03/23/20

Graphic Novel-Rezension: Gen Z Subjekt Bewusstseinsstrom

Hermine Humboldt

Paulina Stulin: Bei mir zu Hause, Berlin 2020

Der Einband zeigt aus der Perspektive einer Taube das Dach des im Titel genannten Hauses. Des Daches, unter dem die Comicautorin lebt. Sie selbst sitzt mit einer Kaffeetasse im offenen Klappfenster und lässt ihren Geist die heutige Subjektivität erkunden -in den Bildern einer Graphic Novel, die ein Graphic Diary ist.

Der Ziegelstein von Comic-Book liegt 615 Seiten schwer in der Hand wie ein Lexikon. Oder wie der Ulysses von James Joyce. Dessen Erzählweise im Bewusstseinsstrom eifert das grafische Tagebuch von Paulina Stulin teilweise nach. Für eine Künstlerin ist es jedoch ein realistisch-bodenständiges Bewusstsein, das da in Bildern auf die Leserin einströmt. Oder ist das nur wieder eines der uns allen andressierten Klischees, gegen die Paulina tapfer ankämpft? Die verträumte Fantastin mit der Feder der Muse? Welcher Muse? Wohl weniger Thalia (Komödie) als Kalliope (Epos), am ehesten vielleicht doch Melpomene (Tragödie). Es geht weniger um Träume als um gelebte Politik der streitbaren Frau, um Rassismus, Kapitalismus und die sexistische Zurichtung von Frauen, um dümmliche Zeitgenossen, AfD-Propagandisten, auch den Kampf gegen die eigene Bequemlichkeit als relativ privilegierte Bohemienne, einen Kampf mit den Verlockungen fetter Speisen und schlanker Jünglinge. Dabei schont sich die Autorin nicht, es ist keine Chronik verlogener Selfies, die eitel Sonnenschein vorspiegeln sollen.

Augen Blicke Perspektiven

Der Einband zeigt, vielleicht aus der Perspektive einer auf einem Erker hockenden Taube, das Dach des im Titel genannten Hauses, des Hauses, unter dem die Comicautorin lebt. Sie selbst sitzt in schwarzer Jeans und gleichfarbigem Trägerhemd mit der Kaffeetasse im offenen Klappfenster. Weniger verträumt als energisch schaut sie über die mit vier- bis fünfstöckigen Mietshäusern bebaute Straße hinweg in einen hellblauen Himmel, den ein kleiner Möwenschwarm bevölkert. Das dachziegelrote Backcover beantwortet die selbst gestellte Frage: „Wie fühlt es sich an, in den späten Zehnerjahren des 21.Jahrhunderts auf der Welt zu sein? Auf diese Frage gibt es 7 Milliarden Antworten. Eine davon ist dieses Comic.

Lässt frau unter einigem Kraftaufwand die gut 600 Seiten als Daumenkino noch einmal passieren, überwiegen Schwarz und dunkle gedeckte Farben, unterbrochen von hellen Passagen mit viel nackter Haut und einigen rot-orangenen Einsprengseln von Lagerfeuerromantik, Party oder Drogenrausch. Obwohl mich anfangs die Normalität, um nicht zu sagen Banalität der Ereignisse leicht irritierte, hat mich die Story schnell gepackt, ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen. Das erste Bild zeigt das schöne braune Auge der Künstlerin, einen weiblichen Blick, sehr offen, vielleicht staunend, vielleicht nachdenklich. Frau blättert um und sieht, was sie sieht: Eine Taube auf einem Mauervorsprung durch das Dachfenster ihrer Studentinnenbude. Darunter: Ihr Gesicht ab Nase abwärts, eine Zigarette in sexy geschwungenen Lippen wird entzündet. Nächste Seite: Ihr Blick auf den Rauch der zur Zimmerdecke strömt. Ihr Finger schnippt Glut in den Aschenbecher. Dann ihre Augen, diesmal als Augenpaar, mit müdem Blick, desillusioniert.

Nächste Seite: Die Rauchende sitzt auf dem Bett, jetzt trauriger, fast verzweifelter Blick. Sie zieht. Rauch steigt auf. Nächste Seite: Ein Bärtiger, ebenfalls traurig rauchend. Acht schweigende Seiten, wir ahnen dass die beiden Gegenübersitzenden Probleme haben. Er spricht zuerst: „Komisch, ich hätte nicht gedacht, dass es so abgeklärt mit uns zu Ende geht.“ Aha. Wir sind in einer Trennungsszene. Die zieht sich über acht Seiten, mit einigen Sprechblasen voller Vorwürfe, aber es bleibt bei einer Vernunfttrennung. Dann vier Seiten sie allein beim schmollen, Musikhören, putzen, Joga, am Computer. Dann 17 Seiten schwarzer Tönung: Sie trifft ihn abends wieder beim Imbiss, diesmal wird der Streit lauter, endet in gemeinsamem Schweigen. Nächster Morgen: Sonnenaufgang über den Dächern von Darmstadt, sieben Seiten Stadtlandschaft, dann sind wir beim Titelbild des Bandes, etwas verschobener Bildausschnitt, und verstehen nun den entschlossenen Blick der Kaffeetrinkerin: Es muss sich etwas ändern. Aber erst wird Bilanz gezogen: „Dreizehn Jahre wohne ich nun schon hier. Meine Höhle in der Höhe. Mein Elfenbeinturm. Hier ist der sicherste Ort der Welt.“ Von dem aus sich Paulina ins Leben stürzt.

Politik Argumente Schwächen

Die Bilder entfalten Sogwirkung. Sie trifft Freunde, schleppt sich Lover ab, nimmt Drogen, OP nach Fahrradunfall, Urlaub in Spanien mit Exibitionist am Strand und Magic Mushrooms, heiße Diskussionen auf Parties, bei denen sie mit ihren Ansichten aneckt, als „Linksradikale“ angebrüllt wird. Bei solchen Partie-Polit-Diskussionen offenbart Paulina Stulin leider argumentative Schwächen, die wohl zeigen, dass sie sich -obwohl erklärte Linke- sich nicht wirklich aus linken Medien informiert. Was sie vorbringt ist ein durch linke Sichtweise gefilterter Mainstream, der dort gegen einen rechtsgefilterten Mainstream steht: Es entsteht eine inhaltlich flache Debatte adressatlosen Moralisierens, die als Minimalkonsens nur die Gefahr des Neofaschismus kennt. Kritik an westlichen Herrschenden, ob politische oder ökonomische Machteliten, wird dadurch wie in orwellscher Big-Brother-Hirnwäsche unmöglich gemacht. Ein Dialog der Protagonistin mit einem Party-Normalo:

„Pauli, du willst mit doch jetzt nicht erzählen, dass du ernsthaft glaubst, dass wir ganz Syrien nach Deutschland holen können!“ „Was willst du sonst machen, wenn Menschen versuchen, die Grenzen zu passieren? Sie abknallen?“ „Ich will gar nichts!“ (Der Typ schreit mit wutverzerrtem Gesicht.) „Also ja?“ (Paulina guckt erst mit offenem Mund, fängt dann an zu weinen.) „“Na sehr schön, jetzt leg noch ein paar Tränen drauf, um mir reinzudrücken, wie fies und gemein ich bin… Du geilst dich doch grad nur an deiner eigenen Betroffenheit auf, sonst nichts!“ (Andere Partygäste intervenieren, man fühlt sich im Vergnügen unangenehm belästigt.) „Ey, ihr beiden, macht euch mal locker!“ Paulina verlässt die Party, geht einsam und frustriert nach Hause (S.447-58).

Paulina hat leider das Scheinargument „Wir können doch nicht alle ins Land lassen“ nicht als solches erkannt: Aus „wir können nicht alle“ folgt nicht logisch, dass wir die ein oder zwei Millionen, die jetzt noch kommen könnten, draußen lassen müssen. Aus: „Du kannst ja nicht die ganze Luft in diesem Raum einatmen“ folgt schließlich auch nicht, dass du jetzt ersticken musst. Außerdem: Diese zwei Millionen könnten wir relativ leicht aufnehmen und integrieren -eine linke Umverteilungspolitik nebst Reichen- und Erbschaftssteuern und neu geschaffenen Arbeitsplätzen vorausgesetzt. Auch so etwas zu fordern fällt Paulina nicht ein -trotzdem wird sie vom „Party-Normalo“ als „linksradikale“ Ideologin angepöbelt.

Auf die Frage nach den Fluchtursachen besagter Syrer kommt Paulina auch nicht, also auf die von Westmachthabern, -Geheimdiensten, -Konzernen überall angezettelten Kriege, Bürgerkriege und Wirtschaftskriege -wie etwa in Irak, Venezuela, hier: Syrien, wo die ersten Unruhen gegen Assad von Außen gesteuert waren. Es waren nur in unseren Leitmedien ein paar Jugendliche allein, die Assad mit Graffiti ärgerten, verschwiegen werden immer wieder gewaltsame Terrorakte gegen Polizisten, die Gegengewalt provozieren sollten. Warum? Um den Nato-Staaten einen Kriegsgrund zu liefern, um die Abramowitz-Doktrin der USA umzusetzen, eine Hauptaufgabe der CIA. Nachlesbar wäre das in Medienkritik an unserem Mainstream, in der Enthüllung seiner Propaganda (z.B.MH17), in Geschichtsbüchern nicht westregime-treuer Historiker wie Daniele Ganser.

Aber all das wird täglich totgeschwiegen eben vom Medien-Mainstream, den Paulina überwiegend zu konsumieren scheint -also hat sie z.B. auch ökonomisches Unrecht oder  WikiLeaks und Julian Assange  eher nicht auf ihrem Schirm… Bücherlesen gehört laut ihrem Graphic Diary leider eher nicht zu ihren Aktivitäten und linke Politblogs wohl auch eher nicht -die Mainstream-Medien-Hypnose, von der Nobelpreisträger Harold Pinter in seiner Nobelspeech sprach, wirkt eben auch auf viele Menschen, die mit dem Herzen links stehen. Sie werden desinformiert, verwirrt und von wirksamer Politik nachhaltig abgelenkt. Darum sind die Machtverhältnisse bei uns so, wie sie sind.

Da bleibt Paulina mangels Argumenten oft nur der Gefühlsausbruch, aber oft auch die herzerfrischende Aktion: Auf der Straße, es ist wohl gerade Wahlkampfzeit, greift sich Paulina am AfD-Stand alle Broschüren und rennt weg, sie fetzt AfD-Aufkleber von Laternenmasten. Sie brüskiert auch bourgeoise Bürgerinitiativler, die Unterschriften für eine Umgehungsstraße sammeln, reißt ihnen die Liste mit schon gesammelten Namen weg und zerfetzt sie: Umgehungsstraßen produzieren nur neuen Autoverkehr! Baut lieber Verkehrsberuhigungen und fördert den ÖPNV!

Großstädtischer Alltag, mit Arbeit, Leute treffen, Einsamkeit, Fressorgien, gefolgt von Diät und Abspecken, Demos für Solidarität mit Flüchtlingen und gegen die Klimaverbrechen unserer Zeit. Ein ganz normales Leben eben. In einem empfehlenswerten Comic.

Paulina Stulin: Bei mir zu Hause, Berlin: Jaja-Verlag 2020, 615 S., 35,00 Euro

11/19/19

Rezension Rügemer: Netz-Kapitalisten

Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts: Gemeinverständlicher Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure, Hamburg: Papyrossa

Hermine Humboldt

Karl Marx, der bekannteste Philosoph des 19.Jahrhunderts stellte Hegel vom Kopf auf die Füße und brachte der Philosophie nicht nur das Laufen, sondern auch die Ökonomie bei. Marxistische Philosophen haben es heute schwer in westlichen Demokratien, denn dort haben ihre politischen Gegner das Sagen: Die Kapitalisten. Einer dieser Philosophen ist Werner Rügemer, der sich jüngst den Kapitalisten der Netze widmete. Er gilt auch in linken Kreisen immer noch als Geheimtipp, obwohl er viele Finanzskandale ans Licht brachte: „Die Berater“ enthüllte heimliche Machenschaften der globalen Unternehmensberater, Ratingagenturen, Heuschrecken, große Privatisierer waren Ziele seiner ebenso nüchternen wie fundierten Kritik. Mit seiner Initiative gegen Arbeits-Unrecht steht der Aktions-Philosoph Rügemer gut marxistisch auf der Seite der Arbeit gegen das Kapital. Kein Wunder also, dass kapitalistische Medien seine brisanten Bücher nicht bekannt machen wollen und sich lieber in adressatloser Politik-Schelte am Klimawandel ergehen (die eigentlich auch viel öfter Kapitalisten treffen sollte als „uns alle“).

Wem gehört die Netzwelt? GAMFA!

„Die Kapitalisten des 21.Jahrhunderts“ vertieft Rügemers differenzierte Analyse des Finanzsektors, besonders im Hinblick auf den BlackRock-Typus und erweitert sie darüber hinaus auch auf die großen IT- und Netzkonzerne: Die GAMFA (Google, Amazon, Microsoft, Facebook, Apple), hinter denen Rügemer die heute als lichtscheue Investoren und Eigentümer dominierenden Schattenbanken vom BlackRock-Typ sieht. Im Aufbau lehnt sich Rügemer beim vorliegenden Buch mit Branchen-, Firmen- und Manager-Porträts an das reißerisch-kapitalismuskritische „Wem gehört die Welt?“ von H.J.Jakobs an. Doch während Jakobs sich in Klatschgeschichten verliert, liefert Rügemer geschliffene Kritik und größere Zusammenhänge. Denn Rügemer übersieht nicht die Verschmelzung von IT-, Netz und Finanzkonzernen mit dem Militär- und Geheimdienstkomplex sowie dessen Rolle in der globalen Strategie der Machteliten. Und er richtet seinen Blick immer auch auf unser eigenes Land und seine Rolle im US-dominierten Westlichen Machtblock.

Frankfurt/Main ist nicht nur die hierzulande zentrale Finanzmetropole, hier liegt auch der weltgrößte zivile Internetknoten. In Frankfurt laufen 1.200 Kabel zwischen China, Europa und den USA zusammen. Der Knoten besteht aus 19 Rechenzentren, die über die Stadt verteilt sind und mehr Strom verbrauchen als der Fankfurter Flughafen. Der Verband der Internetwirtschaft Eco betreibt den Knoten seit 1995 über die Tochtergesellschaft De-Cix GmbH (De-Cix = Deutsche Commercial Internet Exchange). Auch US-Netzgiganten wie Facebook und Microsoft sind Verbandsmitglieder -und mit ihnen Finanzriesen wie BlackRock und insgeheim NSA, CIA & Co.

