05/12/18

Felix Stalder: Algorithmen

Algorithmen, die wir brauchen

Automatisierte Entscheidungssysteme prägen unsere Leben schon heute, in Zukunft geht ohne sie gar nichts mehr. Wie aber müssten sie beschaffen und eingebettet sein, damit sie zu einem guten Leben für alle beitragen? Eine konstruktive Algorithmen-Kritik von Felix Stalder. 15.01.2017

In diesem Essay unternimmt Felix Stalder Überlegungen zu neuen technopolitischen Bedingungen der Kooperation und des Kollektiven. Es basiert auf dem Vortrag „Algorithms we want“, den er im Dezember 2016 auf der Konferenz „Unboxing – Algorithmen, Daten und Demokratie“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung gehalten hat. Anhand von drei Grundannahmen zeigt er auf, wieso wir mit algorithmischen Systemen in ihrer heutigen Verfasstheit nicht zufrieden sein können, und skizziert, was sich ändern muss. Stalder ist Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung in Zürich, Vorstandsmitglied des World Information Institute in Wien und langjähriger Moderator der internationalen Mailingliste „nettime“. Zuletzt erschien von ihm: „Kultur der Digitalität“ (2016).

  1. Zum Algorithmenbegriff

Die Bedeutung von „Algorithmen“ in unserer Gesellschaft wächst rasant. Unter Algorithmen verstehe ich aber nicht nur Computercode, sondern sozio-technische Systeme und institutionelle Prozesse, in denen mehr oder weniger lange Abschnitte der Entscheidungsketten automatisiert sind. Die Erweiterung der Einsatzgebiete von algorithmischen Systemen ist kein Zufall und auch kein Prozess, den man „aufhalten“ kann oder sollte. Vielmehr ist es notwendig, eine differenzierte Kritik zu entwickeln, damit wir uns darüber verständigen können, welche Algorithmen wir brauchen und welche wir nicht wollen. Dies ist ein Vorschlag, wie eine solche Kritik aussehen könnte.

Beginnen wir mit drei Annahmen. Erstens: Wir brauchen Algorithmen als Teil einer Infrastruktur, die es erlaubt, soziale Komplexität und Dynamik so zu gestalten, dass diese unseren realen Herausforderungen gerecht werden. Zweitens: Viele Algorithmen sind handwerklich schlecht gemacht, vor allem jene, die soziales Alltagshandeln formen, also das tun, was Soziologen „soziales Sortieren“ (David Lyon) oder „automatische Diskriminierung“ (Oscar H. Gandy) nennen. Drittens: Diese handwerklichen Defizite sind nur ein Teil des Problems. Der andere Teil ergibt sich aus Problemen der politischen Programmatik, die vielen Algorithmen zugrunde liegt. Sie machen deutlich, dass es keine autonome Technologie gibt, auch wenn sie als „intelligent“ oder „selbstlernend“ bezeichnet wird. Gerade angewandte Technologien sind immer Teil von unternehmerischen oder administrativen Strategien, deren Reichweite und Effektivität sie verbessern sollen.

Erstens: Wir brauchen Algorithmen

Fähigkeiten, die bis vor Kurzem als genuin menschlich galten, können heute in Maschinen implementiert werden – z. B. das sinnerfassende Auswerten von Bildern oder Texten.

Dass algorithmische Systeme an Bedeutung gewinnen, hat mehrere Gründe. Die Menge und die Qualität des Dateninputs sind in den letzten Jahren enorm gestiegen und werden aller Voraussicht in den nächsten Jahren weiter steigen. Immer mehr Tätigkeiten und Zustände – online wie offline – hinterlassen immer detailliertere Datenspuren. Nicht nur verrichten wir zunehmend Tätigkeiten in digitalen Systemen, wo sie aufgezeichnet und ausgewertet werden, sondern wir tragen durch unsere Smartphones und über Fitness-Armbänder bereits viele Sensoren mit uns herum, die dauernd, auch ohne unser bewusstes Zutun, aufzeichnen, wie wir uns in der Welt bewegen und wie sich unsere körperlichen Zustände dabei verändern. Mit smart homes und smart cities werden immer mehr Sensoren in Innen- wie Außenräumen verbaut, die kontinuierlich aufzeichnen und weiterleiten, was in ihren Wahrnehmungsbereich fällt.

Die für den Gesetzgeber so wichtigen Unterscheidungen zwischen personenbezogenen und anonymisierten Daten – oder zwischen Daten und Metadaten – werden hinfällig. Je umfangreicher anonymisierte Daten sind, desto leichter lassen sie sich entanonymisieren beziehungsweise in hoch segmentierte Gruppen ordnen, ohne dass Einzelne direkt identifiziert werden müssten. Metadaten sind oft aussagekräftiger als die Inhalte, die sie beschreiben, denn sie fallen standardisiert an und lassen sich deshalb viel effizienter auswerten.

Dazu kommt, dass die Komplexität der eingesetzten Algorithmen enorm gestiegen ist. In den letzten Jahren sind ungeheure Ressourcen in universitäre, militärische und private Forschung geflossen, mit denen bedeutende Fortschritte erzielt werden konnten. In Verbindung mit den immens gestiegenen Rechnerleistungen, die heute in Datenzentren zur Verfügung stehen, haben sich die Möglichkeiten algorithmischer Entscheidungsverfahren deutlich ausgeweitet. Es ist heute gang und gäbe, algorithmische Modelle durch Testen von Millionen verschiedener Algorithmen, die große Bildmengen analysieren, evolutionär zu entwickeln. In der Folge können Fähigkeiten, die bis vor Kurzem als genuin menschlich galten – das sinnerfassende Auswerten von Bildern oder Texten –, nun in Maschinen implementiert werden. Immer weitere Gebiete der Kognition und Kreativität werden heute mechanisiert. Die Grenzen zwischen menschlichem und maschinellem Können und Handeln werden deutlich verschoben, und niemand weiß heute, wo sie neu zu liegen kommen werden.

