10/1/25

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus?

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung. Brandes & Apsel, Frankfurt 2024, 199 S., 29,90 EUR

Rezension von Thomas Barth

Investigativ-Journalismus ist bedeutsam für das Selbstbild des Journalismus und der westlichen Gesellschaften, als Kampf um Wahrheit im Namen der Demokratie. Nur wenn das Wahlvolk auch über zweifelhafte Machenschaften der eigenen Regierungen und Mächtigen informiert ist, kann man von wirklich demokratischen Wahlen sprechen. Die Freiheit der Medien und damit der Wahlen wird regelmäßig in nicht-westlichen, autokratischen Ländern angezweifelt, von denen sich der Westen gerne abgrenzt. Umso schwerer wiegt Kritik an mangelhafter Freiheit unserer westlichen Medien, zumal wenn sie von renommierten Insidern kommt wie dem berühmten ARD-Mann Wolfgang Landgraeber. Er dokumentiert Manipulation, Überwachung und Verfolgung, denen unsere Medien seitens der Mächtigen ausgesetzt sind und schrieb selbst Mediengeschichte als Mitautor des Buches „Das RAF-Phantom. Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen brauchen“. Landgraeber beschreibt im vorliegenden Buch, wie er (und viele andere) während der Recherchen zu bzw. der Publikation von „Das RAF-Phantom“ Ziel von Bespitzelung, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen und Strafverfolgung wurden. Er schreckte bei Recherchen nie vor Spuren zurück, die in Richtung von Geheimdiensten auch des eigenen Landes führten, was viele Vertreter seiner Zunft zu sofortigem Verstummen bzw. zur Flucht in vernebelnde Narrative von angeblichen „Verschwörungstheorien“ geführt hätte. An zahlreichen weiteren, wenn auch meist weniger bedeutenden Enthüllungen werden staatliche Eingriffe in die Pressefreiheit dokumentiert, von denen Medienkonsumenten meist wenig oder gar nichts erfahren haben dürften.

Autor, Gastbeiträger und Hintergrund

Wolfgang Landgraeber studierte Sozialwissenschaften, Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik, war vielfach preisgekrönter Redakteur bei den seinerzeit bedeutsamen ARD-Polit-Magazinen „Monitor“ (1976-88, Grimme-Preis 1985) und „Panorama“ (1988-93), oft mit Rüstungs-, Militär- und Geheimdienstkritik (etwa „Die Zerstörung der RAF-Legende“, ARD 1992), in seinem mit Ekkehard Sieker und Gerhard Wisnewski verfassten Buch „Das RAF-Phantom. Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen brauchen“ wurde die offizielle Geschichte der Terrorgruppe „Rote Armee Fraktion“ in Frage gestellt: Ab der sog. „3.Generation der RAF“ (80er Jahre) sei sie als unterwandert bzw. von deutschen Behörden und verbündeten Geheimdiensten (CIA) instrumentalisiert zu betrachten; ihre Terroranschläge seien im Zusammenhang mit anderen infiltrierten Terrorgruppen und dem geheimen „Stay-Behind-Netzwerk“ der Nato zu sehen, aufgeflogen 1990 als „Gladio“-Skandal. Das Buch und das daran anschließende Nachfolgewerk „Operation RAF“ wurden Bestseller und sogar als Polit-Thriller „Das RAF-Phantom“ verfilmt –was leider zur Mystifizierung der Thematik beitrug. Viele Schlussfolgerungen und Verdachtsmomente erwiesen sich jedoch im weiteren Verlauf der Aufklärung von „Gladio“ als stichhaltig.Später beförderte die ARD Landgraeber zum WDR-Leiter für Kultur- und Naturdokumentationen; ferner war Landgraeber von 1982-2022 Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen. Seine Gastbeiträger sind die ebenfalls investigativ-sozialkritischen Dokumentarfilmer Peter Heller und Gert Monheim ( Ex-WDR-Redakteur).

Inhalt

Das Buch gliedert sich in Vorwort und 15 Kapitel in historischer Reihenfolge, die zumeist der Biografie Landgraebers folgen. Im Vorwort relativiert Landgraeber aktuelle Aufregungen um rechtsradikale Attacken auf Journalisten, die etwa von Demonstrationen gegen Migration berichten und dabei beleidigt, angespuckt und geschlagen wurden. Dies sei „alles schon mal dagewesen“, 1977 sei etwa ein WDR-Team mit einem angespitzten Baumstamm von Rechtsextremen angegriffen worden (S.7). In Demokratien müsse freier, unabhängiger Journalismus immer gegen Widerstand erkämpft werden. Landgraeber beginnt in Kapitel 1 historisch mit dem Kampf um eine Neuordnung von Presse und Rundfunk nach Nazidiktatur und gleichgeschalteten Medien: 1947 kam Augsteins „Spiegel“, 1950 die ARD. 1960 versuchte der damals bereits elf Jahre regierende CDU-Bundeskanzler Adenauer ein Privatfernsehen zu installieren, mit einem Unterhaltungschef namens Helmut Schreiber, der Hitler und Goebbels nahegestanden haben soll (S.13). SPD-geführte Bundesländer verhinderten dies zwar vor dem Bundesverfassungsgericht, aber Adenauer installierte stattdessen das CDU-nahe ZDF.

Kapitel 2 erörtert die (parteipolitische) Ausgewogenheit der Polit-Magazine: „Report München“ und „ZDF-Magazin“ auf CDU/CSU-Linie, „Kennzeichen D“ und „Monitor“ liberal, „Panorama“ SPD-nah -so war die politische Geometrie des Fernsehens austariert als Landgraeber 1976 bei „Monitor“ startete; dass manche Kollegen bei ARD und ZDF die Karriere ihrem roten oder schwarzen Parteibuch verdankten, war bekannt (S.146). Man kritisierte Bayerns CSU-Chef und Verteidigungsminister Franz Josef Strauss und seine Starfighter-Affäre (116 Piloten starben bei Abstürzen des mangelhaften Kampfjets der Bundeswehr): Eine „Frühform des Investigativjournalismus im Deutschen Fernsehen“ (S.23). Landgraeber erlebte dort einen Fall von Zensur, als „Monitor“ vom Chefredakteur Theo M.Loch (CDU) genötigt wurde, eine Atomkritikerin aus einem TV-Bericht über die Brokdorf-Demonstrationen zu entfernen; Loch wurde danach jedoch selbst schnell aus dem Amt geworfen, weil jemand recherchiert hatte, dass er bei Einstellung seine Mitgliedschaft in Hitlers Waffen-SS verschwiegen hatte (S.25).

Kapitel 3 „Selbst erlebte Beispiele staatlicher Eingriffe in die Medienfreiheit“ beschreibt drastisch, wie Landgraeber selbst Ziel von Strafverfolgung wurde, eine frühmorgendliche Razzia nebst Beschlagnahme von Recherche-Material erlebte, Hausdurchsuchungen auch bei seinen Co-Autoren Ekkehart Sieker und Gerhard Wisnewski sowie beim WDR, der Vorwurf: „Beihilfe zum Geheimnisverrat“. Dem Autorentrio gelang u.a. den Kronzeugen der Anklage gegen die RAF im Fall des Mordes am Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen zu interviewen; Siegfried Nonne , ein depressiver Drogenabhängiger, dementierte vor ihrer Kamera, je Mitglied oder Helfer der RAF gewesen zu sein, vielmehr hätten Agenten des hessischen Verfassungsschutzes ihn durch eine „verhüllte Morddrohung“ zu dem falschen Geständnis genötigt (S.33). Die Staatsanwaltschaft verteidigte ihre Ermittlungen gegen die Autoren vor der empörten Presse damit, Deckung durch die hessischen Innen- und Justizminister zu haben. Die Strafverfolgung wurde eingestellt. „Auch gegen den angeblichen Kronzeugen Siegfried Nonne wurde wegen Beihilfe zum Mord nicht weiter ermittelt. Er ist inzwischen verstorben.“ (S.34)

Auch Kapitel 4 dokumentiert, wie Mächtige in Staat, Politik und Rundfumkanstalten die Medienfreiheit behindern, im Kontext der Barschel –Affäre wurde etwa in die Wohnung Landgraebers eingebrochen, seine Akten durchwühlt (S.38); Parteipolitiker drangsalierten und zensierten kritische Sendungen. Kapitel 5 „Filmemacher unter dem Druck von Großkonzernen“ bringt die beiden Gastbeiträge: Peter Heller kritisiert den Fast-Food-Konzern McDonald’s der gegen eine Kampagne von Greenpeace klagte, die seinen Film „Dschungelburger“ verwendet hatte; Gert Monheim berichtete unter Attacken seitens CDU-Politikern über gefährliche Giftmülldeponien und Chemikalien der Unternehmen Bayer und BASF.

Kapitel 6 „Journalisten-Blocker“ erwähnt „die Enthüllungsplattform Wikileaks“ (nur ein einziges Mal im ganzen Buch, obgleich sie im investigativen Mediensektor eine immense Rolle spielt) im Fall der Schweizer Großbank Julius Bär; deren Whistleblower Rudolf Elmer konnte bei deutschsprachigen Medien nirgends Gehör finden mit seiner Enthüllung von Geldwäsche auf den Caymans, wurde von seinem Arbeitgeber und der Polizei verfolgt, saß unschuldig 220 Tage in U-Haft (S.85). Erst Wikileaks brachte seine Entlastung durch Publikation der geleakten Bank-Dokumente von Elmer; weitere Enthüllungen folgten in den „Suisse Secrets“-Leaks diverser Medien (nur nicht denen der Schweiz). Bank-, Firmen- und Militärgeheimnisse seien wichtige Hindernisse für freien Journalismus.

In den Kapitel 7-9 berichtet Landgraeber von eigenen Enthüllungserfolgen gegen Rüstungsfirmen, Biowaffen, Argentiniens Militärjunta (getarnt als Militärhistoriker Leutnant Landgraeber), um in Kapitel 10 zum „Abhörfall Günter Wallraff“ zu kommen. Herausragender Akteur seiner Zunft ist der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff, nachdem man sogar vom „Wallraffen“ spricht und damit besonders gewagtes Recherchieren meint: Undercover Einsätze, maskiert, mit falscher Biografie. Wallraff entlarvte deutschen Alltagsrassismus in der Rolle eines türkischen Gastarbeiters oder Schwarzafrikaners, deckte skrupellose Methoden der „Bild“-Zeitung auf –und wurde Ziel auch von illegalen Lauschangriffen. Ob Geheimdienste der „Bild“ gegen Wallraff halfen, bleibt unaufgeklärt; Wallraffs Kronzeuge für das Abhören, der „Bild“-Redakteur Heinz Willmann wurde vom Springer-Verlag gefeuert weil er auspackte, danach noch mehrfach von Unbekannten zusammengeschlagen und schließlich 1980 tot in seiner Wohnung aufgefunden. „’Natürliche Todesursache‘ stand im Obduktionsbericht. Wallraff hielt Willmanns Tod dagegen für Mord.“ (S.141) Kapitel 11 widmet sich Journalisten, „die sich kaufen lassen oder mit Geheimdiensten kungeln“, allen voran der „Quick“- und „Focus“-Reporter Wilhelm Dietl, der als Experte für Terrorismus und Geheimdienste auftrat, aber zugab, dass er lange auch im Sold des BND stand (S.149) und dessen dubiose Rolle schon im Buch „Das RAF-Phantom“ kritisiert wurde. BND-Mann Dietl kommentierte im Fernsehen auch Terrorakte der RAF, hinter denen Landgraeber et al. den BND vermuteten. Jahrelang bespitzelt wurde dagegen der unbestechliche Geheimdienst-Experte Erich Schmidt-Eenboom, was Landgraeber durch eigene Erfahrungen mit „Knacklauten“ im Telefon im Rahmen seiner eigenen „RAF-Phantom“-Recherchen unterstreicht (S.150).

Kapitel 12 „Wenn Propagandalügen große Kriege auslösen“ arbeitet sich durch die Historie von Bismarck und Wilhelm Zwo zu Hitler und Vietnamkrieg; dann folgen die „Brutkastenlüge“ vom Ersten Golfkrieg und das „Märchen von den irakischen Massenvernichtungswaffen“ vom Zweiten Golfkrieg, um zu Putins (von Jelzin begonnenen) Tschetschenienkrieg zu kommen, dessen Wiederaufnahme durch vier tschetschenische Bombenanschläge mit Hunderten Opfern gerechtfertigt wurde –russische Geheimdienste, Militärs und Rüstungsfirmen kämen aber als Hintermänner in Betracht; danach geht es um die „Lüge von den Faschisten in der Ukraine, die Russland zum Verteidigungskrieg zwingen“ (S.176), ob diese Faschisten nicht existieren oder sie lediglich Putin nicht zum Krieg gezwungen haben, bleibt bei Landgraeber unklar; Soziale Medien würden Propaganda verbreiten, aber etwa die investigative Plattform „Bellingcat“ habe auch russische Fakenews bekämpft. Landgraeber holt dann weiter aus, um die Geschichte der „false flag“-Operationen zu erörtern; 1998 seien Dokumente der CIA und des US-Militärs ans Licht gekommen, die den Plan eines General Lemnitzer enthüllten, 1962 in der Kuba-Krise Terrorangriffe auf das eigene Land auszuführen; durch politische Morde, die den Kommunisten angehängt werden sollten, wollte man die US-Öffentlichkeit kriegsbereit gegen Kuba bomben, doch Präsident Kennedy lehnte dies ab (S.179ff.). Kapitel 13-15 beschreiben die „Medienfreiheit in Gefahr“ durch zunehmende Überwachung (unter knappem Verweis auf die Leaks von Edward Snowden sowie die „erkennungsdienstliche Behandlung bei uns Autoren des Buches Das RAF-Phantom“, S.185) und Gewalt, etwa Fußtritte in Berlin und Sachsen oder tödlichen Beschuss durch israelisches Militär im Libanon (S.190); abhelfen könnten heute jedoch auch Recherche-Netzwerke wie GN-STAT (Global Net Stop the Arms Trade) oder ICIJ (International Consortium of Investigatve Journalists) die gegen Waffenhandel und sonstige Wirtschafts- und Steuerkriminalität ermitteln (S.195).

