Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier: smashed to pieces… Eine Klavierzerlegung / A Piano Dismantling, hg. v. Carsten Seiffarth, Textem Verlag, Hamburg 2023
Thomas Barth
Kunst und Philosophie suchen oft jenseits der Alltagswelt nach Erkenntnis: Wie Netzphilosoph Felix Stalder und Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein mit einer Performance zusammenhängen und was das mit Millenials, Snowflakes, Digital Natives und „Mr.Robot“ zu tun hat.
Der originelle Aktionskunstband funktioniert als Daumenkino im DIN-A-5-Format, das auf den rechten Seiten die De- bzw. umgekehrt Remontage des zerlegten Klaviers illustriert: Eine Performance von Claudia Märzendorfer. Die Bühne wird dabei statisch von oben aufgenommen, so dass man jeweils bis zu fünf Personen kommen, gehen und agieren sieht. Die ca. 75 Fotos zeigen die systematische Zerlegung des Instruments, bei der nur selten Schusswaffen, meist aber handelsübliche Werkzeuge, Schraubendreher, Zangen zum Einsatz kommen. Linker Hand finden sich begleitende und kommentierende Texte, insbesondere ein langer Essay von Michael Glasmeier, der den kunstgeschichtlichen Rahmen aufspannt –auch in englischer Übersetzung: „Das Buch markiert den Versuch, Kunstwerk und Bilddenken, Filmzeit und Lesezeit, Gegenwart und Geistesgeschichte in unmittelbaren Nachbarschaften reflektieren zu können.“ Prof. Glasmeier ist Kunsthistoriker, Lyriker und Ausstellungsmacher und befasst sich mit bildender Kunst, Musik, Sprache, Film, Fotografie sowie Komik, Subversion und Politik.
Neben der Bühne mit Motorroller und Klavier befindet sich, wie eingangs weitere Aufnahmen zeigen, eine seltsame Schreibmaschine auf einem Stapel Papier: Eine aus Tinten-Eis geformte Attrappe der vom Komponisten Arnold Schönberg erfundenen, aber nie gebauten „Notenschreibmaschine“, die langsam schmilzt und sich in die unter ihr aufgestapelten Notenblätter ergießt. Man ahnt: Es geht um Zeit, Musik, Mechanik und das Ringen des Menschen um Bedeutung in einer von Kultur überfluteten Welt.
„In ihrem Videofilm smashed to pieces … (2018) zeigt die Wiener Künstlerin Claudia Märzendorfer die Zerlegung eines Klaviers in einem konzentrierten Live-Act, an dem acht Personen, Werkzeuge, ein Gewehr und ein Motorrad beteiligt sind. Im Gegensatz zu den zahlreichen Klavierzerstörungen – ein seit dem 19. Jahrhundert spezielles Sujet von Comedy bis zur Wiener Gruppe oder Fluxus – führt bei Märzendorfer der destruktive Akt zu stets neuen starken und überraschenden Bildfindungen und Tableaus.“ (Verlagstext)
Welt und Hand: Das Manual digitalisiert Sinnliches
Die Computertastatur, das magische Keyboard der Hacker, hat klangvolle Vorfahren in der Ahnenreihe der Tasteninstrumente. Orgel, Cembalo, das moderne Klavier digitalisierten Musik schon lange bevor Charles Babbage die erste Rechenmaschine montierte. Digitalisiert im weiten Sinne sind nach Felix Stalder Informationen, wenn sie mittels eines Systems diskreter Zeichen gespeichert werden (Stalder 2016, S.100): Bunte Scherben im Mosaik, Schriftzeichen oder eben Noten. Ab 1709, als der florentiner Instrumentenbauer Bartolomeo Cristofori (1655-1731) das Klavier erfand, werden den zarten Saiten der Muse die Noten virtuos eingehämmert. Als großbürgerliches Kulturmöbelstück, Prestige- und Kultobjekt besonders in Wien steht es, so meint Glasmeier, wie kein anderes Instrument für die KuK-Bourgeoisie und führt als Beleg Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin an. Deren Protagonistin rüttelte bekanntlich relativ vergeblich an den gesellschaftlichen Gitterstäben im bourgeoisen „Gefängnis ihres alternden Körpers“ -dem biopolitischen Dispositiv, dem das musisch-mechanische Dispositiv des Klavierkorpus zugeordnet ist (zit.n. Creutzburg S.37).
