12/15/20

Geert Lovink:  Digitaler Nihilismus

Thomas Barth

Die Netzphilosophie erkundet philosophische Seiten der Netze, der Praxis ihrer Nutzung und der erst im Entstehen begriffenen Netzwissenschaften. Deren Vorreiter ist Geert Lovink, ein bekannter Medientheoretiker und Aktivist, der in den Niederlanden zum Professor seines eigenen Institutes werden konnte, des INC (Institute of Network Cultures).

Sein Buch „Digitaler Nihilismus“ ist ein provokanter Exkurs durch die Netzkultur und ihre Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, der besonders die dunklen Seiten der digitalen Revolution ins Visier nimmt. Lovink stellt die Frage, ob diese Revolution tatsächlich die utopischen Versprechungen erfüllen konnte, die ihr oft zugeschrieben wurden. Seine Antwort fällt pessimistisch aus, wie schon der Buchtitel ahnen lässt: “Digitaler Nihilismus: Thesen zur dunklen Seite der Plattformen”.

Lovink flaniert durch Diskurse über unsere von Plattform-Konzernen dominierten Netzmedienwelt, Texte von Aktivisten, Künstlern, Theoretikern. Dabei argumentiert Lovink, dass die omnipräsente Nutzung digitaler Medien zu Sinnleere und Orientierungslosigkeit führt, die er als „digitalen Nihilismus“ bezeichnet. Dieser Sinnverlust kann in einer Vielzahl von Formen auftreten, von Langeweile, über Abstumpfung und Einsamkeit bis hin zu ausgeprägtem Zynismus gegenüber der Welt um uns herum. Lovinks zentrale These ist, dass der Nihilismus im digitalen Raum durch die Erschöpfung und Enttäuschung der Nutzer entsteht, die mit der Realität der digitalen Plattformen konfrontiert werden.

Lovink zeigt auf, wie die permanente Vernetzung und digitalisierte Kommunikation unser Denken und Handeln prägen und dabei eine Entfremdung von der Realität bewirken. Er analysiert, wie Algorithmen und künstliche Intelligenz unseren Alltag steuern und dabei Verschwörungstheorien, Fake News und Filterblasen begünstigen. Dabei geht er auch auf die Bedeutung von Algorithmen, Künstlicher Intelligenz und Big Data für die Manipulation und Steuerung von Informationen ein.

Bernie Sanders, Hillary Clinton und die Memetik der Netze

Er referiert aus Konferenzbesuchen, Lektüren, etwa von Richard Dawkins, dem Erfinder des Begriffes “Mem”, das dieser als kulturelles Analogon zum biologischen Gen dachte, und Email-Wechseln, die er z.B. mit Morris Kolman führte. Kolman, der als unbezahlter Praktikant im Wahlkampf 2016 für Hillary Clinton arbeitete, wandte sich mit einem langen Exposé über Meme an Lovink. Später verfasste er seine B.A.-Thesis zum Thema Meme und Netzwerk-Neoliberalismus. Im Gegensatz zu Clintons innerparteilichem Konkurrenten um die Kandidatur, des Sozialisten Bernie Sanders, wollte Clinton nicht mit Memen werben: “Das Internet mag uns nicht” (S.188).

Leider verschweigen Lovink und vermutlich auch Kolman in seinen Thesen, mit welchen unfairen Methoden Clinton den bei der Jugend beliebteren Sanders aus dem Rennen warf. Am Ende gewann Trump, weil viele Jungwähler sich deshalb angewidert von der Wahl abwandten. Aber Hillary Clinton verlor auch, da mögen Kolman und Lovink gewissermaßen richtig liegen, weil, wie Lovink es formuliert, “das Internet” Trump “mochte”. Rechtsradikale Meme bestimmten einen schmutzigen Wahlkampf mit Beleidigungen, Fakenews und rassistischer Propaganda.

Kolman zufolge, referiert Lovink, wuchs die Macht der Meme mit dem “Netzwerk-Neoliberalismus”. Das neoliberale Subjekt steckt in einem auszehrenden Online-Milieu, das Produktion optimieren und Identitäten visualisieren will: “Man muss nur ihre Werbepräferenzen auf Facebook anschauen, um sie als einen Haufen fragmentierter Charaktereigenschaften zu sehen, eine zusammengestückelte Persönlichkeit.” (S.189) Dies schaffe ein ständiges Bedürfnis nach Verbindung und Abhängigkeit von sozialer Zustimmung, wobei zunehmend Aspekte des Lebens und der Identität an digitale Medien und Plattformen ausgelagert werden. In der Memkultur der Millenials herrsche daher “Egomanie, Hedonismus, Depression und Nihilismus”, zitiert Lovink die BA thesis des jungen Kolman, die damit eine Hauptquelle der Lovinkschen Kernthesen zu sein scheint.

Dann folgt ein Ausflug zu Norbert Wiener, dem Begründer der Kybernetik, der auch schon biologistische Vergleiche mit seinen Feedback-Regelkreisen liebte, und zum Electronik-Kunst-Festival “Ars Electronica” in Österreich von 1996, mit dem Motto “Zukunft der Evolution”, wo Lovink dem Mem-Begriff erstmals begegnet war. Über das Retrovirus HIV und das Computervirus, die beide in den 1980ern auftauchten, kommt Lovink dann zur Computerkritik des technikfeindlichen Unabombers und den Warnungen vor einer Rückkehr des Sozialdarwinismus von Richard Barbrook, eines frühen Internet-Visionärs. Nach weiteren Virus-Metaphern in Netzdiskursen meint Lovink: “Die kulturelle Mem-Suppe verweist noch einmal auf Kolman.” (S.196) Dieser hätte auf ein wichtiges Flusser-Zitat referiert: “Menschen gruppieren sich nicht mehr in Bezug auf Probleme, sondern eher in Bezug auf technische Bilder.” Für Kolman hätten technische Bilder, je mehr sie als soziales Bindeglied wirken, desto mehr die Rolle technischer Verbreitungsmedien für die Sozialisation verstärkt.