Google, Geheimdienste und BlackRock singen im selben Chor

Der Schweizer Netzphilosoph Felix Stalder hat es in seiner Analyse der „Kultur der Digitalität“ herausgearbeitet: Die Machtstrukturen der Digitalisierung basieren auf einer Herrschaftselite aus Politik, Wirtschaft und Geheimdiensten. Rügemer konkretisiert das und fügt das (US-) Militär als Player hinzu: Im Städtedreieck Frankfurt/Main, Wiesbaden und Darmstadt betreiben sowohl die zivilen US-Geheimdienste CIA und NSA wie auch Militärgeheimdienste und die US-Heimatschutzbehörde ihre europäische Zentralen. Hinzu kommen in Deutschland und, in geringerem Maße, in anderen EU-Staaten – vor allem Großbritannien, Italien, Belgien sowie im Kosovo (Militärstützpunkt Bondsteel) – US-Stützpunkte und US-geführte NATO-Kommandozentralen. 2018 wurde in Ulm die neueste NATO-Kommandozentrale errichtet, für den Landaufmarsch gegen Russland. Deutschland ist der durch die USA bei weitem am intensivsten besetzte und überwachte Staat überhaupt. Die militärisch-geheimdienstliche Überwachung wird heute effizient durch Internet-Konzerne wie Google und Facebook ergänzt, deren Besitzer gigantische Schattenbanken vom Typ BlackRock sind. Militär, Geheimdienste, Finanzriesen und Netzkonzerne wachsen dabei immer enger zusammen.

Seit 1955 ist Westdeutschland zentrales Mitglied der von den USA gegründeten NATO -und de facto militärisch besetzt. Die USA unterhalten etwa 30 Militärstützpunkte wie AFRICOM (Kontrolle Afrikas und des Nahen Ostens), einen großen Militärflughafen, den Drohnen-Steuerungsknoten und das größte US-Militärhospital außerhalb der USA auch in Ramstein (Pfalz). Zudem lagern ca. 200 US-Atombomben in Deutschland – ohne offizielles Wissen der deutschen Regierung und entgegen dem Atomwaffen-Sperrvertrag. Die Herrschaft des Dollars und der westlichen Finanzakteure will mit Waffengewalt abgesichert sein.

Finanzkrise, Demokratieversagen und Überwachung

Nach der Finanzkrise von 2007 wurden die bankrotten Großbanken marktwidrig auf Gemeinkosten gerettet, ein bisschen reguliert – und entmachtet. Aber nicht von den Regierungen, die mit unseren Steuergeldern die Bankster retten mussten. „Kapitalorganisatoren“, Schattenbanken wie BlackRock, die die Finanzkrise mitverursacht hatten, sind nun die Eigentümer der alten Banken und auch der wichtigsten Unternehmen.

Schattenbanken vom Typ BlackRock agieren heute, weitgehend unreguliert und unbekannt, einige Dutzend weitere Finanzakteure der ersten Liga; hinzukommen die neuen Finanzakteure der zweiten und dritten Liga, ebenfalls kaum reguliert, also Private-Equity-Fonds, Hedgefonds, Venture Capitalists, dazu elitäre Investmentbanken, die traditionellen Großbanken. Diesen Sektoren widmet Rügemer sich ausführlich mit all seiner erwiesenen Kompetenz als kritischer Finanzexperte. Doch er analysiert im neuen Buch auch die sich als unabhängig darstellenden Netzkonzerne, Google & Co., die jüngst immer mehr mit ihrer Massenüberwachung und -Manipulation Schlagzeilen machen.

Eine gänzlich neue Kategorie von Großfirmen sind die von den Finanzkonzernen beherrschten Shooting-Stars des Internets: Google/Alphabet, Apple, Microsoft, Facebook und Amazon, aber auch kleinere Plattform-Kapitalisten wie Uber oder AirBnB. Sie praktizieren eine neue, noch asozialere Form der brutalen Akkumulation des privaten Kapitals. Mit der Brutalisierung hat aber auch die Komplexität der Akkumulation zugenommen, was sich auch in der Vielfalt der Finanzakteure und ihrer Praktiken zeigt. Aber wem gehören eigentlich Facebook, Google&Co?

Die Eigentümer bleiben vor der Mainstream-medialen Öffentlichkeit, den abhängig Beschäftigten, den Wählern so gut wie unsichtbar. Die Eigentümer sind nicht nur asozial und brutal, meint Rügemer, sondern auch feige und lichtscheu. Ihre öffentlichen Vertreter kommen mit „softer, schleimiger, auch basisdemokratischer Sprache“ daher, können sich auf Gesetze oder jedenfalls staatliche Duldung verlassen und werden von einer diskreten, zivilen Privatarmee »renommierter« Bereicherungs-Profis unterstützt (Beratern, Ratingagenturen, Wirtschaftsprüfern, Union-Bustern).

Mit Digital-Giganten wie Amazon, Facebook, Google, Microsoft, Apple und Uber haben die neuen Finanzakteure schon vor Donald Trumps »America First« die US-Dominanz in der EU verstärkt. Arbeits-, ­Wohn-, ­Ernährungs- und Lebensverhältnisse: Die neue Ökonomie dringt in die feinsten Poren des Alltagslebens von Milliarden Menschen ein. Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts verstecken ihre Eigentumsrechte in vier Dutzend Finanzoasen, fördern rechtspopulistische Politik, stützen sich auf eine zivile, trans­atlantische  Privatarmee von Beratern und kooperieren in ­Silicon-Valley-Tradition mit Militär und Geheimdiensten.“ (Verlagstext zum Buch)

Rügemer hat die Lebensbedingungen der Menschen im Blick, wo andere nur abstrakt schwadronieren: „Es ist keineswegs so, wie »Globalisierungskritiker« (der Mainstream-Medien) behaupten, dass das heutige Kapital als digitale Fiktion rund um den Globus gejagt werde und nichts (mehr) mit der »Realwirtschaft« zu tun habe – falsch! Im Gegenteil! BlackRock & Co haben hunderttausende der wichtigsten Unternehmen der Realwirtschaft im Griff, entscheiden über Arbeitsplätze, Arbeits-, Wohn-, Ernährungs- und Umweltverhältnisse, über Produkte, Gewinnverteilung, Armut, Reichtum, Staatsverschuldung. Und die Weltkonzerne der Plattform-Ökonomie dringen in die feinsten Poren des Alltagslebens von Milliarden Menschen ein, forschen es aus, krempeln es um – und kooperieren mit den Geheimdiensten.“

BlackRock: Finanzkapitalisten als globale Kriegsgewinnler

Der Reichtum des BlackRock-Milieus vermehrt sich, so Rügemer, aber die Volkswirtschaften und die für die Bevölkerungsmehrheiten wichtigen Infrastrukturen schrumpfen oder werden privatisiert und verteuert. Der Klimawandel wird beschleunigt angeheizt, was die in Greta-Manie schwelgenden Mainstreamer zwar beklagen, ohne aber in ihrer weitgehend adressatlosen Politik-Schelte die Hauptverantwortlichen zu benennen: Die Großkonzerne und ihre Schattenbanken. Rüstungsprofite boomen mit der Erfindung neuer Feinde. Die neuen Kapitalmächtigen bilden eine transnationale kapitalistische Klasse. Sie organisieren sich, schaffen für sich Kollektivformen, während sie die Reste bisheriger Kollektivformen der abhängig Beschäftigten zerstören und diese gnadenlos in hilflose, wenn auch manchmal unterhaltsame Einsamkeiten manövrieren.

Die neuen Geld- und Machteliten verorten und verschleiern ihre Eigentumsrechte so radikal wie noch nie in einer okkulten Parallelgesellschaft global verflochtener Finanzoasen. Diese Investoren und ihre beauftragten Vorstände und Geschäftsführer können millionenfach straflos Gesetze brechen, Menschenrechte verletzen, abhängig Beschäftigte degradieren und verarmen, Menschen und Umwelt vergiften, das Rechtsgefühl zerstören, die Wirklichkeit verkleistern – sie genießen Full Tolerance.

Eine wirksame Propagandafigur sieht Rügemer im Digital-Populismus, dessen Akteure nach dem bewunderten Silicon-Valley-Muster das glückliche individuelle Leben und die Verbesserung der Menschheit versprechen: Der sogenannte „Transhumanismus“ will den Übermenschen mit neuster Bio-Gen-Digital-Technologie verwirklichen, für jeden, der dafür zahlen kann. Manager-Porträts beschreiben die neue Elite:

Jeffrey Bezos: Amazon, digitale Ausbeutung im Handelsmonopol,

Eric Schmidt: Der Google-Instagram-LinkedIn-Pentagon-Komplex,

Jack Ma, Alibaba: »Inklusive Globalisierung«

Peter Thiel/Founders Fund (beim deutschstämmigen Ebay- und Facebook-Mitgründer und Trump-Unterstützer Peter Thiel, der heute riesige NSA- und CIA-Dienstleister wie etwa PALANTIR betreibt, kommt leider im Buch die Verknüpfung von IT-Giganten und Geheimdiensten etwas zu kurz).

Die Finanzbranche ist auch vertreten und ihre Beziehung zur Politik bleibt nicht unerwähnt: Stephen Schwarzman/Blackstone, Ray Dalio/Bridgewater, John Kornblum und Felix Rohatyn/Lazard, Wilbur Ross – Vom Rothschild-Banker zum US-Wirtschaftsminister, Emmanuel Macron –Vom Rothschild-Banker zum Staatspräsidenten Frankreichs.

Der westliche, US-geführte Kapitalismus wurde, so Rügemer, wieder aggressiver nach innen und außen. Der Westen führt erklärte und unerklärte Kriege (wie gegen Venezuela), erweitert seine globale Militärpräsenz, rüstet heimlich und offen Stellvertreter auf. Gegen die Flüchtlinge aus den wirtschaftlichen und militärischen Kriegsgebieten werden tödliche Mauern der verschiedensten Art hochgezogen, am europäischen Mittelmeer genauso wie an der Grenze zu Mexiko. Wohlstand für alle, Menschenrechte, Christentum – nichts bleibt, auf der Ebene der bisher Verantwortlichen, von den rituell beschworenen »westlichen Werten«.

Wie dies von den USA und der EU als weltweite Strategie umgesetzt wird, erörtert Rügemers Buch. Als Gegenmodell zeigt den neuen Weg Chinas auf, der neue Industrien und Wachstum verwirklicht, dabei aber auf eine gerechtere Verteilung des Reichtums achtet und vielen Millionen Menschen mehr Wohlstand brachte. Bei China sieht er eine »Inklusive Globalisierung« in Aktion, die ärmere Bevölkerungsschichten und Länder der Dritten Welt mit ins Boot holt, statt sie immer mehr auszugrenzen und gnadenlos auszubeuten, wie die Westeliten es tun.

Die wohl zu überschwengliche Sicht auf China (den Global Player, der sich immer noch als marxistisch bezeichnet) und besonders die dort anlaufende Überwachung nebst eines Scoring-Systems mit digital gewonnenen personifizierten Profilen. Wenn unser Mainstream darüber berichtet, steht Massenüberwachung und -kontrolle durch den chinesischen Staat im Vordergrund. Rügemer weist im Einklang mit Netzphilosoph Felix Stalder daraufhin, dass dies im Westen durch Silicon-Valley-Internet-Großkonzerne und NSA-Komplex schon lange heimlich geschieht und die Chinesen damit immerhin ehrlicher umgehen. Das mag einige beruhigen, aber wir hoffen, dass auch in China über dem gewiss rapide wachsenden Wohlstand die Privatsphäre nicht vergessen wird und im dortigen Parteikommunismus langsam demokratische Prinzipien Fuß fassen. Wenn Peking westliche Wirtschaftsmodelle in sein System einbauen konnte, warum dann nicht auch westliche Demokratiemodelle? Vielleicht sogar in verbesserter Form: Ohne wuchernden Lobbyismus und Verfilzungen von Konzernen, Geheimdiensten und Militär. Utopische Träume bewegen Menschen auf allen Kontinenten.

07/15/19

PARADISE HILLS (2019) Filmkritik

Marlene Schneider

Science Fiction mit wenig Science, aber viel feministischer Fiction. Das bildschöne Teeny-Girl Uma lebt in einer Zukunft krasser Klassenunterschiede. Sie gehört aber glücklicherweise zu den Ups, den im Luxus schwimmenden Geldadligen. Pech für sie: Die rebellische Spätpubertierende hat sich in einen „Low“ verliebt, einen Proleten, der für seinen Lebensunterhalt… arbeiten muss (igitt!). Die Lows, so erfährt man später irgendwann nebenbei, schuften zu Hungerlöhnen, vegetieren in dreckigen Slums und sterben früh. Zu Gesicht bekommt man in PARADISE HILLS von den Lows aber nur ebenso adrette wie devote Domestiken. Zwei davon erwarten die süße Uma als sie zu Beginn des Films in einer Luxus-Anstalt namens Paradise erwacht und sofort den ersten Fluchtversuch startet.

Das von „Der Herzogin“ (Milla Jovovich) geleitete Paradise Hills ist ein Zentrum für Umerziehung, wo privilegierte junge Frauen nach Vorgaben ihrer Familien standesgemäß diszipliniert werden: Die Anstaltskluft, ein Korsettkleid aus weißen Trägern und Schnallen, kombiniert viktorianische Rüschen mit Lackleder, ergänzt mit zwangsweise verpasstem Neonhaar und Manga-Make-up. Uma wird umschwärmt von schönen jungen Männern, die den Mädels höflich dienernd ihr (karges) Luxusmenü servieren und sie nur mit Samthandschuhen anpacken, um sie mit weißen Lackledergurten zur (läppisch inszenierten) Brainwash-Behandlung festzuschnallen.

Hinter märchenhaftem Dekor, Tüllkostümen und rosengeschmückten Prachtterrassen (gedreht in Barzelona) lauert natürlich am Ende (Spoiler-Alarm!) das Unheimliche. Zunächst tunkt einen PARADISE HILLS jedoch tief in die Pink-Teeny-Fantasie von Prinzen und Einhörnern, gegen die sich Uma mit ihren drei bald ebenso rebellischen Zimmergenossinnen kräftig auflehnt. Mit sanfter Gewalt und fiesen Psychotricks drangsaliert die Herzogin ihre Mädels, die aber bocken, dass die stylishen Kulissen wackeln, die Handlung logische Lücken bekommt und die diabolische Milla Jovovich ihr wahres Vampirgesicht zeigen muss. Der humoristische (aber noch nicht der blutige) Höhepunkt ist erreicht, wenn die wegen Übergewicht behandelte Chloe (Danielle Macdonald) mit dem ganzen Wumms ihrer Adipositas einen Edelschergen umhaut und einem Psycho-Frankenstein auch noch die Brille wegfliegt. Dann entdecken die zornigen Manga-Schneewittchen endlich das dunkle Geheimnis der bösen Herzogin.