In Jelineks Roman wird das strenge Regime einer auf Status und Konkurrenz angelegten Klavierausbildung drastisch beschrieben. Die Versuche der Protagonistin, sich von der dominanten Mutter zu befreien und ihre erotischen Fantasien auszuleben, bleiben im zähen Normengefüge einer verkrusteten Gesellschaft stecken. Die masochistischen Neigungen der Klavierspielerin werden von Jelinek mit der Strenge der Musikausbildung durch ihre Mutter in Verbindung gebracht und lesen sich wie ein früher Beitrag zur Erziehungsdebatte, die später das Buch Battle Hymn of the Tiger Mother (2011) der US-chinesischen Autorin Amy Chua auslösen sollte. Gerade die autoritäre Erziehung zur klassischen Musik (Klavier und Geige) habe der Tiger-Mutter ermöglicht, so Chua, ihren beiden Töchtern Leistungswillen einzupauken.
Chua lieferte der neoreaktionären NRx-Bewegung in den USA Munition für den Kulturkampf gegen die angeblich übermäßig verhätschelte „Generation Snowflake“ der Millenials, auch Gen Y oder Digital Natives genannt. Deren von der 68er-Bewegungen geprägte Hippie-Eltern hätten ihren Nachwuchs in Watte gepackt und ihm ständig dessen Einmaligkeit (wie eine Schneeflocke) trotz tatsächlicher Mittelmäßigkeit versichert. Die neoreaktionäre Alt-Right-Bewegung beruft sich auf Film und Buch „Fight Club“, wo so benannte Snowflakes brutal zu Kämpfern umerzogen werden. A.N.Smith sieht als Reaktion der Kabelsender auf Annahmen über die Persönlichkeiten, Vorlieben und Verhaltensweisen von Millenials bzw. Snowflakes die TV-Serie „Mr.Robot“. Bei Mr.Robot steht ein Digital Native als Hacker im Mittelpunkt, der sich -was als Antwort auf „Fight Club“ gelesen werden kann- trotz psychischer Probleme und Sensibilität zu wehren versteht. Im deutschen Kino setzte sich Oskar Roehlers Film Tod den Hippies! Es lebe der Punk! mit der Problematik auseinander.
Im deutschen Diskurs wurde Chua unter dem Topos einer „Rückkehr des Rohrstocks„, d.h. von Zucht und Ordnung in der Erziehung diskutiert und fand konservative wie leistungsorientierte Anhänger (Springer-Zeitung „Die Welt„). Wenn sich in Märzendorfers Performance aggressive Impulse gegen das Klavier richten, erfüllen sie den Wunsch nach biopolitischer Rebellion und stehen überdies in langer künstlerischer Tradition. Das Backcover zitiert Emerson zweisprachig nach Musil:
»Die Dinge, die durch den Dunst von gestern
so gewaltig erschienen – Eigentum, Klima,
Erziehung, persönliche Schönheit und anderes
mehr, haben ihre Verhältnisse merkwürdig
verändert. Alles, was wir für fest hielten,
schwankt u. klappert …«
“The facts which loomed so large in the fogs of
yesterday,—property, climate, breeding, personal
beauty, and the like, have strangely changed their
proportions. All that we reckoned settled shakes
and rattles …”
Ralph Waldo Emerson (zitiert von / quoted by Robert Musil)
Im April 1959 hätten, so Glasmeier, die skandalisierten Künstler der Wiener Gruppe daher durch Fechtmasken geschützt (und, wie der Rezensent anmerken möchte, als Burschenschaftler maskiert) mit Beilen ein Instrument zerlegt. Friedrich Achleitner fuhr dazu mit einem Motorroller auf die Bühne, was 2018 von der destruierenden Claudia Märzendorfer referenziert wurde: Die Wiener Künstlerin Nicole Six durfte bei dieser Klavierzertrümmerung auf der Vespa vorfahren und zückte, weil Künstler sich gerne gegenseitig übertreffen, ein Gewehr, um mit zwei Schüssen ins geöffnete Piano den Reigen der Gewalt zu eröffnen. Danach erfolgt die systematische Demontage, einer Vivisektion am Instrument gleich -womit die Performance gleich noch symbolisch das beliebteste Mediengenre nachstellt: Den Fernseh-Krimi: Ein Schuss, ein Schrei und alles Weitere nach der Obduktion, bis das Kleinbürgertum vor der Mattscheibe am Ende den Übeltäter in Handschellen vom Polizisten abgeführt sieht und mit zwei Lektionen in den süßen Schlaf sinken kann: Fürchte deinen Nächsten, er könnte ein Mörder sein, und nur die Staatsgewalt steht zwischen dir und dem Chaos. Chaos verbreiten gerne Künstler als Bürgerschreck, wie z.B. auch Fluxus. Fluxus, die Künstlergruppe, der auch Nam June Paik angehörte (der bei Netzphilosoph Felix Stalder als Nestor elektronischer Medienkunst herbei zitiert wird), sprach einst vom Kampf gegen die Bürgermusik.