Diskussion

Paradebeispiel für unerschrockenen Journalismus ist (nicht nur) für Landgraeber der berühmte Reporter Günter Wallraff . Der kettete sich z.B. 1974 todesmutig als „Fabrikarbeiter Hans Wallraff“ in Athen an und protestierte gegen die dortige Militär-Diktatur (vgl. Spoo/Wallraff S.67), und ist auch hier ein kämpferisches Vorbild. Auch Landgraeber beklagt sich zu Recht und wohlbegründet über zunehmende Gängelung der Medien, doch klaffen in seiner Darstellung doch auch einige Lücken. Sehr engagiert kritisiert Landgraeber verdeckte Krieg und Putsche, für die die CIA verantwortlich zu machen ist, in Guatemala, Iran, Chile. „Insgesamt waren es 211 Umstürze und verdeckte Krieg allein in Lateinamerika.“ (S.181) Doch scheint Landgraeber nie von der „Jakarta-Mehode“ gehört zu haben, nach der dieser Staatsterrorismus seit 1965 weltweit organisiert wird (vgl. Vincent Bevins 2023). Auch was die in diesem strategischen Zusammenhang in Europa aktiven „Gladio“-Strukturen angeht, ist Landgraeber wohl nicht mehr auf dem neuesten Stand, was seine Bücher und Dokumentarfilme zum „RAF-Phantom“ noch in Anspruch nehmen konnten (vgl. Ganser).

Was die juristische Seite des Journalismus angeht, lobt Landgraeber zwar die Entschärfung des für Enthüllungs-Reporter gefährlichen Paragrafen 353b StGB (Dienstgeheimnis/Beihilfe zum Geheimnisverrat) anno 2010 (S.35), übersieht jedoch die Verschärfung von 130 StGB (Volksverhetzung), die –freilich öffentlich kaum beachtet- am 20.10.2022 den Bundestag passierte: Sie stellt neben dem bisherigen Tatbestand des Anstachelns von Hass und Pogromen im Inland nunmehr auch „das öffentliche Billigen, Leugnen und gröbliche Verharmlosen“ von Völkermord und Kriegsverbrechen unter Strafe; laut dem Kritiker Stefan Luft zielt das Gesetz auf „das Leugnen von Verbrechen im Ukraine-Krieg“ worin der Strafrechtler Gerhard Strate die Gefahr einer gefährlich schwammigen „Gesinnungsjustiz“ sieht, die womöglich Gegenstimmen zu Nato-Narrativen über Russland disziplinieren soll -und damit einer dringend nötigen Entspannungspolitik entgegen steht (Luft S.312).

Ex-Gesundheitsminister Spahn bei zweifelhaften Geschäften anzuprangern mag politisch relevant sein (S.155), aber dafür übersieht Landgraeber das zweifelhafte mediale Agieren des damaligen CDU-Steuerexperten und heutigen Kanzlers Friedrich Merz im Sinne der Finanzkonzerne in der Finanzkrise 2008 (vgl. Barth 2009). Die wachsende Dominanz privater Medien als Blocker für Aufklärung und Medienfreiheit kommt ebenfalls zu kurz (vgl. Spoo 2006). Auch ein hochmotivierter Journalist kann zwar nicht alles wissen, aber einige Lücken Landgraebers verblüffen doch: Darf man heute noch über die abnehmende Glaubwürdigkeit unserer Qualitätsmedien räsonieren, ohne ein einziges Mal den Relotius-Skandal zu erwähnen? Kein ARD-Polit-Magazin oder Investigativ-Recherche-Netzwerk kam den massenhaften, vielfach mit Journalismus-Preisen überhäuften Lügen auf die Schliche, sondern der von Relotius unkollegial behandelte Ko-Autor einer Reportage, Juan Moreno (vgl. Moreno 2019). Oder den ARD-Framing-Skandal um die Manipulations-Expertin Elisabeth Wehling, die für ein fünfstelliges Honorar der ARD erklärte, wie sie ihre Zuschauer noch effektiver mit „Narrativen“ einwickeln kann? (Anstatt sie auf Basis sauberer Recherche mit ausgewogener Information zu versorgen.) Und wenn man zwar anhand des Geheimdienst-Experten Erich Schmidt-Eenboom die Verwicklung von Journalisten in Geheimdienste kritisiert, darf man dann aber dessen einschlägiges Buch verschweigen: „Geheimdienst, Politik und Medien. Meinungsmache UNDERCOVER“ (2004), wo über diese für Landgraebers Thema so fundamental wichtige Problematik doch umfassend aufgeklärt (!) wird?

Hat dieses verschwiegene Buch von Erich Schmidt-Eenboom womöglich ein in (fast) allen Medien tabuisiertes Thema zu deutlich behandelt: Dass besonders die westdeutsche Kulturszene und insbesondere Publizisten und Journalisten bereits seit den 1950er-Jahren Ziel korrumpierender CIA-Geldflüssen sind? (vgl. Saunders: CIA & Arts & Letters) Trotz immenser kulturhistorischer und politischer Bedeutung wird der CCF („Congress for Culturel Freedom“, manchmal auf „Conference“) nach Kräften beschwiegen, abgesehen von wenigen halbversteckten und kaum wahrgenommenen (siehe Landgraeber!) Feigenblatt-Artikeln, wie jenem im DLF, den hauptsächlich störte, die üppig mit CIA-Dollars, Kaviar und Luxushotelzimmern geschmierten Publizisten könnten nicht antikommunistisch genug gewesen sein („geldgierige wie ruhmsüchtige Lumpenkünstler und Lumpenintellektuelle, die sich das antikommunistische Mäntelchen lediglich aus Verkaufsgründen umhingen“ DLF). Der CIA schuf jedoch zum Zweck der Kontrolle und der Infiltration des westlichen Kulturbetriebs den CCF und viele namhafte Publizisten zogen in den intellektuellen Kampf gegen die Sowjets: Besonders effektiv waren die linksliberalen, sozialdemokratischen, sozialistischen Antikommunisten. Die meisten von ihnen hatten (angeblich) keine Ahnung, von wem ihr Geld wirklich kam, obwohl sie es sich hätten denken können. Mehrfach angeblich eingestellt, dürfen wir vermuten, dass dies Programm oder ähnliches weiterläuft, vermutlich inzwischen digitalisiert.

Wenn Landgraeber die Digitalisierung mit zunehmender Überwachung und Drangsalierung von Journalisten verbunden sieht (S.157), liegt er richtig, hätte aber genauer über die Verbindung des von ihm herbei zitierten Edward Snowden (S.183) mit Wikileaks recherchieren sollen; dessen Team hatte u.a. Snowdens Flucht ins russische Asyl organisiert. Insbesondere entgeht Landgraeber überhaupt die für Aufklärungs-Journalismus enorme Bedeutung von Wikileaks (WL), wenn er einzig die Julius-Bär-Enthüllung nennt; die wurden 2008 hierzulande aber kaum wahrgenommen. Wichtiger wären ohnehin WL-Enthüllungen zum Toll-Collect-Skandal und der Kaupting Bank gewesen, die während der Finanzkrise 2009 in Reykjavik eine Regierung stürzten. Erst am 5.April 2010 kam Wikileaks bekanntlich erstmals in die ARD-„Tagesschau“, mit kurzen Auszügen aus dem Video „Collateral Murder“, das WL-Gründer Julian Assange weltberühmt machte. Es zeigt den kaltblütigen Mord an Journalisten in Bagdad durch Beschuss aus einem US-Kampfhubschrauber und den hinterhältigen Angriff auf eine Familie mit kleinen Kindern, die den Opfern zu Hilfe kommen wollten: Bilder, die die Welt ähnlich erschütterten wie in den 1970ern das kleine von Napalm verbrannte Mädchen als Symbol der Brutalität des Vietnamkriegs.

Landgraeber aber erwähnt „Collateral Murder“ nicht, obwohl diese historische Sternstunde des Enthüllungs-Journalismus durchaus in sein Kapitel über Tötungen von Reportern gepasst hätte. Weitere Leaks aus Militärdaten zu Kriegsverbrechen v.a. der USA in Irak und Afghanistan folgten bei WL (eigentlich in bester Landgraeber-Manier). Sie wurden begleitet von einer politischen Hetzjagd auf Assange, basierend auf falschen Beschuldigungen und der Konstruktion eines „Vergewaltigungsverdachts“ –eine Geheimdienst-Justizintrige, wie später zwar herauskam, aber durch fadenscheinige Nicht-Berichterstattung von unseren Medien bis heute verschleiert wird. All dies hätte einem Buch über Investivjournalismus sehr gut angestanden, aber Landgraeber unterliegt hier leider der Verdunkelungstaktik unserer Medien und übergeht eine Richtigstellung des jahrelangen medialen Rufmordes an seinem Enthüller-Kollegen Julian Assange; vgl. Nils Melzer (Jura-Professor und langjähriger UNO-Beauftragter für Folter), der 2021 eine weitgehend ahnungslose deutsche Öffentlichkeit über diese besonders heimtückische Intrige gegen den vielleicht bislang erfolgreichsten Enthüllungs-Journalisten umfassend aufklären (!) wollte. Melzer wurde aber medial derart totgeschwiegen bzw. angefeindet, dass seine akribischen Recherchen im „Fall Assange“ bis heute bislang nahezu unbekannt blieben.

Dies mag einerseits auf den Einfluss von Geheimdiensten auf unsere Medien, wie z.B. von Schmidt-Eenboom beschrieben zurückgehen; andererseits verdunkeln unsere Medien dabei auch ihre eigene Mitverantwortung. Denn der UNO-Folter-Experte Melzer begründet ausführlich, warum die von unseren Medien weitgehend kritiklos (Ausnahme vgl. etwa Rueger) transportierte Rufmord-Kampagne gegen Assange als Teil der an ihm verübten seelischen Folter zu bewerten ist (vgl. Melzer S.90ff.). Damit wäre auch jede ARD-Meldung zu Assange, die seinen Namen mit dem geheimdienstlich konstruierten „Vergewaltigungsverdacht“ verbindet, nicht nur Teil der politischen Verfolgung eines Journalistenkollegen, sondern sogar Teil der an ihm begangenen Folter (verständlich, dass man diese Kritik lieber totschweigen möchte). Ziel war aber nicht nur die psychische Zerstörung von Julian Assange, sondern auch die mediale Zerstörung von Wikileaks und die Neutralisierung seiner Enthüllungen (von denen viele der Öffentlichkeit auch unbekannt blieben): Es geht also bei Melzer um genau die Art von geheimdienstlicher Manipulation der Öffentlichkeit, die Landgraeber in seinem vorliegenden Buch angeprangert hat.

Fazit

Landgraeber sieht den kritischen Journalismus als unverzichtbare Säule der Demokratie und plädiert für mehr Mut, Unabhängigkeit und Aufklärung. Sein Buch dokumentiert die Einmischung staatlicher, politischer und wirtschaftlicher Akteure, um kritischen Journalismus zu verhindern -leider nur unter bestenfalls nebelhafter Andeutung des diesbezüglich bedeutsamsten Falles: Julian Assange und Wikileaks. Es richtet sich an Medienschaffende und alle, die sich für die Zukunft der demokratischen Meinungsbildung interessieren.

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung, Brandes & Apsel (Frankfurt) 2024. 199 Seiten. ISBN 978-3-95558-376-7. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

Eine gekürzte Fassung dieser Rezension erschien auf socialnet 19.403 Zeichen, vgl. Landgraeber-Rezension von Arnold Schmieder, socialnet 20.12.2024 (Umfang 20.023 Zeichen), die nahezu alle kritischen Enthüllungen von Landgraeber ausspart, sich der Bedeutung von „Das RAF-Phantom“ scheinbar nicht bewusst ist und sich stattdessen über den Begriff „Aufklärung“ und der Philosophie Immanuel Kants verbreitet (nichts gegen Kant, aber hier wirkt das wie entpolitisierende Ablenkung vom regierungskritischen Kern der Arbeit Landgraebers).

Quellen

Barth, Thomas: Finanzmafia, Lobby und ihr medialer Nebelschirm, in: Elmar Altvater: Privatisierung und Korruption. Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S.75-81.

Bevins, Vincent: Die Jakarta Methode. Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt, Köln 2023.

Ganser, Daniele: NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, Zürich 2018 (14.Aufl., Original 2005).

Landgraeber, Wolfgang, Ekkehard Sieker, Gerhard Wisnewski: Das RAF-Phantom. Neue Ermittlungen in Sachen Terror, München 1992.

Landgraeber, Wolfgang: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung, Frankfurt/M. 2024.

Luft, Stefan: Deutschland und der Krieg, in: Sandra Kostner und Stefan Luft: Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, Frankfurt/M. 2023, S.309-329.