Kostüme und Kulissen überzeugen, Schauspiel und Filmhandwerk sind okay. Emma Roberts als Uma hält sich dabei zwar ganz gut, muss aber noch einiges lernen, wenn sie Nicole Kidman aus den WIFES of STEPFORD eines Tages toppen will. Die Story ist jedoch mau. Man muss wohl dümmlich, weiblich, jung sein, wenn man die erste Hälfte nicht als einschläfernde, weil überlange Luxuskram-Werbung erleben will. Eine durchdachte Dystopie oder kritisches Denken, das über pubertierendes Nicht-Anpassenwollen an altbackene Frauenrollen hinausgeht, sucht man leider vergebens. Damit bleibt PARADISE HILLS fast noch hinter debilen Youth-Age-Dystopien wie THE HUNGER GAMES zurück. Wenigsten handeln die Girls solidarisch und lassen sich nicht via Schönheitswettbewerb gegeneinander aufhetzen, was den Film in den Augen seiner Macher wohl schon zu einem politischen Fanal gegen neoliberale Angepasstheit und weibliche Geschlechterrollen machen dürfte.

Die junge Filmemacherin Alice Waddington (geb. 1990 in Spanien) wurde mit süßen 16 Assistentin eines Kameramanns und machte Karriere in Fotografie, Kostümdesign und -welche Überraschung- Modefilmen für Magazine wie Harper’s Bazaar. Ab dem zarten Alter von 20 wurde sie Creative Direktrice bei den Agenturen Leo Burnett und Social Noise. Ihr erster Kurzfilm, DISCO INFERNO (2015), wurde immerhin 65mal für Preise nominiert und räumte elf Preise ab -wieviele davon durch Agenturen wie Leo Burnett oder Social Noise bzw. deren Kumpels und Kumpelinen vergeben wurden, wollen wir mal lieber nicht nachrecherchieren.

Fazit: Ein Film, der alle aus den rosa Strapsen hauen wird, die bislang nur Schminktipps auf Youtube kannten.

Kinostart in Deutschland ist der 29. August. (erschien zuerst auf filmverliebt.de)

04/28/19

Felwine Sarr: Afrotopia – Kultur, Zeit, Netze

Rezension von Thomas Barth

Afrotopia ist ein Manifest des senegalesischen Kultur- und Wirtschaftswissenschaftlers, Musikers und Schriftstellers Felwine Sarr. In seinem Buch plädiert Sarr für eine Neugestaltung der afrikanischen Gesellschaften und Wirtschaftssysteme, um eine bessere Zukunft für den Kontinent zu schaffen. Eigene sozioökonomische und digitale Netzwerke, eigene Zeit- und Kulturautonomie wären die notwendige Basis, um sich aus der politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Dominanz des Westens zu befreien.

Dem neoliberal-neokolonialistischen Homo Oekonomicus ist die soziokulturelle Rationalität eines Homo Africans entgegenzustellen, von der zur Abwechslung jetzt der Westen einmal etwas lernen könne. In der Netzkultur kennen wir schon aus den Bantu-Sprachen den Begriff Ubuntu, was für die Zulu- und Xhosa-Kulturen etwa „Menschlichkeit“ bedeutet und die Achtung der Menschenwürde mit dem kollektiven Streben nach einer friedlichen und harmonischen Gemeinschaft verbindet (Nelson Mandela erklärt den Begriff Ubuntu). Die Debian-Opensource-Community wählte den Namen Ubuntu in diesem Sinne für ihr gemeinschaftlich entwickeltes Linux-Betriebssystem, wie der Kulturphilosoph Felix Stalder ausführt.

Hintergrund: Restitution und Neoliberalismus

„Die Maxime der Ubuntu-Philosophie, Ich bin, weil wir sind, nimmt das gesellschaftliche Wesen des Individuums zum Ausgangspunkt, gibt dem Gemeinwohl und dem Respekt vor der Menschlichkeit des anderen den Vorrang.“ (Sarr, Afrotopia, S.96) So referiert Sarr die bedeutendste Wurzel der erhabenen Vision des Politischen, die Nelson Mandela während seiner Haft als politischer Gefangener des rassistischen „Apartheit-Regimes“ in Südafrika entwickelte und schließlich zum Sieg führte. Sie ist das Gegenteil der Ideologie des Neoliberalismus, den heutige Neoimperialisten wie Niall Ferguson (so kritisiert ihn Pankaj Mishra) durch Wiederbelebung kolonialer Machthierarchien und imperialen Größenwahns aus seiner weiter schwelenden Finanzkrise führen wollen. Doch Autoren wie Sarr leisten Gegenwehr und lassen die Ausblendung kolonial-imperialistischer Verbrechen nicht zu.

Felwine Sarr machte sich auch, zusammen mit seiner Kollegin Bénédicte Savoy, einen Namen im Bereich der Restitutionsforschung. Zur Kulturautonomie gehört das selbstbewusste Zurückfordern von Raub- und Diebesgut, wie perspektivisch auch das Einklagen von Entschädigung für die Barbarei des jahrhundertelangen Sklavenhandels, der den Westen bei seinem Aufstieg zu globaler Dominanz überhaupt erst reich gemacht hat. Das betrifft auch den, von konkurrierenden Kolonialmächten freilich schnell beendeten, kaiserlich-deutschen Raubzug nach Afrika. Die Entschuldigung bei den Hereros für den deutsch-wilhelminischen Vökermord und die Rückgabe von Benin-Bronzen an Nigeria sind nur der Anfang. In den etwa 50 deutschen Völkerkundemuseen lagern noch mehrere hunderttausend Objekte, die aus der Kolonialzeit stammen und deren Herkunft angeblich unklar ist. Obwohl wahrscheinlich ist, dass es sich zumeist um Hehlerware handeln dürfte, um Beute- oder Raubkunst, tut man sich in der Wissenschaft schwer, mit afrikanischen Kollegen zu verhandeln. Allen deutsch-museal Beschäftigten wäre Afrotopia auch als Verständnishilfe in der interkulturellen Kommunikation zu empfehlen, denn die Zeit scheint endgültig vorbei, wo man ganz naiv von den „unterentwickelten Ländern“ eine Übernahme westlicher „Standards“, die oft nur ideologische Sichtweisen meinen, erwarten durfte.

Der Westen bemisst und bewertet die ganze Welt anhand seines Modells, kritisiert Sarr, das an Kriterien von Reichtum, „freien Märkten“ und der grenzenlosen ökonomischen Expansion orientiert ist. Er meint die erzkapitalistische Ideologie des Neoliberalismus, die unserem Leben nur als ökonomische Leistung einen Wert zugesteht, nicht als Erfahrung, Kultur und Gesellschaft. Diese ökonomische Leistung ist dabei grundsätzlich etwas, das diejenigen, die in der Hierarchie unten sind, zum Nutzen derjenigen zu erbringen haben, die das Privileg der Herrschaft besitzen. Der Sozialstaat, Solidarität und soziale Rechte werden als „Sozialismus“ dämonisiert und im Namen einer „Freiheit“ bekämpft, die streng nach individueller Finanzkraft zugemessen oder vorenthalten wird.

„Es gibt keine Gesellschaft“, da sind nur Individuen, behauptete die Scharfrichterin der britischen Arbeiterbewegung, Premierministerin Margret Thatcher, wofür erzkonservative Propagandisten einer brutalen Marktideologie sie bis heute bejubeln, etwa im Deutschlandfunk (DLF): Die Gesellschaft sei nur Konstrukt, die Freiheit beginne „beim Ich“, nur das könne denken und handeln, nicht das Kollektiv; „Insofern gibt es keine Gesellschaft, es gibt immer nur Individuen. Wir leben schließlich nicht im Sozialismus.“ Und die neoliberale Thatcher, die Millionen britische Arbeiter ins Elend brachte, um Konzerngewinne explodieren zu lassen, habe ja auch „die Familie“ in ihrem viel zu selten vollständig gelesenen Interview erwähnt -„die Familie“, jeder Mafia-Pate und Rechtspopulist lobt sie über den grünen Klee. Hier dient sie, um suggestiv vom brutalen Kerninhalt der Aussage, von der unsozialen Politik Thatchers und des Neoliberalismus abzulenken.

Doch die meisten Menschen der Welt haben genug vom neoliberalen Raubtierkapitalismus und der ausgefeilten Propaganda seiner Ideologen, nicht nur in Afrika. Das westliche Modell beruft sich auf angeblich „freie Märkte“, hinter denen sich aber oft nur lichtscheue Netzwerke der Herrschaftseliten verbergen, und will arrogant darüber entscheiden, welches Land, sogar welcher Kontinent, als „entwickelt“ gilt oder als „unterentwickelt“. Nebenbei bemerkt: Der diktatorische Sozialismus Libyens brachte den Libyern zwar nicht die volle westliche Freiheit, aber -sogar nach westlichen, laut Sarr, wie wir sehen werden, „quantophrenischen“ Maßstäben- den höchsten Lebensstandard Afrikas, Bildung, Gesundheitswesen, Frauenemanzipation. Weil das aber nicht ins ideologische Weltbild passte und Libyen frecherweise auch noch sein Öl eigenmächtig an die Chinesen verkaufen wollte, bombte der Westen völkerrechtswidrig islamistischen Terrorhorden den Weg nach Tripolis frei: Den Afrikanern ging es wieder dreckig und das begehrte Öl floss westwärts. Neokolonialismus macht reich, aber niemals frei -und reich auch nur die Kolonialisten.

Das neoliberale Denken hat sich von den humanistischen Wurzeln des politischen Liberalismus weit entfernt, denn in der Technokratie gibt es (angeblich) kein Gegenüber mehr, bei dem wir unsere Menschenrechte einfordern könnten (Günther Anders). Der Neoliberalismus basiert auf einer bornierten Ideologie, die der Humanität und der Vernunft ebenso Hohn spricht wie der Vielfalt menschlicher Kulturen. Insbesondere der Vielzahl lokaler und regionaler Kulturen, wie sie allein Afrika, die Wiege der Menschheit, hervorgebracht hat.

Zu Afrotopia: Der blinde Fleck der Liberalen

Sarr will den „blinden Fleck des neoklassischen Paradigmas“ enthüllen, „kollektive Kräfte“ zur Kenntnis nehmen (S.79) und entlarvt das neoliberale Gerede vom universalen „Ich“ versus der „konstruierten Gesellschaft“ als ideologisch einseitige Verkürzung: Selbstverständlich ist auch das im staatsnahen DLF propagierte angeblich „freie Ich“ nur eine Konstruktion, leider die einer toxisch gewordenen Unkultur von Konkurrenz, Überwachung und Angst. Sarr aber konstruiert, unter Verweis auf Arendt, Adorno, David Throsby und den Netzphilosophen Michel Foucault, die Ökonomie lieber als kulturellen Prozess statt umgekehrt (S.71 ff.). Und Sarr dreht auch die in westlichen Medien kolportierten, einseitig als katastrophisch konstruierten Meldungen von hoher Geburtenrate und Übervölkerung um: Die Demografie spricht für Afrika als kommenden Kontinent.

In 35 Jahren wird bei Fortschreibung heutiger demografischer Trends ein Viertel der Weltbevölkerung in Afrika zuhause sein. Es ist also an der Zeit, die verborgene Lebenskraft dieses Kontinents zu entdecken und das Zeitalter eines Afrofuturismus auszurufen. Afrotopia hat in der intellektuellen Welt viel Aufmerksamkeit erregt und wird oft als wichtiger Beitrag zur Debatte über die Zukunft Afrikas angesehen. In „Afrotopia“, wie der Essay auch im französischen Original heißt, steckt der Begriff „Utopia“ – Sarr rehabilitiert den von Reaktionären und Liberalen aus Angst vor der kommunistischen Utopie durch diffamierende Reduktionen in Misskredit gebrachten Begriff. Die allzu billige Gleichsetzung jeder „utopischen“ Forderung nach Entmachtung und Enteignung bourgeoiser Herrschaftsklassen mit dem gebetsmühlenhaft beschworenen Stalinismus lässt sich der afrikanische Star-Ökonom nicht so leicht aufschwatzen wie die konformistische Mehrheit seiner westlichen Kollegen. Ist Sarr ein sozialistischer Denker? In vieler Hinsicht schon, besonders in seiner Gegnerschaft zur herrschenden kapitalistischen Ideologie, ob man sie nun „Globalisierung“ oder Neoliberalismus nennt.

Bei Felwine Sarr sind antikommunistische Konservative und Reaktionäre jedoch mit ihrem Pochen auf Familie und Tradition gegen „die gottlosen Sozialisten“ an der falschen Adresse: Traditionelle Sitten und Strukturen führt er in Hülle und Fülle an, nur eben nicht die biologistisch verabsolutierte bourgeoise Kleinfamilie, die konservative Westeliten ihrem Proletariat und neuerdings Prekariat als Paradies der Seligkeit verkaufen wollen. Er verweist auf die Kulturen der Muriden und Sufis, Wiredu und Modimbe, die Serer und Songhai und ihre soziohistorischen Wurzeln im Malireich, Ghana und Altägypten. In der Bildungsforschung stellt die Ethnologie der „New Kinship Studies“ inzwischen ähnliche Fragen an hergebrachte Konstrukte wie „die Familie“.

Der visionäre Ökonom und Kulturwissenschaftler Felwine Sarr entwickelt in seinem Manifest eine visionäre Utopie, wie eine eigene Form afrikanischen Fortschritts gelingen könnte, vor allem durch Entscheidungsautonomie und ein selbst gewähltes Entwicklungstempo. Langfristig könnte die afrikanische Kulturrevolution auch neue Ansätze für eine nachhaltige Entwicklung auf anderen Kontinenten liefern, bringt Sarr den generationenlang emsigen „Entwicklungshelfern“ ironisch seine Deutung nahe. Der Süden kann Vorbild werden -wenn es Afrika gelingt, sich vom schwarzen Erbe der europäischen Invasoren und Kolonialdiktaturen zu befreien. Denn das heutige „Afrika“ ist eine Erfindung Europas, die Sarr „Afropessimismus“ nennt:

„Seit den 1960er-Jahren und seit dem Morgen der Unabhängigkeit ist Afrika… ohne Unterlass als der Kontinent beschrieben worden, der einen Fehlstart hingelegt hat und seitdem am Abdriften ist: ein sterbendes Ungeheuer, dessen jüngste Zuckungen das baldige Ende ankündigen. Die grimmigen Zukunftsprognosen folgen einander im Gleichschritt… Auf dem Höhepunkt der Aids-Pandemie prophezeiten einige Auguren nichts weniger als die Auslöschung allen Lebens auf dem afrikanischen Kontinent. Soll diese Ansammlung von Elend doch von einer Gesundheitskatastrophe zugrunde gerichtet werden, der übrigen Menschheit kann es dann nur besser gehen.“ (S.9)

Deshalb ist „Afrika“ auch unter Ägide des Postkolonialismus ein finsteres Wort geblieben: „Dunkler Kontinent“, „Elendsgebiet“, „Rohstofflager der Welt“. Weiterhin wird Afrika mit Stereotypen belegt, die Unterentwicklung und Armut betonen. Weiterhin werden die Perspektiven des Kontinents an westlichen Fortschrittsmaßstäben gemessen, obwohl sich diese längst als unbrauchbar, wenn nicht gar zerstörerisch erwiesen haben. In seinem bahnbrechenden Manifest, das Analyse und Utopie anstrebt, fordert Felwine Sarr eine wirkliche Entkolonialisierung Afrikas, die auch auf die Kolonialzeit zurückgehende Institutionen und Handelsbeziehungen überwindet. Afrikanische Probleme können nur durch ein umfassenderes Verständnis ihrer Ursachen und nur durch die Afrikanerinnen und Afrikaner selbst gelöst werden.