Lustvolle Zerstörungsorgien treffen schon seit Stummfilmzeiten gerne das Klavier, Resonanzmöbel und absoluter Klangkörper. Neben seiner pompösen Bürgerlichkeit wäre so das Instrument für anarchische Zweckentfremdung prädestiniert „…zumal die immense Spannung, die vor allem beim Flügel auf die Saiten ausgeübt wird, es trotz seiner eher behäbigen Erscheinung ständig im übernervösen Zustand kurz vor dem Zerspringen hält.“ (S.42) Futuristen, Dadaisten und kreative Musiker wie John Cage hätten sich daran ausgetobt.
Und der destruierte Mechanismus der kulturgeschwängerten Bourgeoisie lässt sich im mechanischen Remix sogar wie ein sphärisches Netz verspinnen: US-Künstler Terry Fox löste in den 1970er- und 80er-Jahren Klaviersaiten aus dem Korpus, um damit sein Atelier, Museen und Kirchen zu bespannen, bespielen und zur Resonanz zu bringen. Seine gesponnene Sphärenmusik erinnert an andere, intellektuell-paranoide Netze, die der Konspirationskünstler Mark Lombardi mit Tinte auf Papier zeichnete: Organigramme von Politik, Geheimdiensten und Finanzwelt, deren düstere Partitur unsere Netzgesellschaften mit ihren Netzen der Macht erfüllt (wie wiederum Netzphilosoph Felix Stalder darlegt).
Die Künstlerin arbeitet „mit Installationen, Film als Skulptur, Fotografie, Zeichnung, Klang und Text. Ihre Arbeiten verfolgen eine konzeptuelle Strenge und werden häufig in Schwarz und Weiß ausgeführt. Märzendorfer arbeitet mit analogen Techniken im Digitalzeitalter, beschäftigt sich mit Archiven und macht ortsspezifische Installationen.“ (Wikipedia)
Märzendorfers Aktionen schaffen dagegen ihre eigene Welt und Glasmeiers Kommentar spannt den Bogen über Johann Sebastian Bach, Kaiser Franz Josef, und Samuel Beckett bis zum Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, den er zitiert: „Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.“ (S.94)
Die feinen Mechanismen von Märzendorfers dekonstruiertem Klavier blieben in diesem Sinne „allein als Metaphern einer schöpferischen Taktilität präsent, die nunmehr auch ohne den Umweg über die schon von Shakespear erotisierten Tastatur an die Plastizität des Korpus selbst delegiert ist: …Es ist eine Tastatur, ohne die gerade in diesen Hochzeiten der Digitalisierung… überhaupt nichts läuft… (S.30)
How oft when thou, my music, music play‘st
Upon that blessed wood whose motion sounds
With thy sweet fingers when thou gently sway’st
The wiry concord that mine ear confounds…
William Shakespear, 128.Sonett
Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier: smashed to pieces… Eine Klavierzerlegung / A Piano Dismantling, hg. v. Carsten Seiffarth, Campo Bd.5, Textem Verlag, Hamburg 2023, 176 S., 18,00 Euro, ISBN: 978-386485-295-4 (siehe auch gekürzte Rezension auf socialnet)
Creutzburg, Astrid: Gewalt und Macht: Hierarchiestrukturen in den Romanen Elfriede Jelineks, unveröffentlichte Magisterarbeit, Hamburg 1992
Anthony N. Smith: Pursuing „Generation Snowflake“: Mr. Robot and the USA Network’s Mission for Millennials. In: Television & New Media, 24. Juli 2018 abstract
Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016