Netzkultur vom Faschismus wegsteuern

Für Lovink stellt sich angesichts der Wahl Trumps 2016 die Frage, wie wir unsere Netz- bzw. Memkultur “vom aktuellen, alles durchdringenden Faschismus” wegsteuern können (S.197). Er warnt jedoch vor Kontrollfantasien, die aus der  “memetischen Faszination” evolutionärer Macht entstehen, die er mit dem SF-Horrorfilm “Alien” illustriert: Dort bewunderte der böse Android Ash das tödliche Alien als “perfekten Organismus”, nicht behindert durch Ethik, Gewissen oder Moral.

Wohin die Absehung von Ethik führen kann, hatte Lovink bereits zuvor ausgiebig erörtert, im Kapitel “Von der Registrierung zur Auslöschung – Über technische Gewalt” (S.129-156). Beim “Technohumanismus” von Yuval Noah Harari sieht Lovink das Streben nach der “Optimierung einer Handvoll von Übermenschen”, anstelle der Gesundheitsversorgung der nutzlosen Menschenmassen. Er vergleicht dies mit dem Nazi-Faschismus und seiner Genozid-Politik, der in den bürokratisch wohlorganisierten Niederlanden während der deutschen Besetzung prozentual mehr Juden zum Opfer fielen als anderswo. Der Bildhauer Gerrit van der Veen habe mit seinem dagegen gerichteten Bombenanschlag auf das Staatsarchiv in Amsterdam 1943 immer Lovinks Fantasie angeregt (S.132). Der deutsche Autonome Detlef Hartmann habe mit “Die Alternative: Leben als Sabotage –zur Krise der technologischen Gewalt” (1981) das “post-utopische Dokument meiner Generation” vorgelegt, “sperrig eingeschoben zwischen Hippies und Yuppies, Disco und Punk, ist nie ins Englische übersetzt worden… Das Buch, voll von marxistischem Jargon, atmet die Bitterkeit seiner Zeit.” (S.133) Zwischen der Diskursanalyse von Michel Foucault und dem Kinderbuchautor Michael Ende sucht Lovink nach Sinn im Widerstand.

Der Widerstand gegen Vokszählungen in den 1980er-Jahren sei ein wichtiges Beispiel. Das Buch “Die restlose Erfassung: Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus” (1984) von Historiker Götz Aly und dem deutschen Autonomen Karl Heinz Roth ist für Lovink eine “wichtige historische Studie, die die Volkszählung und die Rolle der Statistik während der Nazizeit behandelt.” (S.139) IBM wird hier die Hilfe für die Nazi bei der Identifizierung von Juden für den Völkermord vorgehalten. 2001 erschien dann Edwin Blacks “monumentale Studie” zu “IBM und der Holocaust”, die Lovink ausführlicher referiert, um nach weiteren Gründen für und Ansätzen zum Widerstand beim Kölner Capulcu-Kollektiv anzukommen. Dessen Pamphlete riefen in der “Tradition luddistischer Widerstandsstrategien” zur zeitgemäßen digitalen Selbstverteidigung auf (S.152).

“Capulcu analysiert die ‘Innovationsoffensive’ als einen Motor, der den ewigen Zyklus Blase – Stagnation – Populismus – Krieg antreibt.” (S.153). Das Kölner Kollektiv rufe zum Angriff gegen Selbstoptimierung und Nudging-Logik auf, die einen beschränkten freien Willen voraussetzen und auf Manipulation setzen würden. Lovink beendet dieses dunkelste Kapitel seines Buches mit Slavoj Zizek und dem neomarxistischen Duo Hardt/Negri, wo er weitere Anregungen für Widerstand gegen den “digitalen Angriff” auf die Menschlichkeit sucht. Bei Hardt/Negri gibt es den Aufruf, “ins Herz der Technik” vorzustoßen, um sie gegen die herrschenden Kräfte zu richten, die diese Technik missbrauchen. Andererseit hätte Capulcu zum Widerstand gegen den ‘digitalen Angriff’ aufgerufen. Lovink schließt: “Was wir als nächstes machen müssen ist, die Debatte zu organisieren, uns über die vielfältigen Optionen militanten Kampfes gegen den Plattform-Nihilismus zu informieren und all diese Optionen auf den Tisch zu legen.” (S.156)

Es folgen Kapitel über Selfies und Narzissmus und die “Ästhetik des Gesichtslosen” hinter der Guy-Fawkes-Maske von Anonymous. Diese Bewegung sei “ein kollektives Kunstwerk, eine Performance des sozialen Potentials des Prekariats als vernetze  Klasse.” (S.185) Lovink lässt bei seiner Beschreibung die harte Strafverfolgung mit schweren Gefängnisstrafen auch für jugendliche Aktivisten dieser Bewegung vor allem in den USA unter den Tisch fallen und erklärt die Maskierung zur bevorzugten Taktik des benötigten Widerstands.

Statt der versprochenen Befreiung und Selbstverwirklichung erlebten viele Nutzer zunehmend Kontrolle, Überwachung und Manipulation durch Techgiganten wie Google, Facebook und Amazon. Diese Unternehmen haben es geschafft, die ursprünglich dezentralen und offenen Strukturen des Internets zu monopolisieren und zu kommerzialisieren. Dies führt zu Entfremdung und Desillusionierung, sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene.

Für Lovink ist dies eine klare Warnung, die wir ernst nehmen müssen. Er plädiert dafür, dass wir uns bewusst werden müssen, dass die digitale Revolution nicht nur positive Entwicklungen mit sich bringt, sondern auch tiefgreifende Herausforderungen birgt, die wir angehen müssen. Dies erfordert ein Umdenken darüber, wie wir Technologie in unserer Gesellschaft einsetzen und wie wir sicherstellen können, dass sie zum Wohle aller eingesetzt wird.

