10/5/25

Rezension: Zeitdiebstahl & Kapitalismus

Ole Nymoen/Olga Prader: Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit. Vom Zwang, für Geld zu arbeiten oder: Der größte Raubzug der Geschichte, MaroHeft, Maro Verlag Augsburg 2025

Thomas Barth

Digitalisierung und Netztechnologien sparen viel Zeit -aber wo bleibt die eigentlich? Muße und entspannte Lebensführung findet man weder online noch offline in weiter Verbreitung. Viele von uns führen geradezu ein gehetztes Leben. Gerecht geht es dabei auch nicht zu. Bei allen Effizienzgewinnen, steigenden Profiten und märchenhaftem Reichtum gerade bei den Big-Tech-Baronen erlebt doch eine Mehrheit sinkende Lebensqualität. Viele von uns arbeiten hart und werden dennoch, wie man zynisch dazu sagt, „abgehängt“. Andere werden daran krank, einige sogar obdachlos und viele landen am Lebensende in der Altersarmut. Schon Kinder wachsen in bitterer Armut auf. Wie kann das sein?

Unsere westlichen Volkswirtschaften wachsen immer weiter, das jährliche BIP klettert in schwindelerregende Höhen, doch bei den meisten Menschen kommt immer weniger vom gemeinsam produzierten Reichtum an. Im Gegenteil: Reallöhne sinken, Lebenshaltung wird teurer und der Druck auf die Arbeitenden steigt. Unternehmen und Politik fordern zudem, dass immer mehr und immer länger gearbeitet wird -mit dem Effekt, dass gewaltige Multimilliarden-Vermögen entstehen. Deren Besitzer sehen sich keineswegs in der Verantwortung für die Menschen, die diesen Reichtum erarbeitet haben. Und schon gar nicht für die Unglücklichen, die aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen im Arbeitsprozess nicht (mehr) verwertbar sind, die Armen, die Alten und die Kranken. Muss das alles so sein?

Was machen die Menschen eigentlich den lieben langen Tag? Und vor allem, warum? Erst quälen sie sich aus dem Schlaf, dann schuften sie stundenlang für den Reichtum anderer – und in der „Freizeit“ erledigen sie die Aufgaben, die ihnen von Staat und Patriarchat (Care-Arbeit!) auferlegt werden. Das Jubiläums-MaroHeft Nr. 20 zeigt auf, woran die meisten Menschen leiden – und wie viel lebenswerter die Welt sein könnte.“ (Verlagstext)

Gutes Leben versus Telematische Bewusstseinssteuerung

Es handelt sich um den pädagogisch angelegten Monolog eines offenbar allein lebenden Ich-Erzählers mit seinen beiden Katzen. Deren vom Erzähler imaginierte Sicht auf den Menschen bringt einen naiven Blick von außen auf uns, wie wir ihn aus Kultbüchern wie „Der Papalagi“ oder „Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland“ des von Faschisten ermordeten Sozialisten Hans Paasche (1881-1920) kennen.

„Manchmal, ganz manchmal“, so beginnt das Buch, habe er Angst, an dieser modernen Welt „verrückt zu werden“. Er blicke auf das Elend der Bettler und Obdachlosen, die ihr Essen aus dem Müll klauben müssen, auf die Banker auf der anderen Seite, „dazwischen Werbeplakate, die ein goldenes Zeitalter vorgaukeln“. (S.3) Es geht um Ungerechtigkeit, falsche Verteilung des Reichtums und die Bewusstseinssteuerung, die dies möglich macht. Da die Angst, verrückt zu werden oder für verrückt erklärt zu werden, ihn daran hindert, seine Frustration anderen Menschen mitzuteilen, wendet er sich in einem Monolog an seine beiden Katzen. Denn die feiern „den Müßiggang wie zwei echte Hedonisten“. (S.5)

Die Moritat auf die industrielle Moderne beginnt mit Marx und „Momo“: „Heute, Genossen, geht es um den größten Raubzug der Geschichte. Ich werde euch davon erzählen, wie den Menschen die Zeit gestohlen wird. (…) Keineswegs geht es um böse graue Herren, die den Menschen ihre Stunden und Tage abluchsen, die Zigarren rauchen und Mädchen jagen, wie es in manchem Kinderbuch steht.“ (So der dezente Hinweis auf die grauen Zeitdiebe aus Michael Endes Kinderbuchklassiker „Momo“.) Der Raubzug, auf den Nymoens Kritik ziele, sei dagegen unspektakulär, weshalb auch die wenigsten merken würden, „wie ihnen geschieht“. (S.6) Olga Prader steuert hierzu zwei kleine, in den Text eingestreute Zeichnungen bei, die eine fast abgelaufene Sanduhr und einen Springteufel zeigen, doch statt des aus dem Kasten springenden Teufelskopfes sehen wir auf der Sprungfeder eine Hand, die am Handgelenk eine Armbanduhr trägt. Solche mal humorvolle, mal verblüffende oder nachdenklich stimmende Bilder begleiten und bereichern den gesamten Text.

Es fängt schon mit dem Wecker an, der die Menschen frühmorgens aus dem viel zu knappem Schlaf reißt. Der erbitterte Kampf gegen die eigene Natur beginne, denn „die Arbeit ruft!“ (S.8) Die Katzen dagegen lassen sich nicht stören, ihre Vorfahren, die Säbelzahntiger, hätten die Menschen noch gefressen. Der Ich-Erzähler, der mit seinen beiden Katzen über den Wahnsinn der modernen Welt sinniert, startet einen Ausflug in die Geschichte der Menschwerdung. Vor drei Millionen Jahren hätte auch der Mensch noch mühsam Tiere totschlagen müssen, heute aber könnten ein paar Dutzend von uns tausende Andere ernähren. Dummerweise gehörten heute aber auch die Produktionsmittel ein paar wenigen Leuten, die anderen Menschen müssten denen ihre Lebenszeit verkaufen. Die Menschen teilten sich daher in die Gruppen der Eigentümer und der Arbeiter. (S.12) Die Yachtbesitzer stünden jenen gegenüber, die ihre kostbare Lebenszeit als Lohnarbeit verkaufen müssten, für Geld. Die Reichen sind nie reich genug, denn der Bedarf nach Geld sei nie gedeckt. Deshalb sei es „für die Reichen auch wunderbar, wenn möglichst viel gearbeitet wird. (…) Die Besitzenden wollen möglichst viel fremde Zeit der anderen beanspruchen und dafür möglichst wenig bezahlen.“ Es sei ein dauerndes Ringen darum, wie viel gearbeitet werden müsse, „am Tag, in der Woche, im Leben“ (S.14) Dabei sei die Arbeit längst so effizient, dass die geschaffenen Güter für alle ausreichen würden. Soweit ein kindgerechter Kommentar auch zur derzeitigen, von Bundeskanzler und Arbeitgeberverbänden losgetretenen Debatte um eine angeblich notwendige Verlängerung von Arbeitszeiten.