Entwicklung“ -ein ideologisches Konzept

Wenn im Westen von „entwickelten“ oder gar von „unterentwickelten“ Ländern geredet wird, werden diese Begriffe selten reflektiert. Sarr analysiert diesen Begriff, der sich bis in die UNO-Milleniums-Entwicklungsziele verfolgen lässt, als Worthülse, die darauf zielt, „die Mythen des Westens auf die Entwicklungsverläufe afrikanischer Gesellschaften zu projizieren; der Westen habe habe damit „fremden mythologischen Universen“ sein „Interpretationsraster aufoktroyiert“ (S.17).

Ein begriffliches Defizit sei dabei die „quantophrenische Schieflage“, der „Zwang, alles zu zählen, zu bewerten, zu quantifizieren und in Gleichungen einzufügen.“ Bei einer solchen „mathematischen Reduktion der Realität bestehe die Gefahr, dass unvollkommene Maßeinheiten und Bezugspunkte unter der Hand in Zwecke des gesellschaftlichen Abenteuers umgedeutet werden.“ Sogar der Lebensqualität einbeziehende „Index der menschlichen Entwicklung“ diene letztlich dazu, Nationen zu klassifizieren und Rangordnungen zu erstellen, „mit Klassenbesten und Klassenschlechtesten“. Dabei sagen solche Indikatoren „nichts über das Leben selbst“ (S.18).

Etymologisch sei „Entwickeln“ der Gegensatz des „Einwickelns“ und genau das habe der Westen in Wirklichkeit mit nichtwestlichen Gesellschaften in seiner „Entwicklungspolitik“ getan: „Man hat sie in gesellschaftliche Formen eingewickelt, die ihnen nicht entsprechen.“ (S.23). Geködert mit Wohlstand, den der Westen der Plünderung seiner Kolonialreiche verdankt, wären viele dieser Ideologie auf den Leim gegangen. Deren scheinbare Objektivität des Bruttosozialprodukts basiere auf einem Weltbild der westlichen Neuzeit-Kultur, das Rationalität mit bestimmten westlichen Mythen verbinde: Gesellschaftlicher Evolutionismus, sprich: „Entwicklung“, sei analog biologischer Prozesse konstruiert; die Utopie grenzenlosen Wirtschaftswachstums wurzelt nach Sarr in „der Vorstellung eines unbegrenzten Himmelsreichs, wie man sie aus der christlichen Eschatologie kennt“ (S.22). Profanisiert zu westlichen Leitbegriffen wie Ordnung, Vernunft, Fortschritt und Wachstum finde sich dort die „Utopie einer deterministischen und vorhersagbaren Welt“, die im Europa des 17.Jahrhunderts entstand.

Ein Kernbegriff der Kritik von Falwine Sarr ist leider schwer ins Deutsche zu übersetzen: Ökomythos (S.25). Die Vorsilbe „Öko“ ist bei uns fest mit „Ökologie“ verknüpft, meint aber bei Sarr die Ökonomie. Da es kein naheliegendes deutsches Wort gibt („Kapitalismus“, „Instrumentelle Rationalität“ wären zu holprig) blieb es missverständlich im Text stehen -besser wäre vielleicht noch „Finanzmythos“, doch das fasst die Begriffsgeschichte erst ab der neoliberalen Finanzialisierung der Weltökonomie.

„Dieser Ökomythos ist zum einen dadurch hegemonial geworden, dass er westliche Vorstellungen des gesellschaftlichen Abenteuers auf Afrika projiziert hat, zum anderen dadurch, dass er stets dazu tendierte, sich in sämtliche soziale Praktiken einzuschreiben.“ (S.26) Das verhängnisvolle Versagen dieses Öko– bzw. Finanzmythos zeige sich in „Krise der Weltwirtschaft, die wir heute durchleben“. Die seit 2008 gärende Finanzkrise, deren Schockwellen, ausgehend von der Lehman-Pleite, weltweit Krisen verursachten, war für Sarr 2016 noch gegenwärtiger als heute. Abgelenkt von der endlich nicht mehr abzuleugnenden Klimakrise und vor allem vom Ukrainekrieg, sind sie fast schon wieder vergessen, die Bruchstellen im Finanzsystem -sie sind jedoch nur dürftig gekittet. Derzeitig explodierende Rüstungsetats im Westen könnten sogar als brandgefährlicher Versuch gedeutet werden, die Finanzkrise weiter zu verbergen und einer fatalen „Lösung“ in einem Dritten Weltkrieg zuzuführen.

Kein Wunder, dass Sarr dazu rät, „sich von der Herrschaft der mechanischen Vernunft zu befreien, indem man aufhört, den Geboten der herrschenden Wirtschaftsordnung zu folgen (Entwicklung, Ökonomismus, unbegrenztes Wachstum, Massenkonsum).“ (S.27) Die Wirtschaft solle, ihres dominierenden Selbstzwecks entkleidet, endlich wieder zu einem Mittel werden, das „den von der Gruppe definierten gesellschaftlichen Zwecken dient“ (S.28).

Afrika sollte sich auf seine verfemten und verdrängten geistigen Ressourcen zurückbesinnen, ohne den Kontakt mit der Moderne zu verleugnen. So findet sich eine Fülle kulturellen und geistigen Reichtums, die auf ein anderes, ausgeglicheneres Verhältnis zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur verweist. Die afrikanische Kulturrevolution bietet dabei auch für den Rest des Planeten dringend benötigte Ansätze, um eine postkolonialistische Zivilisation zu begründen. Afrika muss niemanden einholen auf Pfaden, die man ihm vorgibt. Es muss einen Weg gehen, den es für sich selbst gewählt hat. Es muss sich aus dem Wettbewerb lösen, aus einer kindischen Haltung, in der sich die Nationen vergleichen, um zu sehen, wer den größten Reichtum angehäuft hat -im Fall der westlichen Nationen fast immer, ohne zu fragen wie dies geschah. Und Afrika hat auch das Potential, so der Ökonom Sarr, sich aus diesem unverantwortlichen Wettbewerb zu lösen, der unsere sozialen und ökologischen Lebensgrundlagen zu zerstören droht.

frz.Original Édition Philippe Rey 2016

Eigene Zeit, eigene Netzwerke
Oft hysterische, angeblich immer wohlmeinende westliche Entwicklungshilfe kann man angesichts der dürftigen Ergebnisse kritisch sehen. Afrikas einzige Dringlichkeit besteht darin, so Felwine Sarr, endlich seinem Potenzial gerecht zu werden. Afrika muss seine Entkolonialisierung durch eine fruchtbare Begegnung mit sich selbst vollenden. In 35 Jahren wird seine Bevölkerung ein Viertel der Weltbevölkerung ausmachen und die lebendige Kraft einer alternden, hoffentlich nicht mehr von „alten weißen Männern“ regierten Welt sein. Ein demografisches Gewicht und eine Vitalität, die das soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Gleichgewicht des Planeten beeinflussen werden. Schon heute verfügt der jüngste Kontinent der Welt über eine Jugend, die sich in den stereotypen Nachrichtenbildern von Hunger und Elend in den europäischen Medien nicht wiederfinden kann. Felwine Sarr wendet sich selbstbewusst gerade an die ehemaligen Kolonialisten in Paris:

„Diese Jugend nutzt die sozialen Netzwerke, betreibt Blogs, tweetet, kommentiert Nachrichtenmeldungen, äußert ihre Meinung und beobachtet den Lauf der Welt. Sie ist rasch zur Stelle, wenn es auf einen im Gewand der Frankofonie auftretenden kulturellen Imperialismus zu reagieren gilt. Wo doch demografische und soziolinguistische Dynamiken aus dem Französischen nicht nur eine afrikanische Sprache gemacht haben, sondern auch eine, die nur dank afrikanischer Demografie überleben und ihren internationalen Status behalten wird.“ (S.93)

Um ein treibender Akteur der Geschichte zu werden, muss Afrika eine tiefgreifende kulturelle Revolution durchlaufen. Es muss sich von den Versuchungen des Westens lösen, wie Sarr unter Berufung auf den indischen Kritiker westlicher Dominanz, Pankaj Mishra, betont, und den „Reichtum der eigenen gesellschaftlichen Besonderheiten“ retten (S.122). Es muss am Aufbau einer bewussteren Zivilisation mitwirken, die sich kraftvoller um das Gemeinwohl, das Gleichgewicht verschiedener soziokultureller Ordnungen und um die Würde des Menschen bemüht. Afrotopia ist ein Ausdruck des Vertrauens in diese beherzte Utopie: Sarr fordert ein Afrika, das dazu beiträgt, unsere globale Gesellschaft auf eine neue Stufe zu heben. So schließt Afrotopia optimistisch:

„Afrika muss auch die Rolle seiner Kultur neu überdenken. Kultur als Suche nach Zwecken, nach Zielen und Gründen, überhaupt zu leben, als Verfahren, um dem menschlichen Abenteuer einen Sinn zu verleihen. Um Kultur in diesem Sinn zu verwirklichen, bedarf es einer radikalen Kritik all dessen, was in den heutigen afrikanischen Kulturen die Menschheit und die Menschlichkeit eindämmt, behindert, begrenzt oder herabsetzt. Zugleich müssen aber bestimmte afrikanische Werte rehabilitiert werden: jom (Würde), Gemeinschaftlichkeit, téraanga (Gastfreundschaft), kersa (Bescheidenheit), ngor (Ehrgefühl). Es gilt, den tiefgreifenden Humanismus der afrikanischen Kulturen zutage zu fördern und zu erneuern. Die Revolution, die es auf den Weg zu bringen gilt, ist eine spirituelle. Und es scheint uns, dass die Zukunft der Menschheit von ihr abhängt. Am Tag der Revolution wird Afrika, wie zur Zeit der ersten Morgenanbrüche, wieder das spirituelle Zentrum der Welt sein.“ (S.156)

Die Afrotopia-Buchbesprechung im staatsnahen Deutschlandfunk meinte offenbar der deutschen Öffentlichkeit in seinem Zitat genau dieser Passage weder die afrikanischen Worte zumuten zu können, noch den auf „den Tag der Revolution“ verweisenden Schlusssatz. Besser lässt sich die Notwendigkeit der deutschen Fassung von Felwine Sarrs Manifest wohl nicht dokumentieren als mit dieser eurozentrischen Verkürzung, die fremde Sichtweisen noch dort zum Verstummen bringen will, wo sie ihnen vermeintlich lobend das Wort erteilt.

Der Autor: Felwine Sarr wurde 1972 in Niodior im Senegal geboren. Er ist Schriftsteller, Musiker und lehrt als Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Gaston Berger Universitat in Saint-Louis, Senegal. Im März 2018 wurde er gemeinsam mit Benedicte Savoy von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beauftragt, die Rückgabe von französischer Raubkunst nach Afrika vorzubereiten. Felwine Sarr gilt als einer der meistdiskutierten Denker Afrikas. Zusammen mit Bénédicte Savoy wurde Felwine Sarr vom Time Magazin zu den 100 einflussreichsten Menschen 2021 gewählt. Bénédicte Savoy, 1972 in Paris geboren, lehrt Kunstgeschichte an der TU Berlin. Ihre Forschungsinteressen sind Kunst und Kulturtransfer in Europa, Museumsgeschichte sowie Kunstraub und Beutekunst. 2016 erhielt sie den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Das Buch von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy: „Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“ stellt die Kolonialisten zur Rede. Der von Präsident Macron beauftragte Bericht zur Rückgabe des in französischen Museen befindlichen afrikanischen Kulturerbes lag im November 2018 vor. Er löste eine bis heute anhaltende Debatte aus, die über Frankreichs Grenzen hinausging. Sarr und Savoy zeigen, dass ein großer Teil der afrikanischen Sammlungen in den ethnologischen Museen Europas gewaltsam im Zuge des Kolonialismus oder durch die Übervorteilung der Einheimischen geraubt wurde. Bis heute befinden sich ca. 90 Prozent des afrikanischen Kulturerbes außerhalb des Kontinents. Nötig ist eine radikale Revision der bisherigen Sammlungspraxis, die auch deutsche Museen und nicht zuletzt das geplante Humboldt Forum berührt. Die Debatte über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes sollte einen neuen gleichberechtigten Dialog zwischen Afrika und Europa eröffnen. Doch es kam anders: Der französische Präsident wollte seinen Rat, wie er mit kolonialer Raubkunst umgehen solle – und schlug ihn in den Wind, so Felwine Sarr am 29.7.2019 in der „ZEIT“ über die Arroganz der Europäer und die große Chance der Restitutionsdebatte.

Das französische Original wurde erstmals im Jahr 2016 veröffentlicht, die deutsche Übersetzung folgte 2019 im Verlag Matthes & Seitz und seit 2020 liegt bei der staatlichen Bundeszentrale für Politische Bildung eine billige Ausgabe vor. Dieser Buchbesprechung lag die erste deutsche Übersetzung vom Verlag Matthes & Seitz zugrunde, der auch den Bericht an den Präsidenten der französischen Republik, Emmanuel Macron, übersetzte:

Sarr, Felwine: Afrotopia, Berlin 2019, Matthes & Seitz, 175 Seiten, 20,00 Euro, ISBN: 978-3-95757-677-4, 2020 erschien die druckgleiche, im Rahmen des Förderprogramms des Institute fancais herausgegebene BPB-Ausgabe mit dem Hinweis: „Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.“

Sarr, Felwine und Bénédicte Savoy: Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin 2019, Matthes & Seitz Berlin, 18,00 Euro, ISBN: 978-3-95757-763-4

03/23/19

Stanislaw Lem: Science-Fiction-Meisterwerk „Solaris“

Gerd Peter Tellurio

„…was war schon diese ganze um ‚Kontaktanknüpfung‘ bemühte Fachrichtung gegen andere Zweige der Solaristik, in denen die Spezialisierung so vorangeschritten war, daß unter den Solaristen der Kybernetiker sich kaum mit dem Symmetriadologen verständigen konnte. ‚Wie könnt ihr euch mit dem Ozean verständigen, wenn ihr es nicht einmal mehr untereinander fertigbringt?‘ „ (Solaris, S.27)

Solaris ist ein fantastischer Roman, denn den Begriff „Science-Fiction“ hat Stanisław Lem für seine Bücher stets abgelehnt, da er von der durch Hollywood dominierten SF angeekelt war. Die meisten sehen dennoch darin ein Meisterwerk der Science-Fiction-Literatur, das sich durch seine einzigartige und tiefgründige Erzählweise auszeichnet. Die Geschichte handelt von einer Gruppe von Wissenschaftlern, die auf einer Raumstation um den Planeten Solaris stationiert sind, um dessen rätselhaften Bewohner zu erforschen: Einen globalen Ozean von metamorphem Plasma. Der Planet selbst lebt und produziert scheinbar intelligente Äußerungen, um deren Entschlüsselung sich die Wissenschaft der Solaristik seit Generationen vergeblich bemüht. Wie oft in Lems Geschichten geht es um die Kontaktaufnahme zu Aliens (die selten so sind wie in trivialer SF), zu Künstlichen Intelligenzen, kurz: zum Anderen, das wir nicht verstehen.