Melzer, Nils: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung, München 2021.

Moreno, Juan: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus, Berlin 2019.

Rueger, Gerd R.: Julian Assange – Die Zerstörung von Wikileaks, Hamburg 2011.

Saunders, Frances Stonor: The Cultural Cold War: The CIA and the World of Arts and Letters, New York 2000, (free PDF) Originally published in the United Kingdom under the title “Who Paid the Piper?“ by Granta Publications, 1999 (dt. Wer die Zeche zahlt)

Schmidt-Eenboom, Erich: Geheimdienst, Politik und Medien. Meinungsmache UNDERCOVER, Berlin 2004.

Spoo, Eckart, Günter Wallraff: Unser Faschismus nebenan. Erfahrungen bei Nato-Partnern, Reinbek 1982.

Spoo, Eckart: Pressekonzentration und Demokratie, in: Thomas Barth (Hg.), Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S.23-48.

11/9/24

Gerd Schumann: Patrice Lumumba

Rezensent: Thomas Barth

Gerd Schumann: Patrice Lumumba, Papyrossa Verlag, Köln 2024, 135 Seiten, 12,00 Euro

Patrice Lumumba war der erste freigewählte Premier der 1960 befreiten belgischen Kolonie Kongo, damals und noch mehr heute eine Schatzkammer an bedeutenden Rohstoffen: Coltan, Kobalt, Uran, Kupfer. Lumumbas immense historische Bedeutung ist hierzulande weitgehend unbekannt, was der Kolonialismus-Experte Gerd Schumann mit seiner Biographie des großen Staatsmannes ändern will.

Die Handels- und Ausbeutungsnetze des Kolonialismus gingen den Medien- und Kommunikationsnetzen der heutigen Digitalkultur voraus und sind ihr ökonomisch, politisch und technologisch verbunden. Rassistische Propaganda und Desinformation über koloniale Verbrechen flankieren bis heute die Ausplünderung des Südens („Dritte Welt“) durch den Westen (die „liberalen Demokratien“) medial.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir in unserem Mediensystem und auch in unserer historischen Literatur sehr viel über die Verfehlungen und Verbrechen nichtwestlicher Länder hören. Vorzugsweise trifft die Kritik solche Länder, die sich dem Westen widersetzten, besonders wenn sie sich selbst auch noch „sozialistisch“ nennen oder nannten. Sehr viel weniger hören wir über Untaten westlicher Länder, wobei derzeit immerhin Verbrechen der Kolonialzeit im Gespräch sind, etwa der deutsche Völkermord an Nama und Herero. Dabei wird jedoch regelmäßig die Frage ausgeklammert, warum die in den 1960er Jahren von der europäischen Kolonialherrschaft befreiten Länder insbesondere Afrikas trotz ihres Reichtums an Plantagen und Bodenschätzen fast alle dennoch seit über 60 Jahren in bitterer Armut verharren.

Eine platt-rassistische Weltsicht führt dies auf Defizite nicht-weißer Menschen zurück, die zu dumm oder zu faul sind, ihre Länder selbst zu regieren; westliche Mainstream-Ökonomen unterfüttern diese Ideologie mit windigen Theorien von einem „Rohstoff-Fluch“, der die an Naturschätzen reichen Länder angeblich quasi gesetzmäßig in Korruption und Armut stürzt. Beide blenden natürlich aus, dass die alten Kolonialmächte sich mit Zähnen und Klauen an ihre Privilegien klammern, also mit Intrigen, Bestechung, Erpressung, Terrorismus, Attentaten und Massenmorden. All dies versteckt man hinter einem Schirm von Propaganda, die in wechselnder Gestalt die Mär von der Zivilisation fortschreibt, die der Weiße den Farbigen gönnerhaft zuteil werden lässt, etwa als „Entwicklungshilfe“ (siehe die Kritik von Felwine Sarr).

Schatzkammer und Armenhaus Kongo

Dies gilt besonders für den gewaltigen Kongo, die Schatzkammer Afrikas, aber zugleich ein von Gewalt zerrüttetes Armenhaus. Das Wissen unserer Kultureliten über den Kongo endet oft bei Bismarcks Afrika-Konferenz 1885 und den vom belgischen König Leopold begangenen „Kongo-Gräueln“, einem der grausamsten Völkermorde der Geschichte. Vielen offenbar unbekannt ist die Ermordung von Patrice Lumumba durch westliche Schergen 1961, die unmittelbar zur weiteren und bis heute andauernden Ausbeutung und Verarmung des Landes führte: Siehe etwa die kürzlich ausgestrahlte Scobel-Sendung „Aufbruch Afrika“, die afrikanische Verelendung sehr bequem auf korrupte lokale Despoten zurückführte; es fehlte jedoch die Frage, ob diese Diktatoren durch die alten Kolonialherren an die Macht gekommen sein könnten. Schumanns Buch leistet hier dringend benötigte Aufklärungsarbeit und erklärt, wie westliche Intrigen, Interventionen und Gewalttaten den Hoffnungsträger Lumumba durch willfährige Despoten ersetzten.

Lumumba versuchte das Unmögliche, als er den Kongo vom belgischen Kolonialsystem unabhängig machen und aus der kolonialen Herrschaft befreien wollte. „Eine Treibjagd westlicher Geheimdienste folgte und endete am 17. Januar 1961 tragisch in Kongo-Katanga: Mit der Ermordung des charismatischen Redners, Denkers und erklärten Panafrikaners war ein Epochenwechsel hin zu einem vereinten, freien Afrika vorerst gescheitert. Auch das geostrategisch bedeutende, rohstoffreiche Land am Kongo-Strom würde in neokolonialen Strukturen verharren.” (Verlagstext)

Gerd Schumann zu Lumumba

Einführend beschreibt Schumann im Vorwort wie er als junger Zeitzeuge die fehlenden Reaktionen der westdeutschen Öffentlichkeit auf die Ermordung von Patrice Lumumba im Januar 1961 erlebte, wie der ganze Kontinent als primitives Buschland, bewohnt von Wilden hingestellt wurde. Das Afrikabild hierzulande sei immer noch durch die Völkerschauen Hagenbecks und andere Kolonialausstellungen geprägt gewesen: „106 nichteuropäische Menschen werden fünfeinhalb Monate öffentlich vorgeführt, die Bevölkerung glotzt wie im Zoo… und der gütige weiße Mann bringt hoch zu Ross mit Tropenhelm und in weißer Uniform die europäische ‚Zivilisation‘ in Strohhüttendörfer.“ (S.8)

Doch die Völker im Süden wollten nicht mehr so wie ihre weiße Herrschaft und der Vietnamkrieg machte die Generation ’68 hellhörig für imperialistische Verbrechen, begangen von Weißen an farbigen Menschen. Da sei Patrice Lumumba jedoch längst tot gewesen, „der erste frei gewählte Premier Kongos ermordet, sein Körper zerstückelt und in einem Säurefass aufgelöst“ (ebd.) Einzelheiten und Verantwortliche kamen erst viel später ans Licht, teils erst nach der Jahrtausendwende. Bei einer feierlichen Zeremonie in Belgien wurden Lumumbas Nachfahren erst 2022 jene Goldzähne zurückgegeben, die sich der verantwortliche belgische Kolonialoffizier aus dem Mund des Toten gebrochen hatte. Anschließend hatte er dem afrikanischen Staatsmann auch noch einige Finger abgeschnitten -ein perverses Souvenier, das deutlich dokumentiert, wer in diesem Kontext die „Wilden“ waren. Im keineswegs allzu reuigen Belgien dachte niemand an Reparationszahlungen, an die Rückgabe geraubter Reichtümer, man tat so als sei „die Horrortat ein, vielleicht durchaus schändliches, aber doch ein Kavaliersdelikt gewesen.“ (ebd.)

Rückblick: Bismarck und die Kongo-Gräuel

Im ersten Kapitel „Belgisch-Kongo“ wird erzählt, wie mit der Berliner Konferenz 1885/86 eine Schreckensherrschaft des belgischen Königs Leopold II beginnt, der etwa die Hälfte der Bevölkerung des Kongo massakrierte (S.13).

Der ehrgeizige belgische König strebte wie bald darauf Kaiser Wilhelm II nach einem Imperium nach Vorbild der Briten und Franzosen. Er engagierte im Vorfeld der Aufteilung Afrikas schon 1878 den berühmten britischen Afrikaforscher Henry Morton Stanley, um seine gewaltige Kolonie mit Gewalt, List und Tücke zu unterwerfen. Der Brite vertrat später in Berlin die belgischen Belange und Bismarck hielt es für schlau, den Kongo an das kleine Königreich zu vergeben, um die Großmächte London und Paris zu schwächen. Stanley hatte bei einer Rundreise etwa 450 lokale „Häuptlinge“ gegen die buchstäblichen Glasperlen-“Geschenke“ ihre Kreuze unter ihnen völlig unverständliche Papierstücke setzen lassen. Mit diesen „Verträgen“ befanden sich Land und Menschen somit (aus europäischer Sicht) im Besitz des Belgiers.

Gönnerhafter Kolonialismus, der sich selbstgefällig im Gefühl eigener Überlegenheit sonnt, mag das als Beweis sehen, dass diese „Wilden“ dringend europäischer Führung bedurften; psychopathischer Rassismus, der das Ziel brutaler Ausbeutung sogar realistischer sieht, wird hier stolz den schlauen Weißen preisen, der den „Primitiven“ ihr Land abgaunert. Aus Sicht der Indigenen waren die Unterzeichnungen solcher „Verträge“ wohl eher ein absonderliches Ritual der bedrohlich mit überlegenen Schusswaffen auftretenden Kolonialisten. Ein Ritual, bei dem man aus höflicher Gastfreundlichkeit teilnahm, vielleicht auch, um die darauf drängenden martialischen Fremden schnell wieder loszuwerden. Dass derartige „Verträge“ der gewaltsamen Landnahme und Versklavung der indigenen Bevölkerung als Rechtfertigung dienen sollten, war lokalen Eliten eher nicht offengelegt worden.

Leopolds Kolonialfürst Stanley ließ dann „unter Einsatz massiver Gewalt und Unterdrückung“ (S.19) Eisenbahnen zur Ausbeutung des Kongo und seiner Bevölkerung bauen, ca. 20.000 Zwangsarbeiter wurden dabei zu Tode geschunden. Ziel war zunächst Elfenbein, später Kautschuk, den Belgien an die Automobil-Industrie verkaufte. Die „Kongogräuel“ dienten der Motorisierung der reichen weißen Eliten, etwa zehn Millionen Menschen wurden massakriert, um die Fronarbeit zu erzwingen; Abertausende wurden verstümmelt, meist durch Abschlagen der rechten Hand (S.28). Der Kolonialdiktator versechzigfachte von 1890 bis 1901 die Kautschukausbeute, bis seine Gräueltaten an die Öffentlichkeit kamen, unter anderem durch den Roman Heart of Darkness (1899) von Joseph Conrad. Dann verkaufte Leopold „seine“ Kolonie an die belgische Regierung, die jedoch die Ausbeutung kaum weniger brutal fortsetzte (S.30).

Patrice Lumumba als „neuer Hitler“

Im zweiten Kapitel, „Das ganze Afrika“ versucht Schumann eine biografische Annäherung an den kongolesischen Freiheitskämpfer Patrice Lumumba. Der charismatische junge Mann beherrschte neben Französisch vier einheimische Sprachen und gehörte zu einer winzig kleinen Schicht schwarzer Kolonialbediensteter. Vom Postschalterbeamten stieg er in zehn Jahren zum Assistenten eines Soziologen auf, der den Kongo erforschen wollte. Er wurde Mitglied einer belgischen liberalen Partei und wurde 1958 Mitgründer der ersten gesamtkongolesischen Partei MNC (Mouvement National Congolais, S.44). Im Kongo gab es zahlreiche weitere, lokale Befreiungsbestrebungen. Dort fand Lumumba Mitstreiter gegen die Belgier, von denen einige ihm später in den Rücken fallen sollten. Tschombe sollte später die Provinz Katanga abspalten, Kasavubu mit den Belgiern gegen ihn putschen, mit dem späteren Despoten Mobutu glaubte sich Lumumba sogar in Freundschaft verbunden (S.49). Zunächst wollten alle Parteien und Regionen die Belgier und ihr mit Gewalt und Unterdrückung betriebenes Kolonialregime loswerden.

Die Kolonie Belgisch Kongo war inzwischen strategisch wichtiger Rohstofflieferant, was westliche Interessen um so fanatischer an einer Vorherrschaft festhalten ließ. Kongo förderte 75 Prozent der Weltkobalterze, Kupfer, Silber und sogar das Uran für die ersten Atombomben der USA. Lumumba traf den ersten Präsidenten des 1958 befreiten Ghana, Kwame Nkrumah (1909-1972) und organisierte Proteste gegen die Kolonialherrschaft Belgiens, wurde inhaftiert. Mitte 1960, die Entkolonialisierung stand bevor, denunzierten belgische Autoritäten den keineswegs marxistischen Lumumba in einer antikommunistischen Rufmordkampagne aggressiv als neuen „Hitler“ (S.53), die propagandistische Gleichsetzung von Nazis und Kommunisten war schon damals eine gängige Propaganda-Methode, die sich im ideologischen Medien-Jargon als undifferenziertes Gerede von „den politischen Rändern“ bis heute fortsetzt. In Bezug auf den eher sozial-liberal einzuordnenden Aktivisten Lumumba sollte die Propaganda damals einen mörderischen Putsch vorbereiten.

