08/30/23
Total vernetzt - Nur wer sich anschließt wird nicht ausgeschlossen.

Rezension: Braches-Chyrek u.a. (Hg.): Handbuch Kindheit, Technik & das Digitale

Thomas Barth
Was bedeuten die rasanten medialen und digitalen Transformationen für das Leben von Kindern? Diese Frage wurde „in der deutschsprachigen Kindheitsforschung bislang wenig untersucht“ (Klappentext). Das Handbuch thematisiert zentrale Zusammenhänge und interdisziplinäre Diskurse über Gesellschaft, Technik und Kindheit mit dem Ziel, emanzipatorische Bildungs- und Lernprozesse zu fördern.
Die Herausgeber*innen kommen aus den Bereichen Pädagogik, Sozialpädagogik und Soziologie, ebenso die meisten der insgesamt 26 Beiträger*innen unter denen acht aus Digitalisierungs- oder Medienwissenschaften stammen. Charlotte Röhner und Heinz Sünker, beide emiritiert, sind Nestor*innen der deutschen Kindheitsforschung, Sünker ist zudem Adorno-Experte und sein Blick auf das Digitale geprägt von der Kritischen Theorie der freudomarxistischen Frankfurter Schule. Überwiegend aus dieser kritischen Perspektive diskutiert der erste von vier Teilen des Bandes „Technik und Gesellschaft“, also die sozialen, kulturellen, pädagogischen und politischen Folgen der Digitalisierung. „Welche neuen Zugriffsmöglichkeiten auf kindliche Subjektivität ergeben sich aus der Techniknutzung und welche Widerstandspotentiale (Adorno, Erziehung zur Mündigkeit)? Welche veränderten Konzeptualisierungsansätze von Kindheitspolitik ergeben sich?“ (Verlagstext).
Soziale Aufgaben wie Wert schätzen, Bindung schaffen, Trennung verarbeiten, Grenzen setzen, Identität und Autonomie gewinnen, sie alle unterliegen durch allgegenwärtige Digitalmedien neuen Risiken, etwa prekärer Datensicherheit, leicht zugänglichen jugendgefährdenden Inhalten oder Cybermobbing. Doch das Handbuch thematisiert auch neue Chancen der Digitalmedien. Im zweiten Teil „Digitalisierung und Mediatisierung von Kindheit“ wird die Sozialisation und Kinder als Akteur*innen thematisiert. Der dritte Teil „Digitales Konstruieren, Spielen und Handeln“ legt den Fokus auf die früher meist negativ bewerteten Computer-, Video- und heute auch Online-Spiele, sucht nach kreativen Potentialen, warnt aber auch, etwa vor unreflektiertem Konsum gewalthaltiger Spiele. Der letzte Teil „Digitalisierung und digitale Bildung in Institutionen“ nimmt Probleme und Lösungsansätze in Kitas und Schulen des Elementar- und Primarbereichs in den Blick.
Technologie, Adoption und Pflegefamilien
Prof. Rita Braches-Chyrek war 2010 Mitherausgeberin des Bandes „Kindheit in Pflegefamilien“, doch dieser Aspekt der Kindheitsforschung klingt im vorliegenden Handbuch nur in zwei Beiträgen an: 1. Die Afrikanistin Konstanze N‘Guessan streift mit „Verwandtschaft und Kindheit im Zeitalter assistierter Reproduktion – Einblicke in die ethnographische Erforschung des doing family“ das Thema Adoption und Islam. 2. Der Beitrag „Beobachtung der Beobachteten: Technologie, Schutz und Fürsorge an einem Tag im Leben von Jasmine“ von Rachel Thomson und Ester McGeeney, berichtet aus einer „alternativen Erziehungseinrichtung für Jugendliche, die keinen Zugang zur Regelschule haben“; sie beobachten dort den Medienalltag der fünfzehnjährigen Mutter Jasmine, die in einer Pflegefamilie untergebracht ist (s.u.2.).
1. Verwandtschaft, Kindheit und Technologie
Der Beitrag von N‘Guessan ist der einzige des Bandes, der nicht von digitalen Medien handelt -dafür aber biotechnologische Bezüge zum Transhumanismus aufweist, indem dessen Biologismus auf den Boden der sozialen, kulturellen und psychologischen Tatsachen zurückgeholt wird. Im Fokus stehen medizinische Technologien der assistierten Reproduktion und die kulturelle Herstellung von Verwandtschaft und Familie in verschiedenen Kulturen. Ihre Ausgangsfragen sind: „Was ist Familie und wer gehört dazu? Welche Dimensionen hat Eltern-Sein und wie wird Abstammung kulturell konzeptualisiert?“ Solche Fragen stellt die Ethnologie der „New Kinship Studies“, die seit den 1980er-Jahren die Verwandtschaftsforschung „von der Biologie befreit, die durch euroamerikanische Prägung entstanden sei.“
Verwandtschaft wird und wurde immer kulturell gemacht -und dieser Entstehungsprozess oft mit Biologismen wie „Blut ist dicker als Wasser“ verborgen, was oft schon den Status von Adoptivkindern kompliziert habe. Neue Reproduktionstechniken (NRT) lassen die biologische Simplifizierung heute vielerorts ins Schwimmen geraten. Denn es sind dabei nicht nur zwei, sondern bis zu fünf Personen im engeren Kreis einer konstruierbaren Elternschaft vorhanden: Mutter, Vater, Eispenderin, Samenspender und Leihmutter. Dazu kämen im weiteren Umfeld noch diverse Medizintechniker*innen, die etwa mit ihren Händen unter dem Mikroskop die Eizelle besamen. „NRT und Adoption konstituieren einen Möglichkeitsraum, auf den sich unterschiedlichste Akteur*innen in ihren Überlegungen und Praxen beziehen. Durch die Linse der NRT lässt sich Verwandtschaft als Ergebnis von Handlungen verstehen.“
Konstanze N‘Guessan erläutert an diversen afrikanischen und islamischen Kulturen Praktiken des Verwandt-Machens -und ist mit dieser interkulturellen Perspektive in diesem Handbuch einmalig. Wir erfahren von einem „Unfruchtbarkeitsgürtel“ in Zentral- und Südafrika, wo NRT trotz der hohen Kosten stark gefragt sind und auf andere als die euroamerikanischen Verwandtschafts-Praktiken treffen. In matrinlinearen Gesellschaften, etwa den Macao in Mozambik, können Vaterpflichten und -privilegien auf den Mutterbruder übergehen; in anderen Kulturen gibt es die „Geist- oder Frauenheirat“, wo Vater- bzw. Schwangerschaft durch Zahlung eines Brautpreises auf einen Ahnen oder eine Frau übertragen werden.
In islamischen Kulturen ist entscheidend, ob diese schiitisch oder sunnitisch sind: Bei Sunniten kann schon die Adoption verboten sein, im weniger restriktiven Schiismus bleiben Adoptivkinder zumindest von der patrilinearen Erbfolge ausgeschlossen; seit einer permissiven Fatwa von Ayatolla Khomeini sind in Iran und Libanon NRT-Kinder erlaubt und Adoptierten gleichgestellt. „Die Frage, wie ‚fremde‘ Kinder durch soziale Praktiken und diskursive Rahmungen der Familie zugehörig gemacht werden stellt sich nicht nur bei NRT-Kindern, sondern immer“, so N‘Guessan, denn Verwandtschaft sei eine „biologisch wie sozial unterdeterminierte, gestaltungsoffene wie gestaltungsnotwendige soziale Ordnung“. Damit stellt sie sich dem reaktionär-neoliberalen Mythos von der biologistisch verabsolutierten bourgeoisen Familie ebenso entgegen, wie dies mit breiterer Perspektive der afrikanische Ökonom und Kulturwissenschaftler Felwine Sarr in seinem Manifest Afrotopia tat.
2.Technologie, Schutz und Fürsorge
Thomson und McGeeney stehen mit ihrem britischen „Kinderalltagsprojekt“ in der Tradition materialistisch-feministischer Methodologie, die ihre Forschungstätigkeit eingehend selbstkritisch reflektiert und nach Möglichkeiten „nachhaltigerer Sorge-Relationalitäten“ sucht:
„Die digitalen Medien haben ganz eigene Möglichkeiten geschaffen, die auch neue Arten von erzieherischer Führung erfordern und neue Gebiet ethischer Untersuchungen eröffnen. (…) Junge Menschen in staatlicher Obhut wurden als eine besondere Risikogruppe identifiziert, einschließlich des Risikos in Bezug auf digitale Kulturen… besonders in den Bereichen Adoption und Pflegefamilien kämpfen Sozialarbeiter*innen darum, die Kinder vor der Aufnahme oder der Fortsetzung von Kontakten mit ihren leiblichen Eltern zu bewahren, wenn diese gerichtlich eingeschränkt worden war.“
Digitale Medien, besonders das allgegenwärtige Smartphone, erschweren diese Aufgabe, denn Kinder und Jugendliche verstehen es, sich der Kontrolle zu entziehen. Im Fall der einen Tag wissenschaftlich beobachteten Jasmine wird klar, dass auch sie und ihre Mitschüler*innen die ihnen auferlegten Regeln für den Mediengebrauch zu unterlaufen wissen: „Die ‚Ein-Tag-im-Leben-Methode‘ hat uns diese Art der dichten, affektiven Geometrien einfangen lassen.“ Die Forscher*innen erfahren, wie vermutlich Instagram und Snapchat von minderjährigen Müttern verwendet werden, um Babyfotos zu posten -schon deren Aufnahme wird von der Einrichtung eigentlich untersagt.
Die Konfliktsituation wird von Thomson und McGeeney aus beiden Perspektiven reflektiert: Die Schutzbefohlenen müssen einerseits „beobachtet, überwacht, geschützt und zensiert werden“, andererseits gibt es auch eine „Kinderöffentlichkeit“ mit „den Imperativen: gesehen werden, sichtbar sein, teilhaben in/an einer digitalen Kultur“. Die Autor*innen stellen fest, dass in dieser neuen Kultur „neue Arten der Subjektivität“ entstehen. „Im Kontext einer Aufmerksamkeitsökonomie können wir das Bedürfnis junger Menschen, gekannt und gesehen zu werden, nicht einfach ignorieren“. Jugendliche Medienpraxis unreflektiert „unterdrücken“ zu wollen, halten die beiden Forscher*innen „für irregehend“.
Der emanzipative Ansatz ist bei Thomson und McGeeney deutlich, doch bei der Reflexion des „Neuen“ an der „neuen Subjektivität“ ist noch Luft nach oben. Denken wir an eine 1950er-Jahre-Werbung für Dosen-Ananas: „Toast Hawaii! Da werden Ihre Nachbarn staunen!“ Foodporn auf Instagram posten ist vielleicht nur überkommene Subjektivierung in digitalisierter Werbeästhetik, die kunstvolle Beleuchtung und Belichtung von damals wird heute durch einen das Foto farblich aufpeppenden digitalen „Filter“ ersetzt.
Fazit
Die emanzipatorische Haltung ist löblich, doch leider gelingt der Transfer der Medienkritik von Adorno ff. auf die Digitalisierung durch die Bank nur ungenügend. Die zweifelhafte Referenz von Heidegger als Paten der Technikkritik überzeugt ebenso wenig wie der gelegentliche, hilflos wirkende Verweis auf neueste Ansätze wie Shoshana Zuboffs „Überwachungskapitalismus“. Dabei wäre bei Kenntnis der kritischen Diskurse zu Computer- und Internetkultur gar nicht nötig, das Rad neu zu erfinden: Der Adorno-Experte Mark Poster etwa kombiniert seit 30 Jahren Freudomarxismus mit postmodernen Ansätzen, etwa den Heidegger implizit weiterführenden Theorien von Michel Foucault, bei seiner Digitalmedienkritik.
Den meisten Beiträgen scheinen auch tiefer gehende Kenntnisse der technologischen und politischen Hintergründe der Digitalisierung zu fehlen, mit den beiden Ausnahmen des Professors für Digital Humanities (Sussex) David M. Berry und des Diplom-Informatikers Marius Melzer, der beim Chaos Computer Club ein Schülerprojekt betreibt. Bei Melzer bleibt die Warnung vor Manipulation im Internet nicht vage, sondern er führt konkret die wohl dramatischste Auseinandersetzung auf diesem Gebiet an:
„Das Beispiel Julian Assange zeigt dies deutlich: Die nach heutigem Wissensstand fingierten Vergewaltigungsvorwürfe (Melzer 2020) führten dazu, dass die vorhergegangene Wikileaks-Veröffentlichung „Collateral Murder“, die zeigte wie US-Soldaten im Irakkrieg lachend aus einem Hubschrauber auf Zivilisten und Journalisten feuerten, in Vergessenheit geriet.“ (S.114)
Die mit nur einem Satz allzu sparsame Erwähnung dieser digitalen Medienschlacht um die (nicht nur Medien-) Geschichte schreibende Enthüllungsplattform Wikileaks brachte einen gravierenden Fehler: In der Literaturliste wurde beim Quellennachweis der Vorname von N.Melzer offenbar zu M.Melzer fehlkorrigiert. Man nahm wohl ein Selbstzitat von Marius Melzer an und kannte nicht den wirklich zitierten weltberühmten Autor Nils Melzer, den UNO-Folterbeauftragten und Schweizer Professor für Völkerrecht. Nils Melzer hatte die gegenwärtige Folter des Wikileaks-Gründers Julian Assange angeprangert, den er als Opfer einer perfiden Intrige sieht. Er hatte in schockierenden Artikeln und seinem Buch „Der Fall Assange“ detailliert enthüllt, wie mutmaßlich Geheimdienste die Regierungen der USA und Großbritanniens sowie die schwedische Justiz den politisch verfolgten Assange als Vergewaltiger abgestempelt hatten. Diese Fakten wurden in westlichen Medien jedoch weitgehend vertuscht, was den Irrtum von Verlag, Lektoren und Korrekturat begründen dürfte. Somit wird dieses Handbuch selbst zu einem Beispiel gelungener Medienmanipulation im Digitalzeitalter.

Rita Braches-Chyrek, Jo Moran-Ellis, Charlotte Röhner, Heinz Sünker (Hrsg.): Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2021. 422 S., 69,90 Euro.