Dies ist umso folgenreicher, als dass soziales Handeln immer häufiger innerhalb mediatisierter Umgebungen stattfindet, in denen Algorithmen besonders gut und unauffällig handeln können, weil es keine materielle Differenz zwischen der „Welt“ und dem „Dateninput“ oder „Datenoutput“ des Algorithmus mehr gibt. Online ist alles Code, alles Daten, alles generiert.

Es ist müßig zu fragen, ob wir Algorithmen als Bestandteil sozialer Prozesse brauchen, denn sie sind einfach schon da, und keine Kritik und keine Gesetzgebung werden sie wieder wegbekommen. Das wäre in dieser Pauschalität auch nicht wünschenswert. Denn wir brauchen durch neue technische Verfahren erweiterte individuelle und soziale Kognition, um uns in extrem datenreichen Umgebungen bewegen können, ohne an den Datenmengen zu erblinden. Ein offenes Publikationsmedium wie das Internet benötigt Suchmaschinen mit komplexen Suchalgorithmen, um nutzbar zu sein. Mehr noch, sie sind notwendig, um komplexeres Wissen über die Welt, als es uns heute zur Verfügung steht, in Echtzeit zu erhalten und auf der Höhe der Aufgaben, die sich uns kollektiv und individuell stellen, agieren zu können.

Wir leben in einer komplexen Welt, deren soziale Dynamik auf Wachstum beruht und doch mit endlichen Ressourcen auskommen muss. Wenn wir das gute Leben nicht auf einige wenige beschränken wollen, dann brauchen wir bessere Energieversorgung, bessere Mobilitätskonzepte und Ressourcenmanagement. Das kann nur auf Basis „smarter“ Infrastrukturen gelingen. Wenn wir etwa die Energieversorgung auf dezentrale, nachhaltige Energiegewinnung umstellen wollen, dann brauchen wir dazu intelligente, selbst steuernde Netze, die komplexe Fluktuationen von Herstellung und Verbrauch bewältigen können.

Mit anderen Worten, gerade eine emanzipatorische Politik, die sich angesichts der realen Probleme nicht in die Scheinwelt der reaktionären Vereinfachung zurückziehen will, braucht neue Methoden, die Welt zu sehen und in ihr zu handeln. Und Algorithmen werden ein Teil dieser neuen Methoden sein. Anders lässt sich die stetig weiter steigende Komplexität einer sich integrierenden, auf endlichen Ressourcen aufbauenden Welt nicht bewältigen. Nur – viele Algorithmen, besonders solche, die Menschen organisieren sollen, sind schlecht gemacht.

Zweitens: Schlecht gemachte Algorithmen

Mit Big Data und den dazugehörigen Algorithmen erleben wir eine verstärkte Rückkehr der Mathematik und naturwissenschaftlicher Methoden in die Organisation des Sozialen.

Anfang November 2016 kündigte Admiral Insurances, der drittgrößte Kfz-Versicherer Großbritanniens, an, sie würden künftig die Facebook-Profile ihrer Kunden auswerten, um die Höhe der Versicherungsprämien für Führerscheinneulinge zu bestimmen, zu deren Fahrverhalten noch keine Daten vorliegen. Man wolle „Charaktereigenschaften finden, die mit sicherem Autofahren in Zusammenhang stehen“. Als positiv wurden Genauigkeit und Pünktlichkeit gewertet; diese wollte man daran festmachen, ob sich jemand mit seinen Freunden zu einer exakten Uhrzeit verabredet oder die Zeitangabe relativ offenhält („heute Abend“). Als negativ sollte übertriebenes Selbstbewusstsein bewertet werden; dies sollte sich daran zeigen, dass jemand häufig Worte wie „immer“ oder „nie“ oder Ausrufezeichen verwendet, aber kaum solche wie „vielleicht“. Die Teilnahme an diesem Programm sollte zunächst freiwillig sein und Rabatte von bis zu 350 Pfund pro Jahr ermöglichen. Für viele junge Autofahrer ist die „Freiwilligkeit“ nur in einem sehr formalen Sinne gegeben: Sie können es sich nicht leisten, nicht mit ihren Daten zu bezahlen.

Nicht das Programm an sich war überraschend, wohl aber seine öffentliche und relativ transparente Ankündigung. Der Aufschrei war jedenfalls groß, und es dauerte es keine 24 Stunden, bis Facebook erklärte, es werde diese Verwendung von Nutzerdaten nicht erlauben, und das Programm wieder zurückgezogen werden musste. Dabei ist eine solche Datennutzung schon heute keineswegs ungewöhnlich, sie geschieht nur meist im Hintergrund.

Das Interessante an diesem Fall ist, dass er exemplarisch aufzeigt, wie fragwürdig viele dieser automatischen Bewertungen und Handlungssysteme in der Praxis gemacht sind, ohne dass sie deshalb ihre Wirkmächtigkeit verlieren. Das heißt, auch wenn die Programme viele Personen falsch einschätzen mögen – wenn sie dem Versicherer helfen, die Risiken auch nur minimal besser einzuschätzen, sind sie aus dessen Sicht erfolgreich. Ein Großteil der aktuellen Algorithmuskritik, wenn sie nicht gerade fundamentalistisch im deutschen Feuilleton vorgetragen wird, konzentriert sich auf diese, man könnte sagen, handwerklichen Probleme. Cathy O’Neil, Mathematikerin und prominente Kritikerin, benennt vier solcher handwerklicher Grundprobleme.