In Verhandlungen vor der Entlassung aus der Kolonialdiktatur hatten die Belgier trickreich ihre Herrschaft über Land und Rohstoffe fortzuschreiben gewusst. Schumann beschreibt wie belgische Experten in Brüssel schlecht vorbereitete und falsch informierte kongolesische Delegationen über den Tisch zogen. Deren primäres Ziel war ohnehin eine politische Befreiung, vielleicht glaubte man, die unverschämten belgischen Ansprüche auf Rohstoffe und Privilegien in der souveränen Republik Kongo dann später immer noch zügeln zu können. Doch die Westmächte dachten nicht daran, dem Land wirklich Souveränität zu gönnen, geschweige denn künftig faire Preise für die ausgebeuteten Rohstoffe zu zahlen.

Eine dem Anspruch nach demokratische Wahl (unter belgischer Aufsicht) machte zunächst Lumumbas MNC zur stärksten Kraft und ihn zum Premier. Einer Entlassung der Kolonie in die hart erkämpfte Unabhängigkeit stand nun scheinbar nichts mehr im Wege. Am 30.Juni hielt der belgische König zur Amtsübergabe des Regierungsmandats eine salbungsvolle Rede, die angebliche Zivilisierungserfolge pries, welche die Afrikaner Belgien angeblich zu verdanken hätten, aber Kongogräuel, Rassismus und Ausbeutung verschwieg. Lumumba, den man trotz seiner Wahl zum Premierminister wohlweislich nicht als Redner vorgesehen hatte, ergriff dennoch das Wort und stellte in maßvoller Kritik klar, dass man dies anders bewertet. Kapitel 3, „Glanzstück des Antikolonialismus“ referiert über vier Seiten im von Schumann aus dem Französischen übersetzten Wortlaut die historische Rede Lumumbas am Tag der kongolesischen Unabhängigkeit, ein panafrikanisches Manifest für Freiheit und Menschenwürde.

Propaganda, Putsch und Bürgerkrieg nach Jakarta-Methode

Kapitel 4, „Das Ende der Hoffnung“ erzählt von der Intrige, die Lumumba durch einen Putsch des kolonial-kompatiblen Präsidenten Kasavubu und des von der CIA gestützten Oberst Mobutu, des späteren Diktators, entmachtet hatte. Zuvor ließ man die Rohstoff-Provinz Katanga gegen Lumumbas Regierung rebellieren, um das Land in Chaos zu stürzen. Die Regierungstruppen standen immer noch unter Führung belgischer Offiziere und einer von ihnen, General Emile Janssen, wiegelte sie gegen Lumumba auf.

Es kam zu Unruhen im Land, westliche Medien berichteten über Vergewaltigungen weißer Frauen durch schwarze Männer und Fluchtbewegungen der belgischen Einwohner des Kongo (S.78). Der Premier griff ein, setzte den belgischen Armeechef ab, ernannte Major Lulunda zu dessen Nachfolger und „seinen vermeintlichen Freund Mobutu“ zum Stabschef, obwohl bereits Gerüchte über dessen Kontakt zur CIA und belgischem Geheimdienst kursierten. Eine Entlassung der belgischen Armeeoffiziere lähmte Lumumbas Truppen, da sie ohne ausgebildete Führung orientierungslos waren. Dazu kam eine perfide Kampagne mit aufgebauschten Horromeldungen in westlichen Leitmedien, die das Chaos im Land schüren sollte:

„Die Heraufbeschwörung des größtmöglichen Tabubruchs ‚Schwarzer Mann – Weiße Frau‘ erzeugte eine Massenpsychose, die zum Exodus führte, und man könnte meinen, das Szenarium sei in einem Thinktank entwickelt worden.“ (S.79)

Schumann fällt auf, dass ähnliche Putschpläne später in Argentinien, Chile, Guatemala und Indonesien von der CIA umgesetzt wurden (S.74). Er kennt offensichtlich nicht das Buch „Die Jakarta-Methode“ von Vincent Bevins, der genau beschreibt, wie dieser immer wieder angewandte Plot funktioniert; eine breite propagandistische Ausschlachtung angeblicher Sexualverbrechen gehört fast immer dazu. Vom CIA-initierten und gesteuerten „Indonesian Genocide“ (5-10 Millionen Todesopfer) bis zur politischen Verfolgung des Wikileaks-Gründers Julian Assange wurden Gewaltmaßnahmen so propagandistisch „gerechtfertigt“ bzw. massenpsychologisch möglich gemacht. Auch im Kongo heizte man rücksichtslos Hass und Gewalt an.

Dazu kam (ebenfalls Teil der Jakarta-Methode) ein Wirtschaftskrieg, der die Exporte des Kongo sabotierte und Land wie Regierung in eine finanzielle Krise stürzte. Premier Lumumba wandte sich in Radioansprachen an sein Volk, protestierte gegen die angezettelte Sezession von Katanga. Der belgische König hatte persönlich dem Separatisten Tschombe gratuliert. Die Unruhen nahmen zu. Belgien evakuierte erst 30.000 Weiße und marschierte am 10.Juli 1960 (natürlich völlig völkerrechtswidrig) in die gerade erst „entlassene“ Kolonie ein, angeblich um belgische Bürger vor dem afrikanischen Chaos zu schützen. Hafenstädte wurden bombardiert und besetzt, Westkongo unter Kontrolle gebracht.

Die UNO half Lumumba nicht

Lumumba suchte Hilfe gegen den Überfall der Belgier bei der UNO, jedoch ohne großen Erfolg. UNO-Friedenstruppen griffen nicht gegen die belgischen Angreifer durch. Als Lumumba, der keineswegs dem Marxismus zuneigte, in seiner Not schließlich Hilfe auch bei der Sowjetunion suchte, sah der Westen buchstäblich rot. Chruschtschow hatte als einziger im Sicherheitsrat den Kongo unterstützt, US-Präsident Eisenhower hatte dagegen Gespräche mit Lumumba verweigert. Schumann zitiert Peter Scholl-Latour, der Lumumba seinerzeit persönlich interviewt hatte, der berichtete, wie die CIA einen Giftanschlag auf den Premierminister vorbereitete; 1982 enthüllte „Congo-Cables“ hätten später die von Scholl-Latour berichteten Mordpläne der CIA bestätigt (S.88).

Am 5.September 1960 putschten Kasavubu und Mobutu, doch das Parlament bestätigte den Premier zwei Tage später und erteilte Lumumba am 13.September Notstandsvollmachten. Ein weiterer Putsch entmachtete den Premier „mit Unterstützung der CIA“ endgültig (S.93). Vom gewaltsam erzwungenen Hausarrest aus gelang es Lumumba jedoch, Widerstand zu organisieren und während belgische Truppen Westkongo besetzten, blieb der Ostkongo zunächst in der Hand von Lumumbisten. Das Kapitel beschreibt drastisch, wie der Hoffnungsträger, der von Felwine Sarr in seinem Manifest „Afrotopia“ neben Nelson Mandela und Kwame Nkrumah gestellt wird (S.96), von geheimdienstlichen Verschwörern schließlich nach einer gescheiterten Flucht mittels lokaler Schergen vor laufender Kamera gedemütigt, gefoltert und ermordet wurde.

Die Ermordung von UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld

Der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld hatte Lumumba im Juli zu Beratungen in New York getroffen. Hammarskjöld hätte sich dabei distanziert gezeigt, später war die Zusammenarbeit mit UN-Truppen schwierig gewesen. Hammarskjöld hatte dennoch nach dem Putsch vergeblich für Lumumba plädiert (S.93). Er starb am 18.September 1961 beim mysteriösen Absturz, wie sich später herausstellte, Abschuss seines Flugzeugs durch Katanga-Söldner „wohl auch mit Billigung der CIA“ und der Briten (S.103). Man kann annehmen, dass er den Interessen jener entgegenstand, die ungehemmten Zugriff auf die Reichtümer Kongos, insbesondere auf das kriegswichtige Uran, wollten und dafür sogar über die Leichen bedeutender weißer Männer zu gehen bereit waren.

Kritisch zu hinterfragen ist vielleicht eine ansonsten sensationelle und in anderen Kongokriegs-Darstellungen fehlende Behauptung Gerd Schumanns hinsichtlich ihrer dürftigen Quellenlage. „Ein Bruder“ von Dag Hammarskjöld sei „mit der belgischen Krone verschwägert“ gewesen, hätte Aktienpakete des wichtigsten belgischen Rohstoff-Konzerns im Kongo besessen und war sogar „einer der Direktoren der Union Miniér“, so der Name des Konzerns (S.45). Dies sollte vielleicht die anfängliche Distanziertheit des UNO-Chefs zu Lumumba und die wirkungslose UNO-Friedensmission im Kongo erklären. Eine (zugegeben kurze) Netzrecherche zeigt jedoch nur einen Bruder von Hammarskjöld, jedoch keine Verbindung von ihm zur berüchtigten belgischen Union Miniér. Als Quelle nennt Schumann dafür nur ein Buch aus der DDR: Kurt Rückmann „Schlagzeile Mord. Fälle, die die Welt erregten“ (1964). Zu dieser Zeit, im tiefsten Kalten Krieg, wurden in der DDR jedoch gelegentlich auch Desinformationen über den kapitalistischen Gegner verbreitet. Andererseits waren DDR-Bürger bei anderen Weltereignissen auch besser informiert als Westdeutsche, etwa über den im Westen totgeschwiegenen „Indonesian Holocaust“. Im Fall der Verbindung Hammarskjöld – Union Miniér ist also weitere Nachforschung nötig.

BRICS, IWF, Che Guevara und Lumumba

Kapitel 5, „Che Guevara und Lumumba“, erzählt wie eine kleine kubanische Guerillagruppe unter Che Guevara vergeblich versuchte, für die Seite Lumumbas gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Putschisten, Separatisten und andere Komplizen der westlichen Kolonialverbrecher einzugreifen. Che Guevara hätte vom Anführer der Aufständischen Kabila nicht viel gehalten. Dieser sollte 1997 nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg schließlich den prowestlichen Despoten Mobutu ablösen, aber die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen (S.117).

Das abschließende Kapitel 6, „Der Kongo und wir“, beschwört die Nachhaltigkeit von Lumumbas Ideen und kritisiert den aktuellen Umgang des Nordens mit den Reichtümern und den Arbeitskräften des Südens -etwa den ausgebeuteten Kinderarbeitern, die bis heute für Hungerlöhne das Coltan für unsere Handys aus dem Boden kratzen müssen. Hoffnungsschimmer für das Land sieht Schumann in nicht-westlichen Bündnissen wie den BRICS und in China. Dessen Investitionspläne würden jedoch vom westlich dominierten IWF torpediert, der auf die 13 Milliarden Dollar Schulden pochte, die der prowestliche Despot Mobutu hinterlassen habe, bevor der Mobutu-Clan sich mit einem Privatvermögen von mindestens vier Milliarden Dollar in die Schweiz zurückzog.

„Die vormaligen Kolonialstaaten behaupten wie einst (der belgische König) Baudouin I bei seiner fatalen Rede 1960 in Elisabethville, der Kolonialismus sei nunmehr historisch. Sie selbst seien keine kolonialen Mächte mehr, sondern hätten dem globalen Süden die Unabhängigkeit gewährt. Wenn überhaupt seien die Verhältnisse ‚postkolonial‘. Im selben Atemzug bedienen sich ‚die Ehemaligen‘ weiter ungeniert in den nun ‚unabhängigen‘ Ländern… holen sich weiterhin die Reichtümer aus dem in Armut verharrenden Süden. Derweil häufen sie unvorstellbare Reichtümer an, die jeden Menschen erschaudern lassen, weil sich hinter der ungleichen Verteilung der Güter… ein unfassbares Maß an Unrecht verbirgt.“ (S.122)

Fazit

Die Biografie “Patrice Lumumba” hinterfragt unser oft selbstgefälliges Afrika-Bild durch die Dokumentation „postkolonialer“ Staatsverbrechen Belgiens, der USA und weiterer westlicher Länder. Die brutale Ermordung des großen Panafrikaners Lumumba wird in historischen und aktuellen Kontext gestellt und ihre Bedeutung für die andauernde Ausbeutung des Kontinents und insbesondere des Kongo durch westliche Konzerne engagiert und kritisch dargestellt. Das schmale Taschenbuch im Format eines Smartphones ist jedem zu empfehlen, der einen anderen als den Mainstream-Medien-Blick auf den Kolonialismus werfen möchte.

Der Autor

Gerd Schumann, geb. 1951, lebt und arbeitet als Autor und Journalist in Berlin und Mecklenburg, publizierte Reportagen und Hintergrundberichte vom Balkan, aus der Karibik und vom afrikanischen Kontinent. Zahlreiche Reportagen, Features für Hörfunk und Printmedien sowie Buchpublikationen, darunter in derselben Buchreihe „Basiswissen“: „Kolonialismus, Neokolonialismus, Rekolonisierung“ (2014). Die Buchreihe »Basiswissen« des politisch links einzuordnenden Papyrossa-Verlags bringt in handlichem Taschenbuch-Format leicht verständliche kritische Einführungen in Grundbegriffe aus Politik, Geschichte, Gesellschaft und Ökonomie.