07/8/23
Mitadlndem Finger werden die ausgeschlossen, die sich nicht an Faceook verkaufen wollen

Neue Arbeitsgruppe: AG Eltern & Schulsoftware

Jessica Wawrzyniak 06.07.2023

Ein Austauschkanal für Eltern, die rechtlich gegen datensammelnde Software an Schulen vorgehen möchten, und für Jurist.innen, die dabei helfen möchten.

Immer wieder erreichen uns Anfragen von Eltern, die nicht mehr weiter wissen, weil die Schule ihrer Kinder nicht von datensammelnder, rechtlich bedenklicher Schulsoftware abrücken möchte. Während einige Eltern der Schule noch gut zureden und Argumente für den Einsatz freier Software sammeln, kontaktieren uns andere bereits, um sich wegen erster rechtlicher Schritte zu erkundigen. Einige Eltern sind schon weitergegangen und haben bereits Kontakt zu Anwält.innen aufgenommen, um den Klageweg zu beschreiten.

Es ist kein Wunder, dass sich Eltern für den juristischen Weg entscheiden. Bei Schulträgern und Ministerien finden sie kein Gehör oder die Schule behauptet, die Entscheidung zu Microsoft Teams oder Zoom sei in Absprache mit dem Datenschutzbeauftragten erfolgt, als unbedenklich eingestuft worden und schon allein aus praktischen Gründen nicht mehr zu ändern. Manchen Eltern hat die Schule sogar gedroht, den Schulvertrag zu kündigen, wenn sie der Nutzung der Schulsoftware nicht zustimmen, und diese sei nun einmal Microsoft 365. Das geht zu weit! Dass Behörden widerwillig auf Kritik und Veränderungen reagieren und immer mal wieder den falschen Weg einschlagen, ist nicht neu. Doch an einzelnen Schulen erreicht das Thema mit Erpressung, dem Verstoß gegen datenschutzrechtliche Grundsätze und der Missachtung von Grundrechten ein neues Niveau.

Wir möchten Sie als Eltern mit Ihren Sorgen nicht alleine lassen. Argumente, die gegen den Einsatz datensammelnder Software an Schulen sprechen, stellen wir auf unserer Website zur Verfügung. Wir erarbeiten dazu immer wieder neues Informationsmaterial und schaffen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene Aufmerksamkeit für die Problematik. Digitalcourage hat jedoch nicht die Ressourcen, Sie juristisch zu beraten oder an fachkundige Anwält.innen zu verweisen. Wir möchten Betroffene aber vernetzen und dabei unterstützen, einander zu helfen, zum Beispiel indem sie sich gegenseitig berichten, welche juristischen Maßnahmen bereits Erfolg hatten und was ihre Anwältinnen und Anwälte ihnen empfohlen haben.

In der AG Eltern und Schulsoftware finden Sie Eltern, die bereits juristisch gegen den Einsatz von Microsoft 365, Zoom, Google und anderen datensammelnden Programmen an ihrer Schule vorgegangen sind oder dies noch vorhaben. Auch wenn Sie gegen die Entscheidung eines Schulträgers oder eines Ministeriums vorgehen möchten, sind Sie hier richtig. Herzlich eingeladen sind außerdem Juristinnen und Juristen, die sich dieses Themas bereits angenommen haben und betroffene Eltern ehrenamtlich unterstützen möchten. Wenn Sie sich für die Teilnahme an der AG interessieren, melden Sie sich bitte per E-Mail bei uns (mail@digitalcourage.de).

Die Gruppe wird durch die Teilnehmenden selbst geleitet. Digitalcourage moderiert den Austausch nur geringfügig, um den thematischen Fokus nicht aus dem Blick zu verlieren.

Die AG Eltern und Schulsoftware bietet explizit Eltern und Jurist.innen einen Austauschkanal. Pädagogische Fachkräfte aus der (vor)schulischen und außerschulischen Bildung, die sich aktiv für Datenschutz und Grundrechte in der digitalen Bildung einsetzen möchten und beispielsweise bereits auf freie Materialien und freie Software setzten, sind herzlich eingeladen, sich in einer anderen Arbeitsgruppe von Digitalcourage einzubringen: in der AG Pädagogik.

(reblogged von https://digitalcourage.de/blog/2023/ag-eltern-und-schulsoftware)

09/1/22
CC-by-sa-Gnsin

Transhumanismus, Triefnase & Digitalisierung

Thomas Barth

Transhumanistische Aktivisten und Philosophen schwelgen in Visionen einer digitalen Zukunft. Das Paradies soll uns spätestens nach dem Upload in die Virtual Reality einer bewohnbaren Cloud erwarten, wenn unser Geist sich digitalisiert selbst simulierend im Himmelreich der Matrix wiederfindet. Doch hienieden warten einstweilen noch ein paar Hindernisse, besonders hierzulande, wo selbst das stinknormale Internet dem 16 bleierne Jahre währenden Merkel-Staat als „Neuland“ galt.

Das irdische Elend der Digitalisierung wie auch die Schwächen des cishumanen Mängelwesens Mensch zeigten sich am 4. Oktober 2019 im Tagungszentrum der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Die Kirche wollte den Transhumanismus erörtern und hatte neben dem Theologen Hoff dafür den Religionsphilosophen Professor Göcke und den „bekanntesten deutschsprachigen Transhumanisten“ Professor Sorgner eingeladen. Pech war, Sorgner kam stark vergrippt, Göcke stark verspätet, weil mit der offenbar fehldigitalisierten Deutschen Bahn.

Was ist der Mensch?

Was ist der Mensch? Was soll er glauben, worauf soll er hoffen? Diese Fragen bewegen Denker und Philosophen, Theologen wie Transhumanisten: „Der Transhumanismus geht davon aus, dass sich der Mensch als ein Produkt der biologischen Evolution auch selbstständig technisch bis hin zu einem neuen Mensch-Maschine-Wesen oder einer Cyberspace-Entität weiterentwickeln kann und sollte.

Der durchaus transhuman geneigte Göcke beginnt so die Einleitung zu seinem Buch „Designobjekt Mensch: Die Agenda des Transhumanismus auf dem Prüfstand“. Da kommt digitale Technologie wie gerufen, etwa als Hirn-Chip, als Big-Gene-Data, KI oder in fernerer Zukunft als virtueller Lebensraum ganz entkörperlichter Menschen (brain uploading). Bedeutsamer Zankapfel der Digitalisierung ist der Datenschutz, der nach Meinung Prof.Sorgners leider auch transhumanem Streben nach kybernetischer wie genetischer Verbesserung des Menschen im Weg steht.

Big-Data-Firmen lieben die Transhumanisten, wie etwa die Super-KI-Forscher des Machine Intelligence Research Institute , mehr als Datenschützer. Google etwa hat mit Ray Kurzweil einen prominenten Transhumanisten zum Forschungsdirektor gemacht, Tesla-Milliardär Elon Musk will mit seiner neuen Firma Neuralink Hirnimplantate entwickeln. Bei Facebook treibt Mark Zuckerberg persönlich transhumane Projekte voran, etwa die Worterkennung per Hirnscan. Das dabei angestrebte Brain-Diktaphon würde nebenbei dem maschinellen Gedankenlesen etwas näher kommen, das der NSA bei ihrer Totalüberwachung noch schmerzlich fehlt. Auch deutsche Transhumane scheinen Belangen der IT-Wirtschaft nicht abgeneigt, wie die Diözese Rottenburg auf oben erwähnter Tagung feststellen konnte.

Prof. Sorgner ließ es sich dort nicht nehmen, die Debatte mit einem Bonmot der IT-Industrie zu bereichern: „Daten sind das neue Öl!“ Unter dieser Parole hatte die Industrielobby bekanntlich versucht, die neue EU-Datenschutzverordnung zu torpedieren, wie eine Polit-Dokumentation zeigte. Aus Angst davor, die EU könnte von China digital abgehängt werden, tritt Sorgner dafür ein, ein europäisches Social-Credit-System nach chinesischem Vorbild einzuführen, inklusive einer personalisierten Dauerüberwachung der kompletten EU-Bevölkerung:

Warum es für uns keine realistische Position ist, die Datenerfassung zu unterlassen: Der zentrale politische Grund für eine umfassende Datensammlung ist, dass wir in einer globalisierten Welt leben und das Daten das ‚Neue Öl‘ sind, wie viele Experten betonen: Öl bedeutet Macht und finanzielles Florieren. Angesichts dieser Erkenntnis ist es keine realistische Option, keine personalisierten Daten zu sammeln… In China wird ab 2020 ein Sozialkreditsystem flächendeckend angewendet werden. Die Menge an digitalen Daten, die auf diese Weise erhoben wird, ist kaum zu unterschätzen. Je mehr digitale Daten verfügbar sind, desto mehr Macht und Geld kann realisiert werden. Europa dagegen hat Datenschutzbestimmungen institutionalisiert, die einer hilfreichen Erfassung digitaler Daten entgegenstehen.“ Prof. Stefan Lorenz Sorgner 

Damit wäre Sorgner wohl ein transhumaner Extremist, sogar aus Sicht der 2015 gegründeten Transhumanistischen Partei Deutschlands (TPD). Die pocht in den Leitlinien ihres Parteiprogramms Version 2.0 gleich an erster Stelle auf die Grundrechte der Menschenwürde und der informationellen Selbstbestimmung. Sorgner übergeht dagegen in seinem Redebeitrag den möglichen Einwand, dass blinde Gier nach Macht und Geld geradewegs in einen digitalen Totalitarismus führen könnte. Auch an seinem Buch mit dem reißerischen Titel „Transhumanismus: ‚Die gefährlichste Idee der Welt‘!?“ (2016), fällt auf, dass kaum Bedenken, Zweifel oder Kritik an Technologien vorkommen. Dabei haben insbesondere Eingriffe in das menschliche Gehirn eine dunkle Geschichte -man denke an Militär- und Geheimdienst-Projekte wie das Zimbardo-Experiment, LSD-Forschung, Gehirnwäsche oder MKUltra. Der Transhumanismus muss sich außerdem angesichts lobbyistischer Verfilzungen und enormer Geldsummen, die auf dem Spiel stehen, auch fragen, wer und warum ihn finanziert.

Thomas Hobbes und Bioshock

Hinter Sorgners transhumanem Bejahen des technischen Fortschritts, das geradezu von einer Euphorie in die nächste taumelt, verbirgt sich jedoch ein zutiefst pessimistisches Menschenbild: Der „Mensch als des Menschen Wolf“ des Frühaufklärers Thomas Hobbes, wie man es im „Bioshock“-Computerspiel in einer transhumanen Welt der Gen-Mutanten nachspielen kann. Dort werden individuell gestaltete Menschen zu einander bekriegenden Monstren in einer Gesellschaft, die nach den darwinistisch-libertären Grundsätzen von Ayn Rand konzipiert ist (so Weber in Weber/Zoglauer 2015 S.55,69).

Als Begründer der modernen politischen Philosophie empfahl Hobbes zur Überwindung der angeblich menschlichen Gewaltnatur den frühtotalitären Absolutismus eines staatlichen Leviathans. Angesichts einer Welt voller psychopathischer Wolfsmenschen ist eine an Ethik orientierte Lebenshaltung natürlich nicht ratsam, meint offenbar Sorgner, wenn er sagt:

Moralischer zu sein hingegen, ist ggf. nicht der zentrale Wunsch vieler Menschen. Überspitzt formuliert liegt dies meiner Meinung nach darin begründet, dass Moralität in der Regel im Interesse der nicht-moralischen Menschen ist und moralische Menschen eher ausgenutzt, ausgebeutet und unterdrückt werden.“ Sorgner 2016, S.62

Kritisch sieht Sorgner daher eine von manchen Transhumanisten geforderte gesetzliche Verpflichtung zum „moralischen Enhancement“ (und das ist fast die einzige Technikkritik im ganzen Buch). Dabei ist hier nicht ethische Bildung und Erziehung gemeint, sondern Moral etwa per Hirnimplantat oder Einflößung von Drogen, die analog zur Impfpflicht verordnet werden könnte. Das lehnt Sorgner ab. Aber nicht, weil ein Herumpfuschen an den höchsten Funktionen des menschlichen Gehirns unsere Gesundheit, Freiheit und Würde beeinträchtigen könnte, sondern -ganz im Sinne eines Bioshock-Rechtslibertarismus nach Ayn Rand- wegen des „globalen Wettbewerbs“:

Eine solche Regelung mag zwar praktisch nicht ausgeschlossen sein, jedoch erscheint sie mir in keinem Fall im politischen Interesse des betroffenen Landes zu sein, da ein Land mit einer besonders moralischen Bevölkerung im Kontext des globalen Wettbewerbs sicherlich nicht lange bestehen kann.“ Sorgner 2016, S.63

Janina Loh, die Sorgners „Metahumanismus“ in ihrem Buch „Trans- und Posthumanismus zur Einführung“ in einem kurzen Kapitel analysiert, mag diesen letztlich nicht als eigenständigen Ansatz anerkennen (Loh 2018, S.175). Auch Sorgners duales Theoriesystem von Kohlenstoff- bzw. Siliziumbasiertem Transhumanismus (womit er Bio- von Digitaltechnik trennt) lehnt Loh als zu schematisch und daher nur bedingt brauchbar ab (S.78).Aber Loh schreibt Sorgner auch zu, die von Transhumanisten prognostizierte Unsterblichkeit nur als „rhetorisches Mittel“ zu sehen (S.173), hat dabei jedoch evtl. überlesen, dass Sorgner Unsterblichkeit zwar für unmöglich erklärte, aber nur wegen eines in Milliarden Jahren drohenden kosmologischen Kollaps des Universums (Sorgner 2016 S.11, 2018 S.157).

Bis dahin könnte Sorgners extrem langlebiger (wenn auch im haarspalterisch-philosophischen Sinne nicht völlig unsterblicher) Transhumaner noch eine ganze Menge Neutrinos die Galaxis runterfließen sehen -und evtl. auch eine Revision der schließlich nur auf läppischen 200 Jahren Forschung basierenden Big-Bang-Theorie. Der Kritik am transhumanen Unsterblichkeitsstreben entgeht Sorgner mit seiner kosmologischen Scholastik aber nicht, der Frage nach sozialer Verantwortung hier und heute ebenso wenig.