Müde schleppt man sich also zur täglichen Tretmühle der immer längeren, meist stupiden Arbeit. Nur ganz wenige hätten „das Glück, etwas Aufregendes zu tun und prächtig daran zu verdienen.“ (S.22) Die meisten Menschen rackern dagegen, bis sie an Körper und Geist zerschunden seien, dabei noch ständig überwacht und zur gegenseitigen Konkurrenz angetrieben. Wenn die Plackerei wenigstens sinnvollen Zwecken dienen würde. „Aber das alles bloß, um den Reichtum einiger weniger zu vergrößern? Gaga!“ (S.24)

Sogar das Leben, Wohnen und Aufziehen der eigenen Kinder werde dabei deformiert, als Care-Arbeit an die entmenschlichende Entfremdung angeglichen. Aufbegehren gegen den Wahnsinn sei verboten, werde absurderweise selber als Verrücktheit verfolgt und an den Pranger gestellt (die Absurdität unseres inzwischen auch noch digitalisierten Kapitalismus spart sich Nymoen vielleicht noch für eine Fortsetzung auf). Das dafür verantwortliche Menschenbild, zwinge die Menschen in die Tretmühle der Arbeit, die ihre Zeit unablässig vernichte. Nymoen wird angesichts dessen, was als „normal“ oder gar als menschliche Natur von Politik, Medien und sogar im Bildungswesen propagiert wird geradezu sarkastisch:

„Dass man so früh aufsteht, dass man kaum gerade gehen und erst recht nicht denken kann: Die einzig wahre Menschennatur! Dass die einen in Palästen hausen, während die anderen unter Brücken schlafen: Die einzig wahre Menschennatur! Dass wir uns millionenfach ausbeuten und abschlachten lassen: Die einzig wahre Menschennatur!“ (S.25)

Geld sei vielen Menschen das Maß aller Dinge, das Leben bleibe auf der Strecke, denn trotz Modernität und Maschinen bleibe an freier Zeit eigentlich nichts. Der Ich-Erzähler schwankt zwischen Auflehnung und Anpassung. Manchmal, so Ole Nymoen, breite sie sich auch in ihm aus: „Die Gewalt und die Verächtlichkeit, die er beim Blick aus dem Fenster und in den Fernseher geboten bekommt…“ Dann wolle er „alles abreißen, abfackeln, abwracken“; (S.28) aber manchmal spüre er auch den entgegengesetzten Impuls, begeistert mitzumachen, aufzugehen in dieser Welt, „sich einzurichten und hübsches Kapital daraus zu ziehen.“ Aber wenn er dann in stillen Momenten ehrlich zu sich sei, finde er doch „dass beide Reaktionen gleichermaßen feige sind.“ (S.29) Vielleicht sei es an der Zeit, seine Katzen nicht länger „vollzutexten… mit der Gruselstory vom größten Raubzug der Geschichte“, überzeugen müsse man „die Menschen da draußen, die den ganz alltäglichen Wahnsinn als alternativlos ansehen.“ (S.32) Von Thatchers „there is no alternative“ bis Merkels „alternativlos“ bringt Nymoen hier den Neoliberalismus in seiner argumentativen Erbärmlichkeit zur Sprache.

Diesen Menschen müsse er klar machen, dass unser Leben ganz anders aussehen könne. Die Lösung hatte er vorher schon prägnant auf den Punkt gebracht: Wir brauchen einfach mehr Zeit für die Menschen. Seine Erzählung sei eine Einladung in eine andere, menschlichere Welt. Und wenn er Glück habe, würden viele andere Menschen ihm helfen, sie weiter zu schreiben. Sein Schlusssatz klingt wie ein Hilferuf: „Das kann er nämlich nicht alleine.“

Eine Moritat auf die kapitalistische Moderne

Ole Nymoen und Olga Prader greifen in ihrer teils erheiternden, teils anrührenden Moritat auf die kapitalistische Moderne bedeutsame Fragen der Gegenwart auf. Die Digitalisierung, soziale Netze und Mobilphones bleiben jedoch ausgespart -man bewegt sich auf dem Niveau der Fernseh-Gesellschaft, vermutlich eine künstlerisch gewählte Vereinfachung. Der etwas unreflektierte Umgang mit der Bezeichnung als „verrückt“ wird dadurch tolerabel, dass die Lebensweise der „Normalen“ im Kapitalismus ebenso als verrückt gekennzeichnet wird, wie sich auch der Ich-Erzähler bewusst ist, dass seine Kritik und Lösungsvorschläge von diesen „Normalen“ sicherlich als „verrückt“ abgestempelt würden (vielmehr jetzt werden dürften). Die besondere Diskriminierung psychisch Kranker in der hektisch digitalisierten und disziplinierten Arbeitsgesellschaft wird nicht thematisiert, schwebt aber im Umgang mit dem Prädikat „verrückt“ bedrohlich über dem Protagonisten.

Nicht in jedem Detail ist die Analyse sattelfest, so endet etwa die Geschichte der Jäger und Sammler sicher nicht bei den frühen Hominiden vor drei Millionen Jahren. Doch die Moritat überzeugt mit Sprachbildern und bleibt in ihrer Aussage ebenso prägnant wie nachvollziehbar. Marxistisch inspirierte Kapitalismuskritik wird beinahe kindgerecht veranschaulicht und mit aktueller Kulturphilosophie und Soziologie verbunden.

Beschleunigungsgesellschaft und Entfremdung

Der bekannte Soziologe Hartmut Rosa kritisierte etwa die heutige „Beschleunigungsgesellschaft“ in der die Produktivkraft von Zeitdruck und ständiger Verfügbarkeit ausgenutzt wird, um immer schneller immer mehr Profit zu generieren. Entfremdung wird nicht nur individuell erlebt, denn Institutionen, Arbeitswelten, digitale Medien und urbane Strukturen tragen dazu bei, dass sich Menschen wie Zahnräder in einem größeren System fühlen. Rosa fordert, Entfremdung nicht nur als individuelles Misslingen, sondern als strukturelles Phänomen zu sehen und argumentiert, dass moderne Gesellschaften durch zunehmende Temporalität und Beschleunigung gekennzeichnet sind. Die manifestieren sich in Arbeit, Technologie, Kommunikation und hektischer Mobilität der immer disponibler gemachten Arbeitenden bzw. in ihrer so gesteigerten Entfremdung.