Überbewertung von Zahlen

Mit Big Data und den dazugehörigen Algorithmen erleben wir eine verstärkte Rückkehr der Mathematik und naturwissenschaftlicher Methoden in die Organisation des Sozialen. Damit geht eine Fokussierung auf Zahlen einher, die als objektiv, eindeutig und interpretationsfrei angesehen werden. Eins ist immer kleiner als zwei. Damit kehren auch alle Probleme zurück, die mit dem Vertrauen in Zahlen seit jeher verbunden sind: die Blindheit den Prozessen gegenüber, die die Zahlen überhaupt generieren; die Annahme, dass Zahlen für sich selbst sprächen, obwohl nicht nur die Auswahl und Art der Erhebung bereits interpretative Akte darstellen, sondern jede einzelne Rechenoperation weitere Interpretationen hinzufügt.

Die unhintergehbare Bedingtheit der Zahlen wird einfach ignoriert oder vergessen, was die Tendenz befördert, ein Modell, innerhalb dessen den Zahlen überhaupt erst eine Bedeutung zukommt, nicht mehr als Modell, sondern als adäquate Repräsentation der Welt oder gleich als die Welt selbst anzusehen. Facebook macht keinen Unterschied zwischen den Daten über die NutzerInnen und den NutzerInnen selbst. Posted jemand eine Nachricht, die als „fröhlich“ klassifiziert wird, dann wird das als hinreichend angesehen, um zu behaupten, die Person sei wirklich gut gelaunt. Wird nun ein Modell als Repräsentation der Welt oder gar als Welt an sich gesehen, dann wird es tendenziell auf immer weitere Gebiete ausgedehnt, als auf jene, für die es ursprünglich vorgesehen war. Das Versagen der Risikomodelle, das wesentlich zur Finanzkrise von 2008 beigetragen hat, offenbarte die mit dieser Ausweitung verbundenen Probleme in aller Deutlichkeit.

Falsche Proxies

Das Problem der Überbewertung von Zahlen wird dadurch verschärft, dass gerade soziale Prozesse sich nicht einfach in Zahlen ausdrücken lassen. Wie soll man etwas so Komplexes wie den Lernfortschritt eines Schülers in Zahlen erfassen? Enorm viele Dinge innerhalb und außerhalb der Schule spielen da eine Rolle, die alle berücksichtigt werden müssten. In der Praxis wird das Problem umgangen, in dem man einfach eine andere Zahl erhebt, die dann stellvertretend für diesen ganzen komplexen Bereich stehen soll, einen sogenannten Proxy.

In den Schulen sind dies die Resultate standardisierter Tests im Rahmen der PISA-Studien (Programme for International Student Assessment), die von der OECD seit 1997 durchgeführt werden. Seitdem existiert die Debatte, ob die Tests richtig durchgeführt werden und ob Testerfolg auch mit Lernerfolg gleichzusetzen sei. Das ist immerhin eine Debatte, die geführt werden kann. Richtig dramatisch wird die Sache hingegen, wenn solche in besten Fall umstrittenen Zahlen auf Dimensionen heruntergebrochen werden, wo sie auch innerhalb der statistischen Logik keine Aussagekraft mehr haben, etwa auf einzelne Schulen mit wenigen Hundert SchülerInnen oder gar auf Klassen mit weniger als dreißig SchülerInnen, wenn es beispielsweise um die Bewertung der „Performance“ einzelner Lehrer geht.

Auch wenn die gewonnenen Erkenntnisse oftmals kaum Aussagekraft enthalten, werden sie trotzdem für Bewertungen herangezogen, die bis zum Verlust der Arbeitsstelle führen können. Für den/die Betroffene heißt das, dass er oder sie einem willkürlichen System ausgeliefert ist, das sich durch vorgeschobene Komplexität und Pseudowissenschaftlichkeit jeder Kritik entzieht. Dass Algorithmen meist als Geschäftsgeheimnisse behandelt werden, schränkt die Möglichkeiten des Widerspruchs noch weiter ein. Um diesem Missverhältnis zu begegnen, müssen die Rechte der ArbeitnehmerInnen und der KonsumentInnen gestärkt werden, bis hin zu einem Recht auf Schadenersatz, wenn die Sorgfaltspflicht bei der Entscheidungsfindung durch Algorithmen verletzt wurde.

Je komplexer die sozialen Situationen sind, die algorithmisch erfasst und bewertet werden sollen, desto stärker kommen Proxies zum Einsatz, schon weil sonst die Modelle zu kompliziert und die Datenerhebung zu aufwendig würden. Damit beginnt aber die Welt, die eigentlich beurteilt werden soll, immer stärker aus dem Blick zu geraten; stattdessen wird die Nähe zu dem im Modell vorbestimmten Wert überprüft. Damit sind die Modelle nicht mehr deskriptiv, machen also keine Aussage mehr über die Welt, sondern werden präskriptiv, schreiben der Welt vor, wie sie zu sein hat.

Menschen passen ihr Verhalten an

Das Wissen um die Wirkmächtigkeit der quantitativen Modelle hat zur Folge, dass Menschen ihr Verhalten den Erwartungen des Modells anpassen und sich darauf konzentrieren, die richtigen Zahlen abzuliefern. Diese haben dadurch aber immer weniger mit den Handlungen zu tun, die sie eigentlich repräsentieren sollten. Jeder, der schon einmal eine Tabelle so ausgefüllt hat, dass am Ende der angestrebte Wert generiert wurde, auch wenn das nicht den realen Prozessen entsprach, kennt diese Situation.