Demokratie, Desinformation und Gemeinwohl

In seinem Buch problematisiert Lovink die Auswirkungen des digitalen Nihilismus auf Politik und Demokratie. Die Verbreitung von Desinformation und Propaganda im Internet hat zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft geführt, die die Demokratie gefährden kann. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Buches ist Lovinks Forderung nach einer Neugestaltung der digitalen Infrastruktur im Sinne des Gemeinwohls. Er plädiert für die Stärkung alternativer digitaler Plattformen, die auf demokratischen Prinzipien und der Freiheit der Nutzer basieren. Dazu gehören dezentrale Netzwerke, verschlüsselte Kommunikation und Open-Source-Software, die den Nutzern die Kontrolle über ihre Daten zurückgeben. Der Autor fordert eine Rückbesinnung auf menschliche Werte, kritisches Denken und eine aktive Auseinandersetzung mit der digitalen Welt.

Geert Lovinks Analyse stützt sich auf eine Vielzahl von Beispielen und Fallstudien aus der digitalen Praxis. Er zeigt auf, wie die kommerziellen Interessen der Tech-Firmen das Gemeinwohl und die demokratischen Prinzipien untergraben und zu einer Krise der digitalen Öffentlichkeit führen. Er warnt davor, dass die Ideale der digitalen Revolution, etwa Demokratisierung, Vernetzung und Informationsfreiheit zunehmend von kommerziellen Interessen und autoritären Strukturen untergraben werden. Dabei verweist er auch auf konkrete Lösungsansätze für eine alternative digitale Zukunft. Eine lesenswerte Lektüre für alle, die sich mit den Auswirkungen der digitalen Technologie kritisch auseinandersetzen wollen.

Lovink, Geert: Digitaler Nihilismus. Thesen zur dunklen Seite der Plattformen, transcript, Bielefeld 2019, 240 Seiten.

09/5/18

Friedrich Kittler & KI

Thomas Barth

Drei Dekaden ist es her, da Friedrich Kittler mit seinem legendären Aufsatz: Rock Musik – Ein Missbrauch von Heeresgerät seine revolutionäre Medientheorie darlegte und dabei einen eleganten Bogen von Nietzsche über Jim Morrison und Kaiser Wilhelms Generälen bis zu Görings Luftwaffe und Jimi Hendrix zog. So ungefähr in dieser Reihenfolge, aber um viele Details und Wendungen reicher entfaltete sich sein Denken.

Zunächst berief er sich auf die Machtkritik von Michel Foucault, wandte sich aber dann immer mehr Heideggers Philosophie zu. Gefördert wurde Kittler später auch vom Medienzar Hubert Burda, einem sechsfachen Teilnehmer der Bilderberg-Konferenzen (Telepolis), die jüngst einen Schwerpunkt auf Quantencomputing, KI und Medienthemen setzen.

Bildungslücke Bilderberg

Die „Bilderberger“ sind zwar Thema bei „Verschwörungstheoretikern“ auch rechter Gesinnung (was manche diese Treffen in die Ecke „rechte Paranoia“ neben Ufos, Zion-Papers und Chemtrails stellen lässt), aber sie existieren dennoch seit 1954.

Es handelt sich tatsächlich um geheime Treffen der westlichen Machteliten, die sich aus den Mainstream-Medien weitgehend herauszuhalten verstehen, trotz hochkarätiger Besetzung mit Dutzenden Top-Managern und -Politikern bis hin zu Ministern und Staatschefs: 2018 in Turin etwa Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (die dort von der Öffentlichkeit unbeobachtet z.B. mit Top-Vertretern der Rüstungsindustrie plaudern konnte -ob so etwas der Korruptionsvermeidung dient?).

Eine bedeutsame Fraktion der Bilderberger (wie man verkürzend Teilnehmer wie Organisatoren nennt) sind die großen Medienkonzerne, aus Deutschland ist vor allem die Wochenzeitung ZEIT dort seit vielen Jahren engagiert, aber auch Springer und Burda entsenden Vertreter. Man interessiert sich für Medienpolitik und Softpower, die Beeinflussung der Kultur durch die Mächtigen. Zu diesem Themenfeld gehört auch die Medientheorie.

Kittler erklärte 1988 in seinem Rock Musik-Text, wie militärische Funkanlagen des Ersten Weltkriegs die Basis für das zivile Radio und damit für die modernen elektronischen Medien legten, wie sich im Zweiten Weltkrieg Hifi und Stereo aus militärischen Ortungstechniken entwickelten. Schon damals würdigte Kittler auch den Computerpionier Alan Turing, der in der legendären Kryptologen-Farm Blechtley Park den Zeiten Weltkrieg mit der Entschlüsselung von geheimer Kommunikation der Wehrmacht verbrachte.

Medientheorie und Macht

Die Hardware des Computers sollte in Kittlers Denken bald eine zentrale Rolle einnehmen, er galt in der Medientheorie als der Experte für die neuen Rechenmaschinen, die just dabei waren, die Welt der Medien gehörig umzukrempeln. Dabei orientierte er sich anfangs an Michel Foucault und seiner Machtkritik,
später aber eher an der Philosophie von Martin Heidegger.

Kittlers Fixierung auf die kriegerischen Wurzeln und Funktionen der Medientechnologien wirkte aber damals auf viele, die in den 80ern gerade noch gegen Ronald Reagans Nato-“Nachrüstung“ mit atomaren Erstschlagswaffen protestierten oder bald nach dem Mauerfall gegen den Ersten Golfkrieg von Reagannachfolger Bush, wie degoutanter Militarismus.