Unsoziale Weapons of Math Destruction

Die Mathematikerin Cathy O‘Neil, die wirklich etwas von der Technik und dem Code dahinter versteht, fordert etwas mehr „moralisches Vorstellungsvermögen“, denn „Big Data-Prozesse kodifizieren die Vergangenheit und können nicht die Zukunft erfinden“ (S.276). Cathy O‘Neil spricht von Weapons of Math Destruction, also Mathe-Vernichtungswaffen (analog zu Massenvernichtungswaffen), warnt mit Blick auf Google, Amazon und Facebook davor, dass „Daten privatisiert und privat genutzt werden, um Profite zu erzeugen und Macht zu gewinnen“. Man müsse die Digitalisierung und ihre Algorithmen bändigen, indem man sie öffentlicher Aufsicht und die sie betreibenden Firmen mit „verpflichtenden Standards der Rechenschaftslegung“ staatlicher Regulierung unterwirft (S.308). Sie weist darauf hin, dass der Trump-Nestor „Steve Bannon, selbst während er gezielt daran arbeitet, das öffentliche Vertrauen in Wissenschaft zu untergraben, im Verwaltungsrat von Cambridge Analytica sitzt -einer politischen Datenfirma, die behauptet, sie habe Trump zum Wahlsieg verholfen…“ (S.313).

Heiße PR-Luft einer schmuddeligen Dotcom-Firma? Oder die üblichen Wahlmanipulationen im digitalen Kapitalismus, nur leider diesmal aufgeflogen? Manche KI-Kritiker sehen etwa in „lernfähigen neuronalen Netzen“, die aktuell als KI gepriesen werden, eine aufgeblasene Hype. Diese „KI“ wären eher „spreadsheets on steroids“ -Tabellenkalkulation auf Steroiden. So zitiert Schnetker in seiner Kritik der „Transhumanistischen Mythologie“, den DARPA-KI-Experten John Launchbury (Schnetker S.75). Cathy O‘Neil kritisiert die unsozialen Folgen des Einsatzes solcher „KI“ als klassistisch, rassistisch und sexistisch:

„Sie versprechen Effizienz und Gerechtigkeit, manipulieren dabei jedoch die höhere Bildung, verursachen zusätzliche Schulden, fördern massenhaft Gefängnisstrafen, prügeln bei jeder Gelegenheit auf die Armen ein und untergraben die Demokratie.“ (O‘Neil S.270)

Literatur

Göcke, B.P.: Designobjekt Mensch?! Ein Diskursbeitrag über Probleme und Chancen transhumanistischer Menschenoptimierung.“ In: Benedikt Paul Göcke/ Frank Meier-Hamidi (Hg.): Designobjekt Mensch. Der Transhumanismus auf dem Prüfstand. Freiburg i.Br.: Herder 2018, 117-152

Loh, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, Hamburg: Junius 2018

Loh, Janina: Transhumanismus: Den Menschen weiterentwickeln, um ihn besser kontrollieren zu können, Berliner Gazette 15.8.2017

O‘Neil, Cathy: Angriff der Algorithmen, München: Hanser 2017

Schnetker, M.F.J.: Transhumanistische Mythologie: Rechte Utopien einer technologischen Erlösung, Münster: Unrast 2019

Sorgner, S.L.: Transhumanismus: ‚Die gefährlichste Idee der Welt‘!?, Herder: Freiburg 2016

Sorgner, S.L.: Was wollen Transhumanisten? In: Göcke/ Meier-Hamidi (2018) 153-180

Weber, K. u. T. Zoglauer: Verbesserte Menschen: Ethische und technikwissenschaftliche Überlegungen, München: K.Alber 2015

12/25/21

Pankaj Mishra: Freundliche Fanatiker

Thomas Barth

Es ist eine klarsichtige Analyse der politischen Irrwege unserer Zeit – jenseits der eurozentrischen Perspektive: Pankaj Mishra untersucht in seinem neuen Buch „Freundliche Fanatiker: Über das ideologische Nachleben des Imperialismus“ die Auswirkungen des Imperialismus auf die heutige Welt und wie imperialistische Ideen und Strukturen weiterhin in verschiedenen Formen fortbestehen. Die „freundlichen Fanatiker“ sind liberal-rechtspopulistische Neoimperialisten wie etwa der Rechtsintellektuelle Niall Ferguson, die den Untergang des Abendlandes beschwören, weil dem Westen angeblich die nötige Aggressivität fehle, seine wohlverdiente globale Vormachtstellung zu halten.

Dies sei aus neoimperialer Sicht auch Schuld der degenerierten Netzkultur der Digital Natives. Die seien kriegsuntüchtige Faulenzer, die erschlafft vor ihren Bildschirmen chillen, statt tapfer zu den Waffen zu greifen, wie noch ihre wackeren Großväter. Mishras Kritik: Diese neoimperialen Ideologen betreiben Geschichtsfälschung, blenden aktuelle wie historische Verbrechen des Westens systematisch aus und stehen in rassistischer und faschistischer Tradition. Sie hätten den politischen Rechtsruck westlicher Länder herbeigeredet, der Trump, den Brexit und rechtsextreme Regierungsbeteiligungen etwa in Wien, Warschau und Rom erst möglich machte.

Der bekannte Schriftsteller und Publizist kritisiert die selbstzufriedenen Gedankengebäude des Westens und zeigt, dass der Mythos vom angeblich überlegenen Westen bis heute kaum hinterfragt wird. Erst in jüngerer Zeit dringen Stimmen aus dem Süden mit ihrer diesbezüglichen Kritik in unsere Debatten vor. Etwa der senegalesische Kulturökonom Felwine Sarr mit „Afrotopia“ oder eben der indische Buchautor Pankaj Mishra, der für seine Kolonialismus-Kritik „Aus den Ruinen des Empires“ den Leipziger Buchpreis erhielt, mit „Das Zeitalter des Zorns“ einen internationalen Bestseller landete und durch seine Liberalismus-Kritik „Freundliche Fanatiker“ aktuell erneut die Wut konservativer Feuilletons auf sich zog. Im vorliegenden Essayband schaut Mishra besonders auf die USA und Großbritannien als die Mächte, die seit dem 19. und 20. Jahrhundert Vorreiter im Bestreben waren, einen rassistisch geprägten, wie Mishra sagt, „imperialistisch gesinnten Liberalismus“ durchzusetzen – mit verheerenden Folgen, wie die Gegenwart zeigt.

Böse Zwillinge: Imperialismus und Liberalismus

Mishra analysiert die historischen und ideologischen Wurzeln des Imperialismus und zeigt auf, wie sie bis heute in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen präsent sind: Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus werden in der Erzählung vom demokratischen Aufstieg vertuscht. Simple, von Ressentiments geprägte Welterklärungen werden zum Mainstream. Mishra beleuchtet so die Rolle von liberalem Fanatismus und Extremismus in diesem Kontext und argumentiert, dass diese Ideologien oft aus imperialistischen Denkmustern entstehen, die westliche Werte für sich reklamieren, aber auch auf rassistische und antisemitische Wurzeln zurückzuführen sind.

„Eine lautstarke Beschwörung der Aufklärung oder eines anderen historisch und auf ewig festgelegten Wesenskerns Europas wirkt zunehmend wie das Symptom einer intellektuellen Rückständigkeit oder einer kulturellen Abwehrhaltung. Das multiethnische Europa ist eine unverrückbare Tatsache und benötigt daher eine stärker auf Inklusion bedachte, ergebnisoffenere Identität.“ Mishra S.61

Damit stellt sich Mishra gegen alle von rechtspopulistisch-konservativer Seite betriebenen Restriktionen europäischer Einwanderungs- bzw. Migrationspolitik. Diese berufe sich gerne auf den nationalistischen Juristen und Staatstheoretiker Carl Schmitt, der behauptet habe, die „Kraft einer Demokratie“ zeige sich darin, das Fremde, „die Homogenität bedrohende“ fernzuhalten oder zu beseitigen (Mishra S.51). Ob Schmitt mit diesen Behauptungen den von ihm unterstützten Nazi-Faschismus und dessen Massenmorde rechtfertigen wollte, diskutiert Mishra nicht. Schmitt, der als „Kronjurist“ des Nazi-Faschismus gilt, machte unter Hitler Karriere und rechtfertigte Diktatur und Massenmorde; der Zentralbegriff des nationalsozialistischen Staatsrechts sei „Führertum“, so Schmitt, und unerlässliche Voraussetzung dafür sei die „rassische“ Gleichheit von Führer und Gefolge (Wikipedia). Obwohl in seiner Karriere vor 1933 auch von jüdischen Kollegen gefördert, wandelte sich Schmitt nach Hitlers Machtergreifung zum fanatischen Antisemiten, der die Nazi-Rassegesetze juristisch legitimierte. Mishra stellt fest, dass heutige Rechtextremisten vom Front National in Paris, über die FPÖ in Wien bis zur British National Party „ihren ursprünglichen Antisemitismus“ neu verpackt hätten und nun Muslime „statt der Juden beschuldigen, heimlich nach der Weltherrschaft zu streben“ (S.52).

Die wahren Feinde der Demokratie aber sind jene, meint Mishra, die angeblich ihre Werte verteidigen: Dies zeige der in den USA tief verwurzelte Rassismus ebenso wie die Angst dortiger Machteliten vor islamistischen oder lateinamerikanischen Invasoren. Mit konkreten Beispielen hält Mishra den Westeliten einen Spiegel vor und macht sichtbar, wie brüchig das Fundament ist, auf dem unsere westliche Welt steht: Eine freiheitliche Demokratie, in der Gleichheit und Menschenwürde verwirklicht sind, ist noch lange nicht erreicht und wenn unsere Medien Parlamentswahlen westlicher Machtart als allein seligmachenden Weg zu einer Mitbestimmung der Bevölkerung hinstellen, wird dies oft als liberal-koloniale Herrschaftsattitüde gesehen. Mishra weigert sich aus gutem Grund, die im westlichen Medien-Mainstream kolportierte Mär von Indien als „größter Demokratie der Welt“ zu bestätigen, attackiert den aktuell wiedergewählten Präsidenten Indiens, Narendra Modi und dessen neoliberalen Hindu-Suprematismus. Mishra kritisiert auch die neokoloniale Ignoranz des Nordens, die Modi huldigt, und verweist auf den Erzliberalen O’Brian:

„Als Conor Cruise O’Brian in den 1960er Jahren Afrika und Asien besuchte, fiel ihm auf, dass viele Menschen in den früheren Kolonien ‚von dem Wort „Liberalismus“ angewidert waren‘. Sie sahen darin ‚eine beschönigende Maske, die eine zutiefst habgierige Gesellschaft vor der von ihr ausgeraubten Welt aufsetzt.“ (Mishra 2021, S.113)

Liberale „Bland Fanatics“

O’Brian habe nicht verstanden, warum man den Liberalismus für eine Ideologie der Reichen hielt, weil sie genau die Regeln zu universellen Werten erhob, die Entstehung und Fortbestand des Kapitalismus begünstigen. Mishra beschreibt, wie kolonialer Rassismus, Unmenschlichkeit und Überlegenheitskult in liberalen Ideologien gedeiht und spätestens mit Tony Blairs „New Labour“ auf ehemals sozialistisch oder wenigstens sozial gestimmte Politik übergreifen konnte. Die Idee der Republik, des Parlamentarismus selbst wurde dadurch zunehmend unglaubwürdiger:

„Die französische und die US-amerikanische Republik, die allen Menschen demokratische Rechte versprachen, setzten zugleich eine globale Hierarchie durch, in der die Rechte einigen wenigen vorbehalten blieben und allen übrigen vorenthalten wurden.“ (Mishra 2021, S.178)

Dabei stand auch die rassisch begründete Ausschließung von Anfang an „im Zentrum des liberalen Universalismus“. Von Nixon über Reagan und Trump, von Thatcher über Blair und den Brexiteer Boris Johnson, verfolgt Mishra die immer extremer werdende Ideologie westlicher Herrschaftseliten. Sein Programm ist die Enthüllung der verborgenen Schattenseiten einer von westlichen Medien sorgfältig glorifizierten Machtelite:

„Die freundlichen Fanatiker bemühten sich sehr, ihre parfümierte Vorstellung angloamerikanischer Überlegenheit vor der anrüchigen Vergangenheit des Völkermords, der Sklaverei und des Rassismus -wie auch vor dem Gestank der Korruption in den Wirtschaftsunternehmen- zu schützen…“ (Mishra 2021, S.24)

Dabei ist „Freundliche Fanatiker“ noch eine eher freundliche Übersetzung, denn der Originaltitel „Bland Fanatics“, hebt im Wort „Bland“ noch andere Seiten hervor: zwar milde, höflich, einschmeichelnd, aber auch kühl, ironisch -die listige Arroganz des Kolonialisten schwingt deutlicher mit als im Deutschen.

Als ersten Vertreter der bland fanatics knöpft sich Mishra den Kennedy-Biografen und bekennenden Bilderberg-Conférencier Niall Ferguson vor. Man ahnt, warum Ferguson den Unmut des indischen Kritikers erregte: Die Inder etwa verdanken laut Ferguson dem Britischen Empire ihre Freiheit, Demokratie und die englische Sprache; die USA sollten endlich diesem Beispiel folgen und sich stolz zu ihrem Imperialismus bekennen (Mishra S.30). In Fergusons Buch „Das verleugnete Imperium. Chancen und Risiken amerikanischer Macht“ werden als Schwächen westlicher Macht Feministinnen, Adipöse und Digital Natives genannt. Der Feminismus sei schuld am demographischen Niedergang Europas und daran, „dass Mädchen nicht mehr mit Puppen spielen“, die Amerikaner seien übergewichtig und die Europäer degenerierte Faulenzer, die sich endlos dem „Gaming, Chatten und Chillen mit ihren iPods“ hingeben würden (Mishra S.35).

