12/6/24

Michel Foucault: Philosophie Diskurs Netz

Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie, Suhrkamp, Berlin 2024, 349 S.

Rezension von Thomas Barth

Der Netzphilosoph Michel Foucault begann nicht erst mit seiner Theorie der Machtnetze in Netzstrukturen zu denken, wie das vorliegende Buch zeigt: Schon seine Diskursanalyse und Archäologie zielten auf das „Netz des philosophischen Diskurses“ als Teil eines Diskursuniversums. Denn Kultur sei ein Netz von Beziehungen, das Sprechakte und Diskurse, aber auch Objekte, Materialien und Institutionen zu einem Diskurs-Archiv verbinde. Der „fröhliche Positivist“ nahm lockere 50 Jahre den heute postulierten „material turn“ der Geisteswissenschaften vorweg. Alphabete, Bibliotheken, Buchdruck schufen demnach neue Netzwerke der Zirkulation der Diskurse, die sich, wie der 1966 von Foucault verfasste Text bereits andeutete, in Daten-, Computer- und Kommunikationsnetzen fortsetzen würden.

Ausgangspunkt ist eine nietzscheanische Philosophie der Zeitdiagnostik, und viele sagen ja auch, unsere Gesellschaft, unsere Kultur, unsere Zeit seien krank. Doch welchen Arzt können wir für sie rufen? Foucault erklärt uns: Den Philosophen. Denn schon seit Beginn der griechischen Philosophie laute deren Daseinsberechtigung „interpretieren und heilen“ (S.14). Dies überrascht, gilt Foucault doch als harscher Kritiker der Humanwissenschaften und Heilberufe, insbesondere der Kriminologie, Psychologie und Psychiatrie. In jungen Jahren selbst psychiatrisiert, entwickelte er eine Machttheorie, die neben Justiz und Strafvollzug besonders vordergründig wohlmeinende Zugriffe der Gesellschaft auf das Subjekt kritisiert. Dafür erarbeitete Foucault einen ganz eigenen methodisch-theoretischen Zugang über die (post-) strukturalistische Analyse gesellschaftlicher und kultureller Diskurse. Seine Konzepte sind heute ein fester Bestandteil unterschiedlichster Disziplinen und Ansätze in den Geisteswissenschaften, etwa Queer- und Genderstudies, Pädagogik, Pflege-, Sozial- und Medienwissenschaften, Disability Studies (Kammler/Parr 2007).

Autor und Hintergrund

Michel Foucault (1926-1984) lehrte ab 1970 am renommierten College de France in Paris, war sozialpolitisch engagiert und gilt heute zunehmend als einer der wichtigsten Denker des 20.Jahrhunderts. In Deutschland jahrzehntelang nur schleppend rezipiert, wird er heute in den meisten Geisteswissenschaften immer mehr wahrgenommen. Seine (Ideen-) Geschichten des Wahnsinns, der Medizin, des Gefängnisses sowie sein vierbändiges Werk „Sexualität und Wahrheit“ sind Meilensteine der Sozialphilosophie. Foucault lehnte jedoch disziplinäre Zuordnungen ebenso ab, wie Bekenntnisse zu Denkschulen oder –richtungen wie dem Poststrukturalismus oder der Postmoderne. Das vorliegende, schon 1966 verfasste Buch wurde von Foucault nie publiziert, posthume Publikationen hatte er testamentarisch untersagt. Seine Erben und Nachlassverwalter setzen sich seit Jahren darüber hinweg und im Suhrkampverlag erschienen diverse posthume Werke, etwa Sammlungen von transkribierten Tonbandmitschnitten seiner Vorlesungen. Das vorliegende Buchmanuskript fällt zwischen Foucaults bahnbrechendes Buch „Die Ordnung der Dinge“, das ihn international auch als Widersacher Sartres berühmt machte, und dessen Fortsetzung „Die Archäologie des Wissens“.

Aufbau und Inhalt

Ein Vorwort von Francois Ewald, editorische Anmerkungen, 15 Kapitel mit je eigenen Fuß- und Endnoten bilden den Kern des Textes. Ein Anhang mit Notizen Foucaults, die dem Text verbunden erschienen, und einer einordnenden und zusammenfassenden „Situierung“ durch Orazio Irrera und Daniele Lorenzini lassen den Leser an der editorischen Arbeit des anfangs elfköpfigen Redaktionskomitees (Daniel Defert verstarb während des Projekts) teilnehmen. Fußnoten dokumentieren Probleme mit dem Text, etwa die Ergänzung fehlender oder unleserlicher Wörter, sowie seltener falscher Angaben Foucaults, auch von ihm durchgestrichene Passagen werden hier dokumentiert und zeigen Varianten des Textes, die der Autor erwogen hatte. Die teilweise umfangreichen Endnoten der Kapitel liefern hilfreiche Anmerkungen der Herausgeber und erklären biographische, zeitgeschichtliche, theoretische Hintergründe.