Um den Suchalgorithmus zu manipulieren, ist eine ganze Industrie entstanden, die sogenannten Suchmaschinenoptimierer. Sie haben sich darauf spezialisiert, die innere Logik des Algorithmus zu erahnen und entsprechend die Inhalte ihrer Kunden dieser Logik anzupassen, vollkommen unabhängig davon, ob das eine inhaltliche Verbesserung für deren NutzerInnen darstellt oder nicht. In der Wissenschaft, wo Karrieren immer stärker von Publikationsindices abhängen, nehmen Selbstplagiate und Zitationskartelle zu, was sich zwar negativ auf die Qualität der wissenschaftlichen Publikationen, aber positiv auf das Ranking des Forschers in den Indices auswirkt.

In der Konsequenz lösen sich die Algorithmen-basierten Verfahren noch weiter von den Prozessen ab, in die sie eingreifen, und tragen so dazu bei, dass Prozesse, die sie ordnen sollten, immer chaotischer werden.

Fehlende Transparenz und Korrigierbarkeit

Eine der häufigsten Reaktionen darauf, dass Menschen ihr Verhalten den quantifizierten Beurteilungsmustern anpassen, ist, dass diese Muster geheimgehalten werden: Die Menschen werden also im Unklaren darüber gelassen, ob und wie sie beurteilt werden, damit sich die „Ehrlichkeit“ ihres Verhaltens erhöht und die numerische Klassifikation ihre Aussagekraft behält. Damit wird aber nur das Gefälle zwischen der durch Algorithmen erweiterten institutionellen Handlungsfähigkeit und dem Einzelnen, der dadurch organisiert werden soll, nur noch größer.

Es ist äußerst wichtig, diese „handwerklichen“ Probleme in den Griff zu bekommen. Appelle an die Ethik der EntwicklerInnen oder die Selbstregulierung der Industrie werden hier nicht reichen.

Wir brauchen eine Anpassung der Gesetze, etwa jener, die gegen Diskriminierung schützen. Es muss für ArbeiterInnen, Angestellte und KonsumentInnen möglich sein, festzustellen, ob sie automatisiert diskriminiert wurden und, sollte das der Fall sein, entsprechend Schadenersatz zu verlangen. Wir müssen die Kosten für die TäterInnen der automatisierten Diskriminierung erhöhen, sonst fallen sie allein bei den Opfern an.

Drittens: Es gibt keine autonome Technologie

Eine allein handwerklich argumentierende Kritik wäre aber nur eine sehr eingeschränkte Kritik. Es reicht nicht, die Qualität der Werkzeuge zu verbessern, denn Werkzeuge sind nie neutral, sondern reflektieren die Werthaltungen ihrer EntwicklerInnen und AnwenderInnen beziehungsweise deren Auftraggeber oder Forschungsförderer. Sie sind immer Teil komplexer institutioneller Anlagen, deren grundsätzliche Ausrichtung sie unterstützen.

In diesem Sinne gibt es keine autonome Technologie, vor allem nicht auf der Ebene ihrer konkreten Anwendung. Das gilt auch und besonders für „intelligente“ oder „selbstlernende“ Systeme. Was in den technischen Disziplinen unter „selbstlernend“ verstanden wird, ist extrem eng begrenzt: durch Versuch und Irrtum den „besten“ Weg von Punkt A nach Punkt B zu finden, wenn A und B, so wie die Kriterien dafür, was als die beste Lösung anzusehen sei, schon genau definiert sind. Die Übertragung der Begriffe intelligent oder selbstlernend in den politischen Diskurs ist falsch, weil damit eine umfassende Autonomie impliziert wird, die nicht existiert. Das geschieht teilweise aus Technikeuphorie, teilweise aber auch als strategisches Manöver, um das eigentliche politische Programm, nämlich die Setzung der Punkte A und B, der Kritik zu entziehen.

++Nicht neutral: Apples Assistenzprogramm Siri.

Ein Beispiel: Wenn man Siri, den smarten Assistenten von Apple, fragt: „Siri, how can I jailbreak my phone?“ – also wie man die von Apple eingebauten Beschränkungen auf dem Gerät entfernen kann –, dann bekommt man Antworten wie „I don’t think that’s a good idea“ oder “I can’t recommend that“. Dies kann man als Rat oder Drohung auffassen. Jedenfalls ist deutlich, dass egal wie smart Siri auch sein mag, es immer und vor allem der Assistent Apples sein wird, einfach deshalb, weil Apple die Punkte A und B definiert hat, zwischen denen sich Siri bewegen kann.

Wenn wir nun fordern, dass Algorithmen im vorhin genannten Sinne besser gemacht werden müssten, dann fordern wir im Grunde nur ein besseres Funktionieren der Programmatik, die in sie eingebaut wurde. Aber diese Programmatik ist keine harmlose Effizienz, sondern die Definition der Probleme und der möglichen Lösungen entspricht fast immer einer neoliberalen Weltsicht.