Entfremdung entsteht laut Rosa, wenn Beziehungen zu Menschen, Orten und Dingen nicht mehr in einer sinnhaften, resonanten Weise erlebt werden. Die von ihm propagierte Haltung der „Resonanz“ bedeutet dagegen eine gelingende, wechselseitige, lebendige Verbindung. In einer beschleunigten Welt bricht diese Qualität oft ab, weil Aufmerksamkeit zerfällt, Nähe zu den Mitmenschen abnimmt und Dinge nur noch als Mittel dienen. Entfremdung sieht Rosa somit nicht primär als Leiden einzelner Subjekte, sondern als Fehlverhältnisse in den Bezügen zu Zeit, Ort, anderen Menschen und Dingen. Es geht um die Qualität der Verbindungen, nicht nur um innere Zustände. Er argumentiert, dass moderne Gesellschaften durch strukturelle Beschleunigung soziale Räume auf Distanz halten.

Die Beschleunigung erzeuge ein permanentes Gefühl des Verdrängens und der Zeitnot, wodurch Individuen sich entfremden von sich selbst, anderen Menschen und der Welt. Motiv der Moderne ist das Versprechen einer umfassenden Weltbeherrschung, die auch das Glück des Subjekts garantieren müsste. Jedoch sieht auch Rosa, dass die Beherrschung des Anderen letztendlich kein Glück hervorbringt, sondern ins Gegenteil umschlägt, und beklagt, systematische Eskalationstendenz veränderten „das menschliche Weltverhältnis durch Dynamisierung in diesem Steigerungssinn“.

Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit erreicht vielleicht nicht die Analysetiefe der Theorien von Rosa, findet dafür aber verständlichere Worte für diese Misere. Und weist auch klarer auf eine mögliche (aber für „verrückt“ oder „extremistisch“ erklärte) Lösung hin: Schluss damit, den Interessen der Besitzenden in den Medien nach dem Munde zu reden und in der Politik ihren Profit auf Kosten der Mehrheit zu steigern.

Abschließende Bewertung

Das Werk besteht aus einem Heft nebst eingelegtem DIN A3-Poster, welches das Titelbild und den Text begleitende Zeichnungen aufgreift: Die Karikatur eines emsigen Menschen mit vier hektisch tätigen Armen wird schlangenförmig umkreist durch einen Ring von aneinander geknüpften Armbanduhren, der selbst wieder von Symbolbildern eines „Guten Lebens“ umgeben ist. Stilsicher dem Text zugedacht bebildern Olga Praders Zeichnungen die von Ole Nymoen entwickelte Lehr-Moritat zur modernen Lebens- und Zeitempfindungslage. Meist einzeln oder zu zweit in den Text eingestreut, zuweilen ganz- oder doppelseitig bilden sie die visuelle Gliederung des durchgehenden, sonst nicht weiter unterteilten Textes.

Nicht nur als bibliophiles Schmuckstück zeigt das Maro-Heft die Absurdität moderner Wirtschafts- und Arbeitsorganisation, auch die ungerechte Verteilung der Güter wird ironisierend infrage gestellt. Was uns im Alltag kaum je bewusst wird, führt Ole Nymoen hier sprachlich bilderreich vor Augen, unterstützt durch bezaubernde Zeichnungen von Olga Prader. Empfehlenswert für Schulen als auflockerndes Unterrichtsmaterial und für uns alle bei Frustration über Hektik, Schlaf- und Zeitmangel.

Ole Nymoen/Olga Prader: Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit. Vom Zwang, für Geld zu arbeiten oder: Der größte Raubzug der Geschichte. Ein hedonistisches Heft, Maro Verlag Augsburg 2025, 36 Seiten, fadengeheftet, 16,00 Euro, ISBN 978-3-87512-635-8

Olga Prader ist frz.-schweizerische Illustratorin und Grafikdesignerin, arbeitete für das „Zeit“-Magazin, das Schauspielhaus Zürich und das MoMA. Ole Nymoen ist Journalist und Buchautor, publizierte 2025 das Buch „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde. Gegen die Kriegstüchtigkeit“, hostete mit Wolfgang M. Schmitt den Podcast „Wohlstand für alle“. Das Werk erschien in der Reihe „MaroHefte“, wo laut Maro Verlag Essays auf Illustrationen treffen „zu Themen, die uns unter den Nägeln brennen, zu Politischem, Feministischem und Tabubehaftetem. Jedes Heft wird besonders gestaltet und mit Originaldruckgraphiken mit bis zu 5 Sonderfarben gedruckt, fadengeheftet.“ Der Maro Verlag bewegt sich zwischen Sozialpolitik, Kunst und Literatur und publizierte Bücher von Künstlern und Autoren wie Charles Bukowski, Jörg Fauser, Manfred Ach oder Klaus Groh sowie Fachbücher zu Textildesign, Sozialpädagogik, Sozialpolitik und Umweltökonomie.

Rezension: Ole Nymoen/Olga Prader: Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit. Vom Zwang, für Geld zu arbeiten oder: Der größte Raubzug der Geschichte, Maro Verlag Augsburg 2025

09/1/22
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Transhumanismus, Triefnase & Digitalisierung

Thomas Barth

Transhumanistische Aktivisten und Philosophen schwelgen in Visionen einer digitalen Zukunft. Das Paradies soll uns spätestens nach dem Upload in die Virtual Reality einer bewohnbaren Cloud erwarten, wenn unser Geist sich digitalisiert selbst simulierend im Himmelreich der Matrix wiederfindet. Doch hienieden warten einstweilen noch ein paar Hindernisse, besonders hierzulande, wo selbst das stinknormale Internet dem 16 bleierne Jahre währenden Merkel-Staat als „Neuland“ galt.

Das irdische Elend der Digitalisierung wie auch die Schwächen des cishumanen Mängelwesens Mensch zeigten sich am 4. Oktober 2019 im Tagungszentrum der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Die Kirche wollte den Transhumanismus erörtern und hatte neben dem Theologen Hoff dafür den Religionsphilosophen Professor Göcke und den „bekanntesten deutschsprachigen Transhumanisten“ Professor Sorgner eingeladen. Pech war, Sorgner kam stark vergrippt, Göcke stark verspätet, weil mit der offenbar fehldigitalisierten Deutschen Bahn.