Gerd Schumann: Patrice Lumumba, Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie, Pocketformat, Papyrossa Verlag, Köln 2024, 135 Seiten, € 12,00 [D] ISBN 978-3-89438-829-4 https://www.papyrossa.de/neuerscheinung-112

03/1/24

Vincent Bevins: Die Jakarta-Methode

Vincent Bevins: Die Jakarta-Methode. Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt. PapyRossa Verlag (Köln) 2023. 427 Seiten

Rezension von Thomas Barth

Als „Jakarta-Methode“ bezeichnet Bevins den ungeheuerlichen Plan einer physischen Vernichtung aller „Kommunisten“ im Machtbereich der USA durch systematischen Massenmord – nach dem Muster des „Indonesian Genocide“ 1965/66, dem 3-5 Millionen Menschen zum Opfer fielen (genaue Zahlen sind unbekannt, da die Verbrechen nie aufgearbeitet wurden und einen blinden Fleck in der westlichen Geschichtsschreibung darstellen).

Durch die aktuellen Berichte zur Wahl in Indonesien (mit 285 Mio.Einwohnern größte islamische Nation und viertgrößte der Welt) rückte das Land in die Öffentlichkeit, aber es zeigten sich bestürzende Wissenslücken hinsichtlich der indonesischen Geschichte. Blinde Flecken betreffen vor allem die westdeutschen Verstrickung in den hierzulande weitgehend totgeschwiegenen „Indonesian Genocide“ von 1966, dem vermutlich mehrere Millionen Indonesier:innen zum Opfer fielen.

Der renommierte US-Journalist Vincent Bevins beschreibt anhand von Einzelschicksalen Überlebender die grauenhaften Ereignisse und stellt sie in den weiteren Kontext einer außenpolitischen US-Strategie, die nicht vor Massenmorden zurückschreckte. Tiefgreifende psychologische, soziale und kulturelle Folgen einer inhumanen Interventionspolitik werden auf Basis von historischen Fakten und aktuellen Befragungen von Opfern angeprangert.

Im letzten Kapitel liefert Bevins den Hintergrund der aktuellen Wahl in Indonesien: „Im Jahr 2005 wurde Joko ‚Jokowi‘ Widodo zum Bürgermeister von Solo gewählt. 2014 schaffte er es zum Präsidenten Indonesiens. Seine Kandidatur wurde von Menschenrechtsgruppen unterstützt, von denen viele dachten, er würde als erstes Staatsoberhaupt, das nicht aus Suhartos militärisch-oligarchischem Zusammenhang kam, die Verbrechen von 1965 anerkennen… Sie lagen falsch… 2019 wurde er für eine weitere fünfjährige Amtszeit wiedergewählt“ (S. 341). Nach Widodos Versagen bei der Aufarbeitung des Indonesian Genocide haben jetzt scheinbar die mächtigen Strukturen der niemals geahndeten Täter wieder nach der Macht in Jakarta gegriffen.

Documenta-Eklat und Indonesien

Der documenta-Eklat war 2022 ausgelöst worden durch ein Werk der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi, in dem Militaristen als Schweine und Monster gezeigt wurden. Darunter sahen Kritiker auch zwei antisemitisch interpretierbare Karikaturen, wofür sich Sabine Schormann, die Generaldirektorin der documenta 15 entschuldigte, das Kunstwerk zuerst verhüllen, dann abbauen ließ. Taring Padi entschuldigten sich ebenfalls. Schormann trat schließlich zurück.

Weder die Generaldirektorin der Weltkunstschau noch andere deutsche Akteur*innen kamen darauf, dass auch die indonesischen Künstler*innen Grund zur Kritik gehabt haben könnten: Am geringen Interesse der deutschen Kunstszene, Regierung und Öffentlichkeit an der Aufarbeitung der westdeutschen Rolle beim Indonesian Genocide 1965. Der Inhalt des beanstandeten Kunstwerks von Taring Padi, einer meterhohen Plakatwand mit einer Art Wimmelbild, wurde in der vom Antisemitismus-Vorwurf dominierten Debatte kaum benannt: Der Indonesian Genocide. Bevins klärt darüber auf.

„Bislang geheime Akten des Bundesnachrichtendienstes (BND) erhärten den Verdacht, dass die Bundesrepublik Deutschland die indonesischen Militärs beim Putsch 1965 unterstützte. Der Machtübernahme durch die antikommunistischen Generäle folgte ein Genozid mit Hunderttausenden Toten. Bis heute mussten sich Täter nicht vor Gericht verantworten. Nun steht eine deutsche Mitverantwortung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Debatte.“ Jonas Mueller-Töwe, T-Online Nachrichten, 13.7.2020.

Bevins Buch basiert auf freigegebenen Geheimdokumenten, wissenschaftlicher Literatur und eigenen Interviews mit überlebenden Opfern, deren Biographien er einfühlsam mit historischen Fakten verknüpft.

Bevins zeigt die Anwendung der Jakarta-Methode in mindestens 23 Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, schildert von der CIA inszenierte Militärputsche vor allem in Brasilien, Chile und Guatemala, die Hunderttausende Tote forderten.

Dabei ist seine Dokumentation möglicherweise lückenhaft, denn auf seiner Weltkarte, die „vorsätzliche Massenmorde zur Beseitigung von Linken oder mutmaßlichen Linken“ zeigt, bleibt der europäische Kontinent weiß. Bevins übersieht, wie das im Andreotti-Skandal 1990 aufgeflogene geheime Gladio-Netzwerk („Stay behind“) im Grunde ähnlich in Westeuropa operierte. Zwar mit deutlich weniger Todesopfern, aber mit derselben Bereitschaft, über Leichen zu gehen, um zu verhindern, dass sich das Kräfteverhältnis nach links verschiebt.

Inhalt

Einleitung und zwölf Kapitel entfalten entlang persönlicher Geschichten im Genozid 1966 Vertriebener, Überlebender oder Hinterbliebener die Geschichte Indonesiens und anderer Weltregionen, wo die „Jakarta-Methode“ zum Einsatz kam. Ein Nachwort von Glenn Jäger „Zur bundesdeutschen Mitverantwortung an den Massenmorden in Indonesien“ stellt die aufgrund jüngster Enthüllungen bekannt gewordene Mittäterschaft des westdeutschen Auslandsnachrichtendienstes BND dar. Im Reportagestil führt das Buch seine Leser:innen behutsam an komplexe Situationen und grauenhafte Ereignisse heran, stellt den Indonesian Genocid in größere historische Zusammenhänge. Die Einleitung befasst sich mit der Geheimhaltung und Unterdrückung von Information durch Täter in Jakarta und andernorts, die bisher diesen Teil der indonesischen Geschichte auch in westlichen Medien zu einem selten überwundenem Tabu machte (vgl. Keller 2015).

„Die Wahrheit über die gewaltsamen Ereignisse von 1965/66 blieb jahrzehntelang verborgen. Im Kielwasser jener Gewalt wurde eine Diktatur errichtet, die der Welt Lügen auftischte, während die Überlebenden stumm blieben -sei es, weil sie inhaftiert waren oder zu verängstigt, die Stimme zu erheben“ (S. 9).

Erst 2012 gab die Regierung in Jakarta bezüglich des Indonesian Genocid zu, „dass damals schwere Menschenrechtsverletzungen begangen wurden.“ Zunächst ohne Entschuldigung, um eine Strafverfolgung der Täter weiterhin zu blockieren, vielleicht auch aus außenpolitischen Gründen. Was wissen wir heute über den Genozid von 1966? 1965 stürzte eine von der CIA gesteuerte Intrige den für die USA unbequemen Präsidenten Sukarno durch einen Militärputsch. Ablauf und Folgen werden von Vincent Bevins minutiös rekonstruiert. Bei dem Putsch, den man den Kommunisten in die Schuhe schob, wurden zunächst sechs führende Generäle ermordet –Bevins verweist auf einen ähnlichen Plot beim Putsch gegen Allende, dem in Chile 1970 der Mord am loyalen General Schneider vorausging (S. 260). In den folgenden Monaten der Jahre 1965/66 wurden durch die indonesische Armee und teils islamistische Paramilitärs brutale Massenmorde begangen, Millionen Menschen wurden in Lager gesperrt und grausam gequält. Möglich wurden die bestialischen Verbrechen auch durch eine perfide Propaganda-Kampagne zur Dämonisierung der PKI, der Millionen Mitglieder zählende Kommunistische Partei Indonesiens und besonders ihrer Frauenorganisation Gerwani. Das Militär kolportierte, die PKI seit die Drahtzieherin eines gescheiterten kommunistischen Putsches gewesen.

Bevins schreibt, Suharto und seine Putschisten hätten die Behauptung kolportiert, die KP hätte die Generäle auf einen Luftwaffenstützpunkt gebracht und ein dämonisches Ritual zelebriert, bei dem Mitglieder der Frauenbewegung Gerwani nackt getanzt hätten (die Mobilisierung sexueller Fantasien und Ängste ist in der psychologischen Kriegsführung und Propaganda ein wirkungsvolles Mittel), „…während andere Frauen die Generäle gefoltert und verstümmelt hätten: die Genitalien abgeschnitten, die Augen ausgestochen und sie anschließend ermordet. Sie behaupteten, die PKI verfüge über lange Listen von Personen, die sie zu töten gedenke und habe bereits Massengräber vorbereitet“ (S. 183)

In Wahrheit hatte die CIA den faschistischen Militärs lange Listen von PKI-Mitgliedern geliefert, um den Genozid vorzubereiten. Etwa ein Viertel der indonesischen Bevölkerung war über Gewerkschaften, Kultur-, Jugend- oder Frauenorganisationen der überaus erfolgreichen PKI verbunden, somit wurden über zwanzig Millionen wehrlose Zivilisten potenzielles Ziel der unbeschreiblich bestialischen Pogrome. Genaue Zahlen sind unbekannt, da historische Forschung und politische Aufarbeitung der Verbrechen verboten waren. Militärs brüsteten sich später, drei Millionen Kommunisten ermordet zu haben, mindestens eine Million Menschen wurden in Lager gepfercht. Bevins beschreibt bei der Schilderung anderer US-Geheimkriege ähnliche Propaganda-Operationen, etwa 1954 bei der Errichtung eines neokolonialen Regimes auf den Philippinen. Er dokumentiert auch die Ähnlichkeit des Putsch-Drehbuchs mit dem ebenfalls CIA-intendierten Militärputsch in Brasilien 1964 und dokumentiert die Anwendung der Jakarta-Methode für viele weitere Geheimkriege der CIA in Asien, Lateinamerika und Afrika. Die physische Vernichtung von politisch engagierten Menschen, die zu „Kommunisten“ erklärt wurden, war Bevins zufolge maßgebliche Strategie des Westens und prägt bis heute unsere Welt. Verschweigen und Vertuschen gegenüber den westlichen Öffentlichkeiten gehörte immer zu den zentralen Elementen dieser mörderischen Praxis. Westliche Medien standen treu auch an der Seite des neuen Diktators von Jakarta, etwa durch einen Artikel von C.L.Sulzberger aus der New York Times vom 13.4.1966, Titel „When a Nation Runs Amok“ (S. 211).

Jakarta-Methode und Gladio

Vincent Bevins zeigt die Anwendung der Jakarta-Methode in mindestens 23 Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, schildert von der CIA inszenierte Militärputsche vor allem in Brasilien, Chile und Guatemala, die Hunderttausende Tote forderten. Dabei ist seine Dokumentation möglicherweise lückenhaft, denn auf seiner Weltkarte, die „vorsätzliche Massenmorde zur Beseitigung von Linken oder mutmaßlichen Linken“ zeigt, bleibt der europäische Kontinent weiß. Bevins übersieht, wie das im Andreotti-Skandal 1990 aufgeflogene geheime Gladio-Netzwerk („Stay behind“) ganz ähnlich in Westeuropa operierte (vgl. Regine Igel 2006). Bevins öffnet uns mit seinem Buch eine aufrüttelnde Perspektive auf die neuere Geschichte, die u.a. auch beschämende Wissenslücken bzw. empörende Auslassungen unserer Geschichtsbücher und des Geschichtsunterrichts unseres Bildungswesens dokumentiert. Ob es rassistisch-kolonialistische Arroganz ist, die nichtweißen Menschen, ihrem Leben und ihren Leiden im fernen Indonesien, Afrika, Lateinamerika weniger Wert zubilligt? Oder sind es ideologische Scheuklappen, die uns allzu willig der vermutlich auch von Regierungsbehörden gelenkten Propagandaversion der meisten westlichen Medien folgen lassen? Scheuklappen, die bestialische Untaten gerne und oft zu Recht anderen Ländern und Regimen ankreiden und vorhalten, aber sie bei unseren eigenen Regierungen, Behörden und Unternehmen nicht sehen wollen. In der internationalen Debatte zum Ukrainekrieg ist dem Westen seine Doppelmoral (Kai Ambos) auf die Füße gefallen (siehe Rezension dazu). Die grauenhaften Massenmorde der „Jakarta-Methode“ blieben im Westen weitgehend unbekannt -bis heute. Eine kleine Subkultur antikolonialer Kritiker blieb unbeachtet, unsere Leitmedien beließen es maximal bei abwiegelnden Feigenblatt-Artikeln auf hinteren Seiten. Selbst nach der aktuellen Enthüllung westdeutscher Mitschuld am Indonesian Genocide blieb ein Aufschrei der Empörung ebenso aus wie strafrechtliche Ermittlungen. Die Leitmedien taten die BND-Affäre, soweit sie überhaupt erwähnt wurde, als längst verjährte Geheimdienst-Posse ab. Doch Mord verjährt nicht und Völkermord schon gar nicht. Bevins Buch ist allein vorzuwerfen, dass er offenbar noch keine Zeit gefunden hat, ähnlich mörderische Operationen westlicher Geheimdienste in Europa zu recherchieren, die man unter den Stichworten „Gladio-Skandal“ und „Strategie der Spannung“ finden dürfte.