Wie sein Gönner Kissinger sieht Ferguson in den Chinesen die kommende Macht, natürlich nur, weil sie angeblich den westlichen Imperialismus kopieren; seinen ökonomischen Aufstieg verdankt China bei Ferguson selbstverständlich nicht der klugen Kombination von Marxismus und Kapitalismus, sondern dem sich in Peking angeblich ausbreitenden Protestantismus. Der ist nach dem deutschnationalen Soziologie-Klassiker Max Weber mit seiner protestantischen Arbeitsethik die Wurzel eines „Geist des Kapitalismus“. Mishra kommentiert:

„Der wieder aufgewärmte Weberianismus -Indiz für Fergusons nostalgische Sehnsucht nach den Gewissheiten des Sommers 1914- verwandelt sich in eine weitere Klage über die westliche Zivilisation, deren Niedergang sich an der Tatsache zeige, dass die Kirchen leer und die Steuern auf Vermögen und Einkommen hoch seien… während ‚Imperium‘ zu ‚einem schmutzigen Wort geworden‘ sei.“ Mishra S.44

Bei uns würden Christliche Union und neoliberale FDP dieser Klage wohl einmütig zustimmen, stehen Religion bei den einen und Steuersenkung bei beiden weit oben auf der Agenda. Unverblümter Neoimperialismus wäre jedoch noch nicht gesellschaftsfähig und fremdenfeindliche Ressentiments werden noch den Rechtsextremisten allein zugeschrieben.

Neben fleißigen Chinesen machen Ferguson auch die vermehrungsfreudigen Araber große Sorgen um die westliche Vormachtstellung in der Welt. Besonders Europa ist nach dieser ebenso paranoiden wie rassistischen Weltsicht in großer Gefahr, schon sehr bald von Moslems überrannt zu werden. Mishra zitiert die auch von deutschen Rechtspopulisten und Rassisten oft erhobene Behauptung, dass

„eine junge muslimische Gesellschaft südlich und östlich des Mittelmeers bereitsteht, ein vergreistes Europa zu kolonisieren“ (Mishra S.46, Ferguson zitierend)

Der von der BBC hofierte schottische Historiker Ferguson strebe penetrant nach einer Reinwaschung nebst Rivival des Imperialismus. Mishra zeigt auf, wie Ferguson dabei in Fußstapfen von Nazi-Befürwortern und Rassisten wie T.L.Stoddard tritt, der in den USA der 1920er Jahre mit faschistoiden Bestsellern die Angst vor Schwarzen schürte.

Die Verteilung der Rassen nach T. L. Stoddard, schematisierende Karte aus The Rising Tide of Color

Stoddard gilt, was Mishra nicht erwähnt, laut Wikipedia als wichtiger Stichwortgeber des deutschen Nationalsozialismus. Nicht nur dämonisierte er Juden als „eigene Bastard-Rasse“ und verleumdete sie als „Gefahr für die europäische Zivilisation“: In seinem Buch The Revolt Against Civilization. The Menace of the Under Man (1922; dt. Der Kulturumsturz. Die Drohung des Untermenschen, 1925) identifizierte er den Bolschewismus mit einem rassisch definierten Judentum und dieses wiederum mit dem „Untermenschen“. Der Nazi-Ideologe Alfred Rosenberg griff diese hetzerischen Behauptungen Stoddards in Der Mythus des 20. Jahrhunderts auf, und machte damit das zynische Unwort „Untermensch“ zum nationalsozialistischen Schlagwort. Stoddards Weltkarte der „Verteilung der Rassen“ erinnert nicht zufällig an ähnliche, aber von Rassen auf Kulturen umgeschwenkte Karten des Havard-Professors Samuel Huntington. Auch dieser US-Ideologe schürt in seiner „unheilverkündenden Großtheorie“ von einem angeblich tobenden „Kampf der Kulturen“ Rassenängste (Mishra S.28). Huntington begann seine Karriere als Berater beim rassistischen Apartheid-Regime von Pieter Willem Botha in Südafrikas Geheimdienst Civil Cooperation Bureau, das zahlreiche Verbrechen an Apartheidsgegnern verübte – und bezeichnete 1960 die Gesellschaft Südafrikas zur Zeit der Apartheid als eine „zufriedene Gesellschaft“ (Wikipedia). Später setzte er seine Arbeit in den USA fort und war Mitgründer und Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift Foreign Policy, die eine große Stütze des „verleugneten“ Imperiums der USA ist.

Ferguson bemüht sich, den Imperialismus für seine angeblichen Bemühungen um Handelsfreiheit und sogar zur Abschaffung der Sklaverei zu preisen (Mishra S.12). Ob diese durch oder nicht eher gegen die Imperialisten abgeschafft wurde, dürfte zumindest strittig sein, ergänzt der Rezensent, unstrittig dagegen, dass die Hauptimperialisten durch Sklavenhandel und -ausbeutung reich wurden. Die verkrampft-feindselige Haltung heutiger Westeliten gegenüber anderen Kulturen wurzele, so Mishra, in solch dunklen Ideologien und ziele weiterhin auf skrupellosen Machterhalt ab.

Das habe auch Folgen für das politische Klima der angelsächsischen „liberalen Demokratien“ selbst. Mit der Entfernung von Denkmälern für Sklavenhändler sei es dort nicht getan. Es müssten auch Geschichts- und Schulbücher endlich umgeschrieben werden, damit das dort „neumodische“ Sozialstaatsdenken nicht länger dämonisiert werden könne. Voraussetzung dafür sei, dass man dort „nachhaltig mit der Sklaverei, dem Imperialismus und dem rassistischen Kapitalismus abrechnet. Sie waren es, die einigen Leuten in Großbritannien und den USA gewaltigen Reichtum und einzigartige Macht bescherten, die große Mehrheit der Weltbevölkerung jedoch in einen brutalen Kampf gegen Mangel und Entwürdigung stürzten.“ (Mishra S.295)

Pankaj Mishras neues Buch bietet eine kritische Perspektive auf die globalen Auswirkungen des Imperialismus und regt dazu an, über die historischen Kontinuitäten in der heutigen Welt nachzudenken. So entstand der Neoliberalismus aus der Angst der Weißen um ihre Vorherrschaft. Und der westliche Liberalismus ist gar nicht so liberal, denn er definiert die eigene Kultur als die maßgebliche und brandmarkt andere Entwürfe als rückständig oder autoritär.

Mishra, Pankaj: Freundliche Fanatiker: Über das ideologische Nachleben des Imperialismus, Frankfurt/M. 2021, S.Fischer Verlag, 304 Seiten, 24,00 Euro

(Aktualisiert Juli 2024)

12/13/21

Rezension Nils Melzer: Der Fall Julian Assange

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, Piper Verlag 2021

Hermine Humboldt

Hat die schwedische Justiz Beweise gefälscht und Zeugenaussagen manipuliert, um einen Vergewaltigungsverdacht gegen Julian Assange zu konstruieren? Der UNO-Menschenrechtsexperte Prof. Nils Melzer war anfangs kein Assange-Unterstützer, aber er nutzte sein diplomatisches Mandat für eigene Ermittlungen im Fall Assange. Der verleumdete Gründer von Wikileaks wurde damit endlich rehabilitiert -doch die Enthüllungs-Plattform war nach zehn Jahren Rufmord- und Hetzkampagne aus dem Bewusstsein der Medienkonsumenten so gut wie ausradiert.

Was hat der Fall Assange mit Netzphilosophie zu tun? Der Schweizer Netzphilosoph Felix Stalder wies schon 2016 in seinem bahnbrechenden Buch „Die Kultur der Digitalität“ auf eine westliche Machtelite hin, die er als „den inneren Kern des postdemokratischen Systems“ bezeichnete, „bestehend aus den Spitzen der Wirtschaft, der Politik und der Geheimdienste“ (Stalder 2016, S.230). Der Begriff „Postdemokratie“ markiert eine Kritik an westlichen Ländern, die von einer schleichenden Entdemokratisierung und Herrschaft von Technokraten ausgeht, die sich ausgeklügelter medialer Massenmanipulation bedient.

„Die Grenzen zwischen postdemokratischen Massenmedien und staatlichen Nachrichtendiensten sind fließend. Wie inzwischen bekannt ist, bestehen zwischen beiden Bereichen personelle Kontinuitäten und inhaltliche Gemeinsamkeiten.“ (Stalder 2016, S.234)

In seinem Buch „Der Fall Assange“ bestätigt Nils Melzer die Analyse seines Schweizer Landsmanns Felix Stalder in spektakulärer Weise: Denn der Fall Assange ist zweifellos einer der größten Justizskandale die wir kennen (sollten). Den jedoch die wenigsten in voller Tragweite zur Kenntnis nehmen können, denn es ist auch ein eklatanter Fall von Medienversagen der westlichen „freien Presse“. An deren tatsächliche Freiheit kann man angesichts ihrer äußerst desolaten (Nicht-) Berichterstattung zu weiten Teilen dieser Story höchstens noch eingeschränkt glauben -wie auch der Philosoph Stalder gut begründet argumentiert hatte. 2010 wurde Julian Assange zum „Staatsfeind Nr.1“ für die USA und Großbritannien und geriet ins Fadenkreuz der mächtigsten Geheimdienste der Welt: Der CIA, NSA, FBI (und der ca. 30 weiteren US-Geheimdienste) sowie der Britischen MI5, MI6 und GCHQ. Diese Dienste warfen, so muss man annehmen, angesichts der Wikileaks-Enthüllungen ihre ganze Macht in die Waagschale. Dazu gehört auch die Macht über Massenmedien, Politik und Justiz vieler Länder -ganz offensichtlich hier der Justiz in Schweden und England.

Mit dem „Afghan War Diary“ veröffentlicht WikiLeaks 2010 das größte Leak der US-Militärgeschichte, mitsamt Beweisen für Kriegsverbrechen und Folter. Kurz danach verdächtigt Schweden WikiLeaks-Gründer Julian Assange der Vergewaltigung, und ein geheimes US-Schwurgericht ermittelt wegen Spionage. Als ihn Ecuador nach jahrelangem Botschaftsasyl der britischen Polizei überstellt, verlangen die USA sofort seine Auslieferung und drohen mit 175 Jahren Haft. Nils Melzer, UNO-Sonderberichterstatter für Folter, will sich zunächst gar nicht auf den Fall einlassen. Erst als er Assange im Gefängnis besucht und die Fakten recherchiert, durchschaut er das Täuschungsmanöver der Staaten und beginnt den Fall als das zu sehen, was er wirklich ist: die Geschichte einer politischen Verfolgung. An Assange soll ein Exempel statuiert werden – zur Abschreckung aller, die die schmutzigen Geheimnisse der Mächtigen ans Licht ziehen wollen. Dieses packende Buch erzählt erstmals die vollständige Geschichte von Nils Melzers Untersuchung. (Piper-Verlagstext)

Der UNO-Menschenrechts- und Folterexperte Prof. Nils Melzer war anfangs kein Assange-Unterstützer. Melzer ist ein Anwalt der Menschenrechte, berufen von der UNO, und er nutzte sein diplomatisches Mandat für eigene Ermittlungen im Fall Assange -angefangen bei dem angeblichen „Vergewaltigungsverdacht“ an zwei Schwedinnen, den uns die Medien seit zehn Jahren vor jeder Erwähnung von Julian Assange präsentierten. Kritiker wie der Rezensent oder der Buchautor Gerd R. Rüger haben diese Bezichtigungen niemals geglaubt und immer von einer CIA-Intrige gegen Assange gesprochen -sie wurden dafür als „Verschwörungstheoretiker“ denunziert. Nun zeigt sich, dass wir Recht hatten: Es war eine Justiz-Geheimdienstintrige gegen Assange. Denn Prof. Melzer findet, wie er entsetzt feststellen muss, manipulierte schwedische Justizakten, und schreibt in seinem Buch über „die behördliche Nötigung der beiden Frauen zur Anpassung ihrer Aussagen an das offiziell forcierte Vergewaltigungsnarrativ“ (S.149).

Wikileaksgründer im britischen Guantánamo

London, Juni 2021. Im bestbewachten Knast Ihrer Majestät, dem Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, dem „britischen Guantánamo“, wird Julian Assange gefangen gehalten. Der wohl bislang bedeutendste Journalist des 21. Jahrhunderts ist auch inhaftiert, weil er die Foltermethoden des berüchtigten US-Gefangenenlagers Guantánamo enthüllte, jenem US-Gulag also, den der ehemalige US-Präsident Barack Obama eigentlich schließen wollte. Aber nicht die Verantwortlichen in den USA, sondern Assange wurde angeklagt: wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente – gutes Recht von Enthüllungsjournalisten – und wegen angeblicher Verstöße gegen das Anti-Spionage“-Gesetz, eines Relikts aus Zeiten des Ersten Weltkriegs. Der Schauprozess dauert an, das Unrechtsregime in London hat gerade, wie erwartet, den US-Anklägern die Auslieferung des politisch Verfolgten genehmigt.

Unsere Medien ARD, ZDF usw. betreiben eine systematisch verwirrende Berichterstattung über die Der-Fall-Assange-Enthüllungen von Nils Melzer, so droht der Kern seiner Botschaft unterzugehen: Die schwedische Justiz hat 2010 gezielt Beweise gefälscht und Zeugenaussagen manipulierte, um einen Vergewaltigungsverdacht gegen Julian Assange überhaupt erst zu konstruieren.