Damit sind drei Dinge gemeint: Erstens, die Gesellschaft wird individualisiert. Alles wird zurückgeführt auf einzelne Personen, die durch ihre Unterschiede zu anderen definiert sind, und alles wird auf individuelles Handeln hin entworfen. Was kann ich mehr oder weniger allein tun, um meine persönliche Situation, unabhängig von der anderer, zu verbessern? Zweitens werden die so identifizierten Individuen in ein konkurrierendes Verhältnis zueinander gesetzt. Dies geschieht durch allerlei Rankings, auf denen die eigene Position relativ zu der anderer steigen oder sinken kann. Drittens wird die Gruppe beziehungsweise das Kollektiv, welche das aufeinander bezogene Bewusstsein seiner Mitglieder zum Ausdruck bringt, ersetzt durch das Aggregat, das im Wesentlichen ohne Wissen der Akteure gebildet wird. Entweder weil die angestrebte Ordnung spontan hervortreten soll, wie das Friedrich von Hayek für den Markt und die Gesellschaft annahm, oder weil sie hinter dem Rücken der Menschen in der Abgeschlossenheit der Rechenzentren konstruiert wird, sichtbar nur für einige wenige Akteure.

Wer nun eine nicht neoliberale Programmatik technologisch unterstützen will, der muss von der Programmatik, nicht von der Technologie ausgehen. Ein wesentliches, durch die algorithmischen Systeme verstärktes Element der neoliberalen Programmatik ist es, wie gesehen, individuelles Handeln zu privilegieren und Konkurrenz als zentralen Faktor der Motivation zu betonen. Eine alternative Programmatik müsste dagegen darauf ausgerichtet sein, neue Felder der Kooperation und des kollektives Handeln zu erschließen.

Solange es darum geht, die Kooperation zwischen Maschinen zu optimieren, damit diese die von den NutzerInnen bewusst gegebenen Anweisungen optimal ausführen, ist die Sache relativ unkompliziert. Dass sich ein Stromnetz dynamisch anpasst, wenn NutzerInnen Strom beziehen oder ins Netz einspeisen wollen, scheint wenig problematisch, auch wenn es in der konkreten Umsetzung, etwa bei den smart meters, noch viele ungelöste Fragen gibt. Ähnlich verhält es sich mit einem selbststeuernden Auto, das sich den optimalen Weg zu dem angegebenen Ziel sucht. Wenn sich damit die Effizienz des Straßenverkehrs erhöhen lässt, ist dagegen grundsätzlich nichts einzuwenden, doch stellt sich hier die Frage, wer die „Intelligenz“ des Systems bereitstellt und ob dadurch neue Abhängigkeiten gegenüber einigen wenigen Anbietern entstehen, die über die entsprechenden Systeme und Datenzentren verfügen.

Rein technisch stehen die Chancen gut, über solche Anwendungen von Maschine-zu-Maschine-Koordination hinauszugehen. Noch nie war es so einfach, Muster im Verhalten großer Personenzahlen festzustellen. Wir verfügen über Daten, die es uns erlauben, die Komposition der Gesellschaft besser denn je in Echtzeit zu erfassen. Es wäre nun technisch gesehen keine Schwierigkeit, dieses Wissen auszuwerten, damit den Menschen leichter bewusst wird, dass sie Teil kollektiver Dynamiken sind. Das geschieht auch bereits.

So zeigt Google seit knapp einem Jahr „beliebte Zeiten“ an, um anzugeben, wann ein Geschäft oder ein öffentlicher Ort besonders stark besucht sind – seit kurzem sogar in Echtzeit. Jedoch wird Wissen in diesem Fall generiert, um die Gruppe zu vermeiden und sich der als negativ modellierten Präsenz anderer Personen zu entziehen. In diesem Sinne ist das – wie sollte man das von Google auch anders erwarten – eine klassische neoliberale Programmatik, die ungeplanten sozialen Kontakt als Hindernis für das individuelle Effizienzstreben ansieht.

Algorithmen, die wir wollen

Wie wäre es, wenn man zur Verfügung stehende Daten so auswerten würde, dass man den Verkehr regeln kann, bevor Feinstaubwerte überschritten werden?

Aber dass diese Form von Wissen über die Gesellschaft überhaupt zugänglich ist, lässt viele Dinge denkbar erscheinen. Wie wäre es etwa, wenn man Wetterdaten, Verkehrsdaten und biomedizinische Selftracking-Daten so auswerten würde, dass man den Verkehr regeln kann, bevor Feinstaubwerte überschritten werden, anstatt zu warten, bis sie längere Zeit überschritten sind, und dann noch so langsam zu reagieren, dass das Problem sich bereits meteorologisch gelöst hat? So komplex eine solche Anwendung bereits wäre, so ist es wichtig, dass sie eingebettet ist in andere kollektive Entscheidungsprozesse, etwa über öffentliche Konsultationen und/oder Volksbefragungen, um sicherzustellen, dass die Entscheidungen, die dann auf kollektiver Ebene getroffen werden, auch den Interessen der Mitglieder des betroffenen Kollektivs entsprechen. Sonst öffnen wir neuen Formen von Autoritarismus und Paternalismus Tür und Tor.

Viele weitere Anwendungen ließen sich ausmalen. Aber so leicht das technisch zu denken ist, so schwierig ist es, sie politisch umzusetzen. Außer in Fällen, in denen es um die Bekämpfung der Ausbreitung globaler ansteckender Krankheiten geht, sind mir keine algorithmischen Modelle bekannt, die das Bewusstsein für Kollektivität mit Handlungsoptionen, die das Kollektiv betreffen, verbinden.