Was ist der Mensch?

Was ist der Mensch? Was soll er glauben, worauf soll er hoffen? Diese Fragen bewegen Denker und Philosophen, Theologen wie Transhumanisten: „Der Transhumanismus geht davon aus, dass sich der Mensch als ein Produkt der biologischen Evolution auch selbstständig technisch bis hin zu einem neuen Mensch-Maschine-Wesen oder einer Cyberspace-Entität weiterentwickeln kann und sollte.

Der durchaus transhuman geneigte Göcke beginnt so die Einleitung zu seinem Buch „Designobjekt Mensch: Die Agenda des Transhumanismus auf dem Prüfstand“. Da kommt digitale Technologie wie gerufen, etwa als Hirn-Chip, als Big-Gene-Data, KI oder in fernerer Zukunft als virtueller Lebensraum ganz entkörperlichter Menschen (brain uploading). Bedeutsamer Zankapfel der Digitalisierung ist der Datenschutz, der nach Meinung Prof.Sorgners leider auch transhumanem Streben nach kybernetischer wie genetischer Verbesserung des Menschen im Weg steht.

Big-Data-Firmen lieben die Transhumanisten, wie etwa die Super-KI-Forscher des Machine Intelligence Research Institute , mehr als Datenschützer. Google etwa hat mit Ray Kurzweil einen prominenten Transhumanisten zum Forschungsdirektor gemacht, Tesla-Milliardär Elon Musk will mit seiner neuen Firma Neuralink Hirnimplantate entwickeln. Bei Facebook treibt Mark Zuckerberg persönlich transhumane Projekte voran, etwa die Worterkennung per Hirnscan. Das dabei angestrebte Brain-Diktaphon würde nebenbei dem maschinellen Gedankenlesen etwas näher kommen, das der NSA bei ihrer Totalüberwachung noch schmerzlich fehlt. Auch deutsche Transhumane scheinen Belangen der IT-Wirtschaft nicht abgeneigt, wie die Diözese Rottenburg auf oben erwähnter Tagung feststellen konnte.

Prof. Sorgner ließ es sich dort nicht nehmen, die Debatte mit einem Bonmot der IT-Industrie zu bereichern: „Daten sind das neue Öl!“ Unter dieser Parole hatte die Industrielobby bekanntlich versucht, die neue EU-Datenschutzverordnung zu torpedieren, wie eine Polit-Dokumentation zeigte. Aus Angst davor, die EU könnte von China digital abgehängt werden, tritt Sorgner dafür ein, ein europäisches Social-Credit-System nach chinesischem Vorbild einzuführen, inklusive einer personalisierten Dauerüberwachung der kompletten EU-Bevölkerung:

Warum es für uns keine realistische Position ist, die Datenerfassung zu unterlassen: Der zentrale politische Grund für eine umfassende Datensammlung ist, dass wir in einer globalisierten Welt leben und das Daten das ‚Neue Öl‘ sind, wie viele Experten betonen: Öl bedeutet Macht und finanzielles Florieren. Angesichts dieser Erkenntnis ist es keine realistische Option, keine personalisierten Daten zu sammeln… In China wird ab 2020 ein Sozialkreditsystem flächendeckend angewendet werden. Die Menge an digitalen Daten, die auf diese Weise erhoben wird, ist kaum zu unterschätzen. Je mehr digitale Daten verfügbar sind, desto mehr Macht und Geld kann realisiert werden. Europa dagegen hat Datenschutzbestimmungen institutionalisiert, die einer hilfreichen Erfassung digitaler Daten entgegenstehen.“ Prof. Stefan Lorenz Sorgner 

Damit wäre Sorgner wohl ein transhumaner Extremist, sogar aus Sicht der 2015 gegründeten Transhumanistischen Partei Deutschlands (TPD). Die pocht in den Leitlinien ihres Parteiprogramms Version 2.0 gleich an erster Stelle auf die Grundrechte der Menschenwürde und der informationellen Selbstbestimmung. Sorgner übergeht dagegen in seinem Redebeitrag den möglichen Einwand, dass blinde Gier nach Macht und Geld geradewegs in einen digitalen Totalitarismus führen könnte. Auch an seinem Buch mit dem reißerischen Titel „Transhumanismus: ‚Die gefährlichste Idee der Welt‘!?“ (2016), fällt auf, dass kaum Bedenken, Zweifel oder Kritik an Technologien vorkommen. Dabei haben insbesondere Eingriffe in das menschliche Gehirn eine dunkle Geschichte -man denke an Militär- und Geheimdienst-Projekte wie das Zimbardo-Experiment, LSD-Forschung, Gehirnwäsche oder MKUltra. Der Transhumanismus muss sich außerdem angesichts lobbyistischer Verfilzungen und enormer Geldsummen, die auf dem Spiel stehen, auch fragen, wer und warum ihn finanziert.

Thomas Hobbes und Bioshock

Hinter Sorgners transhumanem Bejahen des technischen Fortschritts, das geradezu von einer Euphorie in die nächste taumelt, verbirgt sich jedoch ein zutiefst pessimistisches Menschenbild: Der „Mensch als des Menschen Wolf“ des Frühaufklärers Thomas Hobbes, wie man es im „Bioshock“-Computerspiel in einer transhumanen Welt der Gen-Mutanten nachspielen kann. Dort werden individuell gestaltete Menschen zu einander bekriegenden Monstren in einer Gesellschaft, die nach den darwinistisch-libertären Grundsätzen von Ayn Rand konzipiert ist (so Weber in Weber/Zoglauer 2015 S.55,69).