Der UN-Sonderberichterstatters zum Thema Folter ist Schweizer, aber Nils Melzer spricht auch fließend Schwedisch ein sagenhafter Glücksfall in der Sache Assange. Melzer arbeitete sich durch die schwedischen Akten zum Fall Assange. Doch sein bahnbrechendes Fazit wollte in unseren Leitmedien kaum jemand hören. Erst mühsam kämpfte er sich durch Netzmedien (!) wenigstens an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit. Jetzt legte er ein Buch vor, das seine Arbeit akribisch beschreibt, „Der Fall Julian Assange: Geschichte einer Verfolgung“, und folgert

Der eigentliche Zweck der Verfolgung von Assange ist nicht in erster Linie die persönliche Bestrafung von Assange, sondern die Etablierung eines Präzedenzfalles mit globaler Abschreckungswirkung für andere Journalisten, Publizisten und Aktivisten, um künftig weltweit jeden strafrechtlich verfolgen zu können, der es wagen sollte, die schmutzigen Geheimnisse der Regierungen ans Licht der Öffentlichkeit zu ziehen.“ Melzer S.230

Prof. Nils Melzer kritisiert die Leitmedien. Zwar würden einige Meinungsbeiträge halbherzig Partei für Assange ergreifen und auch die Gefahr für die Pressefreiheit anerkennen, „doch kein einziges Medienhaus protestiert gegen die den ganzen Fall durchziehende Justizwillkür“ (S.312). Die Justizwillkür zeige sich in der britischen Willfährigkeit gegenüber der US-Anklage vor dem Londoner Gericht:

Schritt für Schritt wurden auch die abwegigsten Argumente der USA kritiklos bestätigt. Gleichzeitig, fast wie im Vorbeigehen, wischte Bezirksrichterin Baraitser sowohl die rechtlichen Einwände als auch die entlastenden Gutachten und Zeugenaussagen der Verteidigung ohne viel Federlesens vom Tisch.“Melzer S.318

Prof. Nils Melzer kommt in seinem Bericht, der sich wie ein Justizthriller liest, also zu Schlussfolgerungen, die sich weitgehend mit dem decken, was Assange-Anhänger seit zehn Jahren skandalisieren: Der WikiLeaks-Gründer wurde Opfer einer Intrige, einer gnadenlosen Rufmordkampagne sowie politischer Verfolgung.

Bei dieser großangelegten Intrige handelt es sich demnach um Staatsverbrechen, für die die Verantwortlichen der beteiligten Staaten – mindestens der USA, Großbritannien, Schweden und zuletzt auch Ecuador – eigentlich vor Gericht gehören würden. Gegen Assange konnten die USA vor Gericht, anders als die Londoner Richterin in ihrem Urteil behauptet, aus Melzers Sicht nichts strafrechtlich Relevantes vorweisen. In einem rechtsstaatlichen Verfahren wäre er schon lange ein freier Mann. Das läuft schließlich auf den Vorwurf der Justizwillkür hinaus.

Westliche Massenmedien als Mittäter

Prof. Nils Melzer zeigt sich in seinem Buch überzeugt, die westlichen Medien hätten sich mit ihrer willfährigen Beteiligung an der Anti-Assange-Rufmordkampagne zu Gehilfen einer perfiden psychischen Folter gemacht – er spricht von „öffentlichem Mobbing“ (S.109). Der UNO-Experte kritisiert auch das anhaltende Ausbleiben medialer Aufmerksamkeit für den Fall Assange. Würden westliche Leitmedien die Justizwillkür angemessen skandalisieren, so seine These, würde das windige Verfahren rasch eingestellt: „Denn wenn Regierungen eines fürchten, dann ist es das gebündelte Scheinwerferlicht und die kritischen Fragen der Massenmedien.“ (S.312)

Beides bleibt jedoch aus. Stattdessen greifen westliche Leitmedien Nils Melzer an, den Überbringer der unbequemen Botschaft: Der skandalösen Botschaft, dass im Westen ein Dissident gefoltert wird, von den eigenen Regierungen, nicht im feindlichen Ausland. Unsere Leit- und Netzmedien ignorieren Melzers Erkenntnisse und berichten lieber noch kleinste und selbst konstruierte Verfehlungen von Julian Assange (wie seine angeblich hungernde Katze im Botschaftsasyl) zehn Jahre mehrheitlich breitgetreten und ihn zu einem Außenseiter stigmatisiert. Rückgratlose Leitmedien sehen bei Melzer nun wohl ihre eigene Erbärmlichkeit bestätigt -von derart autorisierter Stelle, dass sie nur peinliches Schweigen darüber breiten möchten. Melzers Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen, besonders unter Freunden der Netzphilosophie.

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, (Mitautor: Oliver Kobold ), Piper Verlag 2021, 336 Seiten, 22,00 Euro. https://www.piper.de/buecher/der-fall-julian-assange-isbn-978-3-492-07076-8

04/28/21

Summa technologiae: Der Internet-Kritiker Stanislaw Lem

Gerd Peter Tellurio

In den 2000er Jahren wurde Stanislaw Lem (1921-2006), Autor des weltberühmten Romans Solaris zum Kritiker des Internets und der Informationsgesellschaft – die von ihm vor allem in der Summa technologiae prognostiziert worden waren. Vor allem dort erörterte Lem das Verhältnis von Mensch und Computer sowie die Veränderung von Kultur und Gesellschaft vor dem Hintergrund einer Energie- und Informationskrise, der „Megabit-Bombe“ (vgl. Hennings 1983, S.82). Er vertritt eine biologistische Wahrheits- und Erkenntnislehre, die das Leben auf unserem Planeten als Zeugen beruft.

Erkenntnisse -das sind wahre Informationen. Die Evolution ist eine milliardenjährige Zucht solcher mit konstruktiven Absichten gesammelten und überprüften Informationen.“ (Summa, S.V)

Die Summa technologiae ist ein Buch von Lem, das 1964 erstmals veröffentlicht wurde, und es brachte Lem endlich auch Anerkennung als Wissenschaftler, wie Jarzebski berichtet (1986, S.26). Die Summa wurde 1976 von Friedrich Griese ins Deutsche übersetzt und die BRD-Ausgabe erschien 1976 im Insel-Verlag und 1981 als Taschenbuch bei Suhrkamp. Die DDR-Ausgabe erschien 1980 im Verlag Volk und Welt, Berlin. Erst im Jahr 2013 (!) erschien eine englische Ausgabe an der Universität von Minnesota -Grund für die Missachtung des großen polnischen Autors war vermutlich Lems Konflikt mit der Gilde der US-Autoren der SF (unten mehr dazu).

Der Titel des Werkes bezieht sich auf die großen „Summen“ der Theologie: Summa theologica von Thomas von Aquin bzw. Summa Theologiae von Albertus Magnus. „Technologie“ wird von Lem als die Gesamtheit der materiellen Grundlagen unserer Zivilisation und Kultur verstanden. Der Autor nähert sich seinem Thema auf philosophische Weise. Er will aufzeigen, was wir überhaupt von Wissenschaft und Technik erhoffen dürfen. Die oft im Zusammenhang mit diesem Werk erwähnten Voraussagen Lems zur „virtuellen Realität“ sind eigentlich nur Nebenprodukte. Für die tatsächliche informationstechnische Entwicklung dürften diese Voraussagen – mangels früherer englischer Übersetzung des Werks – ohne große Wirkung geblieben sein.

Prognosen der Digitalität, KI und Informationsgesellschaft

Bei den einschlägigen Prognosen finden wir vor allem die von Lem „Phantomatik“ genannte Virtuelle Realität, was später VR-Brille oder eyephones (Lem 2002, S.63) heißen sollte nannte Lem 1964 „Gegenauge“. Ihn interessierte die Möglichkeit, künstliche Welten zu schaffen, die sich nicht mehr von der natürlichen Realität unterscheiden lassen -William Gibson verfolgte diese Idee in Neuromancer weiter (der Matrix-Vorlage).

Lem prognostizierte auch die Künstliche Intelligenz, die er als „Intellektronik“ bezeichnet, und die durch „Informationszüchtung“ entstehen sollte. Heutige „selbstlernende Algorithmen“ sind erst ein schwacher Vorgeschmack von Lems an der biologischen Evolution orientierten Methode. Die führte ihn bis zu einer in westdeutschen TFA-Debatten (Technikfolgen-Abschätzung) 1981 diskutierten „Ethosphäre“, die unethisches Verhalten (von Menschen!) kybernetisch unterbinden sollte (Hennings 1983, S.7). Wichtig in der Summa technologiae ist die Ausweitung des Begriffs „Technologie“. „Technologien“ sind gemäß Lem „die Verfahren der Verwirklichung von Zielen, die sich die Gesellschaft gesetzt hat, aber auch solcher, die niemand im Auge hatte, als man ans Werk ging“. Als „Effektoren“ in solchen Verfahren kommen nicht nur einfache Werkzeuge und Apparate (Hammer, Schreibmaschine usw.) und rückgekoppelte Systeme (Computer, Tier, Mensch) in Frage, sondern auch sich selbst verändernde Systeme (z. B. eine lebende Tierart) oder sogar Systeme mit noch höherem Freiheitsgrad, bei denen die Auswahl oder sogar Erschaffung des Materials, mit dem das System sich selbst aufbaut, möglich ist -heutige KI kommt dem langsam näher. Mit dem Ausloten prinzipiell möglicher Technologieentwicklung geht es Lem eher um eine Metatheorie technischer Evolution als um die althergebrachte Futurologie.

Netz-Hype, Fakenews und Kritik

Dann kam die große Netz-Hype und Mahner wurden vergessen. Doch Stanislaw Lem glaubte den Netzvisionären nicht, die freudig eine totale Information beschworen und deren Segen priesen. Lem sah die Rolle der Nutzer weniger rosig, weil diese zu „Informationsnomaden“ würden, die nur sinnlos von Stimulus zu Stimulus hüpften. Es erweise sich als immer schwieriger, so Lem über das Internet, unterschiedliche Quellen und Sichtweisen zusammenzubringen, um ein rundes, vollständiges Wissensbild einer Sache zu erhalten. Weise Worte, lange vor der Fakenews-Hysterie der sogenannten „Sozialen Medien“ Facebook & Co.

Lem gilt als brillanter Visionär und Utopist, der zahlreiche komplexe Technologien Jahrzehnte vor ihrer tatsächlichen Entwicklung prognostizierte. So schrieb er bereits in den 1960er und -70er Jahren über Themen wie Nanotechnologie, neuronale Netze und virtuelle Realität. Ein wiederkehrendes Thema sind philosophische und ethische Aspekte und Probleme technischer Entwicklungen, wie etwa der künstlichen Intelligenz, menschenähnlicher Roboter oder der Gentechnik. In zahlreichen seiner Werke setzte er Satire und humoristische Mittel ein, wobei er oft hintergründig das auf Technikgläubigkeit und Wissenschaft beruhende menschliche Überlegenheitsdenken als Hybris entlarvte. Einige seiner Werke tragen auch düstere und pessimistische Züge in Bezug auf die langfristige Überlebensfähigkeit der Menschheit. Häufig thematisierte er Kommunikationsversuche von Menschen mit außerirdischen Intelligenzen, die er etwa in einem seiner bekanntesten Romane, Solaris, als großes Scheitern verarbeitete. (Wikipedia)

Die Lem – Philip K. Dick -Kontroverse

1973 wurde Lem die Ehrenmitgliedschaft der Science Fiction and Fantasy Writers of America (SFWA) verliehen, aber diese wurde ihm schon 1976 wieder entzogen. Den Rauswurf des polnischen Starautors hatten verschiedene amerikanische SF-Autoren, darunter Philip José Farmer, gefordert. Sie waren einerseits über Lems kritische Haltung gegenüber einem großen Teil der westlichen Science Fiction empört. Aber zudem waren unter ihnen laut Ursula K. LeGuin „kalte Krieger“, die fanden, dass ein Mann, der hinter dem Eisernen Vorhang lebe und sich über amerikanische SF kritisch äußere, eine Kommunisten-Ratte sein müsse, der in der SFWA nichts zu suchen habe.

There was a sizable contingent of Cold Warrior members who felt that a man who lived behind the iron curtain and was rude about American science fiction must be a Commie rat who had no business in the SFWA.“ Ursula K. LeGuin

Die Nestorin der feministischen SF, Ursula K. LeGuin, trat danach unter Protest aus der SFWA aus. Ein weiteres Argument für den Entzug der Ehrenmitgliedschaft war technischer Natur; die Ehrenmitgliedschaft sollte nicht an Autoren verliehen werden, die als zahlendes Mitglied in Frage kamen. Dieses Argument brachte laut seinem Biographen Lawrence Sutin der auch von mir hochgeschätzte SF-Hippie Philip K. Dick (Blade Runner) vor, der Lem für Schwierigkeiten bei den Honorarzahlungen für die polnische Ausgabe seines Romans Ubik verantwortlich machte -wofür es allerdings außer der bei P.K.Dick immer wieder beobachtbaren Paranoia keine Erklärung gibt. Dick hatte sich immerhin dafür ausgesprochen, Lem als zahlendes Mitglied zuzulassen. Eine solche Mitgliedschaft wurde Lem dann auch angeboten, der lehnte sie jedoch ab. Der Kalte Krieg forderte seine Opfer nicht nur an den zahllosen unsichtbaren und sichtbaren Fronten, sondern auch in der SF-Literatur.

Stanislaw Lem wurde 1921 in Lwow, Polen, geboren. Neben zahlreichen belletristischen Werken verfasste er theoretische Schriften über Science Fiction und über Gebiete der angewandten Philosophie und der Kybernetik. Sein Schaffen umfasst inzwischen 28 Werke, deren Gesamtauflage fast 8 Millionen Exemplare erreichte. Übersetzungen erschienen in 27 Sprachen, unter anderem in Japan, England, Russland, Amerika, Schweden, Italien, Holland und Frankreich. Sein Hauptinteresse galt der Science Fiction als literarische Gattung. Er starb 2006 in Krakau.

Stanislaw Lem, Summa technologiae, Suhrkamp, Frankf./M., 1976 (poln.Or.1964).

Stanislaw Lem, Die Technologie-Falle, Suhrkamp, Frankf./M., 2002 (poln.Or.1995).

R.-D. Hennings u.a. (Hrsg.), Informations- und Kommunikations-Strukturen der Zukunft: Ein Workshop mit Stanislaw Lem, W.Fink, München 1983.

Jerzy Jarzebski, Zufall und Ordnung: Zum Werk Stanislaw Lems, Suhrkamp, Frankf./M., 1986.

12/15/20

Geert Lovink:  Digitaler Nihilismus

Thomas Barth

Die Netzphilosophie erkundet philosophische Seiten der Netze, der Praxis ihrer Nutzung und der erst im Entstehen begriffenen Netzwissenschaften. Deren Vorreiter ist Geert Lovink, ein bekannter Medientheoretiker und Aktivist, der in den Niederlanden zum Professor seines eigenen Institutes werden konnte, des INC (Institute of Network Cultures).