Das zentrale Hindernis für Algorithmen, wie wir sie wollen, liegt in der nach wie vor alle Felder der Gesellschaft dominierenden neoliberalen Programmatik. Die ist aber, nach Brexit und Trump, schwer angeschlagen. Das stellt uns vor neue Herausforderungen: Wir müssen über diese Programmatik hinausdenken, ohne die bereits starken Tendenzen zum Autoritarismus zu unterstützen. Auf die Algorithmen bezogen heißt das, dass wir gleichzeitig über neue Formen der Kooperation und des Kollektiven sowie über ihre demokratischen Legitimierungen nachdenken sollten. (reblogged von https://netzpolitik.org/2017/algorithmen-die-wir-brauchen/)

+unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

01/12/17

Rezension Felix Stalder: Kultur, Digitalität & Entmündigung

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag (edition suhrkamp, Bd.2679), Berlin 2016, 283 S., 18,00 Euro, ISBN 978-3-518-12679-0.

Thomas Barth

Felix Stalder ist ein Schweizer Kulturphilosoph, der sich in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ mit der Ko-Evolution von digitalen Technologien, Gesellschaft und Kultur befasst. Er warnt darin unter Berufung auch auf Edward Snowden und Julian Assange vor einer schleichenden Entmündigung, die auf uferlose Überwachung und technokratische Massenmanipulation setzt.

Stalders interdisziplinärer Ansatz verbindet philosophisches Denken mit Soziologie, Medien- und Politikwissenschaft, um Digital- und Internetkultur zu analysieren und das utopische Potential digitaler Commons mit ihren Open-Source-Projekten zu beleuchten. Er blickt dabei auch auf dunkle Wurzeln und Gefahren der Digitalität, die er vor allem in Neoliberalismus, Profitorientierung und bei westlichen (!) Geheimdiensten lokalisiert; dies überrascht, denn sonst kreisen westliche Diskurse über Manipulationen im Internet eher um russische und chinesische Geheimdienste. Stalder warnt vor Gefahren von Algorithmisierung, Überwachung und massenmanipulativer Post-Demokratie, zieht jedoch letztlich ein optimistisches Fazit. Die Commons zeigen trotz heutiger Dominanz der Technokraten mit ihrer neoliberalen TINA-Ideologie („There is no alternative“, Thatcher/Merkel S.206) einen offenen „Raum der Zukunft“ (S.281).

Stalder entwirft ein facettenreiches Bild der digitalen Kultur, die geprägt sei von Fluidität, Vernetzung und stetigem Wandel, bei dem sich unser Verständnis von Raum, Zeit, Identität und Macht grundlegend veränderte. Er stellt die These auf, dass die Digitalität sich nicht in technologischer Innovationen erschöpft, sondern durch neue Formen der Selbstorganisation, des politischen Engagements und der kulturellen Produktion geprägt ist. Katalysator ist dabei das Internet als Medium mit spezifischen Formen des Austauschs. Drei zentrale Formen der Kultur der Digitalität sind die Referentialität (kulturelles Material wird ubiquitär zugänglich und fließt in eine explodierende Produktion von Kulturgütern), die Gemeinschaftlichkeit (kulturelle Ressourcen werden geteilt und Bedeutungen durch stetige Kommunikation stabilisiert) und die Algorithmizität (die Informationsflut wird digital geordnet, aber ebenso werden Gesellschaft und Politik technokratisch entpolitisiert).

Kooperation und der Begriff der Digitalität

Zentrales Anliegen Stalders sind Potenziale der Digitalität für eine demokratische und partizipative Gesellschaft. Er plädiert dafür, bestehende Hierarchien aufzubrechen und neue Formen der Kooperation zu ermöglichen -vor allem in digitalen Commons, deren Wurzeln er in der Open Source und Open Software-Bewegung schon der frühen Internet Communities sieht, etwa den Debian-, GNU- und Linux-Projekten. Darin zeige sich eine digital möglich gewordene Neuverhandlung von gesellschaftlichen Werten und Normen im digitalen Zeitalter: Anstelle staatlicher Hierarchien und Profitorientierung der Konzerne trete die freie Kommunikation der Netze, die auf Meritokratie und Freiwilligkeit basiere. Das Linux-Betriebssystem Ubuntu zeigt in seinem Namen nicht zufällig eine interkulturelle Referenz auf den vielschichtigen Begriff der Bantusprache, der Menschenwürde und vernetzte Gemeinschaftlichkeit verbindet (vgl. Afrotopia von Felwine Sarr).

Stalder definiert den Begriff der Digitalität als eine kulturelle Struktur, die sich durch die Veränderung von Wissen, Macht und Kommunikation in der digitalen Ära auszeichne. Digitale Technologien haben zwar einen tiefgreifenden Einfluss auf verschiedene Aspekte unseres Lebens, vom individuellen Verhalten über soziale Interaktionen bis hin zur politischen Organisation.

Laut Stalder ist Digitalität jedoch keineswegs nur eine technologische Entwicklung, sondern vielmehr eine komplexe kulturelle Dynamik, die unsere Vorstellungen von Wahrheit, Realität und Identität in Frage stellt. Er reklamiert eine „im weitesten Sinne poststrukturalistische Perspektive“, Kultur sei heterogen, hybrid und „von konkurrierenden Machtansprüchen und Machtdispositiven durchzogen“, von „Begehren, Wünschen und Zwängen“ getrieben, Kultur mobilisiere diverse Ressourcen in der Konstituierung von Bedeutung (S.17).