Als Begründer der modernen politischen Philosophie empfahl Hobbes zur Überwindung der angeblich menschlichen Gewaltnatur den frühtotalitären Absolutismus eines staatlichen Leviathans. Angesichts einer Welt voller psychopathischer Wolfsmenschen ist eine an Ethik orientierte Lebenshaltung natürlich nicht ratsam, meint offenbar Sorgner, wenn er sagt:

Moralischer zu sein hingegen, ist ggf. nicht der zentrale Wunsch vieler Menschen. Überspitzt formuliert liegt dies meiner Meinung nach darin begründet, dass Moralität in der Regel im Interesse der nicht-moralischen Menschen ist und moralische Menschen eher ausgenutzt, ausgebeutet und unterdrückt werden.“ Sorgner 2016, S.62

Kritisch sieht Sorgner daher eine von manchen Transhumanisten geforderte gesetzliche Verpflichtung zum „moralischen Enhancement“ (und das ist fast die einzige Technikkritik im ganzen Buch). Dabei ist hier nicht ethische Bildung und Erziehung gemeint, sondern Moral etwa per Hirnimplantat oder Einflößung von Drogen, die analog zur Impfpflicht verordnet werden könnte. Das lehnt Sorgner ab. Aber nicht, weil ein Herumpfuschen an den höchsten Funktionen des menschlichen Gehirns unsere Gesundheit, Freiheit und Würde beeinträchtigen könnte, sondern -ganz im Sinne eines Bioshock-Rechtslibertarismus nach Ayn Rand- wegen des „globalen Wettbewerbs“:

Eine solche Regelung mag zwar praktisch nicht ausgeschlossen sein, jedoch erscheint sie mir in keinem Fall im politischen Interesse des betroffenen Landes zu sein, da ein Land mit einer besonders moralischen Bevölkerung im Kontext des globalen Wettbewerbs sicherlich nicht lange bestehen kann.“ Sorgner 2016, S.63

Janina Loh, die Sorgners „Metahumanismus“ in ihrem Buch „Trans- und Posthumanismus zur Einführung“ in einem kurzen Kapitel analysiert, mag diesen letztlich nicht als eigenständigen Ansatz anerkennen (Loh 2018, S.175). Auch Sorgners duales Theoriesystem von Kohlenstoff- bzw. Siliziumbasiertem Transhumanismus (womit er Bio- von Digitaltechnik trennt) lehnt Loh als zu schematisch und daher nur bedingt brauchbar ab (S.78).Aber Loh schreibt Sorgner auch zu, die von Transhumanisten prognostizierte Unsterblichkeit nur als „rhetorisches Mittel“ zu sehen (S.173), hat dabei jedoch evtl. überlesen, dass Sorgner Unsterblichkeit zwar für unmöglich erklärte, aber nur wegen eines in Milliarden Jahren drohenden kosmologischen Kollaps des Universums (Sorgner 2016 S.11, 2018 S.157).

Bis dahin könnte Sorgners extrem langlebiger (wenn auch im haarspalterisch-philosophischen Sinne nicht völlig unsterblicher) Transhumaner noch eine ganze Menge Neutrinos die Galaxis runterfließen sehen -und evtl. auch eine Revision der schließlich nur auf läppischen 200 Jahren Forschung basierenden Big-Bang-Theorie. Der Kritik am transhumanen Unsterblichkeitsstreben entgeht Sorgner mit seiner kosmologischen Scholastik aber nicht, der Frage nach sozialer Verantwortung hier und heute ebenso wenig.

Unsoziale Weapons of Math Destruction

Die Mathematikerin Cathy O‘Neil, die wirklich etwas von der Technik und dem Code dahinter versteht, fordert etwas mehr „moralisches Vorstellungsvermögen“, denn „Big Data-Prozesse kodifizieren die Vergangenheit und können nicht die Zukunft erfinden“ (S.276). Cathy O‘Neil spricht von Weapons of Math Destruction, also Mathe-Vernichtungswaffen (analog zu Massenvernichtungswaffen), warnt mit Blick auf Google, Amazon und Facebook davor, dass „Daten privatisiert und privat genutzt werden, um Profite zu erzeugen und Macht zu gewinnen“. Man müsse die Digitalisierung und ihre Algorithmen bändigen, indem man sie öffentlicher Aufsicht und die sie betreibenden Firmen mit „verpflichtenden Standards der Rechenschaftslegung“ staatlicher Regulierung unterwirft (S.308). Sie weist darauf hin, dass der Trump-Nestor „Steve Bannon, selbst während er gezielt daran arbeitet, das öffentliche Vertrauen in Wissenschaft zu untergraben, im Verwaltungsrat von Cambridge Analytica sitzt -einer politischen Datenfirma, die behauptet, sie habe Trump zum Wahlsieg verholfen…“ (S.313).

Heiße PR-Luft einer schmuddeligen Dotcom-Firma? Oder die üblichen Wahlmanipulationen im digitalen Kapitalismus, nur leider diesmal aufgeflogen? Manche KI-Kritiker sehen etwa in „lernfähigen neuronalen Netzen“, die aktuell als KI gepriesen werden, eine aufgeblasene Hype. Diese „KI“ wären eher „spreadsheets on steroids“ -Tabellenkalkulation auf Steroiden. So zitiert Schnetker in seiner Kritik der „Transhumanistischen Mythologie“, den DARPA-KI-Experten John Launchbury (Schnetker S.75). Cathy O‘Neil kritisiert die unsozialen Folgen des Einsatzes solcher „KI“ als klassistisch, rassistisch und sexistisch:

„Sie versprechen Effizienz und Gerechtigkeit, manipulieren dabei jedoch die höhere Bildung, verursachen zusätzliche Schulden, fördern massenhaft Gefängnisstrafen, prügeln bei jeder Gelegenheit auf die Armen ein und untergraben die Demokratie.“ (O‘Neil S.270)

Literatur

Göcke, B.P.: Designobjekt Mensch?! Ein Diskursbeitrag über Probleme und Chancen transhumanistischer Menschenoptimierung.“ In: Benedikt Paul Göcke/ Frank Meier-Hamidi (Hg.): Designobjekt Mensch. Der Transhumanismus auf dem Prüfstand. Freiburg i.Br.: Herder 2018, 117-152

Loh, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, Hamburg: Junius 2018

Loh, Janina: Transhumanismus: Den Menschen weiterentwickeln, um ihn besser kontrollieren zu können, Berliner Gazette 15.8.2017

O‘Neil, Cathy: Angriff der Algorithmen, München: Hanser 2017

Schnetker, M.F.J.: Transhumanistische Mythologie: Rechte Utopien einer technologischen Erlösung, Münster: Unrast 2019

Sorgner, S.L.: Transhumanismus: ‚Die gefährlichste Idee der Welt‘!?, Herder: Freiburg 2016

Sorgner, S.L.: Was wollen Transhumanisten? In: Göcke/ Meier-Hamidi (2018) 153-180

Weber, K. u. T. Zoglauer: Verbesserte Menschen: Ethische und technikwissenschaftliche Überlegungen, München: K.Alber 2015

01/12/17

Rezension Felix Stalder: Kultur, Digitalität & Entmündigung

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag (edition suhrkamp, Bd.2679), Berlin 2016, 283 S., 18,00 Euro, ISBN 978-3-518-12679-0.