1. Die Diagnose führt die Philosophie als diagnostisches Unternehmen ein, nach Nietzsche solle sie „Arzt der Cultur“ sein (S.17), könne aber nicht heilen, sondern nur „sagen, was ist“ (ebd.).

2. Jetzt erklärt das „Heute“ des Philosophen, der in der Triade des „Ich-Hier-Jetzt“ den Alltagsdiskurs überschreitet und sich von Literatur und Wissenschaft abgrenzt. Endnote 2 ordnet Foucaults Ansatz theoretisch zwischen Philosophie und Philologie ein (Roman Jakobson, de Saussure, Levi-Strauss, Althusser, Lacan, Husserl, Sartre, Merleau-Ponti, Todorov).

3. Der philosophische Diskurs und der wissenschaftliche Diskurs grenzt Philosophie von Wissenschaft ab, deren Erkenntnisse nicht so eng an das sprechende Subjekt gebunden seien. Für den Wahrheitsgehalt der Wissenschaft sei nur wichtig was gesagt würde, aber nicht wo, wann und von wem; Philosophie bedürfe des „Ich-Hier-Jetzt“, weshalb „von Descart bis Kant und von Kant bis Husserl das gleiche Projekt von Neuem begonnen“ (S.35) und „die Frage des Subjekts so hartnäckig“ (S.40) gestellt wurde.

4. Fiktion und Philosophie grenzt Philosophie von Literatur bzw. Fiktion ab, deren Werke zwar auch an das sprechende (zuweilen fiktive) Subjekt gebunden seien, aber nicht dazu bestimmt, wahr zu sein (S.52); Philosophie ziele vordringlich auf Wahrheit, Vernunft und insbesondere auf das Wesen des Subjekts (S.60).

5. Die Philosophie und der Alltag grenzt Philosophie vom Alltagsdiskurs ab, da sie eine kritische Funktion ausübe, alles „was stumm ist“ in eine Rede übertrage, zur „Kritik allen Wissens“ werde, zum „Diskurs aller anderen Diskurse“ (S.77).

6. Die Geburt des philosophischen Diskurses vertieft die These der Singularität des philosophischen Diskurses seit Descartes, auch anhand der neuen Diskursmodi seit Cervantes und Galilei: Literatur, Wissenschaft und Gott selbst hätten „anders zu sprechen“ begonnen (S.96), der philosophische Diskurs hätte den Anspruch erhoben, „durch die Wahrheit des Jetzt, das ihn trägt, zur Wahrheit zu gelangen“ (S.100).

7. Die allgemeine Anordnung des philosophischen Diskurses entwickelt dessen vier Grundaufgaben und Funktionen (Begründung, Interpretation, Kritik, Kommentar) und entlang dieser Hauptlinien das „gesamte Netz des philosophischen Diskurses“ (S.105); die alten metaphysischen Fragen nach Gott, Welt und Seele werden insofern neu beantwortet, als Gott nun optional würde, die zuvor beseelte Welt nur noch leerer Raum nebst relativer Zeit sei und von der unsterblichen Seele ein geistiges Prinzip, „ein reines Subjekt“ mit Innerlichkeit und Körper verbleibe (S.115), was man aber „nicht mit dem Ende der Metaphysik verwechseln“ dürfe (S.116); Kant habe Gott, Seele und Welt als Illusionen betrachtet und der Metaphysik eine neue Ontologie entgegengesetzt.

8. Die zwei Modelle des Diskurses zeigt zwei philosophische Serien von Wahlmöglichkeiten auf: 1. Enthüllung, Ursprung, Schein, Enzyklopädie sowie 2. Manifestation, Bedeutung, Unbewusstes, Gedächtnis; die jeweiligen Entscheidungen dekliniert Foucault anhand seiner vier Diskursfunktionen: So kann etwa die Funktion der Begründung des Diskurses durch eine Theorie der Enthüllung oder der Manifestation ausgeübt werden; Modell Eins begründet sich als Enthüllung der Wahrheit, interpretiert dies als Entdeckung ihres Ursprungs, kritisiert mittels einer Theorie des überwundenen Scheins und kommentiert den Logos der Welt in enzyklopädischer Form; Modell Zwei begründet sich als Manifestation der Wahrheit in den Phänomenen des Hier und Jetzt des Subjekts, das nicht nach deren Ursprung, sondern nach ihrer Bedeutung fragt und die Kritikfunktion gegen sein eigenes Unbewusstes richtet; kommentiert wird hier nicht mehr als Enzyklopädie der Wahrheit, sondern als Gedächtnis, das die „Versöhnung der Erfahrung mit dem, was in ihr fremd ist“ festhält, also das, was Foucault als „Ent-Entfremdung“ bezeichnet (S.139f.). Modell Eins steht für Philosophie, die sich auf dem Weg linearen Fortschritts zu universalen Wahrheiten und aufgeklärten Werten glaubt; Modell Zwei eröffnet in den „Beziehungen des Subjekts und der Geschichte ein unendliches Labyrinth“ und eine „unaufhörliche Unruhe“ (S.141f.).