Möglicherweise schwelgte der militär-patriotische Medientheoretiker Kittler manchmal etwas zu ausgiebig in den Leistungen der deutschen Obersten Heeresleitung und machte sich, bei aller Kritik an den USA, zu leicht die Perspektive der militärischen Führer des Westens zu eigen:

„Jede Diskothek, die ja Tonbandeffekte noch verstärkt und in Echtzeit mit der entsprechenden Optik von Stroboskopen oder Blitzlichtern koppelt, bringt den Krieg wieder. Mehr noch: Sie trainiert, statt nur Vergangenheiten zu reproduzieren, eine strategische Zukunft an, deren Bewältigung sonst an Wahrnehmungsschwellen der Leute scheitern könnte. Um die Displays in den Cockpits auch unter Bedingungen von Star Wars noch ablesen und bedienen zu können, kommt es auf Reaktionstempi im Millisekundenbereich an. Präsident Reagan hat nicht umsonst alle Freaks von Atari-Spielcomputern als zukünftige Bomberpiloten bewillkommnet.“ (Kittler, Rock Musik, S.211)

Wenn die Atari-Killerspiele auch mit gewisser Plausibilität als dem Kriegshandwerk heutiger Drohnenpiloten ähnlich zu sehen sind, so scheint die Discoszene der 80er als Spaßversion Jüngerscher Stahlgewitter doch reichlich weit hergeholt. Doch Kittlers Perspektive fand ihre Liebhaber -und Gönner auch weit oben in der Einkommenspyramide.

So verwundert es nicht, dass der 2013 posthum vom Kittler-Anhänger Prof. Hans Ulrich Gumbrecht herausgegebene Band „Die Wahrheit der technischen Welt“, aus der dieses Kittler-Zitat entnommen ist, im Impressum ausweist: „Unterstützt von der Hubert Burda Stiftung“.

Hubert Burda ist der ca. zwei Milliarden schwere Medientycoon an der Spitze von Deutschlands drittgrößtem Medienimperium (nach Bertelsmann und Springer), dem neben „Burda-Moden“, auch „Playboy“, „Bunte“, „Focus“ etc. zuzurechnen sind. Burda steuerte seinen Konzern erfolgreich in die Netzmedienwelt und erhielt, soweit das Internet weiß, sagenhafte sechs Einladungen zu den Bilderberg-Konferenzen (1997, 1998, 2001, 2003, 2005, 2007). Es ist denkbar, dass Burda dort seine Ideen zur digitalen Revolution der Medien zum besten geben konnte und anzunehmen, dass diese sich auch aus Kittlers Theorieansatz speiste.

Künstliche Intelligenz und Quantencomputing

Auch die Mächtigen dieser Welt haben erkannt, dass die digitale Technologien und Netzmedien immer bedeutsamer werden. Beim diesjährigen Treffen der Bilderberger in Turin tummelten sich neben Top-Managern traditioneller Finanz-, Öl- und Rüstungsindustrie auch Vertreter von Google, Facebook, Twitter & Co.

Ein Schwerpunkt der weltgrößten Lobbyisten-Konferenz, zu der auch wieder Staatschefs und Minister im Dutzend geladen waren, scheint auf technologischen Entwicklungen zu liegen: Man wollte über „Die Zukunft der Arbeit“, „Künstliche Intelligenz“ und „Quantencomputer“ reden.

Und es gibt Hinweise darauf, dass die Bilderberg-Konferenziers ihr Weltbild in Sachen Computer durchaus an der Kittlerschen Perspektive orientiert haben könnten – vermittelt über den deutschen Medienmogul Hubert Burda. Selbiger äußerte sich im Sommer 2011, also kurz vor Kittlers Tod (18.10.2011), im Avantgarde- und Kunstmagazin 032c zu seiner Freundschaft mit Kittler und der Faszination, die dessen Theorie und Person auf ihn ausübte:

„There is a German cultural figure based in Berlin-Treptow, Friedrich Kittler, whom I’ve found to be amply engrossing. We’ve met a couple of times – I attended his 64th birthday party (…) There is something oracular, irrational and dreamlike about his proclamations; such as that present day Germany is Ancient Greece manifest, and that a profound spiritual connection exists between those cultures, making them one. (…) And Kittler is a good friend of mine – I sponsored a chair at the Humboldt University for two years.“ Hubert Burda („Billionaire, Patron of german media philosophy“, Interview, sommer 2011 in 032c.com)

Damit soll natürlich keinesfalls angedeutet werden, dass Friedrich Kittler sich etwa habe „kaufen lassen“, was bei einem originellen Querdenker von seinem Format abwegig erscheint. Seitens möglicher superreicher Sponsoren dürfte aber seine Orientierung an Heidegger, dessen Ontologie um Nietzsches Idee von der ewigen Wiederkehr des Gleichen kreiste, mit Wohlwollen goutiert worden sein.

Die Überwindung des Menschen

Klingt dies doch beruhigend nach jährlicher Wiederkehr üppiger Renditen, wirtschaftsfreundlicher Regierungen und marktkonformer Demokratie. Hat sich am Ende Kittlers optimistische Haltung zur kommenden Künstlichen Intelligenz, die sich auch aus der Lektüre des wegen seiner NS-Verstrickung umstrittenen Heidegger speiste, in Kreisen der Konzernbesitzer und -lenker verbreitet? Heideggers Nietzscheanische Deutung der Technik scheint mit einer solchen Sichtweise jedenfalls kompatibel zu sein:

“Was jedoch die erste Ausflucht angeht, nach der Nietzsches Gedanke von der ewigen Wiederkehr des Gleichen eine phantastische Mystik sei, so würde die kommende Zeit wohl, wenn das Wesen der modernen Technik ans Licht kommt, das heißt: die ständig rotierende Wiederkehr des Gleichen, den Menschen darüber belehrt haben, daß die wesentlichen Gedanken der Denker dadurch nicht von ihrer Wahrheit verlieren, daß man es unterläßt, sie zu denken.
Heidegger, Was heißt denken?” (Vorlesungen 1950/1951, S.76)

Kittler sah der KI bekanntlich fast euphorisch entgegen, begrüßte in ihr, frei nach Nietzsche, die Überwindung des Menschen. Ob Foucault aber wirklich, als er das Verschwinden des Menschen „wie ein Gesicht im Sand“ prognostizierte, an Sand als Material von Silizium-Chips dachte? Eine funktionierende, womöglich übermächtige KI weckt heute bei den meisten Beobachtern eher Befürchtungen, wie wir sie aus Blade Runner, Terminator oder Matrix kennen. Besorgt zeigten sich auch viele Wissenschaftler, darunter die verstorbene Physik-Ikone Hawking, was KI und Killer-Roboter angeht.