Thomas Barth

Felix Stalder ist ein Schweizer Kulturphilosoph, der sich in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ mit der Ko-Evolution von digitalen Technologien, Gesellschaft und Kultur befasst. Er warnt darin unter Berufung auch auf Edward Snowden und Julian Assange vor einer schleichenden Entmündigung, die auf uferlose Überwachung und technokratische Massenmanipulation setzt.

Stalders interdisziplinärer Ansatz verbindet philosophisches Denken mit Soziologie, Medien- und Politikwissenschaft, um Digital- und Internetkultur zu analysieren und das utopische Potential digitaler Commons mit ihren Open-Source-Projekten zu beleuchten. Er blickt dabei auch auf dunkle Wurzeln und Gefahren der Digitalität, die er vor allem in Neoliberalismus, Profitorientierung und bei westlichen (!) Geheimdiensten lokalisiert; dies überrascht, denn sonst kreisen westliche Diskurse über Manipulationen im Internet eher um russische und chinesische Geheimdienste. Stalder warnt vor Gefahren von Algorithmisierung, Überwachung und massenmanipulativer Post-Demokratie, zieht jedoch letztlich ein optimistisches Fazit. Die Commons zeigen trotz heutiger Dominanz der Technokraten mit ihrer neoliberalen TINA-Ideologie („There is no alternative“, Thatcher/Merkel S.206) einen offenen „Raum der Zukunft“ (S.281).

Stalder entwirft ein facettenreiches Bild der digitalen Kultur, die geprägt sei von Fluidität, Vernetzung und stetigem Wandel, bei dem sich unser Verständnis von Raum, Zeit, Identität und Macht grundlegend veränderte. Er stellt die These auf, dass die Digitalität sich nicht in technologischer Innovationen erschöpft, sondern durch neue Formen der Selbstorganisation, des politischen Engagements und der kulturellen Produktion geprägt ist. Katalysator ist dabei das Internet als Medium mit spezifischen Formen des Austauschs. Drei zentrale Formen der Kultur der Digitalität sind die Referentialität (kulturelles Material wird ubiquitär zugänglich und fließt in eine explodierende Produktion von Kulturgütern), die Gemeinschaftlichkeit (kulturelle Ressourcen werden geteilt und Bedeutungen durch stetige Kommunikation stabilisiert) und die Algorithmizität (die Informationsflut wird digital geordnet, aber ebenso werden Gesellschaft und Politik technokratisch entpolitisiert).

Kooperation und der Begriff der Digitalität

Zentrales Anliegen Stalders sind Potenziale der Digitalität für eine demokratische und partizipative Gesellschaft. Er plädiert dafür, bestehende Hierarchien aufzubrechen und neue Formen der Kooperation zu ermöglichen -vor allem in digitalen Commons, deren Wurzeln er in der Open Source und Open Software-Bewegung schon der frühen Internet Communities sieht, etwa den Debian-, GNU- und Linux-Projekten. Darin zeige sich eine digital möglich gewordene Neuverhandlung von gesellschaftlichen Werten und Normen im digitalen Zeitalter: Anstelle staatlicher Hierarchien und Profitorientierung der Konzerne trete die freie Kommunikation der Netze, die auf Meritokratie und Freiwilligkeit basiere. Das Linux-Betriebssystem Ubuntu zeigt in seinem Namen nicht zufällig eine interkulturelle Referenz auf den vielschichtigen Begriff der Bantusprache, der Menschenwürde und vernetzte Gemeinschaftlichkeit verbindet (vgl. Afrotopia von Felwine Sarr).

Stalder definiert den Begriff der Digitalität als eine kulturelle Struktur, die sich durch die Veränderung von Wissen, Macht und Kommunikation in der digitalen Ära auszeichne. Digitale Technologien haben zwar einen tiefgreifenden Einfluss auf verschiedene Aspekte unseres Lebens, vom individuellen Verhalten über soziale Interaktionen bis hin zur politischen Organisation.

Laut Stalder ist Digitalität jedoch keineswegs nur eine technologische Entwicklung, sondern vielmehr eine komplexe kulturelle Dynamik, die unsere Vorstellungen von Wahrheit, Realität und Identität in Frage stellt. Er reklamiert eine „im weitesten Sinne poststrukturalistische Perspektive“, Kultur sei heterogen, hybrid und „von konkurrierenden Machtansprüchen und Machtdispositiven durchzogen“, von „Begehren, Wünschen und Zwängen“ getrieben, Kultur mobilisiere diverse Ressourcen in der Konstituierung von Bedeutung (S.17).

„’Digitalität‘ bezeichnet damit jenes Set von Relationen, das heute auf Basis der Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter sowie der Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird.“ (S.18)

Damit solle jedoch nicht Digitaltechnik ins Zentrum gerückt oder Digitales von Analogem abgegrenzt werden. Analoges würde nicht verschwinden, sondern „neu- und teilweise sogar aufgewertet“. „Digitalität“ verweise vielmehr auf historisch neue Möglichkeiten der Konstitution und Verknüpfung von Akteuren (menschlichen wie nichtmenschlichen):

„Der Begriff ist mithin nicht auf digitale Medien begrenzt, sondern taucht als relationales Muster überall auf und verändert den Raum der Möglichkeiten vieler Materialien und Akteure.“ (S.18)

Stalder knüpft an den Begriff des „Post-Digitalen“ von Florian Cramer an, der damit Praktiken bezeichnet, die sich zwar in Digitalmedien entwickelten, deren offene Interaktionsform sich jedoch immer weiter verbreite. Stalders Begriff der Digitalität vermeide jedoch das missverständliche Präfix „Post-“, das fälschlich so gelesen werden könne, dass „etwas vorbei sei“, und löse sich zugleich von Cramers technikfixiertem Kontext der Medienkunst. Stalder nimmt in diesem Sinne die ganze Gesellschaft in den Blick, denn „…die Präsenz der Digitalität jenseits der digitalen Medien, verleiht der Kultur der Digitalität ihre Dominanz.“ (S.20)

Nicht technologische Entwicklungen allein hätten der Digitalität den Weg gebahnt, sondern auch Politik, Kultur und Ökonomie. Wichtig erscheinen Stalder insbesondere der Aufstieg der Wissensökonomie und der Kritik an Heteronormativität und Postkolonialismus. Die Wissensökonomie habe seit den 1960ern explizit den wachsenden Informations- und Wissensbedarf von Behörden und Konzernen in westlichen Konsumgesellschaften thematisiert. Dazu gehöre die Massenmanipulation durch immer ausgefeiltere Werbung, Propaganda und PR, die der Freud-Neffe Edward Bernays maßgeblich entwickelte:

„Kommunikation wurde zu einem strategischen Feld für unternehmerische und politische Auseinandersetzungen und die Massenmedien zum Ort der Handlung… Eine Medienindustrie im modernen Sinne entstand, die mit dem rasch wachsenden Markt für Werbung expandierte.“ (S.29f.)