9. Philosophie, Metaphysik, Ontologie erörtert die beiden Modelle in ihren Beziehungen zu Ontologie und Metaphysik; 1. die vorkantische Philosophie der Enthüllung als Metaphysik der Repräsentation und Ontologie innerhalb des Diskurses; 2. die nachkantische Philosophie der Manifestation als Anthropologie und Ontologie außerhalb des Diskurses; im 1. Modell enthüllt sich dem Subjekt des Philosophen die Existenz der Seele, deren Analyse „offenbart, dass Gott existiert, …der die Ordnung der Welt garantiert“ (S.155); im 2.Modell kann das Subjekt „nur als phänomenale Manifestation erscheinen… weit davon entfernt, auf eine tiefere Existenz zu verweisen“ entdeckt es nicht die Ordnung der Natur, sondern nur die Bedeutungen, die der Mensch ihr zuschreibt, entdeckt es „nur das Sein des Menschen, das über all die Dinge der Welt und die Ereignisse der Geschichte zum Ausdruck kommt“; dieser „anthropologische Zirkel“ führe zu zwei gegensätzlichen Philosophien: Der Positivismus sucht im biologischen, sozialen und psychologischen Sein des Menschen Aufschluss „über das Sein der Phänomene“; die anderen Philosophen wollen „das Sein der Endlichkeit von all den Bedingungen, die ihm auf der Ebene der Phänomene zugewiesen werden können, lösen“, um ein grundlegenderes Fundament zu finden. Diese Philosophen sehen sich selbst in ihrem Sein „zu einem Phänomen der Geschichte geworden“ (S.156f), das Sein der Geschichte wird sichtbar in philosophischen Diskursen, die sich selbst „unaufhörlich die Frage nach ihrem Verhältnis zur Geschichte“ stellen; erst die kantische Kritik brachte die „systematische Verschiebung der Elemente“ vom ersten zum zweiten Modell (S.158). Nun wurde deutlich, warum Foucault in seinem 7.Kapitel Kants Werk als „den Gravitationspunkt der gesamten abendländischen Philosophie“ sah (S.116).

Kant, dem –was Foucault nicht erwähnt– auch bedeutende Einsichten der Astrophysik zuzurechnen sind, etwa dass sich das Sonnensystem überhaupt entwickelt haben könnte, dass dies Milliarden Jahre gedauert haben könnte (Kants zeitgenössische Physiker bezifferten das Alter der Erde eher mit Zehntausenden von Jahren) sowie dass dies in einer Scheibenform geschah, standen die Erkenntnisfortschritte der Physik vor Augen, „während die Metaphysik endlos weiter dieselben Debatten führte“ (S.159); folgerichtig strebte Kant nach besserer Legitimation der Philosophie durch Suche nach Methoden und Formen der Erkenntnis: „Die Idee von einer Dialektik als Analyse der Bedingungen und Notwendigkeiten der Täuschung tritt an die Stelle der Idee einer Enzyklopädie der Wahrheit.“ (S.160)

Damit stehe Kants Werk „genau im Zentrum, im Gleichgewichtspunkt der gesamten abendländischen Philosophie“, womit Kant für den philosophischen Diskurs, „wie die Logiker sagen würden, eine neue Semantik gefunden“ habe (ebd.). Weiterentwicklungen sieht Foucault bei Fichte in der Lehre vom absoluten Ich mit reiner Subjektivität sowie in der Phänomenologie von Hegel bis Husserl, die transzendentale Subjektivität an den impliziten Horizont der empirischen Inhalte zu binden“ suche (S.167 Fn 12). Tatsächlich könne, so Foucault, der philosophische Diskurs nach der „Zerstörung der Metaphysik“ nur durch eine „Theorie der Repräsentation“ oder „mittels einer Analyse des Seins des Menschen eine Beziehung zum Sein haben.“ (S.165)

10. Beschreibung der Philosophie zeigt vier Haupttypen der Philosophiegeschichte als funktionale Elemente des philosophischen Diskurses und grenzt Foucaults eigenen Ansatz davon ab, der die Philosophiegeschichte in seiner funktionalen Beschreibung der Philosophie als Teil derselben einbezieht (S.185); die Philosophiegeschichte wendet sich als Teil des philosophischen Diskurses in der Funktion der Legitimation den Systemen zu, im Kommentar der Erfahrung, in der Kritik der Ideologie, in der Interpretation der Entzifferung einer Philosophie; für die Ideologisierung der Philosophie bedeutet dies, „dass die Philosophie tatsächlich… selbst eine Praxis darstellt und dass sie das Gesicht der Welt wirklich verändern kann, allerdings unter der Bedingung, dass sie demselben Diskursmodus angehört wie die politischen oder alltäglichen Aussagen.“ (S.183) Foucault geht es aber darum, den philosophischen Diskurs von außerhalb einzelner Werke zu analysieren (S.188).