„Solaris“ entwirft eine faszinierende Welt voller unerklärlicher Phänomene und geheimnisvoller Wesen, die die Grenzen menschlichen Verständnisses überschreiten. Die Protagonisten stehen vor der Herausforderung, die Natur und die Motivationen von Solaris zu verstehen, was zu existenziellen Fragen über die Natur der Realität und des Bewusstseins führt. Bedeutende Regisseure wie Tarkowski und Soderbergh versuchten sich an Verfilmungen, die ihrerseits Meisterwerke des SF-Films wurden, ohne dem Roman gerecht zu werden.

Der Roman kreist mit dem Protagonisten Kelvin auch um Liebe, Tod und Schuld und ist damit eine Allegorie über die menschliche Natur und die Grenzen des menschlichen Verstandes. Kelvin, dessen Name nicht zufällig das physikalische Maß der Temperatur bedeuten dürfte, betritt eine Forschungsstation, deren Besatzung der Erde nur noch wirre Botschaften geschickt hatte. Man sandte einen Psychologen, um den Geisteszustand der Forscher zu überprüfen. Doch Kelvin kämpft schnell mit eigenen Problemen. Er stößt auf Chaos und Auflösung, begegnet zwei zutiefst verstörten Überlebenden -und mysteriösen Gestalten, die aus Alpträumen entsprungen scheinen. Bald gefriert ihm das Blut in den Adern: Auch Kelvins verstorbene Frau ist darunter. Hat er Wahnvorstellungen? Indem er die Beziehung zwischen den Wissenschaftlern und Solaris beschreibt, wirft Lem auch Fragen über die Natur von Identität und Liebe auf, die in schaurigen Gleichnissen erforscht werden.

Durch fantastische Ideen und tiefe psychologische Einsicht in die Charaktere gelingt es Lem, eine beklemmende und doch faszinierende Atmosphäre zu schaffen, die den Leser von Anfang bis Ende fesselt. Die komplexe Handlung brilliert mit einer tiefgründigen Analyse der menschlichen Existenz, die bis in theologische Bereiche führt. Nachdem Materie gewordene Phantome unbewusster Angst und Schuldgefühle die Wissenschaftler quälen, fragen sie sich: Will Solaris mit uns spielen? Oder uns strafen?

Psychologe Kelvin: „Das ist mir erst eine primitive Dämonologie! Ein Planet in der Gewalt eines sehr großen Teufels, der einen Hang zu satanischem Humor Genüge tut, indem er den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Expedition Sukkuben unterschiebt?“ (S.85) Damit sind wir bei jenem Problem, das Leibniz „Theodizee“ nannte: Wenn Gott allmächtig ist, warum lässt er dann das Böse auf der Welt zu? Die Bibel antwortet mit dem Sündenfall, dem Griff nach dem verbotenen Apfel der Erkenntnis. Auch bei Lem war es das Streben nach Erkenntnis, aber gepaart mit einer unbewussten Wut auf den schweigsamen Plasmaozean, der nur in Rätseln antworten wollte. Wann begannen die Phantome, die Station heimzusuchen?

„Nun, das hat acht oder neun Tage nach diesem Röntgenexperiment begonnen. Vielleicht hat der Ozean die Strahlung durch irgendeine andere Strahlung beantwortet, vielleicht hat er damit unsere Gehirne sondiert und gewisse psychische Abkapselungen aus ihnen gefördert.“ (S.86)

Die Forscher griffen zum aggressiven Mittel einer Röntgenkanone, um das unwillige Plasma zum Reden zu bringen. Der Planet wurde gereizt, das lebende Wesen verletzt, wie auch die menschliche Zivilisation ihren Planeten verletzt. Die Antwort kommt aus unserem Unbewussten. Warum müssen wir die Erde ausplündern, verseuchen, zerstören? Warum uns sinnloser Gier hingeben, anderen Gewalt antun?

Insgesamt ist „Solaris“ ein faszinierendes und herausforderndes Buch, das anregt über die Natur des Bewusstseins, der Realität und unserer Existenz nachzudenken. Lem hat mit diesem Werk eindrucksvoll bewiesen, dass er zu den bedeutendsten Autoren der Science-Fiction gehört. „Solaris“ ist ein zeitloser Klassiker, „vielleicht sogar der Klassiker der SF“ (dtv-Verlagstext) und ein Muss für jeden Liebhaber anspruchsvoller Science-Fiction-Literatur.

Stanislaw Lem: Solaris, dtv, München 1983, poln.Or. 1961, 237 Seiten

Internet-Kritiker Stanislaw Lem

Stanislaw Lem wurde 1921 in Lwow, Polen, geboren. 1982 zog Lem wegen der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen nach West-Berlin um, wo er ein Fellowship am Wissenschaftskolleg zu Berlin antrat, ab 1983 lebte er in Wien. Neben zahlreichen literarischen Werken verfasste er theoretische Schriften über Science Fiction und über Gebiete der angewandten Philosophie, Futurologie und Kybernetik. Sein Schaffen umfasst inzwischen 28 Werke, deren Gesamtauflage fast 8 Millionen Exemplare erreichte. Übersetzungen erschienen in 27 Sprachen, unter anderem in Japan, England, Russland, Amerika, Schweden, Italien, Holland und Frankreich. Sein Hauptinteresse galt der Science Fiction als literarische Gattung. Er starb 2006 in Krakau. In den 2000er Jahren wurde Lem zum Kritiker des Internets und der Informationsgesellschaft, weil diese die Nutzer zu „Informationsnomaden“ machten, die nur „zusammenhangslos von Stimulus zu Stimulus hüpfen“ würden. „Es erweise sich als immer schwieriger, unterschiedliche Quellen und Sichtweisen zusammenzubringen, um ein rundes, vollständiges Wissensbild einer Sache zu erhalten.“ (Wikipedia)

01/8/19

Bio-Cyperpunk: Peter Watts‘ Mahlstrom

Peter Watts: Mahlstrom, München 2009, W. Heyne, 511 S., 9,99 Euro. (or. Maelstrom)

Der Cyberspace heißt „Mahlstrom“ und ist bevölkert von digitalen Lebensformen. Nur privilegierten Firmen ist noch zuverlässige Datenverarbeitung möglich -in einer mühsam mit Firewalls verteidigten „Zuflucht“. Teil 2 der Rifters-Trilogie

Rezension von Thomas Barth

Zeit: Irgendwann im nächsten Jahrhundert. Ort: Pazifik, Nordamerika. Autor: Peter Watts, Kanadier aus Toronto, arbeitete angeblich lange als „Unterwasserbiologe“. Ärgerlich: Der Klappentext plaudert ein Geheimnis aus, das der Leser eigentlich auf den ersten 130 Seiten langsam lüften sollte: „Eines Tages wird in den Tiefen der Meere eine prähistorische Lebensform entdeckt, die eine tödliche Bedrohung für das Leben auf der Erde bedeutet. Kurzerhand wird ein Nuklearschlag durchgeführt, der das Virus für immer vernichten soll –ohne die im Tiefseelabor tätigen Wissenschaftler vorzuwarnen. Doch eine der Forscherinnen überlebt die Explosion. Sie trägt das Virus in sich. Und sie will Rache…“

Der Anfang kommt deshalb etwas langweilig rüber, doch erfreulicherweise wartet Peter Watts mit genug neuen Wendungen auf, um seinem Roman immer wieder neuen Drive zu geben –die Handlungsstränge sprießen aus dem Text wie Tentakeln einer Seeanemone. Und zum Glück hat der Klappentextschreiber einiges nicht ganz verstanden, z.B. handelt es sich nicht um ein Virus…

Freunde der schaurigen Anti-Utopie kommen auf jeden Fall auf ihre Kosten, insbesondere Hypochonder, denn Seuchen aller Art plagen den künftigen Planeten; die Nationalstaaten sind belanglos geworden, Quarantänegrenzen durchziehen Land und Megacities. Die Quebecer wird’s freuen: Nach Wasser- und Energiekriegen hat Französisch das Englische als dominante Weltsprache abgelöst, doch Computer-Simultanübersetzung erübrigt Sprachkenntnisse ohnehin. Cyberpunk-like rüsten sich die Menschen mit Bioimplantaten auf, besonders die Rifters, Tiefsee-Cyborgs wie die rachsüchtige Lenie Clark. Umweltflüchtlinge sperrt man in Massen-KZs an der Küste, der Erzähler schlüpft in die Haut einer KZ-Wächterin –künftig ein Heimarbeitsplatz zur Steuerung von „Mechfliegen“–, eines Partygirls, die dem totalitären Regime frech die Stirn bietet, dann kommt aber eine evolvierende KI-Einheit ins Spiel (Neuromancer als kybernetischer Entwicklungsroman).

Am Tag, nachdem Patricia Rowan die Welt gerettet hatte, kam ein Mann namens Elias Murphy zu ihr, um ihr erneut ein schlechtes Gewissen zu machen. Eigentlich war das gar nicht nötig. Die taktische Anzeige ihrer Kontaktlinsen konfrontierte sie ohnehin schon unablässig mit einer Flut von Tod und Zerstörung, mit Zahlen, die viel zu ungenau waren, um als Schätzwerte durchzugehen. Es waren erst sechzehn Stunden vergangen, und selbst die Hochrechnungen waren nichts als Mutmaßungen. Dennoch versuchten die Maschinen unbeirrt, das Geschehen in Zahlen zu fassen: so und so viele Millionen Menschenleben, so und so viele Billionen Dollar. Als ließe sich die Apokalypse irgendwie dadurch abwenden, dass man sie bezifferte.“ P.Wattson, Mahlstrom

Weitere Hauptfigur ist ein mächtiger „Gesetzesbrecher“, ein hirntechnisch manipulierter Bürokrat mit der Befugnis Quarantänegrenzen zu ziehen und Dekontaminationen einzuleiten, bis hin zu Massenverbrennungen mit Mann und Maus: „Als Achilles Desjardinds die Bühne betreten hatte, war Cyberspace ein von Wehmut erfülltes Fantasiewort gewesen, ähnlich wie Hobbit oder Biodiversität.“

Der Datenraum heißt nun „Mahlstrom“ und ist bevölkert von digitalen Lebensformen, die privilegierten Firmen nur in einer mühsam mit Firewalls verteidigten „Zuflucht“ zuverlässige Datenverarbeitung ermöglichen. Nicht mal in seinen Cybersexfantasien ist Desjardins sicher vor Eindringlingen. Dank der ihm eingepflanzten Handlungsblockade, genannt „das Schuldgefühl“, ist Achilles zudem unfähig unmoralisch zu handeln, also gegen die Interessen seiner Arbeitgeber: Private Multis, Industriemafia und Konsorten beherrschen die Welt. Der fulminante Roman liefert nebenher Einblicke in die perverse Gedankenwelt einer biologistischen Philosophie des Freiheit-oder-Determinismus-Problems.

12/28/18

Utopie: Madam Datam

Dem Tag entgegen, Frankfurt, Suhrkamp Verlag 1984.

Rezension von Thomas Barth

Eine Sozialutopie über eine total von einem Zentralcomputer gesteuerte Gesellschaft, die das Gegenteil von Orwells totalitären Alpträumen aus „1984“ ist: Die soziale und psychologische Imaginationskraft von Madsen ist beeindruckend, die vorweg genommene postmoderne Auflösung des Subjekts wird hier mit der marxistischen Utopie „heute Schmied, morgen Fischer, übermorgen Philosoph“ verbunden.

Svend Age Madsen, Prosaist und Dramatiker, ist einer der experimentierfreudigsten Modernisten der dänischen Literatur. 1972 verlieh die dänische Akademie ihm für den Roman “Seat Verden er til” (Nehmen wir an, die Welt existiert) den wichtigsten dänischen Literaturpreis. In “Dem Tag entgegen” entwirft er ein scheinbar utopisches Paradies; Ungleichheit, Verbrechen, Krieg, Sinnlosigkeit und Langeweile sind abgeschafft. Die postmoderne Auflösung des Subjekts ist Realität, denn es existiert keine persönliche Biografie mehr. Jeder Mensch bekommt täglich eine neue soziale Rolle zugewiesen: ein neues Haus, eine neue Familie, Listen mit neuen Freunden, einer neuen Arbeit – alles liegt bereit, wenn er morgens aus der Betäubung seiner abendlichen Schlafpille erwacht. Die Verteilung der Schlafenden übernimmt ein “Austauschsystem” aus über Schienen fahrenden Betten, dessen Zentrum eine EDV-Anlage namens Madam Datam bildet (andere technische Errungenschaften kennt die Utopie nicht, man fährt Fahrrad und Elektroauto).

Auf Gerechtigkeit programmiert, teilt Madam Datam jedem luxuriöse Wohnstätten, Elektroautos, unbeliebte Arbeiten, problematische Freunde und Eltern, attraktive Ehepartner usw. in einem ausgewogenen Wechsel zu. Die Menschen verfügen über die Fähigkeit, ihre jeweils neuen Gegenüber blitzschnell “in sich aufzunehmen”, was ein empathisches Verständnis und eine Anpassung an die immer überraschende soziale Situation beinhaltet. Alle gehorchen aus Einsicht den ungeschriebenen Regeln oder gelten als krank, als “verschlossene Persönlichkeiten”, was aber nur selten vorkommt und einen “Hilfsdienst” auf den Plan ruft. Ein wichtiges Tabu ist die Wiederholung: mehrmals dieselben Freunde zu haben, die gleiche Arbeit zu leisten gilt als langweilig, zweimal neben demselben Ehepartner zu erwachen als obszön.