Es wird zu untersuchen sein, wie Kittler genau zum Thema KI stand. Und ob sich sein Ansatz nach sorgfältiger Analyse nicht doch nutzbar machen lässt für eine Kritik von Machtstrukturen, wie sie sich in Medienkonzernen zeigen oder in Globalisierung und Finanzkrise enthüllten.

(This Text was reblogged by: Berliner Gazette, Untergrundblättle)

06/15/15

Netzphilosoph Michel Foucault

Thomas Barth

Westliche Rationalität sieht Foucault als im Netz einer Macht entstanden und verstrickt, die sich in unsere Diskurspraktiken einschreibt. Koloniale, patriarchale, klassistische Unterdrückung sind nur ihre leicht sichtbaren Blumen des Bösen, deren Rhizom, deren Wurzelwerk tief in unserer Kultur verborgen liegt.

Michel Foucault glänzte als Denker und Provokateur, als undogmatischer Linker und Gegenspieler Sartres. Er verstand es, sich erfolgreich einer disziplinierten Wissenschaft zu entziehen: Die Philosophie nannte ihn einen Historiker, Historiker sahen in ihm den Philosophen; Marxisten warfen ihm „infantile leftism“ vor, weil er, wie er selbst mutmaßte, sich weigerte, die obligatorischen Marx-Zitate in seine Schriften einzuflechten. Statt dessen nannte er Marx gern einen „berühmten Nach-Hegelianer“, dessen Reduktion des Menschen auf die Arbeit man vergessen solle.

Auch seine Bekenntnisse zu Nietzsche und Heidegger, den beiden gern als Nazi-Philosophen abgetanen Vordenkern postmoderner Aufklärungskritik, machten ihn verdächtig. Foucaults schwer fassbarer, netzartiger Begriff von Macht ist kaum mit orthodox-marxistischen Vorstellungen kompatibel, weshalb der Denker der Kommunistischen Partei Frankreichs auch schnell den Rücken kehrte.
Die Biographie Foucaults ist reich an Brüchen und Verwerfungen persönlicher und politischer Natur. In zwölf Semestern Studium an der Pariser École normale supérieure brachte der Sohn eines Mediziners es auf drei Abschlüsse (Philosophie/Psychologie) sowie zwei Selbstmordversuche. Er lehrte und forschte dann 1955-59 in Schweden, Polen und Hamburg. 1961 erhielt er den Doktortitel mit „Wahnsinn und Gesellschaft“, eine Geschichte der Ausschließung der Irren im Zusammenhang der Entfaltung abendländischer Vernunft. Die Schrift brachte ihm, wie er sagte, noch 20 Jahre nach der Publikation wütende Briefe von Psychiatern ein. Sein nächstes großes Werk „Die Ordnung der Dinge“ machte ihn 1966 als strukturalistischen Gegenspieler Sartres berühmt. 1970 wird Foucault Professor für die Geschichte der Denksysteme am Collège de France, entwirft ein Programm für die Erforschung diskursiver und sozialer Ausschließungen. 1971 Gründungsmitglied der G.I.P. (Gruppe Gefängnisinformation), deren Arbeit mit Häftlingen zur Kritik an Zuständen im französischen Justizapparat bis hin zu Gefängnisrevolten führt.

1974 deckt Foucault mit „Überwachen und Strafen“ gemeinsame Wurzeln von Liberalismus und Einsperrung, von Freiheitsrechten und Disziplinarinstitutionen auf: Der Panoptismus, die Überwachung vieler durch wenige, erscheint als dunkle Seite der Aufklärung, welche die traditionelle Kritik von Staat und Ökonomie bislang ausgeblendet hatte. Anders als die Frankfurter Schule (Horkheimer/Adorno) sieht Foucault jedoch Widerstandspotentiale jenseits des gescheiterten marxistischen Projekts. 1976 in „Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1)“ lokalisiert Foucault den zentralen Mechanismus einer „Bio-Macht“ in der Kontrolle menschlicher Sexualität, die das Subjekt in seinen Lüsten und Begierden wie die Bevölkerung in der Reproduktion erfasst.

Mikrophysik der Macht

Doch Foucault war nicht nur Wissenschaftler. Immer wieder zog es ihn zu Brennpunkten der Krise westlicher Zivilisation. 1978 berichtete er als Journalist aus Teheran über die erste erfolgreiche Revolution islamischer Fundamentalisten, die im Iran das CIA-gestützte Folterregime des Schahs besiegen: der Beginn der heutigen islamischen Bedrohung der USA. Vier Jahre später war er in Polen und unterstützte mit Hilfstransporten die Gewerkschaft Solidarnosch, die das Ende des „realen Sozialismus“ und der Blockkonfrontation einleitete. Ende der 70er-Jahre, bei Aufenthalten in der schwulen SM-Szene Kaliforniens (Foucault machte keinen Hehl aus seinen Neigungen, bezeichnete sie im Interview als zu gewöhnlich und banal, um sie dem Publikum vorzuenthalten), infizierte er sich vermutlich mit dem damals noch unbekannten HI-Virus. Er starb am 25.6.1984 an Aids. Seine beiden letzten, im selben Jahr erschienenen Bücher „Der Gebrauch der Lüste“ und „Die Sorge um sich“ (Sexualität und Wahrheit 2 u.3) werden als Versuch gedeutet, eine postmoderne Ethik der Selbstkonstituierung zu formulieren.