11. Der neue Wandel fragt nach der Legitimation des Ansatz von Foucault selbst, die Philosophie als nur „eine Diskursform unter anderen“ (S.199) und verweist dabei auf die Krise der Philosophie, die, ihrer Gegenstände, Konzepte und Methoden beraubt, nur noch sich selbst in Frage stellen könne; mit Friedrich Nietzsche könne die Philosophie sich jedoch statt an der Wissenschaft an der Poesie orientieren, eine „Zersplitterung des philosophierenden Subjekts, seine multiple Existenz, seine Zerstreuung in alle Winde des Diskurses“ (S.216) lege nahe, „den Philosophen als reale Figur zu entlassen und aus seiner inhaltsleeren Identität eine Vielheit von Masken oder Gesichtern hervorgehen zu lassen“ (S.213), um von nun an „jeden Wahnsinn“ auch danach zu befragen „was er in seinem Abgrund an Philosophie aussagen kann“ (S.218).

12. Denken nach Nietzsche erörtert die postnietzscheanische Neuordnung der Diskurse; der logische Empirismus wolle aus dem philosophischen Diskurs alles als metaphysisch ausschließen, was nicht mit den Mitteln der Wissenschaft verifizierbar sei; eine politisch verstandene Philosophie wolle dagegen alles als metaphysisch verwerfen, was seinen Praxisbezug nur aus Kritik des Scheins oder des Impliziten herstelle und sich in Freiheit, Aktivität und Geschichte der Menschen involvieren (S.229f); postnietzscheanisch sei Husserls Phänomenologie aufgrund ihres radikalen Vorhabens, „zu den Sachen selbst zurückzukehren“, jedoch zugleich „die komplexeste, historisch überladenste Organisation, die man in den letzten drei Jahrhunderten aufkommen sah“ (S.240).

13. Das Archiv stellt die Frage nach der Sprache und postuliert die Konstituierung eines integralen Archivs als kultureller Form der Auswahl, Aufbewahrung und Zirkulation der Diskurse; der gegenwärtige Wandel unserer Kultur lässt sich anhand des Interesses an der Sprache charakterisieren, daran, dass formale Systeme, wie Sprachen, aus Symbolen mit Regeln bestehen (S.246), dass Literatur, Musik, Kunst sich entsprechend formaler Möglichkeiten entfalten, in einem neu organisierten Diskursuniversum; Kultur ist ein Netz von Beziehungen, das Sprechakte, Formen des Diskurses, Objekte, Materialien, Institutionen zu einem Diskurs-Archiv verbindet; es bildet ein System der Zwänge von Sprache und Geschichte, seine Gesetze untersucht die Disziplin der Archäologie (S.262).

14. Die Geschichte des Diskurs-Archivs verdeutlicht die Unmöglichkeit für jede Kultur, aus dem System ihres eigenen Diskurs-Archivs auszubrechen; die Archäologie als „Analyse des Diskurs-Archivs fungiert als eine Art immanente Ethnologie“ unserer Kultur, „dessen was als Bedingung, Element und Raum für alles dient, was wir sagen und denken können“ (267); Alphabete, Bibliotheken, Buchdruck schufen neue Netzwerke der Zirkulation der Diskurse, zahlreiche Brüche machen es unmöglich, „eine Gesamtgeschichte des Diskursarchivs“ zu schreiben (S.278); Endnote 15 konkretisiert durch Zitat aus Foucaults Buch „Die Archäologie des Wissens“: das Archiv umfasse also „ein privilegiertes Gebiet: gleichzeitig uns nahe, aber von unserer Aktualität abgehoben… es ist das, was uns außerhalb von uns begrenzt“ (S.281).

15 Der heutige Wandel beschließt das Buch mit der Einführung des Begriffs eines „integralen Archivs“, das unsere heutige Kultur von ihren Vorgängerinnen unterscheide; unsere Kultur habe sich die Aufgabe gestellt, „im Grunde alles vom Diskurs aufzubewahren“ (282); das Archiv dehne sich immer mehr aus, werde überhäuft, verliere seine Selektivität, es sei „anstatt der Ort der Rekonstruktion von Sprechakten zu sein, nur der Raum für die Aneinanderreihung von Diskursen… ein Netz neutraler Diskurse… Insofern ein Diskurs im Archiv gegeben ist, kann er durch Akte reaktiviert werden, die… dem ursprünglichen Akt absolut fremd sein können (Kommentare, Suche nach einem verborgenen Sinn, linguistische Analyse, Definition und Klassifizierung von Themen, Katalogisierung von Bildern und rhetorischen Figuren, Übersetzung in eine formale Sprache, Zerlegung im Hinblick auf eine statistische Auswertung…)“ (S.284f); die Diskursivität, durch die sich nunmehr die Erfahrung definiere, komme „immer nur dem Diskurs selbst zu“ (S.290); Fußnote a enthält eine offenbar verworfene Variante des letzten Kapitels, die verstärkt auf den Systembegriff setzt und sich abschließend auf Wittgenstein beruft (S.292).