Der Ich-Erzähler Elef (was bei den Wikingern “Immer allein” hieß) beginnt ein Tagebuch zu führen und durchbricht damit die Regel, sich immer nur dem Neuen zuzuwenden. Er durchläuft eine Reihe von Arbeiten als Lehrer, Austauschsystem-Techniker, Stadtrat, Journalist und Programmierer, sowie eine Reihe von Ehefrauen, die mal schwierig, mal wollüstig oder praktisch sind, auch mit jeweils anderen Kindern. Als er den Wunsch auf Wiederholung seiner Ehe zu einer dem System ebenfalls kritisch gegenüberstehenden Frau verspürt, manipuliert er Madam Datam. Er und Maya (deren Name später als Anspielung auf den hinduistischen Bhagavadgita-Begriff “unwirkliche Wirklichkeit, Macht der Täuschung” offenbart wird) treffen sich erneut und flüchten aus dem System der täglichen Neugeburt. Dabei muß Elef einen übereifrigen Helfer aus dem Freundeskreis mit Gewalt hindern, den Hilfsdienst zu mobilisieren. Wie in antiquierten Filmen beobachtet, führt er halbkreisförmig eine Kaffeetasse gegen dessen Kopf; – mehrfach ohne Erfolg, bis er auf die Idee kommt, dabei Kraft anzuwenden und ihn bewußtlos schlägt: eine Gewalttat, die noch wochenlang die Gemüter bewegt. Zunächst werden Maya und Elef steckbrieflich gesucht. Über eine Heilanstalt für Austauschunfähige, wo sie vergeblich nach Verbündeten suchen, kommen sie in eine Einsiedlerklause zur Greisin Varinka. Genannt die “Unsterbliche”, stammt sie noch aus alten Zeiten und erklärt den Flüchtlingen, wie die “große Depression” mit epidemischen Selbstmorden einst die modernen Gesellschaften zur Einführung des Austauschsystems zwang. Doch Maya und Elef wollen sich nicht trennen lassen. Sie versuchen eine Teilintegration, verzweifeln aber an den Beziehungen zu jeweils neuen Freunden und Nachbarn. Nach einigen gescheiterten Freundschaften versuchen sie einen Suicid. Knapp gerettet nehmen sie den Platz in der Klause der sterbenden Varinka ein und finden eine sinnvolle Lebensaufgabe im Schreiben eines Romans über die unverständlichen Menschen der alten Zeit. In vielen friedlichen Jahren ergraut, belehren sie schließlich junge Austauschmenschen über die seltsamen starren Charaktere der alten Zeit.

Dem Tag entgegen (Se dagens lys, Gyldendal Publishers, Copenhagen 1980), Frankfurt, Suhrkamp Verlag 1984, Phantastische Bibliothek Bd. 128, st 1020. Ort: Dänemark. Zeit: Spätes 21. Jh. Art: Utopischer Roman, Sozialutopie. Autor: Madsen, Svend Age, geb. 1939 in Arhus, Dänemark. Thomas Barth, Rezension Nr. 3 für „Romanführer“, Hamburg, August 1995.

09/5/18

Friedrich Kittler & KI

Thomas Barth

Drei Dekaden ist es her, da Friedrich Kittler mit seinem legendären Aufsatz: Rock Musik – Ein Missbrauch von Heeresgerät seine revolutionäre Medientheorie darlegte und dabei einen eleganten Bogen von Nietzsche über Jim Morrison und Kaiser Wilhelms Generälen bis zu Görings Luftwaffe und Jimi Hendrix zog. So ungefähr in dieser Reihenfolge, aber um viele Details und Wendungen reicher entfaltete sich sein Denken.

Zunächst berief er sich auf die Machtkritik von Michel Foucault, wandte sich aber dann immer mehr Heideggers Philosophie zu. Gefördert wurde Kittler später auch vom Medienzar Hubert Burda, einem sechsfachen Teilnehmer der Bilderberg-Konferenzen (Telepolis), die jüngst einen Schwerpunkt auf Quantencomputing, KI und Medienthemen setzen.

Bildungslücke Bilderberg

Die „Bilderberger“ sind zwar Thema bei „Verschwörungstheoretikern“ auch rechter Gesinnung (was manche diese Treffen in die Ecke „rechte Paranoia“ neben Ufos, Zion-Papers und Chemtrails stellen lässt), aber sie existieren dennoch seit 1954.

Es handelt sich tatsächlich um geheime Treffen der westlichen Machteliten, die sich aus den Mainstream-Medien weitgehend herauszuhalten verstehen, trotz hochkarätiger Besetzung mit Dutzenden Top-Managern und -Politikern bis hin zu Ministern und Staatschefs: 2018 in Turin etwa Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (die dort von der Öffentlichkeit unbeobachtet z.B. mit Top-Vertretern der Rüstungsindustrie plaudern konnte -ob so etwas der Korruptionsvermeidung dient?).

Eine bedeutsame Fraktion der Bilderberger (wie man verkürzend Teilnehmer wie Organisatoren nennt) sind die großen Medienkonzerne, aus Deutschland ist vor allem die Wochenzeitung ZEIT dort seit vielen Jahren engagiert, aber auch Springer und Burda entsenden Vertreter. Man interessiert sich für Medienpolitik und Softpower, die Beeinflussung der Kultur durch die Mächtigen. Zu diesem Themenfeld gehört auch die Medientheorie.

Kittler erklärte 1988 in seinem Rock Musik-Text, wie militärische Funkanlagen des Ersten Weltkriegs die Basis für das zivile Radio und damit für die modernen elektronischen Medien legten, wie sich im Zweiten Weltkrieg Hifi und Stereo aus militärischen Ortungstechniken entwickelten. Schon damals würdigte Kittler auch den Computerpionier Alan Turing, der in der legendären Kryptologen-Farm Blechtley Park den Zeiten Weltkrieg mit der Entschlüsselung von geheimer Kommunikation der Wehrmacht verbrachte.

Medientheorie und Macht

Die Hardware des Computers sollte in Kittlers Denken bald eine zentrale Rolle einnehmen, er galt in der Medientheorie als der Experte für die neuen Rechenmaschinen, die just dabei waren, die Welt der Medien gehörig umzukrempeln. Dabei orientierte er sich anfangs an Michel Foucault und seiner Machtkritik,
später aber eher an der Philosophie von Martin Heidegger.

Kittlers Fixierung auf die kriegerischen Wurzeln und Funktionen der Medientechnologien wirkte aber damals auf viele, die in den 80ern gerade noch gegen Ronald Reagans Nato-“Nachrüstung“ mit atomaren Erstschlagswaffen protestierten oder bald nach dem Mauerfall gegen den Ersten Golfkrieg von Reagannachfolger Bush, wie degoutanter Militarismus.

Möglicherweise schwelgte der militär-patriotische Medientheoretiker Kittler manchmal etwas zu ausgiebig in den Leistungen der deutschen Obersten Heeresleitung und machte sich, bei aller Kritik an den USA, zu leicht die Perspektive der militärischen Führer des Westens zu eigen:

„Jede Diskothek, die ja Tonbandeffekte noch verstärkt und in Echtzeit mit der entsprechenden Optik von Stroboskopen oder Blitzlichtern koppelt, bringt den Krieg wieder. Mehr noch: Sie trainiert, statt nur Vergangenheiten zu reproduzieren, eine strategische Zukunft an, deren Bewältigung sonst an Wahrnehmungsschwellen der Leute scheitern könnte. Um die Displays in den Cockpits auch unter Bedingungen von Star Wars noch ablesen und bedienen zu können, kommt es auf Reaktionstempi im Millisekundenbereich an. Präsident Reagan hat nicht umsonst alle Freaks von Atari-Spielcomputern als zukünftige Bomberpiloten bewillkommnet.“ (Kittler, Rock Musik, S.211)

Wenn die Atari-Killerspiele auch mit gewisser Plausibilität als dem Kriegshandwerk heutiger Drohnenpiloten ähnlich zu sehen sind, so scheint die Discoszene der 80er als Spaßversion Jüngerscher Stahlgewitter doch reichlich weit hergeholt. Doch Kittlers Perspektive fand ihre Liebhaber -und Gönner auch weit oben in der Einkommenspyramide.

So verwundert es nicht, dass der 2013 posthum vom Kittler-Anhänger Prof. Hans Ulrich Gumbrecht herausgegebene Band „Die Wahrheit der technischen Welt“, aus der dieses Kittler-Zitat entnommen ist, im Impressum ausweist: „Unterstützt von der Hubert Burda Stiftung“.

Hubert Burda ist der ca. zwei Milliarden schwere Medientycoon an der Spitze von Deutschlands drittgrößtem Medienimperium (nach Bertelsmann und Springer), dem neben „Burda-Moden“, auch „Playboy“, „Bunte“, „Focus“ etc. zuzurechnen sind. Burda steuerte seinen Konzern erfolgreich in die Netzmedienwelt und erhielt, soweit das Internet weiß, sagenhafte sechs Einladungen zu den Bilderberg-Konferenzen (1997, 1998, 2001, 2003, 2005, 2007). Es ist denkbar, dass Burda dort seine Ideen zur digitalen Revolution der Medien zum besten geben konnte und anzunehmen, dass diese sich auch aus Kittlers Theorieansatz speiste.

Künstliche Intelligenz und Quantencomputing

Auch die Mächtigen dieser Welt haben erkannt, dass die digitale Technologien und Netzmedien immer bedeutsamer werden. Beim diesjährigen Treffen der Bilderberger in Turin tummelten sich neben Top-Managern traditioneller Finanz-, Öl- und Rüstungsindustrie auch Vertreter von Google, Facebook, Twitter & Co.

Ein Schwerpunkt der weltgrößten Lobbyisten-Konferenz, zu der auch wieder Staatschefs und Minister im Dutzend geladen waren, scheint auf technologischen Entwicklungen zu liegen: Man wollte über „Die Zukunft der Arbeit“, „Künstliche Intelligenz“ und „Quantencomputer“ reden.

Und es gibt Hinweise darauf, dass die Bilderberg-Konferenziers ihr Weltbild in Sachen Computer durchaus an der Kittlerschen Perspektive orientiert haben könnten – vermittelt über den deutschen Medienmogul Hubert Burda. Selbiger äußerte sich im Sommer 2011, also kurz vor Kittlers Tod (18.10.2011), im Avantgarde- und Kunstmagazin 032c zu seiner Freundschaft mit Kittler und der Faszination, die dessen Theorie und Person auf ihn ausübte:

„There is a German cultural figure based in Berlin-Treptow, Friedrich Kittler, whom I’ve found to be amply engrossing. We’ve met a couple of times – I attended his 64th birthday party (…) There is something oracular, irrational and dreamlike about his proclamations; such as that present day Germany is Ancient Greece manifest, and that a profound spiritual connection exists between those cultures, making them one. (…) And Kittler is a good friend of mine – I sponsored a chair at the Humboldt University for two years.“ Hubert Burda („Billionaire, Patron of german media philosophy“, Interview, sommer 2011 in 032c.com)

Damit soll natürlich keinesfalls angedeutet werden, dass Friedrich Kittler sich etwa habe „kaufen lassen“, was bei einem originellen Querdenker von seinem Format abwegig erscheint. Seitens möglicher superreicher Sponsoren dürfte aber seine Orientierung an Heidegger, dessen Ontologie um Nietzsches Idee von der ewigen Wiederkehr des Gleichen kreiste, mit Wohlwollen goutiert worden sein.

Die Überwindung des Menschen

Klingt dies doch beruhigend nach jährlicher Wiederkehr üppiger Renditen, wirtschaftsfreundlicher Regierungen und marktkonformer Demokratie. Hat sich am Ende Kittlers optimistische Haltung zur kommenden Künstlichen Intelligenz, die sich auch aus der Lektüre des wegen seiner NS-Verstrickung umstrittenen Heidegger speiste, in Kreisen der Konzernbesitzer und -lenker verbreitet? Heideggers Nietzscheanische Deutung der Technik scheint mit einer solchen Sichtweise jedenfalls kompatibel zu sein:

“Was jedoch die erste Ausflucht angeht, nach der Nietzsches Gedanke von der ewigen Wiederkehr des Gleichen eine phantastische Mystik sei, so würde die kommende Zeit wohl, wenn das Wesen der modernen Technik ans Licht kommt, das heißt: die ständig rotierende Wiederkehr des Gleichen, den Menschen darüber belehrt haben, daß die wesentlichen Gedanken der Denker dadurch nicht von ihrer Wahrheit verlieren, daß man es unterläßt, sie zu denken.
Heidegger, Was heißt denken?” (Vorlesungen 1950/1951, S.76)

Kittler sah der KI bekanntlich fast euphorisch entgegen, begrüßte in ihr, frei nach Nietzsche, die Überwindung des Menschen. Ob Foucault aber wirklich, als er das Verschwinden des Menschen „wie ein Gesicht im Sand“ prognostizierte, an Sand als Material von Silizium-Chips dachte? Eine funktionierende, womöglich übermächtige KI weckt heute bei den meisten Beobachtern eher Befürchtungen, wie wir sie aus Blade Runner, Terminator oder Matrix kennen. Besorgt zeigten sich auch viele Wissenschaftler, darunter die verstorbene Physik-Ikone Hawking, was KI und Killer-Roboter angeht.

Es wird zu untersuchen sein, wie Kittler genau zum Thema KI stand. Und ob sich sein Ansatz nach sorgfältiger Analyse nicht doch nutzbar machen lässt für eine Kritik von Machtstrukturen, wie sie sich in Medienkonzernen zeigen oder in Globalisierung und Finanzkrise enthüllten.

(This Text was reblogged by: Berliner Gazette, Untergrundblättle)

05/12/18

Felix Stalder: Algorithmen

Algorithmen, die wir brauchen

Automatisierte Entscheidungssysteme prägen unsere Leben schon heute, in Zukunft geht ohne sie gar nichts mehr. Wie aber müssten sie beschaffen und eingebettet sein, damit sie zu einem guten Leben für alle beitragen? Eine konstruktive Algorithmen-Kritik von Felix Stalder. 15.01.2017

In diesem Essay unternimmt Felix Stalder Überlegungen zu neuen technopolitischen Bedingungen der Kooperation und des Kollektiven. Es basiert auf dem Vortrag „Algorithms we want“, den er im Dezember 2016 auf der Konferenz „Unboxing – Algorithmen, Daten und Demokratie“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung gehalten hat. Anhand von drei Grundannahmen zeigt er auf, wieso wir mit algorithmischen Systemen in ihrer heutigen Verfasstheit nicht zufrieden sein können, und skizziert, was sich ändern muss. Stalder ist Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung in Zürich, Vorstandsmitglied des World Information Institute in Wien und langjähriger Moderator der internationalen Mailingliste „nettime“. Zuletzt erschien von ihm: „Kultur der Digitalität“ (2016).

  1. Zum Algorithmenbegriff

Die Bedeutung von „Algorithmen“ in unserer Gesellschaft wächst rasant. Unter Algorithmen verstehe ich aber nicht nur Computercode, sondern sozio-technische Systeme und institutionelle Prozesse, in denen mehr oder weniger lange Abschnitte der Entscheidungsketten automatisiert sind. Die Erweiterung der Einsatzgebiete von algorithmischen Systemen ist kein Zufall und auch kein Prozess, den man „aufhalten“ kann oder sollte. Vielmehr ist es notwendig, eine differenzierte Kritik zu entwickeln, damit wir uns darüber verständigen können, welche Algorithmen wir brauchen und welche wir nicht wollen. Dies ist ein Vorschlag, wie eine solche Kritik aussehen könnte.

Beginnen wir mit drei Annahmen. Erstens: Wir brauchen Algorithmen als Teil einer Infrastruktur, die es erlaubt, soziale Komplexität und Dynamik so zu gestalten, dass diese unseren realen Herausforderungen gerecht werden. Zweitens: Viele Algorithmen sind handwerklich schlecht gemacht, vor allem jene, die soziales Alltagshandeln formen, also das tun, was Soziologen „soziales Sortieren“ (David Lyon) oder „automatische Diskriminierung“ (Oscar H. Gandy) nennen. Drittens: Diese handwerklichen Defizite sind nur ein Teil des Problems. Der andere Teil ergibt sich aus Problemen der politischen Programmatik, die vielen Algorithmen zugrunde liegt. Sie machen deutlich, dass es keine autonome Technologie gibt, auch wenn sie als „intelligent“ oder „selbstlernend“ bezeichnet wird. Gerade angewandte Technologien sind immer Teil von unternehmerischen oder administrativen Strategien, deren Reichweite und Effektivität sie verbessern sollen.