Man sprach in den 1980ern und 90ern von „Informations-“ und später „Netzwerkgesellschaften“, in denen -neben der Digitalisierung- eine Flexibilisierung der Arbeit mit neoliberalem Abbau der Sozialstaaten einherging. Der Freiheitsbegriff wurde dabei von neoliberaler Politik und den seit den 1960ern wachsenden „Neuen Sozialen Bewegungen“ konträr definiert: Neoliberal als Freiheit der Märkte, sozial als persönliche Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen (S.33). Exemplarisch für Letzteres behandelt Stalder die Schwulenbewegung in Westdeutschland, Rosa von Praunheim, den Bonner Tuntenstreit 1974, die Aids-Krise ab 1983. Diversität und Hybridisierung der Kultur der Digitalität wurzele in emanzipativen Bewegungen, deren Erfolg sich spätestens 2014 beim European Song Contest in der breiten Öffentlichkeit manifestierte -mit der Stalder seine Abhandlung eingeleitet hatte: „Conchita Wurst, die glamouröse Diva mit Bart, war die Gewinnerin“ (S.7), sie habe komplexe Geschlechterkonstruktionen „zumindest ansatzweise mainstreamfähig“ gemacht (S.48):

„Conchita Wurst, die bärtige Diva, ist nicht zwischen widerstreitenden Polen zerrissen. Sie repräsentiert vielmehr eine gelungene Synthese, etwas Neues, in sich Stimmiges, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass die Elemente der alten Ordnung (Mann/Frau) sichtbar sind und zugleich transzendiert werden.“ (S.99)

Schattenseiten: Algorithmizität und Post-Demokratie

Die Digitalität ermöglicht laut Stalder neben hybrider Diversität auch neue Formen der Partizipation und Vernetzung, die zur Demokratisierung von Wissen und Kommunikation führen können. Gleichzeitig birgt Digitalität aber auch Risiken, wie die Manipulation durch Algorithmen, Filterblasen und Desinformation. Zugleich seien Algorithmen jedoch prinzipiell unabdingbar, um in einer diversen und hybriden Explosion der Kultur mit ihrer wachsenden Unordnung orientiert zu bleiben. Ohne Suchmaschinen etwa könne heute kein Archiv mehr die digitalen Datenmassen, Texte und Kulturprodukte bewältigen.

Algorithmen automatisieren Kulturtechniken wie die Inhaltsanalyse von Bildern oder das Schreiben von Texten: Der Chef der Firma „Narrative Science“, die automatisierte Sport- und Finanzberichterstattung anbietet, habe 2012 für die nächsten Dekaden eine Ersetzung von neunzig Prozent der Journalisten durch Computer angekündigt. Bedenklich sei, „dass sich auch die CIA für Narrative Science interessiert und über ihre Beteiligungsgesellschaft In-Q-Tel in das Unternehmen investiert hat, ist ein Hinweis darauf, dass bereits heute Anwendungen jenseits des Journalismus entwickelt werden. Zu Propagandazwecken lassen sich mit Algorithmen beispielsweise problemlos massenhaft Einträge in Onlineforen und den sozialen Massenmedien erstellen.“ (S.175)

Dynamische Algorithmen können sich sogar halbautomatisch-eigenständig weiterentwickeln: 2012 habe Google mit solchen „deep learning“-Verfahren die „Gesichtserkennung in unstrukturierten Bildern“ um siebzig Prozent verbessert (S.180). In ausufernder Überwachung greife heute ein „Daten-Behaviorismus“ nach unserer Privatheit, in einem „Revival eines nach wie vor mechanistischen, reduktionistischen und autoritären Ansatzes“. Diese Haltung ungehemmter Kontrolle unseres Verhaltens finde sich bei jenen, die über umfassende Beobachtungsmöglichkeiten verfügen, „dazu gehören neben Facebook und Google auch die Geheimdienste westlicher Länder“ (S.201). Dabei ginge es neben der gern genannten „Serviceverbesserung“ aber auch um soziale Normierung (erprobt in unethischen psychologischen Experimenten, wie man Stalder hier ergänzen könnte) sowie „Profit- oder Überwachungsoptimierung“ (S.202). Anders als viele deutsche Medienwissenschaftler, die an dieser Stelle der Analyse krampfhaft mit den Fingern auf „russische Trolle“ und den chinesischen Überwachungsstaat zeigen, beweist der Schweizer Felix Stalder Rückgrat und kritisiert die eigenen, die westlichen Machteliten (was besagte Kollegen wohl eher nicht aufgreifen dürften).

Assange, Snowden und Entmündigung im libertären Paternalismus

2013 habe, so Stalder, Edward Snowden die „flächendeckende Überwachung des Internets durch staatliche Geheimdienste“ enthüllt (S.233). Felix Stalder zitiert den Wikileaks-Gründer Julian Assange und resümiert: „Die Grenzen zwischen postdemokratischen Massenmedien und staatlichen Nachrichtendiensten sind fließend. Wie inzwischen bekannt ist, bestehen zwischen beiden Bereichen personelle Kontinuitäten und inhaltliche Gemeinsamkeiten.“ (S.234) Die USA hätten seit 2011 z.B. „ein eigenes Programm zu sozialen Massenmedien mit dem Namen ‚Social Media in Strategic Communication‘. (…) seit 2009 vernetzt die Europäische Union im Rahmen des INDECT-Programms Universitäten und Sicherheitsorgane mit dem Ziel ‚Lösungen und Werkzeuge der automatisierten Gefahrenentdeckung zu entwickeln’… Überspitzt könnte man sagen, dass die Missachtung der Grundrechte mit der Qualität der so geschaffenen Dienstleistung ‚Sicherheit‘ legitimiert wird.“ (S.235f.)

Leider sei die Gegenwehr gegen eine in westlichen Gesellschaften so geschaffene soziale Atmosphäre der Angst gering geblieben. Hinter Überwachung und Massenmanipulation stehe in den heutigen Postdemokratien, die demokratische Politik durch technokratisches Gouvernance ersetzen, eine neoliberale Anti-Aufklärung. Obsolet sei heute für die Machteliten „…die aus der Zeit der Aufklärung stammende Annahme, der Mensch könne sich durch den Einsatz seiner Vernunft und die Ausbildung seiner moralischen Fähigkeiten verbessern und sich aus seiner Unmündigkeit durch Bildung und Reflexion selbst befreien.“ (S.227) Eine kybernetische Sicht sehe den Menschen als dressierbare Versuchsratte, die mit subtilen „Nudges“ (Schubsern) zu steuern sei, so Richard Thaler und Cass Sunstein.