Sein Buch „Digitaler Nihilismus“ ist ein provokanter Exkurs durch die Netzkultur und ihre Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, der besonders die dunklen Seiten der digitalen Revolution ins Visier nimmt. Lovink stellt die Frage, ob diese Revolution tatsächlich die utopischen Versprechungen erfüllen konnte, die ihr oft zugeschrieben wurden. Seine Antwort fällt pessimistisch aus, wie schon der Buchtitel ahnen lässt: “Digitaler Nihilismus: Thesen zur dunklen Seite der Plattformen”.

Lovink flaniert durch Diskurse über unsere von Plattform-Konzernen dominierten Netzmedienwelt, Texte von Aktivisten, Künstlern, Theoretikern. Dabei argumentiert Lovink, dass die omnipräsente Nutzung digitaler Medien zu Sinnleere und Orientierungslosigkeit führt, die er als „digitalen Nihilismus“ bezeichnet. Dieser Sinnverlust kann in einer Vielzahl von Formen auftreten, von Langeweile, über Abstumpfung und Einsamkeit bis hin zu ausgeprägtem Zynismus gegenüber der Welt um uns herum. Lovinks zentrale These ist, dass der Nihilismus im digitalen Raum durch die Erschöpfung und Enttäuschung der Nutzer entsteht, die mit der Realität der digitalen Plattformen konfrontiert werden.

Lovink zeigt auf, wie die permanente Vernetzung und digitalisierte Kommunikation unser Denken und Handeln prägen und dabei eine Entfremdung von der Realität bewirken. Er analysiert, wie Algorithmen und künstliche Intelligenz unseren Alltag steuern und dabei Verschwörungstheorien, Fake News und Filterblasen begünstigen. Dabei geht er auch auf die Bedeutung von Algorithmen, Künstlicher Intelligenz und Big Data für die Manipulation und Steuerung von Informationen ein.

Bernie Sanders, Hillary Clinton und die Memetik der Netze

Er referiert aus Konferenzbesuchen, Lektüren, etwa von Richard Dawkins, dem Erfinder des Begriffes “Mem”, das dieser als kulturelles Analogon zum biologischen Gen dachte, und Email-Wechseln, die er z.B. mit Morris Kolman führte. Kolman, der als unbezahlter Praktikant im Wahlkampf 2016 für Hillary Clinton arbeitete, wandte sich mit einem langen Exposé über Meme an Lovink. Später verfasste er seine B.A.-Thesis zum Thema Meme und Netzwerk-Neoliberalismus. Im Gegensatz zu Clintons innerparteilichem Konkurrenten um die Kandidatur, des Sozialisten Bernie Sanders, wollte Clinton nicht mit Memen werben: “Das Internet mag uns nicht” (S.188).

Leider verschweigen Lovink und vermutlich auch Kolman in seinen Thesen, mit welchen unfairen Methoden Clinton den bei der Jugend beliebteren Sanders aus dem Rennen warf. Am Ende gewann Trump, weil viele Jungwähler sich deshalb angewidert von der Wahl abwandten. Aber Hillary Clinton verlor auch, da mögen Kolman und Lovink gewissermaßen richtig liegen, weil, wie Lovink es formuliert, “das Internet” Trump “mochte”. Rechtsradikale Meme bestimmten einen schmutzigen Wahlkampf mit Beleidigungen, Fakenews und rassistischer Propaganda.

Kolman zufolge, referiert Lovink, wuchs die Macht der Meme mit dem “Netzwerk-Neoliberalismus”. Das neoliberale Subjekt steckt in einem auszehrenden Online-Milieu, das Produktion optimieren und Identitäten visualisieren will: “Man muss nur ihre Werbepräferenzen auf Facebook anschauen, um sie als einen Haufen fragmentierter Charaktereigenschaften zu sehen, eine zusammengestückelte Persönlichkeit.” (S.189) Dies schaffe ein ständiges Bedürfnis nach Verbindung und Abhängigkeit von sozialer Zustimmung, wobei zunehmend Aspekte des Lebens und der Identität an digitale Medien und Plattformen ausgelagert werden. In der Memkultur der Millenials herrsche daher “Egomanie, Hedonismus, Depression und Nihilismus”, zitiert Lovink die BA thesis des jungen Kolman, die damit eine Hauptquelle der Lovinkschen Kernthesen zu sein scheint.

Dann folgt ein Ausflug zu Norbert Wiener, dem Begründer der Kybernetik, der auch schon biologistische Vergleiche mit seinen Feedback-Regelkreisen liebte, und zum Electronik-Kunst-Festival “Ars Electronica” in Österreich von 1996, mit dem Motto “Zukunft der Evolution”, wo Lovink dem Mem-Begriff erstmals begegnet war. Über das Retrovirus HIV und das Computervirus, die beide in den 1980ern auftauchten, kommt Lovink dann zur Computerkritik des technikfeindlichen Unabombers und den Warnungen vor einer Rückkehr des Sozialdarwinismus von Richard Barbrook, eines frühen Internet-Visionärs. Nach weiteren Virus-Metaphern in Netzdiskursen meint Lovink: “Die kulturelle Mem-Suppe verweist noch einmal auf Kolman.” (S.196) Dieser hätte auf ein wichtiges Flusser-Zitat referiert: “Menschen gruppieren sich nicht mehr in Bezug auf Probleme, sondern eher in Bezug auf technische Bilder.” Für Kolman hätten technische Bilder, je mehr sie als soziales Bindeglied wirken, desto mehr die Rolle technischer Verbreitungsmedien für die Sozialisation verstärkt.

Netzkultur vom Faschismus wegsteuern

Für Lovink stellt sich angesichts der Wahl Trumps 2016 die Frage, wie wir unsere Netz- bzw. Memkultur “vom aktuellen, alles durchdringenden Faschismus” wegsteuern können (S.197). Er warnt jedoch vor Kontrollfantasien, die aus der  “memetischen Faszination” evolutionärer Macht entstehen, die er mit dem SF-Horrorfilm “Alien” illustriert: Dort bewunderte der böse Android Ash das tödliche Alien als “perfekten Organismus”, nicht behindert durch Ethik, Gewissen oder Moral.

Wohin die Absehung von Ethik führen kann, hatte Lovink bereits zuvor ausgiebig erörtert, im Kapitel “Von der Registrierung zur Auslöschung – Über technische Gewalt” (S.129-156). Beim “Technohumanismus” von Yuval Noah Harari sieht Lovink das Streben nach der “Optimierung einer Handvoll von Übermenschen”, anstelle der Gesundheitsversorgung der nutzlosen Menschenmassen. Er vergleicht dies mit dem Nazi-Faschismus und seiner Genozid-Politik, der in den bürokratisch wohlorganisierten Niederlanden während der deutschen Besetzung prozentual mehr Juden zum Opfer fielen als anderswo. Der Bildhauer Gerrit van der Veen habe mit seinem dagegen gerichteten Bombenanschlag auf das Staatsarchiv in Amsterdam 1943 immer Lovinks Fantasie angeregt (S.132). Der deutsche Autonome Detlef Hartmann habe mit “Die Alternative: Leben als Sabotage –zur Krise der technologischen Gewalt” (1981) das “post-utopische Dokument meiner Generation” vorgelegt, “sperrig eingeschoben zwischen Hippies und Yuppies, Disco und Punk, ist nie ins Englische übersetzt worden… Das Buch, voll von marxistischem Jargon, atmet die Bitterkeit seiner Zeit.” (S.133) Zwischen der Diskursanalyse von Michel Foucault und dem Kinderbuchautor Michael Ende sucht Lovink nach Sinn im Widerstand.

Der Widerstand gegen Vokszählungen in den 1980er-Jahren sei ein wichtiges Beispiel. Das Buch “Die restlose Erfassung: Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus” (1984) von Historiker Götz Aly und dem deutschen Autonomen Karl Heinz Roth ist für Lovink eine “wichtige historische Studie, die die Volkszählung und die Rolle der Statistik während der Nazizeit behandelt.” (S.139) IBM wird hier die Hilfe für die Nazi bei der Identifizierung von Juden für den Völkermord vorgehalten. 2001 erschien dann Edwin Blacks “monumentale Studie” zu “IBM und der Holocaust”, die Lovink ausführlicher referiert, um nach weiteren Gründen für und Ansätzen zum Widerstand beim Kölner Capulcu-Kollektiv anzukommen. Dessen Pamphlete riefen in der “Tradition luddistischer Widerstandsstrategien” zur zeitgemäßen digitalen Selbstverteidigung auf (S.152).

“Capulcu analysiert die ‘Innovationsoffensive’ als einen Motor, der den ewigen Zyklus Blase – Stagnation – Populismus – Krieg antreibt.” (S.153). Das Kölner Kollektiv rufe zum Angriff gegen Selbstoptimierung und Nudging-Logik auf, die einen beschränkten freien Willen voraussetzen und auf Manipulation setzen würden. Lovink beendet dieses dunkelste Kapitel seines Buches mit Slavoj Zizek und dem neomarxistischen Duo Hardt/Negri, wo er weitere Anregungen für Widerstand gegen den “digitalen Angriff” auf die Menschlichkeit sucht. Bei Hardt/Negri gibt es den Aufruf, “ins Herz der Technik” vorzustoßen, um sie gegen die herrschenden Kräfte zu richten, die diese Technik missbrauchen. Andererseit hätte Capulcu zum Widerstand gegen den ‘digitalen Angriff’ aufgerufen. Lovink schließt: “Was wir als nächstes machen müssen ist, die Debatte zu organisieren, uns über die vielfältigen Optionen militanten Kampfes gegen den Plattform-Nihilismus zu informieren und all diese Optionen auf den Tisch zu legen.” (S.156)

Es folgen Kapitel über Selfies und Narzissmus und die “Ästhetik des Gesichtslosen” hinter der Guy-Fawkes-Maske von Anonymous. Diese Bewegung sei “ein kollektives Kunstwerk, eine Performance des sozialen Potentials des Prekariats als vernetze  Klasse.” (S.185) Lovink lässt bei seiner Beschreibung die harte Strafverfolgung mit schweren Gefängnisstrafen auch für jugendliche Aktivisten dieser Bewegung vor allem in den USA unter den Tisch fallen und erklärt die Maskierung zur bevorzugten Taktik des benötigten Widerstands.

Statt der versprochenen Befreiung und Selbstverwirklichung erlebten viele Nutzer zunehmend Kontrolle, Überwachung und Manipulation durch Techgiganten wie Google, Facebook und Amazon. Diese Unternehmen haben es geschafft, die ursprünglich dezentralen und offenen Strukturen des Internets zu monopolisieren und zu kommerzialisieren. Dies führt zu Entfremdung und Desillusionierung, sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene.

Für Lovink ist dies eine klare Warnung, die wir ernst nehmen müssen. Er plädiert dafür, dass wir uns bewusst werden müssen, dass die digitale Revolution nicht nur positive Entwicklungen mit sich bringt, sondern auch tiefgreifende Herausforderungen birgt, die wir angehen müssen. Dies erfordert ein Umdenken darüber, wie wir Technologie in unserer Gesellschaft einsetzen und wie wir sicherstellen können, dass sie zum Wohle aller eingesetzt wird.

Demokratie, Desinformation und Gemeinwohl

In seinem Buch problematisiert Lovink die Auswirkungen des digitalen Nihilismus auf Politik und Demokratie. Die Verbreitung von Desinformation und Propaganda im Internet hat zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft geführt, die die Demokratie gefährden kann. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Buches ist Lovinks Forderung nach einer Neugestaltung der digitalen Infrastruktur im Sinne des Gemeinwohls. Er plädiert für die Stärkung alternativer digitaler Plattformen, die auf demokratischen Prinzipien und der Freiheit der Nutzer basieren. Dazu gehören dezentrale Netzwerke, verschlüsselte Kommunikation und Open-Source-Software, die den Nutzern die Kontrolle über ihre Daten zurückgeben. Der Autor fordert eine Rückbesinnung auf menschliche Werte, kritisches Denken und eine aktive Auseinandersetzung mit der digitalen Welt.

Geert Lovinks Analyse stützt sich auf eine Vielzahl von Beispielen und Fallstudien aus der digitalen Praxis. Er zeigt auf, wie die kommerziellen Interessen der Tech-Firmen das Gemeinwohl und die demokratischen Prinzipien untergraben und zu einer Krise der digitalen Öffentlichkeit führen. Er warnt davor, dass die Ideale der digitalen Revolution, etwa Demokratisierung, Vernetzung und Informationsfreiheit zunehmend von kommerziellen Interessen und autoritären Strukturen untergraben werden. Dabei verweist er auch auf konkrete Lösungsansätze für eine alternative digitale Zukunft. Eine lesenswerte Lektüre für alle, die sich mit den Auswirkungen der digitalen Technologie kritisch auseinandersetzen wollen.

Lovink, Geert: Digitaler Nihilismus. Thesen zur dunklen Seite der Plattformen, transcript, Bielefeld 2019, 240 Seiten.

08/18/20

Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius

Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus, Rowohlt Verlag, Berlin 2019, 287 Seiten, 18,00 Euro, ISBN 978-3-7371-0086-1

Rezension von Thomas Barth 18.08.2020

Juan Moreno, der Whistleblower, der den Relotius-Skandal aufdeckte, berichtet von seinem nervenaufreibenden Einsatz gegen die redaktionsinterne Verblendung des Edelpresse-Magazins “Spiegel” und gegen ein Fälscher- und Betrügergenie, das die komplette deutsche Medienwelt mit Charme und Sensations-Reportagen eingewickelt hatte. Relotius hatte in der Endphase der bereits mehrfach gescheiterten Enthüllung alles daran gesetzt, Morenos Ruf, seine Karriere, seine ganze Existenz gnadenlos zu vernichten; den Ruf eines 15 Jahre älteren, erfahrenen und für das schmale Salär des freien Journalisten schwer schuftenden Kollegen. Moreno, der Familienvater von vier Töchtern, hatte erstmals mit Relotius zusammen gearbeitet, dabei verdächtige Manöver von Relotius bemerkt und dies seinem Ressortleiter gemeldet. Mit weiteren Lügen, Fälschungen und Intrigen hätte Relotius es jedoch fast geschafft, seinen Ko-Autor Moreno als den Fälscher und Betrüger hinzustellen, der den gemeinsam verfassten Artikel versaut hatte. Das Buch beschreibt dies detailliert und wie die Redaktionsführung einfach nicht glauben wollte, dass ihr Superstar Relotius ein raffinierter Blender war.