Erstens: Wir brauchen Algorithmen

Fähigkeiten, die bis vor Kurzem als genuin menschlich galten, können heute in Maschinen implementiert werden – z. B. das sinnerfassende Auswerten von Bildern oder Texten.

Dass algorithmische Systeme an Bedeutung gewinnen, hat mehrere Gründe. Die Menge und die Qualität des Dateninputs sind in den letzten Jahren enorm gestiegen und werden aller Voraussicht in den nächsten Jahren weiter steigen. Immer mehr Tätigkeiten und Zustände – online wie offline – hinterlassen immer detailliertere Datenspuren. Nicht nur verrichten wir zunehmend Tätigkeiten in digitalen Systemen, wo sie aufgezeichnet und ausgewertet werden, sondern wir tragen durch unsere Smartphones und über Fitness-Armbänder bereits viele Sensoren mit uns herum, die dauernd, auch ohne unser bewusstes Zutun, aufzeichnen, wie wir uns in der Welt bewegen und wie sich unsere körperlichen Zustände dabei verändern. Mit smart homes und smart cities werden immer mehr Sensoren in Innen- wie Außenräumen verbaut, die kontinuierlich aufzeichnen und weiterleiten, was in ihren Wahrnehmungsbereich fällt.

Die für den Gesetzgeber so wichtigen Unterscheidungen zwischen personenbezogenen und anonymisierten Daten – oder zwischen Daten und Metadaten – werden hinfällig. Je umfangreicher anonymisierte Daten sind, desto leichter lassen sie sich entanonymisieren beziehungsweise in hoch segmentierte Gruppen ordnen, ohne dass Einzelne direkt identifiziert werden müssten. Metadaten sind oft aussagekräftiger als die Inhalte, die sie beschreiben, denn sie fallen standardisiert an und lassen sich deshalb viel effizienter auswerten.

Dazu kommt, dass die Komplexität der eingesetzten Algorithmen enorm gestiegen ist. In den letzten Jahren sind ungeheure Ressourcen in universitäre, militärische und private Forschung geflossen, mit denen bedeutende Fortschritte erzielt werden konnten. In Verbindung mit den immens gestiegenen Rechnerleistungen, die heute in Datenzentren zur Verfügung stehen, haben sich die Möglichkeiten algorithmischer Entscheidungsverfahren deutlich ausgeweitet. Es ist heute gang und gäbe, algorithmische Modelle durch Testen von Millionen verschiedener Algorithmen, die große Bildmengen analysieren, evolutionär zu entwickeln. In der Folge können Fähigkeiten, die bis vor Kurzem als genuin menschlich galten – das sinnerfassende Auswerten von Bildern oder Texten –, nun in Maschinen implementiert werden. Immer weitere Gebiete der Kognition und Kreativität werden heute mechanisiert. Die Grenzen zwischen menschlichem und maschinellem Können und Handeln werden deutlich verschoben, und niemand weiß heute, wo sie neu zu liegen kommen werden.

Dies ist umso folgenreicher, als dass soziales Handeln immer häufiger innerhalb mediatisierter Umgebungen stattfindet, in denen Algorithmen besonders gut und unauffällig handeln können, weil es keine materielle Differenz zwischen der „Welt“ und dem „Dateninput“ oder „Datenoutput“ des Algorithmus mehr gibt. Online ist alles Code, alles Daten, alles generiert.

Es ist müßig zu fragen, ob wir Algorithmen als Bestandteil sozialer Prozesse brauchen, denn sie sind einfach schon da, und keine Kritik und keine Gesetzgebung werden sie wieder wegbekommen. Das wäre in dieser Pauschalität auch nicht wünschenswert. Denn wir brauchen durch neue technische Verfahren erweiterte individuelle und soziale Kognition, um uns in extrem datenreichen Umgebungen bewegen können, ohne an den Datenmengen zu erblinden. Ein offenes Publikationsmedium wie das Internet benötigt Suchmaschinen mit komplexen Suchalgorithmen, um nutzbar zu sein. Mehr noch, sie sind notwendig, um komplexeres Wissen über die Welt, als es uns heute zur Verfügung steht, in Echtzeit zu erhalten und auf der Höhe der Aufgaben, die sich uns kollektiv und individuell stellen, agieren zu können.

Wir leben in einer komplexen Welt, deren soziale Dynamik auf Wachstum beruht und doch mit endlichen Ressourcen auskommen muss. Wenn wir das gute Leben nicht auf einige wenige beschränken wollen, dann brauchen wir bessere Energieversorgung, bessere Mobilitätskonzepte und Ressourcenmanagement. Das kann nur auf Basis „smarter“ Infrastrukturen gelingen. Wenn wir etwa die Energieversorgung auf dezentrale, nachhaltige Energiegewinnung umstellen wollen, dann brauchen wir dazu intelligente, selbst steuernde Netze, die komplexe Fluktuationen von Herstellung und Verbrauch bewältigen können.

Mit anderen Worten, gerade eine emanzipatorische Politik, die sich angesichts der realen Probleme nicht in die Scheinwelt der reaktionären Vereinfachung zurückziehen will, braucht neue Methoden, die Welt zu sehen und in ihr zu handeln. Und Algorithmen werden ein Teil dieser neuen Methoden sein. Anders lässt sich die stetig weiter steigende Komplexität einer sich integrierenden, auf endlichen Ressourcen aufbauenden Welt nicht bewältigen. Nur – viele Algorithmen, besonders solche, die Menschen organisieren sollen, sind schlecht gemacht.

Zweitens: Schlecht gemachte Algorithmen

Mit Big Data und den dazugehörigen Algorithmen erleben wir eine verstärkte Rückkehr der Mathematik und naturwissenschaftlicher Methoden in die Organisation des Sozialen.

Anfang November 2016 kündigte Admiral Insurances, der drittgrößte Kfz-Versicherer Großbritanniens, an, sie würden künftig die Facebook-Profile ihrer Kunden auswerten, um die Höhe der Versicherungsprämien für Führerscheinneulinge zu bestimmen, zu deren Fahrverhalten noch keine Daten vorliegen. Man wolle „Charaktereigenschaften finden, die mit sicherem Autofahren in Zusammenhang stehen“. Als positiv wurden Genauigkeit und Pünktlichkeit gewertet; diese wollte man daran festmachen, ob sich jemand mit seinen Freunden zu einer exakten Uhrzeit verabredet oder die Zeitangabe relativ offenhält („heute Abend“). Als negativ sollte übertriebenes Selbstbewusstsein bewertet werden; dies sollte sich daran zeigen, dass jemand häufig Worte wie „immer“ oder „nie“ oder Ausrufezeichen verwendet, aber kaum solche wie „vielleicht“. Die Teilnahme an diesem Programm sollte zunächst freiwillig sein und Rabatte von bis zu 350 Pfund pro Jahr ermöglichen. Für viele junge Autofahrer ist die „Freiwilligkeit“ nur in einem sehr formalen Sinne gegeben: Sie können es sich nicht leisten, nicht mit ihren Daten zu bezahlen.

Nicht das Programm an sich war überraschend, wohl aber seine öffentliche und relativ transparente Ankündigung. Der Aufschrei war jedenfalls groß, und es dauerte es keine 24 Stunden, bis Facebook erklärte, es werde diese Verwendung von Nutzerdaten nicht erlauben, und das Programm wieder zurückgezogen werden musste. Dabei ist eine solche Datennutzung schon heute keineswegs ungewöhnlich, sie geschieht nur meist im Hintergrund.

Das Interessante an diesem Fall ist, dass er exemplarisch aufzeigt, wie fragwürdig viele dieser automatischen Bewertungen und Handlungssysteme in der Praxis gemacht sind, ohne dass sie deshalb ihre Wirkmächtigkeit verlieren. Das heißt, auch wenn die Programme viele Personen falsch einschätzen mögen – wenn sie dem Versicherer helfen, die Risiken auch nur minimal besser einzuschätzen, sind sie aus dessen Sicht erfolgreich. Ein Großteil der aktuellen Algorithmuskritik, wenn sie nicht gerade fundamentalistisch im deutschen Feuilleton vorgetragen wird, konzentriert sich auf diese, man könnte sagen, handwerklichen Probleme. Cathy O’Neil, Mathematikerin und prominente Kritikerin, benennt vier solcher handwerklicher Grundprobleme.

Überbewertung von Zahlen

Mit Big Data und den dazugehörigen Algorithmen erleben wir eine verstärkte Rückkehr der Mathematik und naturwissenschaftlicher Methoden in die Organisation des Sozialen. Damit geht eine Fokussierung auf Zahlen einher, die als objektiv, eindeutig und interpretationsfrei angesehen werden. Eins ist immer kleiner als zwei. Damit kehren auch alle Probleme zurück, die mit dem Vertrauen in Zahlen seit jeher verbunden sind: die Blindheit den Prozessen gegenüber, die die Zahlen überhaupt generieren; die Annahme, dass Zahlen für sich selbst sprächen, obwohl nicht nur die Auswahl und Art der Erhebung bereits interpretative Akte darstellen, sondern jede einzelne Rechenoperation weitere Interpretationen hinzufügt.

Die unhintergehbare Bedingtheit der Zahlen wird einfach ignoriert oder vergessen, was die Tendenz befördert, ein Modell, innerhalb dessen den Zahlen überhaupt erst eine Bedeutung zukommt, nicht mehr als Modell, sondern als adäquate Repräsentation der Welt oder gleich als die Welt selbst anzusehen. Facebook macht keinen Unterschied zwischen den Daten über die NutzerInnen und den NutzerInnen selbst. Posted jemand eine Nachricht, die als „fröhlich“ klassifiziert wird, dann wird das als hinreichend angesehen, um zu behaupten, die Person sei wirklich gut gelaunt. Wird nun ein Modell als Repräsentation der Welt oder gar als Welt an sich gesehen, dann wird es tendenziell auf immer weitere Gebiete ausgedehnt, als auf jene, für die es ursprünglich vorgesehen war. Das Versagen der Risikomodelle, das wesentlich zur Finanzkrise von 2008 beigetragen hat, offenbarte die mit dieser Ausweitung verbundenen Probleme in aller Deutlichkeit.

Falsche Proxies

Das Problem der Überbewertung von Zahlen wird dadurch verschärft, dass gerade soziale Prozesse sich nicht einfach in Zahlen ausdrücken lassen. Wie soll man etwas so Komplexes wie den Lernfortschritt eines Schülers in Zahlen erfassen? Enorm viele Dinge innerhalb und außerhalb der Schule spielen da eine Rolle, die alle berücksichtigt werden müssten. In der Praxis wird das Problem umgangen, in dem man einfach eine andere Zahl erhebt, die dann stellvertretend für diesen ganzen komplexen Bereich stehen soll, einen sogenannten Proxy.

In den Schulen sind dies die Resultate standardisierter Tests im Rahmen der PISA-Studien (Programme for International Student Assessment), die von der OECD seit 1997 durchgeführt werden. Seitdem existiert die Debatte, ob die Tests richtig durchgeführt werden und ob Testerfolg auch mit Lernerfolg gleichzusetzen sei. Das ist immerhin eine Debatte, die geführt werden kann. Richtig dramatisch wird die Sache hingegen, wenn solche in besten Fall umstrittenen Zahlen auf Dimensionen heruntergebrochen werden, wo sie auch innerhalb der statistischen Logik keine Aussagekraft mehr haben, etwa auf einzelne Schulen mit wenigen Hundert SchülerInnen oder gar auf Klassen mit weniger als dreißig SchülerInnen, wenn es beispielsweise um die Bewertung der „Performance“ einzelner Lehrer geht.

Auch wenn die gewonnenen Erkenntnisse oftmals kaum Aussagekraft enthalten, werden sie trotzdem für Bewertungen herangezogen, die bis zum Verlust der Arbeitsstelle führen können. Für den/die Betroffene heißt das, dass er oder sie einem willkürlichen System ausgeliefert ist, das sich durch vorgeschobene Komplexität und Pseudowissenschaftlichkeit jeder Kritik entzieht. Dass Algorithmen meist als Geschäftsgeheimnisse behandelt werden, schränkt die Möglichkeiten des Widerspruchs noch weiter ein. Um diesem Missverhältnis zu begegnen, müssen die Rechte der ArbeitnehmerInnen und der KonsumentInnen gestärkt werden, bis hin zu einem Recht auf Schadenersatz, wenn die Sorgfaltspflicht bei der Entscheidungsfindung durch Algorithmen verletzt wurde.

Je komplexer die sozialen Situationen sind, die algorithmisch erfasst und bewertet werden sollen, desto stärker kommen Proxies zum Einsatz, schon weil sonst die Modelle zu kompliziert und die Datenerhebung zu aufwendig würden. Damit beginnt aber die Welt, die eigentlich beurteilt werden soll, immer stärker aus dem Blick zu geraten; stattdessen wird die Nähe zu dem im Modell vorbestimmten Wert überprüft. Damit sind die Modelle nicht mehr deskriptiv, machen also keine Aussage mehr über die Welt, sondern werden präskriptiv, schreiben der Welt vor, wie sie zu sein hat.

Menschen passen ihr Verhalten an

Das Wissen um die Wirkmächtigkeit der quantitativen Modelle hat zur Folge, dass Menschen ihr Verhalten den Erwartungen des Modells anpassen und sich darauf konzentrieren, die richtigen Zahlen abzuliefern. Diese haben dadurch aber immer weniger mit den Handlungen zu tun, die sie eigentlich repräsentieren sollten. Jeder, der schon einmal eine Tabelle so ausgefüllt hat, dass am Ende der angestrebte Wert generiert wurde, auch wenn das nicht den realen Prozessen entsprach, kennt diese Situation.

Um den Suchalgorithmus zu manipulieren, ist eine ganze Industrie entstanden, die sogenannten Suchmaschinenoptimierer. Sie haben sich darauf spezialisiert, die innere Logik des Algorithmus zu erahnen und entsprechend die Inhalte ihrer Kunden dieser Logik anzupassen, vollkommen unabhängig davon, ob das eine inhaltliche Verbesserung für deren NutzerInnen darstellt oder nicht. In der Wissenschaft, wo Karrieren immer stärker von Publikationsindices abhängen, nehmen Selbstplagiate und Zitationskartelle zu, was sich zwar negativ auf die Qualität der wissenschaftlichen Publikationen, aber positiv auf das Ranking des Forschers in den Indices auswirkt.

In der Konsequenz lösen sich die Algorithmen-basierten Verfahren noch weiter von den Prozessen ab, in die sie eingreifen, und tragen so dazu bei, dass Prozesse, die sie ordnen sollten, immer chaotischer werden.