Der Anhang enthält einige Notizen Foucaults, darunter recht instruktive Tabellen seines funktionalen Diskursmodells, und die „Situierung“ von Orazio Irrera und Daniele Lorenzini (S.305-345). Die beiden Editoren bescheinigen Foucault eine „entschieden originelle Antwort“ auf die seinerzeit heiß diskutierte Frage: „Was ist Philosophie?“ (S.309) und ordnen den Text in die damalige Debatte ein, die durch Foucaults Werk „Die Ordnung der Dinge“ befeuert wurde, unter anderem werden Sartre, Althusser, Merloth-Ponty, Derrida und Heidegger genannt. Foucault stelle im vorliegenden Buch die Philosophie als spezifische Art von Diskurs dar, der eine singuläre Beziehung zu seiner eigenen Aktualität unterhalte; der Mythos einer Geschichte, die aus tiefgründiger Bestimmung „von einem geheimen Ursprung zur Klarheit eines Horizonts verläuft“ könne verworfen werden (S.324); einen „blinden Fleck in der Foucaultschen Archäologie“ zeige zwar die Frage, von wo aus denn seine Diskursanalyse die in sich abgeschlossenen Diskursnetze von außen betrachten könne (S.336), doch er habe von Gaston Bachelard die Methode übernommen, Diskurse von ihren marginalisierten Rändern her zu analysieren; es ging Foucault „sein ganzes Leben lang“ darum, so ihr Schlusssatz, „seine eigene Kultur -und uns- in eine Falle zu locken, um die Möglichkeit zu eröffnen, anders zu denken und zu leben.“

Diskussion

Foucault habe wenig über Philosophie geschrieben, seine Themen seien nicht die der Philosophen: der Wahnsinn, das Krankenhaus, das Gefängnis, die Sexualität; so begann 1991 der Foucault-Kritiker Rudi Visker seine Abrechnung mit den Widersprüchen, in die sich Foucault mit seiner Kritik der Humanwissenschaften verwickelt habe. Das „Foucault-Lexikon“ des Wissenschaftstheoretikers Michael Ruoff kennt nur das Stichwort „Philosophie (praktizierte)“, für das es ganze vier Absätze übrig hat und Foucault so zitiert: „vielleicht ist Philosophie die allgemeinste kulturelle Form, in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist.“ Foucault habe die Bezeichnung „Philosoph“ 1970 deutlich abgelehnt, sie sei ein „Professorenberuf“; der späte Foucault, der eine Ethik der Sorge um sich selbst entwickelte, habe in der Philosophie aber jene Form des Denkens entdeckt, welche „die Bedingungen und Grenzen des Zugangs des Subjekts zur Wahrheit zu bestimmen versucht.“ (S.165f)

Das größte Hindernis für die deutsche Foucault-Rezeption war vermutlich die eloquente Polemik, die der staatstragende „Großdenker“ Jürgen Habermas 1985, also ein Jahr nach Foucaults Tod, mit „Der philosophische Diskurs der Moderne“ vorlegte; eine Abrechnung mit der französischen Postmoderne, als deren technokratische Ausgeburt er die Systemtheorie Niklas Luhmanns sah; insbesondere mit Foucaults Machttheorie geht Habermas hart ins Gericht, sucht Foucault in die Nähe des in Deutschland mehr als in Frankreich als Nazi-Philosophen gesehenen Heideggers zu rücken. Der Nachfolger Habermas‘ im Amt des Frankfurter Schuldirektors, Axel Honneth, ließ dort 2001 eine vielbeachtete „Foucault-Konferenz“ stattfinden, die eine differenziertere Sicht zeigte; in seinem Einführungstext zum Tagungsband scheint Honneth Abbitte für Habermas‘ Polemik leisten zu wollen, grenzt Foucault pointiert von Heidegger ab, stellt ihn in die Tradition des späten Wittgenstein. Foucaults Ziel sei die Subversion der gegebenen Gesellschaftsform gewesen, sein Werk habe in den Humanwissenschaften hergebrachte Begriffe des Sozialen, der Macht, des Wissens, des Subjekts tiefgreifend verändert. Foucault habe den „paradigmenbildenden Kern einer Disziplin, sei es die der Psychoanalyse, der Sexualwissenschaft oder der Kriminologie“ in seiner konstitutiven Evidenz entzaubert (S.17). Die Kritische Theorie seiner Frankfurter Schule, so Honneth, hätte bei unvoreingenommener Auseinandersetzung viel früher von den Einsichten Foucaults lernen können. 1988 hatte sich Honneth selbst noch polemisch an Foucault gerieben, dessen Machttheorie habe „am Ende zu einer systemtheoretisch reduzierten Version der Dialektik der Aufklärung verkümmern“ müssen (S.142).