Am Ende ließ nur die drohende Enthüllung des Skandals die “Spiegel”-Redaktion nachgeben, der Enthüllung durch die Journalistin Tay Wiles vom linken Traditionsmagazin “Mother Jones”, so Moreno. Gerade noch rechtzeitig konnten sie vor die Weltöffentlichkeit treten und behaupten, der “Spiegel” habe selbst einen Hochstapler in den eigenen Reihen entdeckt. Moreno hatten sie wochenlang zittern lassen, er würde demnächst gefeuert, wegen seiner angeblich aus purem Neid verbreiteten Verschwörungstheorien über ihren geliebten Relotius. Kurz darauf platzte die Skandal-Bombe international, etwa beim Guardian.

Moreno schrieb sein Buch selbst im mitreißenden Reportage-Stil, den Relotius nicht zuletzt in der renommierten Henry-Nannen-Schule und beim “Stern” lernte. Auch deren Ruf dürfte durch den Skandal gelitten haben. Allein den hinter den Nobelmagazinen stehenden Medienkonzern Bertelsmann wagte bislang niemand in den Reigen der Schande aufzunehmen. In dieser Rezension geschieht auch das, wie einzig angemessen, natürlich im den Leser wohlig einwickelnden Reportagestil. Aber nicht ohne auch Moreno zu hinterfragen, der die Schuld für ein verengtes Meinungsspektrum der Medien nicht beim führenden Meinungsmedium des Landes, bei seinem “Spiegel”, suchen will. Vielmehr sind es die Extremisten im Netz, die “brüllenden Ränder”, die Moreno, dem braven Reporter der Mitte und Mittelschicht, “Kopfschmerzen machen”.

Augstein-Motto: “Schreiben, was ist”

Juan Moreno, freier Journalist beim “Spiegel”, hat den nicht nur seiner Meinung nach größten Medienskandal seit den gefälschten Hitler-Tagebüchern aufgedeckt. Das von Henry Nannen gegründete Magazin “Stern”, Flaggschiff des Bertelsmann Konzerns, war auf Tagebücher hereingefallen, die ihnen ein professioneller Fälscher verkaufte. Claas Relotius schrieb dagegen jahrelang und sogar als Festangestellter für den “Spiegel” und wurde bereits im zarten Alter von 32 als Jahrhundertgenie des Reportage-Journalismus gehandelt. Doch wie Moreno am Ende nachwies, hatte Relotius die meisten seiner angeblich brillanten Texte nicht grandios recherchiert, sondern weitgehend frei erfunden. Er war nicht durch einfühlsame Psychologie, raffinierte Scharaden, hartnäckiges Klinkenputzen an Interviews mit verschlossenen, publikumsscheuen Berühmtheiten gelangt, hatte seine Fakten nicht mühsam in gefährlichen Slums, auf übelriechenden Müllkippen, in Kriegsgebieten kriechend durch heißen Wüstensand aufgetrieben. Relotius hatte sich die sensationellen “Fakten” mit etwas Googeln bequem im Hotelzimmer auf “Spiegel”-Spesenrechnung aus den manikürten Fingern gesaugt.

Und dies geschah ausgerechnet beim “Spiegel”. Der sah sich, spätestens nach dem Hitler-Fiasko des “Stern”, als unangefochten führendes Qualitätsmedium Deutschlands. Das legendäre Augstein-Motto “Schreiben, was ist” begründete den Stolz des “Spiegel”, dazu kam die weltweit einmalige Abteilung “Dokumentation”, die, organisatorisch völlig unabhängig von den Redaktionen, angeblich jede einzelne Zeile des Magazins, jedes publizierte Faktum auf Richtigkeit überprüft. Insbesondere glänzte das Ressort “Gesellschaft”, dessen Leitung der junge Relotius hätte übernehmen sollen, denn die dort gepflegte Textform der Reportage galt als Königsdisziplin des Journalismus (nach Relotius jetzt eher nicht mehr). Ihre Elite wird jährlich beim deutschen Reporterpreis versammelt, vor einer Jury aus den bedeutendsten Größen der Medienwelt: Chefredakteure, Ressortleiter, Starjournalisten von Netz, Print und Funk. Der junge Nachwuchsschreiber Relotius gewann vier dieser höchstrenommierten Reporterpreise, so viel wie niemand vor ihm. Er war ein brillanter Blender und durch sein Auffliegen ließ die spitze Feder von Moreno das aufgeblasene Ego einer ganzen Kaste von selbsternannten Edelfedern platzen.

Einer arroganten Kaste, nebenbei gesagt, die angewidert auf die “Unberührbaren” aus den freien Netzmedien herabschaut, auch Moreno selbst. Wenn er in seinem Buch allgemein über den Niedergang des Journalismus schwadroniert, jammert er zwar über sinkende Auflagen. Aber selbstkritisch wird er dabei kaum, wenn er stöhnt, die Leser wollten nicht mehr für klare Information zahlen, nur anrührendes Storytelling könne sie noch  locken. Sonst würden sie irgendwelchen Netztrollen nachlaufen, die für lau ihre Katzenvideos und Fakenews von rechts oder  links anbieten. Dass sein “Spiegel” erst massiv von den Wikileaks-Enthüllungen im Netz profitierte und sich dann an einer hemmungslosen Hetzkampagne gegen Julian Assange beteiligte, ist Moreno keine Zeile wert. Dass Assange politisch verfolgt wird, weil er sagte “was ist”, aber vom Mainstream verschwiegen wurde, weckt bei Moreno an keiner Stelle kollegiale Solidarität. Auch keine Neigung zu Selbstkritik am Versagen des sich wohlig in der “Mitte der Gesellschaft” einrichtenden Journalismus. “Mitte” im Sinne einer Mittelschicht, die frei nach Eliten-Kritiker Krysmanski für die Oberschicht eine wachsende Unterschicht unter Kontrolle zu halten hat. Auch mittels eines Journalismus, der alles was die Oberschicht stört, also insbesondere linke Forderungen nach gerechter Reichtumsverteilung, als extremistisch stigmatisiert und in diffamierender Absicht mit den Rechtsextremen gleichsetzt.

AfD frohlockt über Relotius und Unwort “Lügenpresse”

Den letzten Reporterpreis bekam Relotius am 3.Dezember 2018, wo der Skandal in der Redaktion längst hätte bekannt sein müssen –wie der Whistleblower Juan Moreno in seinem Buch nun akribisch nachzeichnet. Doch seine Chefs hatten ihm, dem freien Schreiber, der grauen Maus, nicht geglaubt, sondern sich vom strahlenden Ruhm ihres Stars Relotius blenden lassen, der neben den vier Reporterpreisen mit 40 weiteren Pressepreisen glänzen konnte. So blieb der versammelten Creme de la Creme des deutschen Qualitätsjournalismus auch diese letzte Blamage nicht erspart. Sie erreichte ihren Gipfel als Ines Pohl, Chefredakteurin des (nach eigener Ansicht nichtstaatlichen) Senders “Deutsche Welle”, dem wie immer bescheiden auftretenden Relotius seinen vierten Reporterpreis übergab. Relotius’ saubere Recherche sei bestmöglicher Journalismus, sein Text die Antwort der Branche auf Fake-News- und “Lügenpresse”-Vorwürfe. So zitiert Moreno sie in seiner Einleitung, um 200 Seiten weiter das Zitat eines AfD-Bundestagsabgeordneten nachzulegen, der auf Relotius‘ 2014 erschlichenen CNN-Award verwies: “Im selben Jahr, in dem das Wort ‘Lügenpresse’ zum Unwort des Jahres gewählt wurde, wurde Relotius von CNN zum Journalisten des Jahres gewählt.” (S.236)

Moreno dokumentiert, wie Relotius mit seiner Masche Insiderwissen kriminell ausnutzte, um sein eigenes Magazin genauso zu betrügen wie diverse andere Medien im In- und Ausland. Relotius Beförderung auf die begehrte Pfründe eines Ressortleiters  stand unmittelbar bevor, seinem Aufstieg zum dann wohl jüngsten “Spiegel”-Chefredakteur und perspektivisch Blattmacher und Herausgeber des bedeutendsten Qualitätsmediums des Landes hätte nichts mehr im Wege gestanden. Eine spätere Enthüllung wäre unwahrscheinlich gewesen, denn schon bald hätte Relotius nicht mehr fälschen müssen, sondern hätte nur noch schreiben lassen, so Moreno. Doch seine absehbar letzte Reportage hatte Relotius mit einem Kollegen schreiben müssen, der sich nicht so leicht blenden ließ wie alle anderen im Medienhause Augstein, wie Moreno in aller Bescheidenheit für sich in Anspruch nimmt.

Jaegers Grenze” – Trumps martialische Hillbillies

Der gemeinsame Moreno-Relotius-Artikel erschien als “Jaegers Grenze” im “Spiegel” vom 27.11.2018. Moreno, der die Veröffentlichung nicht mehr verhindern konnte, gibt ihn als 3.Kapitel seines Buches in voller Länge wieder. Es ist eine typische “Spiegel”-Story im Relotius-Stil: Kitschig, voller Klischees, ideologisch hochaufgeladen, wenn auch in rührende Human-touch-Tragödien verpackt. Nachdem Donald Trump 2016 Präsident wurde und dabei war sein rassistisches Projekt einer Mauer gegen Latino-Migranten zu verwirklichen, war das passende Narrativ das von den Trump-wählenden faschistoiden Hinterwäldnern. Relotius hatte dazu bereits eine Fake-Story geliefert, über die US-Kleinstadt Fergus Falls. Nun war er angeblich innerhalb einer Woche in eine Paramilitär-Gruppe eingedrungen, die an der mexikanischen Grenze ihre Great Nation mit Waffengewalt gegen die Invasion von Bohnenfressern verteidigen wollte. Solche Leute gibt es wirklich, aber sie sind nicht so wie das Klischee von ihnen, das der “Spiegel” sich von Relotius präsentieren ließ.

Der spanisch-stämmige und –sprechende Juan Moreno war seit Wochen auf der anderen Seite der Grenze mit einem Treck Flüchtlinge unterwegs, die zu Fuß Richtung USA wanderten. Er sollte für den rührseligen Teil des Elaborats sorgen und begleitete eine junge Frau mit kleiner Tochter. Dass dies die ideale Besetzung der Opferrolle für Propaganda-Darstellungen ist, hinterfragt Moreno übrigens nicht. Die üblen Burschen auf der US-Seite zeichnete Relotius wie man sie aus Filmen kennt, untersetzt, bärtig, schwer bewaffnet und dumm. Die Typen hatte er irgendwo gegoogelt, einen sogar kontaktiert, ohne ihn aber wirklich zu treffen, und ihnen klischee-konforme Attribute angedichtet. Etwa nicht existente Gewalt-Tatoos auf den Fäusten –Moreno suchte den Kerl dann wirklich in Arizona auf und ließ ihn seine untätowierten Knöchel in die Kamera halten. Aber erst, nachdem er geschworen hatte, diesen Relotius nie gesehen zu haben –geschweige denn mit ihm, wie im “Spiegel” geschildert, an der Grenze auf Migranten geschossen zu haben.

Spiegel”-Chefs hielten Moreno für den Fälscher

Morenos Chefs aber argwöhnten angesichts des stetig wachsenden Berges seiner mühsam recherchierten Beweise gegen Relotius, er, Moreno, sei der Fälscher; Moreno hätte seine Zeugen bestochen und die Videos manipuliert. Er hätte nur neidisch den armen Kollegen Claas bezichtigen wollen, diese ehrliche Haut. Sie kamen nicht auf die Idee, selber nachzurecherchieren. Sie leiteten alle Beweise umgehend an Relotius weiter, der seine Story eilig mit immer weiteren Fälschungen zu retten versuchte, und gegen Moreno hetzte, der für den gemeinsamen Artikel angeblich nur Mist beigetragen habe.

Am Ende überzeugte die Chefs erst die Vize-Chefin des Gesellschaftsressorts, Özlem Gezer, die eine der hektischen Relotius-Machenschaften aufdeckte: Um seine Lügen verifizierbar zu machen, hatte er einer seiner Fake-Personen einen kompletten Facebook-Account gefälscht, mit Bildern von einem der echten Hillbillies. Die so präsentierte Fake-Biografie hätte vor Morenos Warnungen vielleicht sogar überzeugt, doch Özlem Gezer checkte das Foto-Erstellungsdatum, das man nicht so leicht manipulieren kann. Die Bilder in der angeblich viele Jahre Waffennarren-Leben dokumentierenden Website waren erst Stunden zuvor online gestellt worden –Relotius hatte eine Nachtschicht eingelegt.

Moreno hatte während er auf Rückmeldung wegen der Fälschungen wartete, weiter recherchiert und präsentierte etliche Beweise gegen weitere Fake-Stories von Relotius. Auch er kämpfte um den Rest seiner zu diesem Zeitpunkt ruiniert scheinenden Karriere beim “Spiegel” –auch als “fester Freier” dort gehörte zum Olymp des deutschen Qualitätsjournalismus, wenn auch nicht zur führenden Götterfamilie der Festangestellten wie Relotius.

Eine Studienrätin entlarvt Relotius -fast

Moreno fand sogar eine Beinahe-Enttarnung des Meisterfälschers, die ein halbes Jahr zuvor drohte –durch eine 56jährige Religionslehrerin aus Wiesbaden. Die Studienrätin Gabi Uhl ist engagiert gegen die Todesstrafe in den USA, hat dafür einen Verein und eine Website. Sie las die Relotius-Sensations-Reportage “Die letzte Zeugin” über eine nicht existierende US-Amerikanerin, die von Hinrichtung zu Hinrichtung reist, um die letzten Zuckungen der Verurteilten zu goutieren. Angeblich, so Relotius, weil ihr Sohn und dann noch ihr Enkel ermordet wurden, die Mörder aber durch Verfahrensfehler der gerechten Strafe entkamen. Auf diese absonderliche Weise bewältige die arme Frau ihre Traumata, so der Reporter, der mühsam ihr an der grausamen Welt fast zugrunde gegangenes Vertrauen gewonnen haben wollte. Das tragische Schicksal hinter diesem verstörenden Hobby, dem Relotius bis in Hinrichtungsstätten hinein beigewohnt haben wollte, beschrieb er fantasievoll, mit Anleihen beim Film “Dead Man Walking”, so Moreno.