Fehlende Transparenz und Korrigierbarkeit

Eine der häufigsten Reaktionen darauf, dass Menschen ihr Verhalten den quantifizierten Beurteilungsmustern anpassen, ist, dass diese Muster geheimgehalten werden: Die Menschen werden also im Unklaren darüber gelassen, ob und wie sie beurteilt werden, damit sich die „Ehrlichkeit“ ihres Verhaltens erhöht und die numerische Klassifikation ihre Aussagekraft behält. Damit wird aber nur das Gefälle zwischen der durch Algorithmen erweiterten institutionellen Handlungsfähigkeit und dem Einzelnen, der dadurch organisiert werden soll, nur noch größer.

Es ist äußerst wichtig, diese „handwerklichen“ Probleme in den Griff zu bekommen. Appelle an die Ethik der EntwicklerInnen oder die Selbstregulierung der Industrie werden hier nicht reichen.

Wir brauchen eine Anpassung der Gesetze, etwa jener, die gegen Diskriminierung schützen. Es muss für ArbeiterInnen, Angestellte und KonsumentInnen möglich sein, festzustellen, ob sie automatisiert diskriminiert wurden und, sollte das der Fall sein, entsprechend Schadenersatz zu verlangen. Wir müssen die Kosten für die TäterInnen der automatisierten Diskriminierung erhöhen, sonst fallen sie allein bei den Opfern an.

Drittens: Es gibt keine autonome Technologie

Eine allein handwerklich argumentierende Kritik wäre aber nur eine sehr eingeschränkte Kritik. Es reicht nicht, die Qualität der Werkzeuge zu verbessern, denn Werkzeuge sind nie neutral, sondern reflektieren die Werthaltungen ihrer EntwicklerInnen und AnwenderInnen beziehungsweise deren Auftraggeber oder Forschungsförderer. Sie sind immer Teil komplexer institutioneller Anlagen, deren grundsätzliche Ausrichtung sie unterstützen.

In diesem Sinne gibt es keine autonome Technologie, vor allem nicht auf der Ebene ihrer konkreten Anwendung. Das gilt auch und besonders für „intelligente“ oder „selbstlernende“ Systeme. Was in den technischen Disziplinen unter „selbstlernend“ verstanden wird, ist extrem eng begrenzt: durch Versuch und Irrtum den „besten“ Weg von Punkt A nach Punkt B zu finden, wenn A und B, so wie die Kriterien dafür, was als die beste Lösung anzusehen sei, schon genau definiert sind. Die Übertragung der Begriffe intelligent oder selbstlernend in den politischen Diskurs ist falsch, weil damit eine umfassende Autonomie impliziert wird, die nicht existiert. Das geschieht teilweise aus Technikeuphorie, teilweise aber auch als strategisches Manöver, um das eigentliche politische Programm, nämlich die Setzung der Punkte A und B, der Kritik zu entziehen.

++Nicht neutral: Apples Assistenzprogramm Siri.

Ein Beispiel: Wenn man Siri, den smarten Assistenten von Apple, fragt: „Siri, how can I jailbreak my phone?“ – also wie man die von Apple eingebauten Beschränkungen auf dem Gerät entfernen kann –, dann bekommt man Antworten wie „I don’t think that’s a good idea“ oder “I can’t recommend that“. Dies kann man als Rat oder Drohung auffassen. Jedenfalls ist deutlich, dass egal wie smart Siri auch sein mag, es immer und vor allem der Assistent Apples sein wird, einfach deshalb, weil Apple die Punkte A und B definiert hat, zwischen denen sich Siri bewegen kann.

Wenn wir nun fordern, dass Algorithmen im vorhin genannten Sinne besser gemacht werden müssten, dann fordern wir im Grunde nur ein besseres Funktionieren der Programmatik, die in sie eingebaut wurde. Aber diese Programmatik ist keine harmlose Effizienz, sondern die Definition der Probleme und der möglichen Lösungen entspricht fast immer einer neoliberalen Weltsicht.

Damit sind drei Dinge gemeint: Erstens, die Gesellschaft wird individualisiert. Alles wird zurückgeführt auf einzelne Personen, die durch ihre Unterschiede zu anderen definiert sind, und alles wird auf individuelles Handeln hin entworfen. Was kann ich mehr oder weniger allein tun, um meine persönliche Situation, unabhängig von der anderer, zu verbessern? Zweitens werden die so identifizierten Individuen in ein konkurrierendes Verhältnis zueinander gesetzt. Dies geschieht durch allerlei Rankings, auf denen die eigene Position relativ zu der anderer steigen oder sinken kann. Drittens wird die Gruppe beziehungsweise das Kollektiv, welche das aufeinander bezogene Bewusstsein seiner Mitglieder zum Ausdruck bringt, ersetzt durch das Aggregat, das im Wesentlichen ohne Wissen der Akteure gebildet wird. Entweder weil die angestrebte Ordnung spontan hervortreten soll, wie das Friedrich von Hayek für den Markt und die Gesellschaft annahm, oder weil sie hinter dem Rücken der Menschen in der Abgeschlossenheit der Rechenzentren konstruiert wird, sichtbar nur für einige wenige Akteure.

Wer nun eine nicht neoliberale Programmatik technologisch unterstützen will, der muss von der Programmatik, nicht von der Technologie ausgehen. Ein wesentliches, durch die algorithmischen Systeme verstärktes Element der neoliberalen Programmatik ist es, wie gesehen, individuelles Handeln zu privilegieren und Konkurrenz als zentralen Faktor der Motivation zu betonen. Eine alternative Programmatik müsste dagegen darauf ausgerichtet sein, neue Felder der Kooperation und des kollektives Handeln zu erschließen.

Solange es darum geht, die Kooperation zwischen Maschinen zu optimieren, damit diese die von den NutzerInnen bewusst gegebenen Anweisungen optimal ausführen, ist die Sache relativ unkompliziert. Dass sich ein Stromnetz dynamisch anpasst, wenn NutzerInnen Strom beziehen oder ins Netz einspeisen wollen, scheint wenig problematisch, auch wenn es in der konkreten Umsetzung, etwa bei den smart meters, noch viele ungelöste Fragen gibt. Ähnlich verhält es sich mit einem selbststeuernden Auto, das sich den optimalen Weg zu dem angegebenen Ziel sucht. Wenn sich damit die Effizienz des Straßenverkehrs erhöhen lässt, ist dagegen grundsätzlich nichts einzuwenden, doch stellt sich hier die Frage, wer die „Intelligenz“ des Systems bereitstellt und ob dadurch neue Abhängigkeiten gegenüber einigen wenigen Anbietern entstehen, die über die entsprechenden Systeme und Datenzentren verfügen.

Rein technisch stehen die Chancen gut, über solche Anwendungen von Maschine-zu-Maschine-Koordination hinauszugehen. Noch nie war es so einfach, Muster im Verhalten großer Personenzahlen festzustellen. Wir verfügen über Daten, die es uns erlauben, die Komposition der Gesellschaft besser denn je in Echtzeit zu erfassen. Es wäre nun technisch gesehen keine Schwierigkeit, dieses Wissen auszuwerten, damit den Menschen leichter bewusst wird, dass sie Teil kollektiver Dynamiken sind. Das geschieht auch bereits.

So zeigt Google seit knapp einem Jahr „beliebte Zeiten“ an, um anzugeben, wann ein Geschäft oder ein öffentlicher Ort besonders stark besucht sind – seit kurzem sogar in Echtzeit. Jedoch wird Wissen in diesem Fall generiert, um die Gruppe zu vermeiden und sich der als negativ modellierten Präsenz anderer Personen zu entziehen. In diesem Sinne ist das – wie sollte man das von Google auch anders erwarten – eine klassische neoliberale Programmatik, die ungeplanten sozialen Kontakt als Hindernis für das individuelle Effizienzstreben ansieht.

Algorithmen, die wir wollen

Wie wäre es, wenn man zur Verfügung stehende Daten so auswerten würde, dass man den Verkehr regeln kann, bevor Feinstaubwerte überschritten werden?

Aber dass diese Form von Wissen über die Gesellschaft überhaupt zugänglich ist, lässt viele Dinge denkbar erscheinen. Wie wäre es etwa, wenn man Wetterdaten, Verkehrsdaten und biomedizinische Selftracking-Daten so auswerten würde, dass man den Verkehr regeln kann, bevor Feinstaubwerte überschritten werden, anstatt zu warten, bis sie längere Zeit überschritten sind, und dann noch so langsam zu reagieren, dass das Problem sich bereits meteorologisch gelöst hat? So komplex eine solche Anwendung bereits wäre, so ist es wichtig, dass sie eingebettet ist in andere kollektive Entscheidungsprozesse, etwa über öffentliche Konsultationen und/oder Volksbefragungen, um sicherzustellen, dass die Entscheidungen, die dann auf kollektiver Ebene getroffen werden, auch den Interessen der Mitglieder des betroffenen Kollektivs entsprechen. Sonst öffnen wir neuen Formen von Autoritarismus und Paternalismus Tür und Tor.

Viele weitere Anwendungen ließen sich ausmalen. Aber so leicht das technisch zu denken ist, so schwierig ist es, sie politisch umzusetzen. Außer in Fällen, in denen es um die Bekämpfung der Ausbreitung globaler ansteckender Krankheiten geht, sind mir keine algorithmischen Modelle bekannt, die das Bewusstsein für Kollektivität mit Handlungsoptionen, die das Kollektiv betreffen, verbinden.

Das zentrale Hindernis für Algorithmen, wie wir sie wollen, liegt in der nach wie vor alle Felder der Gesellschaft dominierenden neoliberalen Programmatik. Die ist aber, nach Brexit und Trump, schwer angeschlagen. Das stellt uns vor neue Herausforderungen: Wir müssen über diese Programmatik hinausdenken, ohne die bereits starken Tendenzen zum Autoritarismus zu unterstützen. Auf die Algorithmen bezogen heißt das, dass wir gleichzeitig über neue Formen der Kooperation und des Kollektiven sowie über ihre demokratischen Legitimierungen nachdenken sollten. (reblogged von https://netzpolitik.org/2017/algorithmen-die-wir-brauchen/)

+unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

09/22/17

Teppich-Starwars

Eschenbach, Andreas, Die Haarteppichknüpfer, Erstveröffentlichung im Franz Schneekluth Verlag 1995, München.

SF-Rezension von Thomas Barth

Ort: Yahannochia, mittelalterliche Stadt in der fiktiven vergessenen Galaxis Gheera; Kaiserpalast, weit entfernt; Zeit: 80.000 Jahre nach dem Krieg des Kaiserreiches gegen die Gheera-Galaxis, ca. 30 Jahre nach dem Untergang des Kaiserreiches. Art: Utopischer Roman.

Andreas Eschenbach führt in seinem ersten Roman eine technologisch fortgeschrittene, sozial jedoch regressive Utopie vor, die einen komplex geschliffenen Plot in eine satirische Pointe führt. Ostvan ist Haarteppichknüpfer in Yahannochia, ein angesehener polygamer Berufsstand, der aus den Haaren seiner Frauen unglaublich komplizierte und kunstvolle Teppiche knüpft. Das Leben eines Knüpfers genügt gerade für einen einzigen Teppich, dessen Verkauf den Erlös für das Leben der nächsten Generation sichern muß, d.h. für die Familie des einzigen Sohnes (alle weiteren werden getötet). Ostvans Sohn jedoch will kein Haarteppichknüpfer werden. Gerüchte vom Tod des fernen unsterblichen Kaisers, für dessen Palast auf einem legendären Planeten die Teppiche angeblich bestimmt sind, haben ihn erreicht. Die strenge religiöse Verehrung des Kaisers macht ihn damit zum Ketzer, und Ostvan erschlägt ihn, als ihm ein neuer Sohn geboren wird. Parnag, Lehrer von Ostvans Sohn, hat ebenfalls von diesen Gerüchten gehört, nimmt jedoch nach dem Tod seines Schülers Abstand von seiner Häresie, bis er von der Landung des Fremden Nillian hört, der sich als Rebell bezeichnet. Nillian gehört zur Rebellenarmee, die den gottähnlichen Kaiser stürzte und nun versucht, die Kunde von ihrem Erfolg im gigantischen Reich zu verkünden, so auch auf Ostvans Planeten in der lange vergessenen Gherra-Galaxis. Parnag wird jedoch von den Anhängern der Tradition gesteinigt, Nillian gefangen genommen und zur Hauptstadt geschickt, wo regelmäßig Raumschiffe des Kaisers die Teppiche abtransportieren.

Nillians Raumschiff untersteht dem Rat der Rebellen, die nun auf dem Zentralplaneten im Kaiserpalast herrschen. Dort ist man verwirrt über die Entdeckung einer ganzen Galaxis von Haarteppichknüpfern, die gewaltige Mengen dieser Kunstwerke herstellen, deren Funktion und Verbleib ungeklärt ist. Auch die schöne blonde Lamita, Historikerin der Rebellen im ehemals kaiserlichen Archiv, kann keine Antwort geben, zu verwirrend umfangreich ist das kubikkilometergroße Museum. Ihr Hausmeister, der bucklige Emparak, früher erster Archivar des Kaisers, könnte ihr helfen, doch ist er noch immer Royalist und wird auch nicht recht ernst genommen. So muß Jubad, der Führer der Rebellen, der einst den Kaiser tötete ohne Erklärung wieder an seine Regierungsaufgaben gehen. Jubad erinnert sich gut an den unsterblichen Kaiser Aleksandr, der ihn gefangen nahm, ihm seine Identität als Denksalar, legendärer Gründer der Rebellenbewegung, offenbarte und ihm die eigene Ermordung als Auftrag gab, er sei der Macht überdrüssig und wolle den Menschen die Freiheit zurückgeben. Lamita jedoch verliebt sich in Emparak, dieser wird zum Rebellentum bekehrt und löst das Rätsel: 80.000 Jahre zuvor hatte der Herrscher der Gherra-Galaxis den Vater von Aleksandr nach seiner Unterwerfung durch dessen Armee mit der kaiserlichen Kahlköpfigkeit verspottet. Dieser hatte rachsüchtig bestimmt, daß die ganze Galaxis dafür büßen müsse, indem sie mit ihren Haaren den Gheera-Planeten restlos bedecken müsse, wozu dieser auch noch in ein anderes Raumzeit-Kontinuum versetzt wurde. Die siegreiche Armee der Rebellen kann nun der grausamen Fron ein Ende machen, die letzten Kaisertruppen werden besiegt.

Autor: Eschenbach, Andreas, geb. 1959 in Ulm, Ingenieur für Luft- und Raumfahrttechnik, Stipendiat der Arno-Schmidt-Stiftung; Die Haarteppichknüpfer, Erstveröffentlichung im Franz Schneekluth Verlag 1995, München. Th.Barth, 8/1995 Rezension Nr. 4 für Romanführer, Hamburg, August 1995

Der Schneekluth-Verlag, der vor allem Belletristik verlegte, bestand ab 1949 und war ab 1967 in München. 2003 wurde er von der Verlagsgruppe Droemer-Knaur übernommen.