Anstelle der proletarischen Weltrevolution prognostizierte Foucault den „Tod des Menschen“ bzw. „des Subjekts“: Diese Thesen wurden von Sozialwissenschaftlern der Generation 68 Anfang der 90er-Jahre noch unverstanden bzw. anklagend deklamiert (als Beweis der Verrücktheit Foucaults), dann aber zunehmend kontrovers diskutiert. Für Foucault sind „Mensch“ und „Subjekt“ Formationen in der diskursiven Ordnung der Humanwissenschaften und damit Teil eines heute auf dem Rückzug befindlichen Macht-Wissens-Komplexes. Das Subjekt kann nicht mehr Ursprung der Erkenntnis einer Wahrheit sein, die „Objektivität“ als „intersubjektive Überprüfbarkeit“ definiert. Selbst dann nicht, wenn das erkennende Subjekt Karl Marx heißt.

Die von Foucault proklamierte „Mikrophysik der Macht“ wirkt durch kleinste Elemente, sie wirkt als Netz, das die Familie, sexuelle Beziehungen, Wohnverhältnisse, Schule, Krankenhäuser, Psychiatrie, Gefängnisse etc. als Feld von Kräfteverhältnissen und Macht-Wissens-Techniken begreift. Die Macht ist mithin keineswegs, wie Marxisten glauben, im Besitz einer bestimmten Klasse angesiedelt, und sie kann auch nicht einfach durch den Sturm auf ihr Zentrum erobert werden. Daher lässt sich Macht auch nicht einfach mit ökonomischer Macht gleichsetzen. Sie ist nicht „monolithisch“ und wird somit nicht von einem einzelnen Punkt aus kontrolliert.

Klassische linke Kritikfiguren von Ideologie, Gewalt und Unterdrückung greifen ebenfalls nicht hinsichtlich der Wirkungsweise von so verstandenen Machtverhältnissen. Foucault kritisiert den Ideologiebegriff, da er immer im potentiellen Gegensatz zu etwas steht, was Wahrheit wäre. „Wahrheit“ ist aber selbst ein diskursives Ausschlussprinzip, ein Machtmechanismus, den es zu reflektieren gilt (was von anderen Ansätzen gern in die Spezialdisziplinen z.B. der Wissenschaftssoziologie abgeschoben wird).

Die Macht und die Wahrheit

Im Gegensatz zur marxistischen Vorstellung von Ideologie gibt es für Foucault kein von der Macht abgetrenntes und mit einem (entweder falschen oder marxistischen) Bewusstsein ausgestattetes Subjekt. Statt dessen produziert die Macht Wissen vom Individuum, formt es und ist in seinen Vorstellungen z.B. von Freiheit und Unterdrückung, immer schon präsent. Machtverhältnisse brauchen daher nicht unbedingt Gewalt, vielmehr die Anerkennung des anderen als Subjekt mit einer normierten bzw. zu normalisierenden Individualität.

Sein Hauptaugenmerk gilt daher den Disziplinen und Instanzen, denen diese Normalisierung (meist mit dem Anspruch zu behandeln, zu helfen, sogar zu befreien) obliegt: Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Medizin, Kriminologie, Justiz. Deren Umgang mit dem Subjekt, ihre Diskurse über den Menschen, die das Subjekt erst konstituieren, gilt es zu hinterfragen. Die dunkle Seite der Aufklärung sieht Foucault dabei gerade im „Humanismus“:

Ich verstehe unter Humanismus die Gesamtheit der Diskurse, in denen man dem abendländischen Menschen eingeredet hat… Auch wenn du die Macht nicht ausübst, kannst du sehr wohl souverän sein. Ja, …je besser du dich der Macht unterwirfst, die über dich gesetzt ist, umso souveräner wirst du sein. Der Humanismus ist die Gesamtheit der Erfindungen, die um diese unterworfenen Souveränitäten herum aufgebaut worden ist…

Foucault heute: Anti-Psychiatrie, kritische Kriminologie, Gouvernementalität

In Theorie und Praxis wirkt Foucault heute vor allem überall dort, wo Mechanismen sozialer Ausschließung wirken und Gruppen von Menschen als krank oder kriminell von der Gesellschaft einer Kontrolle oder Behandlung unterzogen werden. In der Anti-Psychiatrie (Ronald D. Laing, Thomas S. Szasz), mit der Foucault von Beginn an sympathisierte gibt es etwa ein deutsches Foucault-Tribunal zur Lage der Psychiatrischen Behandlung, während andere Mediziner und Psychologen ihrerseits hart mit seinem Ansatz ins Gericht gehen.

Besonders seltsam mutet die lange Abwehrhaltung gegenüber Foucault in einer Wissenschaft an, die sich „kritische Kriminologie“ nennt. Ihr Credo entsprach genau dem Foucaults: Analyse der gesellschaftlichen Mechanismen der Ausschließung, speziell von Kriminalisierten. Basis war meist der sozialkonstruktivistische „Labeling“-Ansatz. Der besagt, dass den sozial Ausgegrenzten Etiketten, soziale Stigmata (Labels), angehängt werden, kann aber leider nur schwer erklären, wie und warum das geschieht. Die „kritische Kriminologie“ sah im Hintergrund meist die marxistische Gesellschaftstheorie, nahezu als Synonym für Kritik, und konnte sich von Vorurteilen gegenüber Foucault nur schwer lösen. Diese vielleicht typische Rezeptionsgeschichte kann selbst als Beispiel von Ausschließung im Bereich der Wissenschaft gelten.