Fazit

Das mitreißend geschriebene Buch schließt eine gravierende Wissenslücke, ergreift dabei Partei für Menschenrechte und Aufklärung. Bevins zeigt auf, wie die mörderische Ideologie des Antikommunismus in Geheimkriegen, Staatsterror und Völkermorden ganze Kontinente verheerte und Gesellschaften der sogenannten Dritten Welt in Elend und Unfreiheit stürzte und gefangen hielt. Es ist nicht nur an Ostasien Interessierten zu empfehlen, sondern jedem, der die heutige Welt verstehen will und sollte hierzulande zum Lehrplan allgemeinbildender Schulen gehören -in Geografie, Geschichte und Politik.

Vincent Bevins: Die Jakarta-Methode. Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt. PapyRossa Verlag (Köln) 2023. 427 Seiten. ISBN 978-3-89438-788-4. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.

Vincent Bevins schreibt für Leitmedien wie die New York Times, die Washington Post, den Guardian und war Korrespondent in Südostasien und Brasilien. Er interviewte den späteren Präsidenten Bolsonaro für die Los Angeles Times, als den „verlässlich rechtsaußen stehenden Abgeordneten“ noch niemand kannte. Bevins spricht zahlreiche Sprachen und lebte jahrelang in Jakarta, der Hauptstadt Indonesiens.

Quellen

Barth, Thomas: Blinde Flecken in der documenta-Debatte, 21.9.2022, Südostasien-Net

Thomas Barth: Die Jakarta-Methode: Massenmorde unter falscher Flagge, Telepolis, 11. März 2023

12/13/21

Rezension Nils Melzer: Der Fall Julian Assange

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, Piper Verlag 2021

Hermine Humboldt

Hat die schwedische Justiz Beweise gefälscht und Zeugenaussagen manipuliert, um einen Vergewaltigungsverdacht gegen Julian Assange zu konstruieren? Der UNO-Menschenrechtsexperte Prof. Nils Melzer war anfangs kein Assange-Unterstützer, aber er nutzte sein diplomatisches Mandat für eigene Ermittlungen im Fall Assange. Der verleumdete Gründer von Wikileaks wurde damit endlich rehabilitiert -doch die Enthüllungs-Plattform war nach zehn Jahren Rufmord- und Hetzkampagne aus dem Bewusstsein der Medienkonsumenten so gut wie ausradiert.

Was hat der Fall Assange mit Netzphilosophie zu tun? Der Schweizer Netzphilosoph Felix Stalder wies schon 2016 in seinem bahnbrechenden Buch „Die Kultur der Digitalität“ auf eine westliche Machtelite hin, die er als „den inneren Kern des postdemokratischen Systems“ bezeichnete, „bestehend aus den Spitzen der Wirtschaft, der Politik und der Geheimdienste“ (Stalder 2016, S.230). Der Begriff „Postdemokratie“ markiert eine Kritik an westlichen Ländern, die von einer schleichenden Entdemokratisierung und Herrschaft von Technokraten ausgeht, die sich ausgeklügelter medialer Massenmanipulation bedient.

„Die Grenzen zwischen postdemokratischen Massenmedien und staatlichen Nachrichtendiensten sind fließend. Wie inzwischen bekannt ist, bestehen zwischen beiden Bereichen personelle Kontinuitäten und inhaltliche Gemeinsamkeiten.“ (Stalder 2016, S.234)

In seinem Buch „Der Fall Assange“ bestätigt Nils Melzer die Analyse seines Schweizer Landsmanns Felix Stalder in spektakulärer Weise: Denn der Fall Assange ist zweifellos einer der größten Justizskandale die wir kennen (sollten). Den jedoch die wenigsten in voller Tragweite zur Kenntnis nehmen können, denn es ist auch ein eklatanter Fall von Medienversagen der westlichen „freien Presse“. An deren tatsächliche Freiheit kann man angesichts ihrer äußerst desolaten (Nicht-) Berichterstattung zu weiten Teilen dieser Story höchstens noch eingeschränkt glauben -wie auch der Philosoph Stalder gut begründet argumentiert hatte. 2010 wurde Julian Assange zum „Staatsfeind Nr.1“ für die USA und Großbritannien und geriet ins Fadenkreuz der mächtigsten Geheimdienste der Welt: Der CIA, NSA, FBI (und der ca. 30 weiteren US-Geheimdienste) sowie der Britischen MI5, MI6 und GCHQ. Diese Dienste warfen, so muss man annehmen, angesichts der Wikileaks-Enthüllungen ihre ganze Macht in die Waagschale. Dazu gehört auch die Macht über Massenmedien, Politik und Justiz vieler Länder -ganz offensichtlich hier der Justiz in Schweden und England.

Mit dem „Afghan War Diary“ veröffentlicht WikiLeaks 2010 das größte Leak der US-Militärgeschichte, mitsamt Beweisen für Kriegsverbrechen und Folter. Kurz danach verdächtigt Schweden WikiLeaks-Gründer Julian Assange der Vergewaltigung, und ein geheimes US-Schwurgericht ermittelt wegen Spionage. Als ihn Ecuador nach jahrelangem Botschaftsasyl der britischen Polizei überstellt, verlangen die USA sofort seine Auslieferung und drohen mit 175 Jahren Haft. Nils Melzer, UNO-Sonderberichterstatter für Folter, will sich zunächst gar nicht auf den Fall einlassen. Erst als er Assange im Gefängnis besucht und die Fakten recherchiert, durchschaut er das Täuschungsmanöver der Staaten und beginnt den Fall als das zu sehen, was er wirklich ist: die Geschichte einer politischen Verfolgung. An Assange soll ein Exempel statuiert werden – zur Abschreckung aller, die die schmutzigen Geheimnisse der Mächtigen ans Licht ziehen wollen. Dieses packende Buch erzählt erstmals die vollständige Geschichte von Nils Melzers Untersuchung. (Piper-Verlagstext)

Der UNO-Menschenrechts- und Folterexperte Prof. Nils Melzer war anfangs kein Assange-Unterstützer. Melzer ist ein Anwalt der Menschenrechte, berufen von der UNO, und er nutzte sein diplomatisches Mandat für eigene Ermittlungen im Fall Assange -angefangen bei dem angeblichen „Vergewaltigungsverdacht“ an zwei Schwedinnen, den uns die Medien seit zehn Jahren vor jeder Erwähnung von Julian Assange präsentierten. Kritiker wie der Rezensent oder der Buchautor Gerd R. Rüger haben diese Bezichtigungen niemals geglaubt und immer von einer CIA-Intrige gegen Assange gesprochen -sie wurden dafür als „Verschwörungstheoretiker“ denunziert. Nun zeigt sich, dass wir Recht hatten: Es war eine Justiz-Geheimdienstintrige gegen Assange. Denn Prof. Melzer findet, wie er entsetzt feststellen muss, manipulierte schwedische Justizakten, und schreibt in seinem Buch über „die behördliche Nötigung der beiden Frauen zur Anpassung ihrer Aussagen an das offiziell forcierte Vergewaltigungsnarrativ“ (S.149).

Wikileaksgründer im britischen Guantánamo

London, Juni 2021. Im bestbewachten Knast Ihrer Majestät, dem Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, dem „britischen Guantánamo“, wird Julian Assange gefangen gehalten. Der wohl bislang bedeutendste Journalist des 21. Jahrhunderts ist auch inhaftiert, weil er die Foltermethoden des berüchtigten US-Gefangenenlagers Guantánamo enthüllte, jenem US-Gulag also, den der ehemalige US-Präsident Barack Obama eigentlich schließen wollte. Aber nicht die Verantwortlichen in den USA, sondern Assange wurde angeklagt: wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente – gutes Recht von Enthüllungsjournalisten – und wegen angeblicher Verstöße gegen das Anti-Spionage“-Gesetz, eines Relikts aus Zeiten des Ersten Weltkriegs. Der Schauprozess dauert an, das Unrechtsregime in London hat gerade, wie erwartet, den US-Anklägern die Auslieferung des politisch Verfolgten genehmigt.

Unsere Medien ARD, ZDF usw. betreiben eine systematisch verwirrende Berichterstattung über die Der-Fall-Assange-Enthüllungen von Nils Melzer, so droht der Kern seiner Botschaft unterzugehen: Die schwedische Justiz hat 2010 gezielt Beweise gefälscht und Zeugenaussagen manipulierte, um einen Vergewaltigungsverdacht gegen Julian Assange überhaupt erst zu konstruieren.

Der UN-Sonderberichterstatters zum Thema Folter ist Schweizer, aber Nils Melzer spricht auch fließend Schwedisch ein sagenhafter Glücksfall in der Sache Assange. Melzer arbeitete sich durch die schwedischen Akten zum Fall Assange. Doch sein bahnbrechendes Fazit wollte in unseren Leitmedien kaum jemand hören. Erst mühsam kämpfte er sich durch Netzmedien (!) wenigstens an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit. Jetzt legte er ein Buch vor, das seine Arbeit akribisch beschreibt, „Der Fall Julian Assange: Geschichte einer Verfolgung“, und folgert

Der eigentliche Zweck der Verfolgung von Assange ist nicht in erster Linie die persönliche Bestrafung von Assange, sondern die Etablierung eines Präzedenzfalles mit globaler Abschreckungswirkung für andere Journalisten, Publizisten und Aktivisten, um künftig weltweit jeden strafrechtlich verfolgen zu können, der es wagen sollte, die schmutzigen Geheimnisse der Regierungen ans Licht der Öffentlichkeit zu ziehen.“ Melzer S.230

Prof. Nils Melzer kritisiert die Leitmedien. Zwar würden einige Meinungsbeiträge halbherzig Partei für Assange ergreifen und auch die Gefahr für die Pressefreiheit anerkennen, „doch kein einziges Medienhaus protestiert gegen die den ganzen Fall durchziehende Justizwillkür“ (S.312). Die Justizwillkür zeige sich in der britischen Willfährigkeit gegenüber der US-Anklage vor dem Londoner Gericht:

Schritt für Schritt wurden auch die abwegigsten Argumente der USA kritiklos bestätigt. Gleichzeitig, fast wie im Vorbeigehen, wischte Bezirksrichterin Baraitser sowohl die rechtlichen Einwände als auch die entlastenden Gutachten und Zeugenaussagen der Verteidigung ohne viel Federlesens vom Tisch.“Melzer S.318

Prof. Nils Melzer kommt in seinem Bericht, der sich wie ein Justizthriller liest, also zu Schlussfolgerungen, die sich weitgehend mit dem decken, was Assange-Anhänger seit zehn Jahren skandalisieren: Der WikiLeaks-Gründer wurde Opfer einer Intrige, einer gnadenlosen Rufmordkampagne sowie politischer Verfolgung.

Bei dieser großangelegten Intrige handelt es sich demnach um Staatsverbrechen, für die die Verantwortlichen der beteiligten Staaten – mindestens der USA, Großbritannien, Schweden und zuletzt auch Ecuador – eigentlich vor Gericht gehören würden. Gegen Assange konnten die USA vor Gericht, anders als die Londoner Richterin in ihrem Urteil behauptet, aus Melzers Sicht nichts strafrechtlich Relevantes vorweisen. In einem rechtsstaatlichen Verfahren wäre er schon lange ein freier Mann. Das läuft schließlich auf den Vorwurf der Justizwillkür hinaus.

Westliche Massenmedien als Mittäter

Prof. Nils Melzer zeigt sich in seinem Buch überzeugt, die westlichen Medien hätten sich mit ihrer willfährigen Beteiligung an der Anti-Assange-Rufmordkampagne zu Gehilfen einer perfiden psychischen Folter gemacht – er spricht von „öffentlichem Mobbing“ (S.109). Der UNO-Experte kritisiert auch das anhaltende Ausbleiben medialer Aufmerksamkeit für den Fall Assange. Würden westliche Leitmedien die Justizwillkür angemessen skandalisieren, so seine These, würde das windige Verfahren rasch eingestellt: „Denn wenn Regierungen eines fürchten, dann ist es das gebündelte Scheinwerferlicht und die kritischen Fragen der Massenmedien.“ (S.312)

Beides bleibt jedoch aus. Stattdessen greifen westliche Leitmedien Nils Melzer an, den Überbringer der unbequemen Botschaft: Der skandalösen Botschaft, dass im Westen ein Dissident gefoltert wird, von den eigenen Regierungen, nicht im feindlichen Ausland. Unsere Leit- und Netzmedien ignorieren Melzers Erkenntnisse und berichten lieber noch kleinste und selbst konstruierte Verfehlungen von Julian Assange (wie seine angeblich hungernde Katze im Botschaftsasyl) zehn Jahre mehrheitlich breitgetreten und ihn zu einem Außenseiter stigmatisiert. Rückgratlose Leitmedien sehen bei Melzer nun wohl ihre eigene Erbärmlichkeit bestätigt -von derart autorisierter Stelle, dass sie nur peinliches Schweigen darüber breiten möchten. Melzers Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen, besonders unter Freunden der Netzphilosophie.