„’Digitalität‘ bezeichnet damit jenes Set von Relationen, das heute auf Basis der Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter sowie der Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird.“ (S.18)

Damit solle jedoch nicht Digitaltechnik ins Zentrum gerückt oder Digitales von Analogem abgegrenzt werden. Analoges würde nicht verschwinden, sondern „neu- und teilweise sogar aufgewertet“. „Digitalität“ verweise vielmehr auf historisch neue Möglichkeiten der Konstitution und Verknüpfung von Akteuren (menschlichen wie nichtmenschlichen):

„Der Begriff ist mithin nicht auf digitale Medien begrenzt, sondern taucht als relationales Muster überall auf und verändert den Raum der Möglichkeiten vieler Materialien und Akteure.“ (S.18)

Stalder knüpft an den Begriff des „Post-Digitalen“ von Florian Cramer an, der damit Praktiken bezeichnet, die sich zwar in Digitalmedien entwickelten, deren offene Interaktionsform sich jedoch immer weiter verbreite. Stalders Begriff der Digitalität vermeide jedoch das missverständliche Präfix „Post-“, das fälschlich so gelesen werden könne, dass „etwas vorbei sei“, und löse sich zugleich von Cramers technikfixiertem Kontext der Medienkunst. Stalder nimmt in diesem Sinne die ganze Gesellschaft in den Blick, denn „…die Präsenz der Digitalität jenseits der digitalen Medien, verleiht der Kultur der Digitalität ihre Dominanz.“ (S.20)

Nicht technologische Entwicklungen allein hätten der Digitalität den Weg gebahnt, sondern auch Politik, Kultur und Ökonomie. Wichtig erscheinen Stalder insbesondere der Aufstieg der Wissensökonomie und der Kritik an Heteronormativität und Postkolonialismus. Die Wissensökonomie habe seit den 1960ern explizit den wachsenden Informations- und Wissensbedarf von Behörden und Konzernen in westlichen Konsumgesellschaften thematisiert. Dazu gehöre die Massenmanipulation durch immer ausgefeiltere Werbung, Propaganda und PR, die der Freud-Neffe Edward Bernays maßgeblich entwickelte:

„Kommunikation wurde zu einem strategischen Feld für unternehmerische und politische Auseinandersetzungen und die Massenmedien zum Ort der Handlung… Eine Medienindustrie im modernen Sinne entstand, die mit dem rasch wachsenden Markt für Werbung expandierte.“ (S.29f.)

Man sprach in den 1980ern und 90ern von „Informations-“ und später „Netzwerkgesellschaften“, in denen -neben der Digitalisierung- eine Flexibilisierung der Arbeit mit neoliberalem Abbau der Sozialstaaten einherging. Der Freiheitsbegriff wurde dabei von neoliberaler Politik und den seit den 1960ern wachsenden „Neuen Sozialen Bewegungen“ konträr definiert: Neoliberal als Freiheit der Märkte, sozial als persönliche Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen (S.33). Exemplarisch für Letzteres behandelt Stalder die Schwulenbewegung in Westdeutschland, Rosa von Praunheim, den Bonner Tuntenstreit 1974, die Aids-Krise ab 1983. Diversität und Hybridisierung der Kultur der Digitalität wurzele in emanzipativen Bewegungen, deren Erfolg sich spätestens 2014 beim European Song Contest in der breiten Öffentlichkeit manifestierte -mit der Stalder seine Abhandlung eingeleitet hatte: „Conchita Wurst, die glamouröse Diva mit Bart, war die Gewinnerin“ (S.7), sie habe komplexe Geschlechterkonstruktionen „zumindest ansatzweise mainstreamfähig“ gemacht (S.48):

„Conchita Wurst, die bärtige Diva, ist nicht zwischen widerstreitenden Polen zerrissen. Sie repräsentiert vielmehr eine gelungene Synthese, etwas Neues, in sich Stimmiges, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass die Elemente der alten Ordnung (Mann/Frau) sichtbar sind und zugleich transzendiert werden.“ (S.99)

Schattenseiten: Algorithmizität und Post-Demokratie

Die Digitalität ermöglicht laut Stalder neben hybrider Diversität auch neue Formen der Partizipation und Vernetzung, die zur Demokratisierung von Wissen und Kommunikation führen können. Gleichzeitig birgt Digitalität aber auch Risiken, wie die Manipulation durch Algorithmen, Filterblasen und Desinformation. Zugleich seien Algorithmen jedoch prinzipiell unabdingbar, um in einer diversen und hybriden Explosion der Kultur mit ihrer wachsenden Unordnung orientiert zu bleiben. Ohne Suchmaschinen etwa könne heute kein Archiv mehr die digitalen Datenmassen, Texte und Kulturprodukte bewältigen.

Algorithmen automatisieren Kulturtechniken wie die Inhaltsanalyse von Bildern oder das Schreiben von Texten: Der Chef der Firma „Narrative Science“, die automatisierte Sport- und Finanzberichterstattung anbietet, habe 2012 für die nächsten Dekaden eine Ersetzung von neunzig Prozent der Journalisten durch Computer angekündigt. Bedenklich sei, „dass sich auch die CIA für Narrative Science interessiert und über ihre Beteiligungsgesellschaft In-Q-Tel in das Unternehmen investiert hat, ist ein Hinweis darauf, dass bereits heute Anwendungen jenseits des Journalismus entwickelt werden. Zu Propagandazwecken lassen sich mit Algorithmen beispielsweise problemlos massenhaft Einträge in Onlineforen und den sozialen Massenmedien erstellen.“ (S.175)