Eine erste auf der Gesellschaftskritik von Michel Foucault basierende kritisch-kriminologische Studie kam 1993 aus der Feder des Autors dieser Zeilen: „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft: Systemtheorie, Foucault und die Computerfreaks als Gegenmacht zum Panoptismus der Computer- und Multimedia-Kultur“, befasste sich mit der kriminalisierten Gruppe der Computer-Hacker und setzt sie in Bezug zu einer Genealogie der Informationsgesellschaft.[1] Von der taz wurde es mit der orthodox-marxistischen Kritik aufgenommen, die Computerhacker seien nicht als ökonomische Klasse zu betrachten, daher nicht als Gegenmacht zum globalen Überwachungsnetz denkbar.[2]

In der weiteren Foucault-Rezeption der kritischen Kriminologie zeigt sich heute eine Verlagerung des Schwerpunkts auf Foucaults Begriff der „Gouvernementalität“, auch „gouvernementalization“. Ein Begriff, der den Bezug von Macht-Wissen-Komplexen, die die Mentalität konstituieren, auf das Regieren, insbesondere auf Anbindung an den Staat zeigen soll: ein keineswegs neuer Zugang[3] zu Foucault, der marxistisch sozialisierten Geistern vermutlich leichter fällt. Und auch der heute dominierende Neoliberalismus ist somit trefflich mit Foucault zu kritisieren, vgl.
Cyberspace, Neoliberalismus und inverser Panoptismus
(T.Barth 1997)

Fußnoten:

[1] Als ich 1993 bei den im Hamburger Reformstudiengang „Jura 2“ angesiedelten Kriminologen die erste kritisch-kriminologische Studie vorlegte, die auf der Gesellschaftskritik von Michel Foucault basiert, waren die Reaktionen ambivalent. Die Arbeit „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft“ (Barth, Centaurus-Verlag 1997) wurde zwar in die Schriftenreihe „Hamburger Studien zur Kriminologie“ aufgenommen – jedoch nicht publiziert, sondern von Herausgebern und Hausverlag gute vier Jahre lang auf Eis gelegt. In diesen Jahren vollzog sich geradezu eine „Foucaultianische Wende“ der Kriminologen, wobei die „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft“ natürlich auf keiner Literaturliste auftauchte. Zweifel an der kritisch-kriminologischen Rezeption der Studie verfliegen jedoch z.B. bei Professor Sebastian Scheerer „Zehn Thesen zur Zukunft des Gefängnisses – und acht über die Zukunft der sozialen Kontrolle“ -die frappierende Ähnlichkeiten zum Kapitel „Die Antiquiertheit der Einsperrung“ aus Barth 1993/1997 aufweist.

[2] Eine revidierte und weiterentwickelte Fassung meiner inzwischen vergriffenen Studie war geplant, konnte von mir bislang jedoch nicht realisiert werden.

[3] Vgl. Smart, Barry, Michel Foucault, London, New York 1985 S.130 ff.

02/6/13

Das Inverse Panoptikum

Autor: Thomas Barth, 1997

Ausgehend vom Begriff des Panoptikums, gilt es die Frage nach dem Subjekt neu zu stellen und nach einer politischen Utopie für den künftigen Cyberspace zu suchen. Es geht um den Kampf der Subjekte um ihre Autonomie durch Subversion der sich durch IT-Technik rapide ausweitenden panoptischen Machtmechanismen. Jeremy Benthams (1784-1832) Gefängnisbau, die architektonische Erfindung des Panoptikums, besteht aus einer runden Architektur, welche durch einen Beobachtungsturm im Zentrum die Zellen permanenter Beobachtung preis gibt. Die Gefangenen des Panoptikums sehen also die Wächter nicht, sind aber einer dauernden potentiellen Überwachung ausgesetzt, die ein diszipliniertes Verhalten erzwingen soll.

So könnte ein Panoptikum aussehen. Foto: I. Friman CC-BY-SA

So könnte ein Panoptikum aussehen. Foto: I. Friman CC-BY-SA


Michel Foucaults
Analyse der Disziplinargesellschaft sieht im Panoptikum den Kern des utilitaristisch-demokratischen Gesellschaftsmodells und betrachtet es gleichzeitig als Metapher der bürgerlichen Gesellschaft. Wichtiger als die konkrete architektonische Umsetzung erscheint Foucault die Idee eines „Panoptismus“, die in den verschiedensten Bereichen, in Schulen, Hospitälern, Fabriken Fuß fassen konnte: Die disziplinierende Beobachtung vieler durch wenige – Schülerinnen durch Lehrer, Arbeiter durch Vorarbeiterinnen, Bürger durch Verwaltungsbeamte. Bentham ging es einerseits darum, eine vollkommene Disziplinarinstitution zu entwerfen, aber andererseits auch um eine Methode, die Disziplinen vielseitig und diffus verteilt in der ganzen Gesellschaft wirken zu lassen.

Die laut *Michel Foucault* (1924-1986) im Panoptismus disziplinierten Individuen bilden die Basis für die modernen Massendemokratien. Panoptische Institutionen wurden ausgeweitet, um die Individuen so zu disziplinieren, dass sie einer modernen Demokratie würdig werden konnten – in den Augen der damaligen Machtelite. Foucaults Analyse interpretiert Benthams Erfindung als allgemeines Prinzip der Konstituierung des bürgerlichen Subjekts als Gleicher unter Gleichen, autonom und frei in den Grenzen, die die Zentralgewalt des Staates setzt und durch ständige Kontrolle aufrechterhält. Foucaults Motivation war dabei der kritische Hinweis auf den totalitären Aspekt dieser Sozialstruktur, auf die Leiden der Aussortierten, der Eingesperrten in Gefängnissen und Psychiatrien. Er zeigte die unmittelbare Verknüpfung von dadurch fragwürdig werdenden Freiheiten mit disziplinierenden Machtmechanismen auf. Wenn wir als Schulkinder lernen müssen stundenlang stillzusitzen, als Arbeiter zu tun, was die Chefin sagt, als Patientinnen für wirklich zu halten, was ein Psychiater nicht als wahnhaft ansieht, dann konstituieren wir uns damit als Subjekt. Dieses Subjekt passt in den Raum, der durch die Grenzen der Freiheit definiert wird, d.h. durch die körperliche Unversehrtheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Fernmelde-Geheimnis, das Recht auf Privateigentum usw. Bisher schien also ein Gleichgewicht zwischen Machtmechanismen und Subjekt-Konstitution zu bestehen.

Fingerabdrucklesegerät-pd

Fingerabdrucklesegeräte gibt es noch nicht so lange. Sie ermöglichen bessere Überwachung, können aber auch ausgetrickst werden.