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, (Mitautor: Oliver Kobold ), Piper Verlag 2021, 336 Seiten, 22,00 Euro. https://www.piper.de/buecher/der-fall-julian-assange-isbn-978-3-492-07076-8

01/12/17

Rezension Felix Stalder: Kultur, Digitalität & Entmündigung

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag (edition suhrkamp, Bd.2679), Berlin 2016, 283 S., 18,00 Euro, ISBN 978-3-518-12679-0.

Thomas Barth

Felix Stalder ist ein Schweizer Kulturphilosoph, der sich in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ mit der Ko-Evolution von digitalen Technologien, Gesellschaft und Kultur befasst. Er warnt darin unter Berufung auch auf Edward Snowden und Julian Assange vor einer schleichenden Entmündigung, die auf uferlose Überwachung und technokratische Massenmanipulation setzt.

Stalders interdisziplinärer Ansatz verbindet philosophisches Denken mit Soziologie, Medien- und Politikwissenschaft, um Digital- und Internetkultur zu analysieren und das utopische Potential digitaler Commons mit ihren Open-Source-Projekten zu beleuchten. Er blickt dabei auch auf dunkle Wurzeln und Gefahren der Digitalität, die er vor allem in Neoliberalismus, Profitorientierung und bei westlichen (!) Geheimdiensten lokalisiert; dies überrascht, denn sonst kreisen westliche Diskurse über Manipulationen im Internet eher um russische und chinesische Geheimdienste. Stalder warnt vor Gefahren von Algorithmisierung, Überwachung und massenmanipulativer Post-Demokratie, zieht jedoch letztlich ein optimistisches Fazit. Die Commons zeigen trotz heutiger Dominanz der Technokraten mit ihrer neoliberalen TINA-Ideologie („There is no alternative“, Thatcher/Merkel S.206) einen offenen „Raum der Zukunft“ (S.281).

Stalder entwirft ein facettenreiches Bild der digitalen Kultur, die geprägt sei von Fluidität, Vernetzung und stetigem Wandel, bei dem sich unser Verständnis von Raum, Zeit, Identität und Macht grundlegend veränderte. Er stellt die These auf, dass die Digitalität sich nicht in technologischer Innovationen erschöpft, sondern durch neue Formen der Selbstorganisation, des politischen Engagements und der kulturellen Produktion geprägt ist. Katalysator ist dabei das Internet als Medium mit spezifischen Formen des Austauschs. Drei zentrale Formen der Kultur der Digitalität sind die Referentialität (kulturelles Material wird ubiquitär zugänglich und fließt in eine explodierende Produktion von Kulturgütern), die Gemeinschaftlichkeit (kulturelle Ressourcen werden geteilt und Bedeutungen durch stetige Kommunikation stabilisiert) und die Algorithmizität (die Informationsflut wird digital geordnet, aber ebenso werden Gesellschaft und Politik technokratisch entpolitisiert).

Kooperation und der Begriff der Digitalität

Zentrales Anliegen Stalders sind Potenziale der Digitalität für eine demokratische und partizipative Gesellschaft. Er plädiert dafür, bestehende Hierarchien aufzubrechen und neue Formen der Kooperation zu ermöglichen -vor allem in digitalen Commons, deren Wurzeln er in der Open Source und Open Software-Bewegung schon der frühen Internet Communities sieht, etwa den Debian-, GNU- und Linux-Projekten. Darin zeige sich eine digital möglich gewordene Neuverhandlung von gesellschaftlichen Werten und Normen im digitalen Zeitalter: Anstelle staatlicher Hierarchien und Profitorientierung der Konzerne trete die freie Kommunikation der Netze, die auf Meritokratie und Freiwilligkeit basiere. Das Linux-Betriebssystem Ubuntu zeigt in seinem Namen nicht zufällig eine interkulturelle Referenz auf den vielschichtigen Begriff der Bantusprache, der Menschenwürde und vernetzte Gemeinschaftlichkeit verbindet (vgl. Afrotopia von Felwine Sarr).

Stalder definiert den Begriff der Digitalität als eine kulturelle Struktur, die sich durch die Veränderung von Wissen, Macht und Kommunikation in der digitalen Ära auszeichne. Digitale Technologien haben zwar einen tiefgreifenden Einfluss auf verschiedene Aspekte unseres Lebens, vom individuellen Verhalten über soziale Interaktionen bis hin zur politischen Organisation.

Laut Stalder ist Digitalität jedoch keineswegs nur eine technologische Entwicklung, sondern vielmehr eine komplexe kulturelle Dynamik, die unsere Vorstellungen von Wahrheit, Realität und Identität in Frage stellt. Er reklamiert eine „im weitesten Sinne poststrukturalistische Perspektive“, Kultur sei heterogen, hybrid und „von konkurrierenden Machtansprüchen und Machtdispositiven durchzogen“, von „Begehren, Wünschen und Zwängen“ getrieben, Kultur mobilisiere diverse Ressourcen in der Konstituierung von Bedeutung (S.17).

„’Digitalität‘ bezeichnet damit jenes Set von Relationen, das heute auf Basis der Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter sowie der Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird.“ (S.18)

Damit solle jedoch nicht Digitaltechnik ins Zentrum gerückt oder Digitales von Analogem abgegrenzt werden. Analoges würde nicht verschwinden, sondern „neu- und teilweise sogar aufgewertet“. „Digitalität“ verweise vielmehr auf historisch neue Möglichkeiten der Konstitution und Verknüpfung von Akteuren (menschlichen wie nichtmenschlichen):

„Der Begriff ist mithin nicht auf digitale Medien begrenzt, sondern taucht als relationales Muster überall auf und verändert den Raum der Möglichkeiten vieler Materialien und Akteure.“ (S.18)

Stalder knüpft an den Begriff des „Post-Digitalen“ von Florian Cramer an, der damit Praktiken bezeichnet, die sich zwar in Digitalmedien entwickelten, deren offene Interaktionsform sich jedoch immer weiter verbreite. Stalders Begriff der Digitalität vermeide jedoch das missverständliche Präfix „Post-“, das fälschlich so gelesen werden könne, dass „etwas vorbei sei“, und löse sich zugleich von Cramers technikfixiertem Kontext der Medienkunst. Stalder nimmt in diesem Sinne die ganze Gesellschaft in den Blick, denn „…die Präsenz der Digitalität jenseits der digitalen Medien, verleiht der Kultur der Digitalität ihre Dominanz.“ (S.20)

Nicht technologische Entwicklungen allein hätten der Digitalität den Weg gebahnt, sondern auch Politik, Kultur und Ökonomie. Wichtig erscheinen Stalder insbesondere der Aufstieg der Wissensökonomie und der Kritik an Heteronormativität und Postkolonialismus. Die Wissensökonomie habe seit den 1960ern explizit den wachsenden Informations- und Wissensbedarf von Behörden und Konzernen in westlichen Konsumgesellschaften thematisiert. Dazu gehöre die Massenmanipulation durch immer ausgefeiltere Werbung, Propaganda und PR, die der Freud-Neffe Edward Bernays maßgeblich entwickelte:

„Kommunikation wurde zu einem strategischen Feld für unternehmerische und politische Auseinandersetzungen und die Massenmedien zum Ort der Handlung… Eine Medienindustrie im modernen Sinne entstand, die mit dem rasch wachsenden Markt für Werbung expandierte.“ (S.29f.)

Man sprach in den 1980ern und 90ern von „Informations-“ und später „Netzwerkgesellschaften“, in denen -neben der Digitalisierung- eine Flexibilisierung der Arbeit mit neoliberalem Abbau der Sozialstaaten einherging. Der Freiheitsbegriff wurde dabei von neoliberaler Politik und den seit den 1960ern wachsenden „Neuen Sozialen Bewegungen“ konträr definiert: Neoliberal als Freiheit der Märkte, sozial als persönliche Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen (S.33). Exemplarisch für Letzteres behandelt Stalder die Schwulenbewegung in Westdeutschland, Rosa von Praunheim, den Bonner Tuntenstreit 1974, die Aids-Krise ab 1983. Diversität und Hybridisierung der Kultur der Digitalität wurzele in emanzipativen Bewegungen, deren Erfolg sich spätestens 2014 beim European Song Contest in der breiten Öffentlichkeit manifestierte -mit der Stalder seine Abhandlung eingeleitet hatte: „Conchita Wurst, die glamouröse Diva mit Bart, war die Gewinnerin“ (S.7), sie habe komplexe Geschlechterkonstruktionen „zumindest ansatzweise mainstreamfähig“ gemacht (S.48):

„Conchita Wurst, die bärtige Diva, ist nicht zwischen widerstreitenden Polen zerrissen. Sie repräsentiert vielmehr eine gelungene Synthese, etwas Neues, in sich Stimmiges, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass die Elemente der alten Ordnung (Mann/Frau) sichtbar sind und zugleich transzendiert werden.“ (S.99)

Schattenseiten: Algorithmizität und Post-Demokratie

Die Digitalität ermöglicht laut Stalder neben hybrider Diversität auch neue Formen der Partizipation und Vernetzung, die zur Demokratisierung von Wissen und Kommunikation führen können. Gleichzeitig birgt Digitalität aber auch Risiken, wie die Manipulation durch Algorithmen, Filterblasen und Desinformation. Zugleich seien Algorithmen jedoch prinzipiell unabdingbar, um in einer diversen und hybriden Explosion der Kultur mit ihrer wachsenden Unordnung orientiert zu bleiben. Ohne Suchmaschinen etwa könne heute kein Archiv mehr die digitalen Datenmassen, Texte und Kulturprodukte bewältigen.

Algorithmen automatisieren Kulturtechniken wie die Inhaltsanalyse von Bildern oder das Schreiben von Texten: Der Chef der Firma „Narrative Science“, die automatisierte Sport- und Finanzberichterstattung anbietet, habe 2012 für die nächsten Dekaden eine Ersetzung von neunzig Prozent der Journalisten durch Computer angekündigt. Bedenklich sei, „dass sich auch die CIA für Narrative Science interessiert und über ihre Beteiligungsgesellschaft In-Q-Tel in das Unternehmen investiert hat, ist ein Hinweis darauf, dass bereits heute Anwendungen jenseits des Journalismus entwickelt werden. Zu Propagandazwecken lassen sich mit Algorithmen beispielsweise problemlos massenhaft Einträge in Onlineforen und den sozialen Massenmedien erstellen.“ (S.175)

Dynamische Algorithmen können sich sogar halbautomatisch-eigenständig weiterentwickeln: 2012 habe Google mit solchen „deep learning“-Verfahren die „Gesichtserkennung in unstrukturierten Bildern“ um siebzig Prozent verbessert (S.180). In ausufernder Überwachung greife heute ein „Daten-Behaviorismus“ nach unserer Privatheit, in einem „Revival eines nach wie vor mechanistischen, reduktionistischen und autoritären Ansatzes“. Diese Haltung ungehemmter Kontrolle unseres Verhaltens finde sich bei jenen, die über umfassende Beobachtungsmöglichkeiten verfügen, „dazu gehören neben Facebook und Google auch die Geheimdienste westlicher Länder“ (S.201). Dabei ginge es neben der gern genannten „Serviceverbesserung“ aber auch um soziale Normierung (erprobt in unethischen psychologischen Experimenten, wie man Stalder hier ergänzen könnte) sowie „Profit- oder Überwachungsoptimierung“ (S.202). Anders als viele deutsche Medienwissenschaftler, die an dieser Stelle der Analyse krampfhaft mit den Fingern auf „russische Trolle“ und den chinesischen Überwachungsstaat zeigen, beweist der Schweizer Felix Stalder Rückgrat und kritisiert die eigenen, die westlichen Machteliten (was besagte Kollegen wohl eher nicht aufgreifen dürften).

Assange, Snowden und Entmündigung im libertären Paternalismus

2013 habe, so Stalder, Edward Snowden die „flächendeckende Überwachung des Internets durch staatliche Geheimdienste“ enthüllt (S.233). Felix Stalder zitiert den Wikileaks-Gründer Julian Assange und resümiert: „Die Grenzen zwischen postdemokratischen Massenmedien und staatlichen Nachrichtendiensten sind fließend. Wie inzwischen bekannt ist, bestehen zwischen beiden Bereichen personelle Kontinuitäten und inhaltliche Gemeinsamkeiten.“ (S.234) Die USA hätten seit 2011 z.B. „ein eigenes Programm zu sozialen Massenmedien mit dem Namen ‚Social Media in Strategic Communication‘. (…) seit 2009 vernetzt die Europäische Union im Rahmen des INDECT-Programms Universitäten und Sicherheitsorgane mit dem Ziel ‚Lösungen und Werkzeuge der automatisierten Gefahrenentdeckung zu entwickeln’… Überspitzt könnte man sagen, dass die Missachtung der Grundrechte mit der Qualität der so geschaffenen Dienstleistung ‚Sicherheit‘ legitimiert wird.“ (S.235f.)

Leider sei die Gegenwehr gegen eine in westlichen Gesellschaften so geschaffene soziale Atmosphäre der Angst gering geblieben. Hinter Überwachung und Massenmanipulation stehe in den heutigen Postdemokratien, die demokratische Politik durch technokratisches Gouvernance ersetzen, eine neoliberale Anti-Aufklärung. Obsolet sei heute für die Machteliten „…die aus der Zeit der Aufklärung stammende Annahme, der Mensch könne sich durch den Einsatz seiner Vernunft und die Ausbildung seiner moralischen Fähigkeiten verbessern und sich aus seiner Unmündigkeit durch Bildung und Reflexion selbst befreien.“ (S.227) Eine kybernetische Sicht sehe den Menschen als dressierbare Versuchsratte, die mit subtilen „Nudges“ (Schubsern) zu steuern sei, so Richard Thaler und Cass Sunstein.

