer Club ein Schülerprojekt betreibt. Bei Melzer bleibt die Warnung vor Manipulation im Internet nicht vage, sondern er führt konkret die wohl dramatischste Auseinandersetzung auf diesem Gebiet an:
„Das Beispiel Julian Assange zeigt dies deutlich: Die nach heutigem Wissensstand fingierten Vergewaltigungsvorwürfe (Melzer 2020) führten dazu, dass die vorhergegangene Wikileaks-Veröffentlichung „Collateral Murder“, die zeigte wie US-Soldaten im Irakkrieg lachend aus einem Hubschrauber auf Zivilisten und Journalisten feuerten, in Vergessenheit geriet.“ (S.114)
Die mit nur einem Satz allzu sparsame Erwähnung dieser digitalen Medienschlacht um die (nicht nur Medien-) Geschichte schreibende Enthüllungsplattform Wikileaks brachte einen gravierenden Fehler: In der Literaturliste wurde beim Quellennachweis der Vorname von N.Melzer offenbar zu M.Melzer fehlkorrigiert. Man nahm wohl ein Selbstzitat von Marius Melzer an und kannte nicht den wirklich zitierten weltberühmten Autor Nils Melzer, den UNO-Folterbeauftragten und Schweizer Professor für Völkerrecht. Nils Melzer hatte die gegenwärtige Folter des Wikileaks-Gründers Julian Assange angeprangert, den er als Opfer einer perfiden Intrige sieht. Er hatte in schockierenden Artikeln und seinem Buch „Der Fall Assange“ detailliert enthüllt, wie mutmaßlich Geheimdienste die Regierungen der USA und Großbritanniens sowie die schwedische Justiz den politisch verfolgten Assange als Vergewaltiger abgestempelt hatten. Diese Fakten wurden in westlichen Medien jedoch weitgehend vertuscht, was den Irrtum von Verlag, Lektoren und Korrekturat begründen dürfte. Somit wird dieses Handbuch selbst zu einem Beispiel gelungener Medienmanipulation im Digitalzeitalter.

Rita Braches-Chyrek, Jo Moran-Ellis, Charlotte Röhner, Heinz Sünker (Hrsg.): Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2021. 422 S., 69,90 Euro.