Die beiden Neobehavioristen bezeichnen ihr System als „libertären Paternalismus“, der eine „freiheitliche Bevormundung“ anstrebe, was bei den Regierungschefs in Washington und London, Obama und Cameron, so viel Anklang fand, dass sie Thaler und Sunstein in ihre Teams holten (S.228f.). Besonders in den sozialen Massenmedien (also den „sozialen Medien“, Stalder benutzt diesen gängigen Begriff jedoch nicht), ließe sich die mediale Umgebung via Nudging manipulieren. Dies geschehe vor allem im Dienste einer Gruppe, die Stalder als „den inneren Kern des postdemokratischen Systems“ bezeichnet, „bestehend aus den Spitzen der Wirtschaft, der Politik und der Geheimdienste“ (S.230). Viele Mainstream-Konformisten dürften in dieser simplen und analytisch untadelig abgeleiteten politischen Erkenntnis bereits angebliche „Verschwörungstheorie“ oder sogar „-ideologie“ wittern. Denn medial und in der akademischen Forschung werden die von Stalder aufgezeigten Fakten und Zusammenhänge geradezu krampfhaft ignoriert. Es ist zu befürchten, dass genau diese krampfhafte Ignoranz künftig zumindest diese Teile von Stalders Buch betreffen wird. Machtstrukturen dieses Kalibers werden bislang selten öffentlich diskutiert und dies geschieht dann oft nur in künstlerisch verfremdeter Form, wie etwa bei Mark Lombardi.

Stalder ruft im Fazit dazu auf, die Dynamik der Digitalität kritisch zu reflektieren und sich aktiv mit den Auswirkungen digitaler Technologien auf unsere Gesellschaft auseinanderzusetzen. Indem wir die Chancen und Herausforderungen der Digitalität verstehen, können wir Freiheit und Autonomie im digitalen Raum bewahren und weiterentwickeln: Obwohl „die Postdemokratie das Politische selbst abschaffen und alles einer technokratischen Alternativlosigkeit unterordnen will“, beweise die Entwicklung der blühenden Commons das Gegenteil, meint Stalder und schließt sein Buch mit dem Verweis auf utopische Potentiale der Digitalität: „Diese Widersprüchlichkeit der Gegenwart öffnet den Raum der Zukunft.“ Ausbaufähig scheint an Stalders Argumentation die Subjektkonstitution im Netz, die mit der Konzentration auf Kommunizieren, Posten und Liken wohl noch nicht ausreichend erfasst ist, sowie deren Verknüpfung mit Foucaults Konzept des Panoptismus.

12/21/16

German BND-NSA Inquiry Exhibits

Today, 1 December 2016, WikiLeaks releases 90 gigabytes of information relating to the German parliamentary inquiry into the surveillance activities of Germany’s foreign intelligence agency Bundesnachrichtendienst (BND) and its cooperation with the United States‘ National Security Agency (NSA).

The 2,420 documents originate from various agencies of the German government including the BND and Federal Office for the Protection of the Constitution, Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) and were submitted to the inquiry last year in response to questions posed by the committee. They include administrative documents, correspondence, agreements and press reactions. They also include 125 documents from the BND, 33 from the BfVand 72 from the Federal Office for Information Security (BSI).

The collection offers a detailed insight, not just into the agencies themselves, but also into the mechanics of the inquiry. Several documents detail how the agency in question collated the information that was requested of them. For example, a BND document shows its preparations for collecting internal information on which private US companies are operating in the security sector in Germany. Such internal processes are particularly pertinent to the inquiry. The committee has been trying (unsuccessfully so far) to gain access to the full selector list that the BND holds regarding who they spy on at the behest of the US. The BND is withholding this list from the inquiry on the grounds that releasing it could imperil the BND’s relationship with the NSA.

Whilst a number of facts have already come to light as a result of the inquiry including WikiLeaks’ publication of inquiry transcripts last year this substantial new collection of primary source documents provides significant new evidence. The collection contains early agreements between the BND and the NSA and internal processes at the BND, but also more recent details on the close collaboration between the two agencies. For example, one document from the BND states that a BND employee will be tasked to use and write software for XKeyscore, an NSA system for searching and analysing data collected through mass surveillance.

A number of the documents show how intelligence agencies find ways to work around their own government. Documents pertaining to an audit visit by Germany’s data protection agency to the BND’s offices show that BND officers withheld the notes made by the auditors during their visit. The BND would only release the notes to the auditors once they had checked the content for themselves.

The inquiry was established in 2014 in the wake of the Snowden revelations, which showed that not only was the NSA spying on the whole world, but it had also partnered with the intelligence services of particular states to spy on their citizens and those of the surrounding regions. One of these countries is Germany, which has had a close relationship with the US in military and intelligence matters since its occupation by US forces in WWII. The US has been shown to use its bases in Germany and its relationship with German intelligence to spy on German citizens as well as European Union institutions.

WikiLeaks revelations of NSA spying on Angela Merkel and top officials at German ministries, the EU and France also contributed to the political impetus of the inquiry.

The depth of this relationship had been unknown to the German public and much of its government. The outrage that was sparked by the Snowden NSA revelations led to the establishment of the inquiry, which later called for Mr Snowden to testify at it. Whereas there was initially unanimity among German political parties in 2014 for Snowden to provide expert testimony, the government deemed that guaranteeing that he would not be handed over to the US (a condition imposed by Snowden for testifying) would damage Germany’s political relationship with the United States. Subsequently, the Greens and the left-wing party (Die Linke) filed an official complaint to force the German Parliament to hear Mr Snowden.

Last week, on 21 November 2016, Germany’s Federal Court of Justice upheld the complaint and ruled that the committee was obliged to hear Edward Snowden in person. However, at the next inquiry hearing three days after the ruling, Chancellor Angela Merkel’s Union bloc and the Social Democrats removed Snowden’s invitation from the agenda of the inquiry and are contesting the Court’s decision.

Julian Assange said: „This substantial body of evidence proves that the inquiry has been using documents from Mr Snowden and yet it has been too cowardly to permit him to testify. Germany can not take a leadership role within the EU if it’s own parliamentary processes are subservient to the wishes of a non EU state.“

von WikiLeaks