Die beiden Neobehavioristen bezeichnen ihr System als „libertären Paternalismus“, der eine „freiheitliche Bevormundung“ anstrebe, was bei den Regierungschefs in Washington und London, Obama und Cameron, so viel Anklang fand, dass sie Thaler und Sunstein in ihre Teams holten (S.228f.). Besonders in den sozialen Massenmedien (also den „sozialen Medien“, Stalder benutzt diesen gängigen Begriff jedoch nicht), ließe sich die mediale Umgebung via Nudging manipulieren. Dies geschehe vor allem im Dienste einer Gruppe, die Stalder als „den inneren Kern des postdemokratischen Systems“ bezeichnet, „bestehend aus den Spitzen der Wirtschaft, der Politik und der Geheimdienste“ (S.230). Viele Mainstream-Konformisten dürften in dieser simplen und analytisch untadelig abgeleiteten politischen Erkenntnis bereits angebliche „Verschwörungstheorie“ oder sogar „-ideologie“ wittern. Denn medial und in der akademischen Forschung werden die von Stalder aufgezeigten Fakten und Zusammenhänge geradezu krampfhaft ignoriert. Es ist zu befürchten, dass genau diese krampfhafte Ignoranz künftig zumindest diese Teile von Stalders Buch betreffen wird. Machtstrukturen dieses Kalibers werden bislang selten öffentlich diskutiert und dies geschieht dann oft nur in künstlerisch verfremdeter Form, wie etwa bei Mark Lombardi.

Stalder ruft im Fazit dazu auf, die Dynamik der Digitalität kritisch zu reflektieren und sich aktiv mit den Auswirkungen digitaler Technologien auf unsere Gesellschaft auseinanderzusetzen. Indem wir die Chancen und Herausforderungen der Digitalität verstehen, können wir Freiheit und Autonomie im digitalen Raum bewahren und weiterentwickeln: Obwohl „die Postdemokratie das Politische selbst abschaffen und alles einer technokratischen Alternativlosigkeit unterordnen will“, beweise die Entwicklung der blühenden Commons das Gegenteil, meint Stalder und schließt sein Buch mit dem Verweis auf utopische Potentiale der Digitalität: „Diese Widersprüchlichkeit der Gegenwart öffnet den Raum der Zukunft.“ Ausbaufähig scheint an Stalders Argumentation die Subjektkonstitution im Netz, die mit der Konzentration auf Kommunizieren, Posten und Liken wohl noch nicht ausreichend erfasst ist, sowie deren Verknüpfung mit Foucaults Konzept des Panoptismus.

09/20/16

SNOWDEN – Kino Sondervorstellungen 22.9. 2016

Friedemann Ebelt

Spannung und Datenschutz: Oliver Stones neuer Film „SNOWDEN“ kommt am 22. September 2016 in die deutschen Kinos und zeigt, dass Privatheit absolut kein langweiliges Anliegen ist.

Er war nun wahrlich kein Kritiker eines repressiven Staates: Edward Snowden war überzeugt, das Richtige zu tun, als er der National Security Agency (NSA) beitrat. Am 22. September 2016 startet der Kinofilm SNOWDEN in Deutschland, der erzählt, wie Edward Snowden vom Patrioten zum Helden wurde.

Zu argumentieren, dass Sie keine Privatsphäre brauchen, weil Sie nichts zu verbergen haben, ist so, als würden Sie sagen, dass Sie keine Freiheit der Meinungsäußerung brauchen, weil Sie nichts zu sagen haben. (Edward Snowden (siehe netzpolitik.org))

Edward Snowden will Gutes für sein Land tun und bietet seine Fähigkeiten zunächst als Soldat und dann als Mitarbeiter der NSA an. Aus dem Inneren des Geheimdienstes erhält er sodann Einblicke, die ihn erschüttern: Die NSA ist nicht nur im Ausland aktiv, sondern überwacht die eigenen Bürgerinnen und Bürger. Er wird selbst zum Täter, indem er diese Informationen freiweg nutzt und ausspielt, um einen Botschafter über den Umweg seiner Familie unter Druck zu setzen. Hier gelingt es Oliver Stone einfühlsam zu vermitteln, wie lebensnah es werden kann, wenn man zum Spielball eines Machtspiels wird, bei dem jemand ganz anderes das Angriffsziel ist.
Das stürzt ihn zunehmend in innere Konflikte, die ihn fürchten lassen, auch er oder seine progressive Freundin könnten z.B. über die Webcam ihres Rechners beobachtet werden. Und so versucht plötzlich der Patriot dem Freigeist zu erklären, warum sie eben doch etwas zu verbergen haben.

Der Film erzählt sehr einfühlsam die Geschichte von Edward Snowden, grandios gespielt von Joseph Gordon-Levitt, der nach und nach begreift, dass hier etwas gewaltig schief läuft. Er muss zusehen, wie Frauen sich vor ihren Laptops umziehen, ohne zu ahnen, dass sie beobachtet werden. Er ist Zeuge, als Erwachsene und Kinder in Afghanistan von Drohnen niedergeschossen werden, weil ein Datenauswertungsprogramm sagt, sie seien Terroristen. Snowden plant seinen Ausstieg und nimmt belastende Informationen über die Machenschaften der NSA mit.

Der Film ist packend und aufklärend zugleich. Er veranschaulicht die mächtigen Analysewerkzeuge der NSA und zeigt wie der amerikanische Geheimdienst sie systematisch missbraucht. Es ist Oliver Stone in diesem Film gelungen zu zeigen, wie aus einem normalen Mann mit Charakter ein Held wurde, der gar kein Held sein wollte und dennoch sein eigentlich sorgenfreies Leben aufgegeben hat, um seinem Gewissen zu folgen. (reblogged von https://digitalcourage.de/blog/2016/snowden-im-kino )

SNOWDEN ab 22. September 2016 im Kino Trailer ansehen
www.snowden-film.de
Ausführliche Filmkritik von Heise

02/3/15

Zivilgesellschaft & digitaler Ungehorsam

In einem aktuellen Beitrag beschäftigen sich Heinz Kleger und Eric Makswitat von der Universität Potsdam mit dem Thema Datenschutz in Europa. Im Gegensatz zu Anthony Dworkins richten sie ihren Fokus nicht auf die Politik, sondern auf Aktionen von der Zivilgesellschaft.

Theresa Kruse 25.02.2015

So merkwürdig es scheint: Die meisten Akteure aus dem NGO-Sektor und die vielen zivilgesellschaftlichen Aktivisten mit ihrem kritischen Bürgersinn, finden zwar nicht gut, was gerade so datenmäßig und überwachungstechnisch alles passiert – aber sie haben weder ein gesteigertes Interesse an ihrem eigenen Schutz, noch setzen sie sich für grundlegende Reformen ein. Stellvertretend für ‚die Zivilgesellschaft‘ kann man vielleicht das Bürgernetzwerk Bürgerschaftliches Engagement nennen, in dem sich große Teile der organisierten deutschen Zivilgesellschaft zusammengeschlossen haben. Hier sucht man vergeblich nach Ideen, was Snowdens Enthüllungen für die deutsche Zivilgesellschaft und für das bürgerschaftliche Engagement in unserem Land bedeuten.

Selbst internationale Demokratie-Aktivisten, die von Überwachung bedroht sind, nutzen nicht automatisch Sicherheits-Tools. Sehr selten reflektieren sie über ihren persönlichen Schutz hinaus die politische Bedeutung und was das Recht auf Privatheit in ihren Konzeptionen von Demokratie und Menschenrechten zu suchen hat.

Bleiben die Aktions- und Beteiligungsformen abseits der formalen Strukturen der Zivilgesellschaft. Hier kreisen mehr und mehr informelle Gruppen und oft künstlerische Akteure um die Fragen Überwachung, Selbstbestimmung, Privatheit und Sicherheit. Heinz Kleger und Eric Makswitat von der Universität Potsdam untersuchen den zivilen Ungehorsam als Handlungsfeld des digitalen Aktivismus.

Handlungen, die im Sinne des guten Ziels als legitim angesehen werden, gehören seit jeher zum digitalen Aktivismus – auch wenn sie illegal sind. Die Autoren diagnostizieren, dass das qualitativ Neue am digitalen zivilen Ungehorsam ist, dass dieser um „Sichtbarmachung und Thematisierung“ kreist. Dieser Ungehorsam speise sich nicht so sehr aus einer protestbereiten Öffentlichkeit, sondern schaffe diese erst einmal, um den Mangel an öffentlichem Bewusstsein und Information auszugleichen.

Ist das der politikwissenschaftliche Ritterschlag für Anonymous? Mitnichten, denn gerade bei deren Aktionen sehen Kleger und Maskwitat die legitimen Grenzen des zivilen Ungehorsames oft überschritten. Im Unterschied zu analogen Sitzblockaden, mit denen man Distributed Denial of Service-Attacken am ehesten vergleichen könnte, seien die Folgen der Ausschaltung großer und wichtiger Dienste im Internet jedoch wesentlich weniger kalkulierbar. Zu viele Unbeteiligte seien betroffen: „Die Folgenverantwortung, die zur politischen Ethik gehört, ist nicht im Blick“, schreiben sie. Kritisch sehen die Autoren auch, wenn Aktivisten „nicht nur informieren, sondern ihre vermeintlichen Gegner auch bestrafen“. Selbstjustiz sei aber gerade kein legitimes Ziel demokratischen Aktivismus. Ebenso widersprächen „die Züge des Klandestinen und Konspirativen den Kriterien des zivilen Ungehorsames.“

Unstrittig ist für die beiden Autoren, dass Edward Snowdens Aktionen zum zivilen Ungehorsam gehören. Im Gegensatz zu Julian Assanges Ohne-Rücksicht-auf-Verluste-Strategie der Veröffentlichung kritischer Informationen (Anm. Netzphil: inzwischen ist bekannt, dass dieser falsche Vorwurf gegen Assange von genau jenen Guardian-Journalisten verbreitet wurde, die für die fahrlässige Publikation des Passwortes verantwortlich waren, mit dem die wegen der Verfolgung durch NSA, CIA, FBI usw. verschlüsselten und global verteilten Wikileaks-Dateien weltweit lesbar wurden; Geheimdienste und willige Medien griffen die Verleumdung jahrelang begierig auf, um Stimmung gegen Wikileaks zu machen; Assange hat diese Beschuldigungen zurückgewiesen, ihm wurde niemals entsprechendes Fehlverhalten nachgewiesen) schätzen sie an Snowdens dosierter Herausgabe von Informationen das verantwortungsbewusste Bemühen um eine Begrenzung des möglichen Schadens, weil er eine qualitative journalistische Aufarbeitung ermöglicht.

Letztlich sei die richtige und legitime Strategie in der Demokratie aber die Mehrheiten zu bilden. Ungehorsam könne da nur die Ausnahme bleiben und ist im Sinne einer „Zivilität des Ungehorsams“ an Kriterien wie die immaterielle und materielle Abwägung der Folgen, Zielgerichtetheit, Friedlichkeit und die Relation des Handelns zu höheren verfassungsmäßigen Werten gebunden.

Das Schweigen der organisierten Zivilgesellschaft

Dworkins auf der einen sowie Kleger und Makswitat auf der anderen Seite behandeln die zwei entgegengesetzten Richtungen des politischen Handlungsspektrums. Hier die Sphäre der supranationalen Verhandlung, der Advocacy und des juristischen Kampfs auf europäischer Ebene, dort der Aktivismus einzelner oder loser Gruppen.

In Europa befindet man sich bei manchem politischen Vorhaben womöglich auch mit denen in einem Boot, die man wegen anderer Dinge bei den BigBrotherAwards prämiert. Das passiert etwa bei Fragen der Verschlüsselung oder Netzneutralität, mit Abstrichen auch bei Urheberrechtsfragen. Bei anderem wie den Big-Data-Regulierungen bleibt man Gegner. Hier muss man Pragmatismus wagen, ohne die Glaubwürdigkeit der digitalen Advocates zu unterlaufen.

Der digitale Aktivismus hat eine spezifische Ausprägung des zivilen Ungehorsames hervorgebracht, der zum kulturellen Kern seiner Bewegung gehört. Er schafft es in einzelnen Fällen Aufmerksamkeit zu erregen und hat auch durchaus Sympathisanten unter Bürgern, in der Politik und in den Medien, die seine Aktivisten als Experten schätzen und in einer speziellen Weise als Hacker oder digitale Bohème heroisieren. Digitaler Ungehorsam kann aber aus demokratie-theoretischen Erwägungen nur ein Teil einer größeren politischen Strategie sein, muss die Ausnahme der Aktionsformen darstellen und Standards genügen, die ihn zivil und demokratisch machen.

Wirksame Bewegungen haben funktionale Lösungen gefunden, wie sie in solch unterschiedlichen Sphären handlungsfähig sein können und die sich ergebenden Dilemmata verhandeln. Insofern kommt Organisationen wie Digitalcourage, aber auch Netzwerkveranstaltungen wie dem CCC oder sektorenübergreifenden Foren des Austauschs und der Kooperation eine wichtige intermediäre Funktion zu.

(reblogged von https://digitalcourage.de/blog/zivilgesellschaft-und-digitaler-ungehorsam)

Weiterführende Links