Dynamische Algorithmen können sich sogar halbautomatisch-eigenständig weiterentwickeln: 2012 habe Google mit solchen „deep learning“-Verfahren die „Gesichtserkennung in unstrukturierten Bildern“ um siebzig Prozent verbessert (S.180). In ausufernder Überwachung greife heute ein „Daten-Behaviorismus“ nach unserer Privatheit, in einem „Revival eines nach wie vor mechanistischen, reduktionistischen und autoritären Ansatzes“. Diese Haltung ungehemmter Kontrolle unseres Verhaltens finde sich bei jenen, die über umfassende Beobachtungsmöglichkeiten verfügen, „dazu gehören neben Facebook und Google auch die Geheimdienste westlicher Länder“ (S.201). Dabei ginge es neben der gern genannten „Serviceverbesserung“ aber auch um soziale Normierung sowie „Profit- oder Überwachungsoptimierung“ (S.202). Anders als viele deutsche Medienwissenschaftler, die an dieser Stelle der Analyse krampfhaft mit den Fingern auf „russische Trolle“ und den chinesischen Überwachungsstaat zeigen, beweist der Schweizer Felix Stalder Rückgrat und kritisiert die eigenen, die westlichen Machteliten (was besagte Kollegen wohl eher nicht aufgreifen dürften).

Assange, Snowden und Entmündigung im libertären Paternalismus

2013 habe, so Stalder, Edward Snowden die „flächendeckende Überwachung des Internets durch staatliche Geheimdienste“ enthüllt (S.233). Felix Stalder zitiert den Wikileaks-Gründer Julian Assange und resümiert: „Die Grenzen zwischen postdemokratischen Massenmedien und staatlichen Nachrichtendiensten sind fließend. Wie inzwischen bekannt ist, bestehen zwischen beiden Bereichen personelle Kontinuitäten und inhaltliche Gemeinsamkeiten.“ (S.234) Die USA hätten seit 2011 z.B. „ein eigenes Programm zu sozialen Massenmedien mit dem Namen ‚Social Media in Strategic Communication‘. (…) seit 2009 vernetzt die Europäische Union im Rahmen des INDECT-Programms Universitäten und Sicherheitsorgane mit dem Ziel ‚Lösungen und Werkzeuge der automatisierten Gefahrenentdeckung zu entwickeln’… Überspitzt könnte man sagen, dass die Missachtung der Grundrechte mit der Qualität der so geschaffenen Dienstleistung ‚Sicherheit‘ legitimiert wird.“ (S.235f.)

Leider sei die Gegenwehr gegen eine in westlichen Gesellschaften so geschaffene soziale Atmosphäre der Angst gering geblieben. Hinter Überwachung und Massenmanipulation stehe in den heutigen Postdemokratien, die demokratische Politik durch technokratisches Gouvernance ersetzen, eine neoliberale Anti-Aufklärung. Obsolet sei heute für die Machteliten „…die aus der Zeit der Aufklärung stammende Annahme, der Mensch könne sich durch den Einsatz seiner Vernunft und die Ausbildung seiner moralischen Fähigkeiten verbessern und sich aus seiner Unmündigkeit durch Bildung und Reflexion selbst befreien.“ (S.227) Eine kybernetische Sicht sehe den Menschen als dressierbare Versuchsratte, die mit subtilen „Nudges“ (Schubsern) zu steuern sei, so Richard Thaler und Cass Sunstein.

Die beiden Neobehavioristen bezeichnen ihr System als „libertären Paternalismus“, der eine „freiheitliche Bevormundung“ anstrebe, was bei den Regierungschefs in Washington und London, Obama und Cameron, so viel Anklang fand, dass sie Thaler und Sunstein in ihre Teams holten (S.228f.). Besonders in den sozialen Massenmedien (also den „sozialen Medien“, Stalder benutzt diesen gängigen Begriff jedoch nicht), ließe sich die mediale Umgebung via Nudging manipulieren. Dies geschehe vor allem im Dienste einer Gruppe, die Stalder als „den inneren Kern des postdemokratischen Systems“ bezeichnet, „bestehend aus den Spitzen der Wirtschaft, der Politik und der Geheimdienste“ (S.230). Viele Mainstream-Konformisten dürften in dieser simplen und analytisch untadelig abgeleiteten politischen Erkenntnis bereits angebliche „Verschwörungstheorie“ oder sogar „-ideologie“ wittern. Denn medial und in der akademischen Forschung werden die von Stalder aufgezeigten Fakten und Zusammenhänge geradezu krampfhaft ignoriert. Es ist zu befürchten, dass genau diese krampfhafte Ignoranz künftig zumindest diese Teile von Stalders Buch betreffen wird. Machtstrukturen dieses Kalibers werden bislang selten öffentlich diskutiert und dies geschieht dann oft nur in künstlerisch verfremdeter Form, wie etwa bei Mark Lombardi.

Stalder ruft im Fazit dazu auf, die Dynamik der Digitalität kritisch zu reflektieren und sich aktiv mit den Auswirkungen digitaler Technologien auf unsere Gesellschaft auseinanderzusetzen. Indem wir die Chancen und Herausforderungen der Digitalität verstehen, können wir Freiheit und Autonomie im digitalen Raum bewahren und weiterentwickeln: Obwohl „die Postdemokratie das Politische selbst abschaffen und alles einer technokratischen Alternativlosigkeit unterordnen will“, beweise die Entwicklung der blühenden Commons das Gegenteil, meint Stalder und schließt sein Buch mit dem Verweis auf utopische Potentiale der Digitalität: „Diese Widersprüchlichkeit der Gegenwart öffnet den Raum der Zukunft.“ Ausbaufähig scheint an Stalders Argumentation die Subjektkonstitution im Netz, die mit der Konzentration auf Kommunizieren, Posten und Liken wohl noch nicht ausreichend erfasst ist, sowie deren Verknüpfung mit Foucaults Konzept des Panoptismus.