Die von Suhrkamp als „kleine Sensation“ gefeierte Publikation des Diskurs der Philosophie zeigt das ungebrochene Interesse einer immer noch wachsenden Leserschaft an einem Denker, der gegenwärtige Machtregime mit seiner Kritik ins Mark traf und viele Menschen zum Widerstand motivierte. Das Buch, das der „Philosoph mit der Maske“ seinen zeitgenössischen Lesern offenbar vorenthalten wollte, ist unter anderem eine tiefgreifende Begründung seiner Ablehnung jeglicher „Großtheorien“, mit denen „Großdenker“ wie Habermas auf die universale Geltung westlicher Werte und ihrer globalen Normativität pochen. Foucault verweist demgegenüber auf die Verstrickung des erkennenden Subjekts in das Labyrinth seiner eigenen und der Geschichte der Philosophie, der allgemeinsten kulturellen Form, „in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist“. Die vermeintlich ewigen Werte westlicher Aufklärung, ihrer liberalen Demokratien –die er keineswegs ablehnt, sondern nur deren Unwilligkeit zu Analyse und Selbstkritik eigener Machtstrukturen–, verblassen für Foucault hinter „dem Ereignis“, das man vielleicht heute mit den Namen Guantanamo oder Belmarsh (wo man Julian Assange gefangen hielt) bezeichnen könnte.

Fazit

Das nicht einfache, aber elegant formulierte Buch stellt Foucaults Diskursanalyse der Philosophie in die Traditionen Kants und Nietzsches. Michel Foucault scheut sich nicht, die Philosophie im Sinne seines den Strukturalismus weit überschreitenden Ansatzes komplett neu zu denken. Mit seiner auf eine Gegenwartsdiagnostik zielenden Argumentation richtet sich das Buch an Studierende der Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch an Interessierte anderer Fachrichtungen.

Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 349 S., 34,00 Euro. ISBN: 978-3-518-58811-6

Verlagswerbung zum Buch: Was ist Philosophie? Und welche Rolle spielt sie in der Gegenwartsgesellschaft? Zwischen Juli und Oktober 1966, einige Monate nachdem er durch das Erscheinen von Die Ordnung der Dinge schlagartig zum neuen Star der Philosophie aufgestiegen war, gab Michel Foucault in einem sorgfältig durchkomponierten Manuskript seine Antwort auf diese bis heute viel diskutierten Fragen. Im Gegensatz zu denjenigen, die entweder das Wesen der Philosophie enthüllen oder sie gleich für tot erklären wollen, begreift Foucault sie als einen Diskurs, dessen Ökonomie im Vergleich mit anderen Diskursen – wissenschaftlichen, literarischen, alltäglichen, religiösen – herausgearbeitet werden muss. Der Diskurs der Philosophie schlägt somit eine neue Art und Weise der Philosophiegeschichtsschreibung vor, die von der reinen Kommentierung der großen Denker wegführt. Nietzsche nimmt allerdings einen besonderen Platz ein, da er eine neue Epoche einleitet, in der die Philosophie zur Gegenwartsdiagnose wird: Von nun an ist es ihre Aufgabe, einer Gesellschaft zu erklären, was ihr Zeitalter ausmacht. Nirgendwo hat Michel Foucault die Ambitionen seines intellektuellen Programms so deutlich gemacht wie in diesem Werk, das fast 60 Jahre nach seiner Niederschrift nun erstmals veröffentlicht wird. Eine kleine Sensation!

Literatur

Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, Suhrkamp Verlag

Honneth, Axel: Foucault und Adorno: Zwei Formen einer Kritik der Moderne, in: Peter Kemper (Hg.): „Postmoderne“ oder der Kampf um die Zukunft. Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988, Fischer Verlag, S.127-144

Honneth, Axel u. Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt/M. 2003, Suhrkamp Verlag

Kammler, Clemens und Rolf Parr: Foucault in den Kulturwissenschaften: Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007, Synchron Verlag

Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1974, Suhrkamp Verlag

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, Suhrkamp Verlag

Foucault, Michel: Der Diskurs der Philosophie, Berlin 2024, Suhrkamp Verlag

Visker, Rudi: „Foucault“: Genealogie als Kritik, München 1991, UTB W.Fink Verlag

06/15/15

Netzphilosoph Michel Foucault

Thomas Barth

Westliche Rationalität sieht Foucault als im Netz einer Macht entstanden und verstrickt, die sich in unsere Diskurspraktiken einschreibt. Koloniale, patriarchale, klassistische Unterdrückung sind nur ihre leicht sichtbaren Blumen des Bösen, deren Rhizom, deren Wurzelwerk tief in unserer Kultur verborgen liegt.