Was ist wenn technische Möglichkeiten „dem Subjekt” neue Möglichkeitsräume eröffnen, also eigentlich das Subjekt erweitern? Oder wenn andererseits der Zentralgewalt neue Möglichkeiten der Überwachung und Disziplinierung zuwachsen — also eigentlich das Subjekt einer Neukonstituierung „von oben” unterworfen wird?
Das Gleichgewicht muss neu austariert werden, und das ist eine politische Fragestellung. Progressive oder Liberale werden die Möglichkeitsräume begeistert begrüßen und Überwachung ablehnen; konservativen Gemütern wird die Furcht vor der Freiheit die Begeisterung erschweren. Sie werden sich eher auf die Mißbrauchsmöglichkeiten konzentrieren, vor Kriminalität und Anarchie warnen und verstärkte Kontrollmechanismen fordern, d.h. verstärkte Technokratie. Die gewährten Freiheiten waren immer per se systemkonform beschränkt. Aber selbst diese Freiheiten werden heute von den Machteliten angegriffen, eingespart und herunter gekürzt.

Foucaults Einwand ist also das Subjekt sei nicht Gegenüber, sondern erstes Produkt der Macht. Wer sich im emanzipatorischen Kampf um die Freiheit des Subjekts wähnt, der wird sich dadurch im revolutionären Elan abgebremst fühlen.
Dennoch lassen sich postmoderne Ansätze zur Kritik des status quo nutzbar machen, wenn auch ihre Zielrichtung sich nicht so klar ausmachen lässt. Das Denken in ausschließenden Gegensätzen schafft zwar Eindeutigkeit, aber die zahlreichen so abgeleiteten Rezepte, Theorien und Ideologien haben bislang nicht überzeugt. Es ist vielleicht an der Zeit, sich der Ambivalenz zu stellen, auf die Vielfalt nicht länger mit Einfalt zu reagieren. Die Postmoderne richtet sich gegen Technokraten, die vom Gipfel ihrer „technologischen Kompetenz” herab, die Welt mit ihren Dogmen betreffs „inhaltlichen Kriterien von menschenswertem Leben” beglücken wollen. Vieles was noch immer als Antwort präsentiert wird, ist inzwischen in die Position der Frage gerückt. Es knirscht im Gebälk der alten Machtstrukturen, und die, die oben sitzen, können sich des ziemlich plausiblen Gedankens nicht länger erwehren, dass sie diejenigen sind, die am tiefsten fallen könnten. Die Angst der Technokraten, seien sie Ingenieure, Informatiker oder Geisteswissenschaftler, vor ihrer Entmachtung wird ein Haupthindernis bei der Gestaltung des Cyberspace sein. Die Frage danach, was wir mit dem kommenden Cyberspace machen wollen, hat sich als durchaus politische erwiesen, die keinesfalls nur technologischer Lösungen bedarf. Es wird dort auch um die Verteilung von Macht gehen, und zwar auf einer Ebene, die in die Konstituierung der Subjekte hineinreicht. Nun gibt es Subjekte, die sich schon lange mit den Cyberspace-Technologien befassen, ohne sich einer traditionellen Machtinstanz, etwa der akademisch verfassten Wissenschaft, zuordnen zu lassen: Die Hacker.

Mit den panoptischen Machtmechanismen hat diese Gruppierung insofern Bekanntschaft gemacht, als sie Ziel von Kriminalisierungen und Pathologisierungen wurde. Aus den Reihen dieser Gruppe werden seit vielen Jahren Forderungen erhoben, die etwas ungewöhnlich klingen, etwa nach „Freiheit für die Daten”, nach „mindestens weltweit freier Kommunikation für alle” aber auch nach Datenschutz. Als inverses Panoptikum könnte man nun ein „latentes Utopiemodell” bezeichnen, welches sich in der Praxis der Hacker spiegelt. Das dem teilweise kriminalisierten „Datenreisen”, zugrunde liegende Streben nach Informationsfreiheit widerspricht nur scheinbar dem ebenfalls geforderten Recht auf die eigene Privatsphäre (Datenschutz). Nicht der gläserne Bürger, wie ihn die computerisierte Verwaltung, das Superpanoptikum, schafft, ist gefordert, sondern die gläserne Bürokratie. Wer Macht ausüben kann, soll für den Bürger sichtbar gemacht werden. Der Sicherheit der persönlichen Daten komplementär ist also der Wunsch nach Beobachtung der Machtausübenden:

Für die staatliche Seite haben wir das so formuliert: Wir fordern die maschinenlesbare Regierung. Mit Hilfe der Computer und der Netzwerke ist so was einfach möglich. Dadurch ist es möglich, Daten transparent zu machen. Diese Technologie existiert dazu. Es ist nur die Frage, wie sie eingesetzt wird.

So Andy Müller-Maguhn, langjähriger Sprecher des CCC, der es einst bis zum europäischen Icann-Direktor brachte.

Die Cyberwelt bietet ungeahnte Möglichkeiten. Ob dieser Hacker gerade die Weltherrschaft übernimmt?

Die Cyberwelt bietet ungeahnte Möglichkeiten. Ob dieser Hacker gerade die Weltherrschaft übernimmt?

Der Wunsch wird deutlich, den überwachenden Blick umzukehren: Die Insassen des Panoptikums sind es leid, in ihren Zellen dem Blick des unsichtbaren Wächters preisgegeben zu sein. Sie fordern – zunächst noch – nicht den Ausbruch aus ihren Zellen, aber sie wollen eine Invertierung jener Kontrolle, die sich durch technologische Entwicklungen gerade zu potenzieren droht. Die auf ein Zentrum hin gerichteten Gegenmächte erweisen sich als Teil der Macht oder ihr Spiegelbild. Ein neuer Ansatz muss also indirekter und lokaler, an der Peripherie angesiedelt sein.

(gekürzte Fassung von)
Barth, Thomas, Das inverse Panoptikum: Ein postmoderner Ansatz für die
politische Informationsstruktur des Cyberspace, zuerst in: Informatik Forum,
Nr.2 1996, S.68-71.