Gabi Uhl, die wirklich schon Hinrichtungen beigewohnt hatte –um dagegen zu protestieren–, fand zahlreiche Fehler und den Rest schockierend unglaubhaft. Sie sandte Relotius eine E-Mail mit einer akribisch dokumentierten Liste der monierten Fakten. Relotius umgarnte die Pädagogin daraufhin in einem E-Mail-Wechsel, wickelte sie mit seinem Charme ein, schob die Schuld für die gröbsten Lügen auf die Online-Redaktion. Diese Tölpel hätten eine frühere fehlerhafte Version des Textes ins Netz gestellt. Kurzum: Er kam mal wieder mit seiner Münchhausen-Story davon. Wieviele solche Beinahe-Enthüllungen Relotius abbiegen konnte und mit welchen Mitteln, ist unbekannt. Bei Moreno aber lief es anders, bei ihm kam Insiderwissen, journalistische Kompetenz und eine äußerst hohe Motivation zusammen, nachdem ihm klargeworden war, dass seine Chefs ihn ohne handfeste Beweise feuern würden.

Hätte der Jungstar Relotius den älteren Kollegen Morreno während ihrer über Handy geführten Zusammenarbeit etwas weniger schnöselig behandelt, hätte er auf ein paar tolldreist erlogene Pointen verzichtet –Moreno hätte vielleicht seine Zweifel heruntergeschluckt. Und der kometenhafte Aufstieg eines notorischen Lügenbarons zum deutschen Chef-Journalisten wäre unaufhaltsam weitergegangen. Aber Relotius konnte nicht widerstehen, seinen erfundenen Protagonisten Jaeger im Schlusssatz als Knalleffekt sogar noch auf Bewegungen in der Dunkelheit der Wüste ballern zu lassen. Warum auch? Der “Spiegel” und seine Leser hatten ihm doch noch alles geglaubt. Warum also nicht, dass man ihn Zeuge werden ließ, an der brutalen Straftat eines möglichen Mordes an wehrlosen Opfern.

Moreno und seine “brüllenden Ränder” im Netz

“Schreiben was ist”. Süffig verpackt als Reportage eines ruhmreichen Qualitätsmediums, das sich mit seinen eigenen Narrativen selbst besoffen geschrieben hat. Die Welt ist schlecht. Es gibt keine Hoffnung, schon gar nicht durch linke Reformer, die Reiche besteuern und die Demokratie schützen wollen. Wikileaks, Democracy Now!, Telepolis, Nachdenkseiten, The Intercept -solche Netzmedien kennt Moreno nicht. Seiner Meinung nach ist das “politische Meinungsspektrum der Medienlandschaft” (…) “zusammengeschrumpft, so wie das in der Gesellschaft und der Politik.” (S.273) Wie und warum das geschah? Moreno, der Top-Journalist vom meinungsführenden Magazin, kommt nicht im Traum darauf, das dieses Magazin, das ihm Lohn und Brot gibt,  etwas mit verengten Meinungskorridoren zu tun haben könnte. Er deutet vielmehr an, dass die Netzmedien daran Schuld sein könnten:

“Es gibt eine große, breite, schweigende Mitte, die sich im Wesentlichen einig ist, rechts und links brüllen die Ränder. Einige agitieren gegen Migranten, andere gegen Konzerne. Womöglich sind sogar ein paar gute Vorschläge darunter, aber man hört sie nicht, weil man in der Regel von dem Geplärre Kopfschmerzen bekommt.” Juan Moreno 2019, S.273

Was macht Moreno Kopfschmerzen? Wirklich das “Geplärre” der unablässig in den Netzen und anderswo brüllenden “Ränder”? Ist ein Top-Reporter wirklich damit überfordert herauszufinden, ob die “paar guten Vorschläge”, die er im Netz vermutet, von rechts kommen, wo Rechtspopulisten wie Elsässers Kompact-Magazin und Bannons Breitbart-Portal gegen Migranten hetzen, oder von links, wo “andere gegen Konzerne agitieren”? Andere, die vom Mainstream zu “Extremisten” gestempelt werden, weil sie Konzernkritik wagen und Reiche besteuern wollen: alte sozialdemokratische Forderungen und Tugenden, keine “extremistische Agitation”. So sieht die Welt vielleicht nur aus, wenn man weiter einen üppig bezahlten Job beim größten Medienkonzern Europas, Bertelsmann, haben möchte.

Es gibt also für Moreno keine lesenswerten Medien links des Mainstream. Es gibt nur den “Spiegel” und die anderen großen Medien der Mitte, die mit schnulzigen Reportagen den entpolitisierten Spießern etwas Trost im Jammertal der Welt spenden können. Und ihnen dabei die Ohren mit Regierungspropaganda (Pardon!) vollplärren, um sie mit ihrer Ideologie eines angeblich alternativlosen Neoliberalismus auf dem Sofa festzunageln. Damit die gelegentlich mit medialen Krokodilstränen beweinte „Schere zwischen Arm und Reich“ Jahr um Jahr weiter auseinanderklafft, während Rechtspopulisten die Migranten als Sündenböcke für so geschaffene Probleme hinstellen dürfen. Und von all den „Narrativen“ verwirrte Wutbürger, die links und rechts kaum noch unterscheiden können, sich in ihren aufgepeitschten Hassgefühlen zur AfD hinwenden. Die Großkonzerne oder Millionäre, deren Spenden die AfD ihre prallen Wahlkampfkassen verdankt, freuen sich, wenn Top-Journalisten ihre Meinungsmacht an Linken abreagieren, die „gegen Konzerne agitieren“, so Moreno, der damit konform zur üblichen und inzwischen althergebrachten berufsständischen Position gegenüber neuen Netzmedien (Pardon) agitiert.

Moreno hat die Filmrechte seines Buches nach Spanien verkauft, vermutlich wird eine Telenovella daraus. Und was wird aus Claas Relotius? Sobald etwas Gras über die Sache gewachsen ist, und die Großmedien werden dafür sorgen, dass dies baldmöglichst geschieht, wird er, wenn dann in wenigen Jahren kaum noch einer weiß, worum es bei diesem Relotius-Skandal doch gleich ging, eine neue Karriere starten. Vielleicht im zweiten großen, inzwischen sogar größeren Berufsfeld für Journalisten: In Werbung und PR. Dort wird die Lüge nicht nur ausdrücklich erlaubt, sondern zur hochbezahlten Kunstform geadelt. Eine Ideologie der Zementierung des Status quo der Macht- und Reichtumsverhältnisse versteht sich dort von selbst.

Nachtrag 2023: Deutschlands führende und vielfach preisgekrönte PR- und Werbe-Agentur Jung von Matt, die mit 800 Angestellten ca. 80 Millionen Euro Umsatz macht, hat Claas Relotius eingestellt. Juan Moreno bekam zwar nicht den Chefsessel, den man Relotius geben wollte, aber immerhin die lang ersehnte Festanstellung und 2022 erlebte er die Buchverfilmung von „Tausend Zeilen Lüge„. Der Medien-Mainstream hat nach einer lautstarken, aber sehr kurzen Phase der Entschuldigung für Relotius‘ jahrelange Machenschaften (auch der Hohn von Konkurrenzmedien hielt sich in engen Grenzen) dann so konsequent darüber geschwiegen, dass fünf Jahre später wirklich kaum noch jemand weiß, was dieser Relotius verbrochen hatte.

04/23/20

Graphic Novel-Rezension: Transgender Digitalkultur

Hermine Humboldt

Peer Jongeling: „Hattest du eigentlich schon die Operation?“, Berlin 2020.

Als 2016 der Kulturphilosoph Felix Stalder seine „Kultur der Digitalität“ entwarf, begann er seinen Ausflug ins 21.Jahrhundert mit dem ESC 2014, den die glamouröse Diva mit Bart, Conchita Wurst, souverän gegen alle sexistischen Anfeindungen gewann. Damals galt es ein Zeichen zu setzen für Diversität und das Recht des Individuums, sich selbst zu definieren. Ein Zeichen gegen das immer aggressivere Maulen und Pöbeln der Homophobie-geschüttelten Reaktionäre, der braunen Brüder und Nationalisten mit ihrem Geraune über angeblichen Kulturverfall, Dekadenz und ein drohendes „Gayropa“. Wenn Trump und Putin etwas verbindet -außer dubiosen Immoblien-Deals in Moskau-, dann wohl die Kunst, auf diesen dunklen Ängsten des Mainstreams ihre Propaganda-Tarantella zu spielen. Felix Stalder sieht hier die Wurzel einer Vielfalt feiernden „Kultur der Digitalität“, deren Netzmedien und Digitalkultur der Diversität nur technologisch zum Durchbruch verhalfen.

Was ist aber mit unserer Conchita und allen anderen Queer- und Trans-Menschen? Heteronormalos genießen die Kulturvielfalt auf Sofa, Smartphone usw., selbst im träge-konservativen ZDF-Krimi tummeln sich inzwischen einige homosexuelle, farbige oder sonst nicht „Normale“ in der hölzernen Handlung. Aber bis das ESC-Spektakel wirklich in der zwischenmenschlichen Alltagskultur Schule macht, ist noch ein langer Weg. Peer Jongeling geht ihn und widmet dem heißen Thema ein sozialkritisches Comic, umschifft dabei heikle Fallgruben. Es geht um Erotik und Körperlichkeit, doch die tonnenförmig an Pinguine erinnernden Figuren lassen auch bei Sexszenen kaum voyeuristische Blickweisen aufkommen. Und karikaturhaft-humoristische Pointen lockern die ernste Story auf.

Ein Himmel voller Gender-Sternchen

Immer noch regen sich manche KritikerInnen über Schreiber*innen auf, die diese oder jene Gender-Schreibweise bevorzugen, derweil haben reale Transgender ernstere Probleme: Anfeindungen, Diskriminierung, Outing, Kleiderkauf, Namensänderung bis hin zur Frage nach der operativen Geschlechtsumwandlung. „Ari, Lilly, Paul und Ray erzählen aus ihrem Leben als Transgender“, erklärt das grellrote Backcover, verziert mit blaugrün-floralen Ornamenten, aus denen sich menschliche Arme schlängeln. Autorin Peer Jongeling tritt einleitend selbst auf:

„Hallo ich bin Peer! In diesem Heft habe ich mehrere Kurzgeschichten zum Thema Transidentität zusammengefasst. Sie basieren auf wahren Gegebenheiten und verarbeiten sowohl Erfahrungen von Trans-Personen als auch persönliche Erlebnisse. Die Protagonisten sind frei erfunden und stellen keine echten Personen dar. Ebenso sind sie individuelle Charaktere und keine verallgemeinernde Repräsentation von transidenten Menschen. Tschüss und viel Spass.“

Die Story beginnt lehrbuchartig: „Mein Name ist Paul. Auf diesen Seiten werden ein paar wichtige Begriffe erklärt,“ verkündet eine der Hauptpersonen für die erste von zwei Doppelseiten mit Erklärungs-Sprechblasen, die aus quasi vom Einband her herüber wuchernden Pflanzen sprießen. Von „Transgender, Trans, Transident: Personen, die sich mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht identifizieren können.“ über „Misgendern: Als ein Geschlecht adressiert werden, welches nicht der Identität entspricht.“ und „Dysphorie: Das Unwohlsein mit dem eigenen Körper. Für Trans-Personen oft auf Geschlechtsmerkmale bezogen.“ bis zu „Passing: Trans-Menschen, die aussehen ‚wie‘ ihr angestrebtes Geschlecht. Kritisierter Begriff, da impliziert wird, dass sie nur so aussehen.“ So werden neun Genderbegriffe erklärt.

Dann geht es los -mit dem tränenreichen Outing: „Mama ich bin keine Frau und ich möchte ab jetzt als Mann leben. Ich bin Transgender.“ „Was ist denn Transgender?“ Beim folgenden „Shopping mit Lilly“ geht’s um den Kleiderkauf, wo neben unpassenden Größen auch andere KundInnen nerven: „Mama, was ist das da?“ – „Ich bin kein ‚Dasda‘, ich bin eine Frau.“ „Und wieso ist deine Stimme so tief?“ – „Das geht dich nichts an!“ Beim Bezahlen nörgelt der Kassierer über die Kreditkarte: „Da steht ein Männername drauf, Sie können nur mit ihrer eigenen Karte zahlen.“

Noch unangenehmer wird es für den männlichen Trans-Menschen bei der gynökologischen Untersuchung seiner zu Identität und Aussehen (noch?) nicht passenden Unterleibsorgane. Nicht viel einfacher ist die amtliche Vornamens- und Personenstandsänderung, bei der eine psychologische Begutachtung mit sehr intimen Fragen ansteht: „Und wie oft masturbieren Sie im Monat?“. Harmloser ist das Trans-Bettgeflüster und die Besuche von Party oder Fitness-Club. Ein pädagogisch wertvoller Einblick in die Mensch*innen hinter dem Gender-Sternchen, der z.B. die Frage aufwirft, ob die standardmäßig gestellte Frage nach dem Geschlecht seitens Behörden, Arbeitgebern, Firmen usw. noch zeitgemäß ist. Nach unserer „Rasse“ fragt uns schließlich auch keiner mehr (hoffentlich bleibt das auch so). Die Kultur der Digitalität braucht Diversität und Hybridisierung, die zuletzt auch unsere Körper erfasst. Vorsicht und Rücksicht sind dabei die wichtigsten Forderungen.

Peer Jongeling: „Hattest du eigentlich schon die Operation?“, Berlin: Jaja-Verlag 2020, 40 S., 11,00 Euro, https://www.jajaverlag.com/autoren/peer-jongeling/

www.peerjongeling.de