Michel Foucault glänzte als Denker und Provokateur, als undogmatischer Linker und Gegenspieler Sartres. Er verstand es, sich erfolgreich einer disziplinierten Wissenschaft zu entziehen: Die Philosophie nannte ihn einen Historiker, Historiker sahen in ihm den Philosophen; Marxisten warfen ihm „infantile leftism“ vor, weil er, wie er selbst mutmaßte, sich weigerte, die obligatorischen Marx-Zitate in seine Schriften einzuflechten. Statt dessen nannte er Marx gern einen „berühmten Nach-Hegelianer“, dessen Reduktion des Menschen auf die Arbeit man vergessen solle.

Auch seine Bekenntnisse zu Nietzsche und Heidegger, den beiden gern als Nazi-Philosophen abgetanen Vordenkern postmoderner Aufklärungskritik, machten ihn verdächtig. (Nietzsche wird dabei wohl fälschlich verdächtigt, wohingegen Heidegger tatsächlich Antisemit im Sinne der Nazis war und in Nazi-Deutschland Karriere machte, was seine philosophischen Einsichten aber nicht völlig entwertet.) Foucaults schwer fassbarer, netzartiger Begriff von Macht ist kaum mit orthodox-marxistischen Vorstellungen kompatibel, weshalb der Denker der Kommunistischen Partei Frankreichs auch schnell den Rücken kehrte.
Die Biographie Foucaults ist reich an Brüchen und Verwerfungen persönlicher und politischer Natur. In zwölf Semestern Studium an der Pariser École normale supérieure brachte der Sohn eines Mediziners es auf drei Abschlüsse (Philosophie/Psychologie) sowie zwei Selbstmordversuche. Er lehrte und forschte dann 1955-59 in Schweden, Polen und Hamburg. 1961 erhielt er den Doktortitel mit „Wahnsinn und Gesellschaft“, eine Geschichte der Ausschließung der Irren im Zusammenhang der Entfaltung abendländischer Vernunft. Die Schrift brachte ihm, wie er sagte, noch 20 Jahre nach der Publikation wütende Briefe von Psychiatern ein. Sein nächstes großes Werk „Die Ordnung der Dinge“ machte ihn 1966 als strukturalistischen Gegenspieler Sartres berühmt. 1970 wird Foucault Professor für die Geschichte der Denksysteme am Collège de France, entwirft ein Programm für die Erforschung diskursiver und sozialer Ausschließungen. 1971 Gründungsmitglied der G.I.P. (Gruppe Gefängnisinformation), deren Arbeit mit Häftlingen zur Kritik an Zuständen im französischen Justizapparat bis hin zu Gefängnisrevolten führt.

1974 deckt Foucault mit „Überwachen und Strafen“ gemeinsame Wurzeln von Liberalismus und Einsperrung, von Freiheitsrechten und Disziplinarinstitutionen auf: Der Panoptismus, die Überwachung vieler durch wenige, erscheint als dunkle Seite der Aufklärung, welche die traditionelle Kritik von Staat und Ökonomie bislang ausgeblendet hatte. Anders als die Frankfurter Schule (Horkheimer/Adorno) sieht Foucault jedoch Widerstandspotentiale jenseits des gescheiterten marxistischen Projekts. 1976 in „Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1)“ lokalisiert Foucault den zentralen Mechanismus einer „Bio-Macht“ in der Kontrolle menschlicher Sexualität, die das Subjekt in seinen Lüsten und Begierden wie die Bevölkerung in der Reproduktion erfasst.

Mikrophysik der Macht

Doch Foucault war nicht nur Wissenschaftler. Immer wieder zog es ihn zu Brennpunkten der Krise westlicher Zivilisation. 1978 berichtete er als Journalist aus Teheran über die erste erfolgreiche Revolution islamischer Fundamentalisten, die im Iran das CIA-gestützte Folterregime des Schahs besiegen: der Beginn der heutigen islamischen Bedrohung der USA. Vier Jahre später war er in Polen und unterstützte mit Hilfstransporten die Gewerkschaft Solidarnosch, die das Ende des „realen Sozialismus“ und der Blockkonfrontation einleitete. Ende der 70er-Jahre, bei Aufenthalten in der schwulen SM-Szene Kaliforniens (Foucault machte keinen Hehl aus seinen Neigungen, bezeichnete sie im Interview als zu gewöhnlich und banal, um sie dem Publikum vorzuenthalten), infizierte er sich vermutlich mit dem damals noch unbekannten HI-Virus. Er starb am 25.6.1984 an Aids. Seine beiden letzten, im selben Jahr erschienenen Bücher „Der Gebrauch der Lüste“ und „Die Sorge um sich“ (Sexualität und Wahrheit 2 u.3) werden als Versuch gedeutet, eine postmoderne Ethik der Selbstkonstituierung zu formulieren.

Anstelle der proletarischen Weltrevolution prognostizierte Foucault den „Tod des Menschen“ bzw. „des Subjekts“: Diese Thesen wurden von Sozialwissenschaftlern der Generation 68 Anfang der 90er-Jahre noch unverstanden bzw. anklagend deklamiert (als Beweis der Verrücktheit Foucaults), dann aber zunehmend kontrovers diskutiert. Für Foucault sind „Mensch“ und „Subjekt“ Formationen in der diskursiven Ordnung der Humanwissenschaften und damit Teil eines heute auf dem Rückzug befindlichen Macht-Wissens-Komplexes. Das Subjekt kann nicht mehr Ursprung der Erkenntnis einer Wahrheit sein, die „Objektivität“ als „intersubjektive Überprüfbarkeit“ definiert. Selbst dann nicht, wenn das erkennende Subjekt Karl Marx heißt.

Die von Foucault analysierte „Mikrophysik der Macht“ wirkt durch kleinste Elemente, sie wirkt als Netz, das die Familie, sexuelle Beziehungen, Wohnverhältnisse, Schule, Krankenhäuser, Psychiatrie, Gefängnisse etc. als Feld von Kräfteverhältnissen und Macht-Wissens-Techniken begreift. Die Macht ist mithin keineswegs, wie Marxisten glauben, im Besitz einer bestimmten Klasse angesiedelt; sie kann auch nicht einfach durch den Sturm auf ihr Zentrum erobert werden. Daher lässt sich Macht auch nicht einfach mit ökonomischer Macht gleichsetzen. Sie ist nicht „monolithisch“ und wird somit nicht von einem einzelnen Punkt aus kontrolliert. Damit wollte Foucault keineswegs traditionelle, etwa gewerkschaftliche Kämpfe gegen die ökonomische Macht unterdrückerischer Geldeliten für nutzlos erklären. Er weist aber darauf hin, dass weitere, weniger sichtbare Zwänge in anderen Machtmechanismen wirken.

Klassische linke Kritikfiguren von Ideologie, Gewalt und Unterdrückung greifen ebenfalls nicht hinsichtlich der Wirkungsweise von so verstandenen Machtverhältnissen. Foucault kritisiert den Ideologiebegriff, da er immer im potentiellen Gegensatz zu etwas steht, was Wahrheit wäre. „Wahrheit“ ist aber selbst ein diskursives Ausschlussprinzip, ein Machtmechanismus, den es zu reflektieren gilt (was von anderen Ansätzen gern in die Spezialdisziplinen z.B. der Wissenschaftssoziologie abgeschoben wird).

Die Macht und die Wahrheit

Im Gegensatz zur marxistischen Vorstellung von Ideologie gibt es für Foucault kein von der Macht abgetrenntes und mit einem (entweder falschen oder marxistischen) Bewusstsein ausgestattetes Subjekt. Statt dessen produziert die Macht Wissen vom Individuum, formt es und ist in seinen Vorstellungen z.B. von Freiheit und Unterdrückung, immer schon präsent. Machtverhältnisse brauchen daher nicht unbedingt Gewalt, vielmehr die Anerkennung des anderen als Subjekt mit einer normierten bzw. zu normalisierenden Individualität.

Sein Hauptaugenmerk gilt daher den Disziplinen und Instanzen, denen diese Normalisierung (meist mit dem Anspruch zu behandeln, zu helfen, sogar zu befreien) obliegt: Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Medizin, Kriminologie, Justiz. Deren Umgang mit dem Subjekt, ihre Diskurse über den Menschen, die das Subjekt erst konstituieren, gilt es zu hinterfragen. Die dunkle Seite der Aufklärung sieht Foucault dabei gerade im „Humanismus“:

>Ich verstehe unter Humanismus die Gesamtheit der Diskurse, in denen man dem abendländischen Menschen eingeredet hat… Auch wenn du die Macht nicht ausübst, kannst du sehr wohl souverän sein. Ja, …je besser du dich der Macht unterwirfst, die über dich gesetzt ist, umso souveräner wirst du sein. Der Humanismus ist die Gesamtheit der Erfindungen, die um diese unterworfenen Souveränitäten herum aufgebaut worden ist…< Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, 1978, S.114

Foucault heute: Anti-Psychiatrie, kritische Kriminologie, Gouvernementalität

In Theorie und Praxis wirkt Foucault heute vor allem überall dort, wo Mechanismen sozialer Ausschließung wirken und Gruppen von Menschen als krank oder kriminell von der Gesellschaft einer Kontrolle oder Behandlung unterzogen werden. In der Anti-Psychiatrie (Ronald D. Laing, Thomas S. Szasz), mit der Foucault von Beginn an sympathisierte gibt es etwa ein deutsches Foucault-Tribunal zur Lage der Psychiatrischen Behandlung, während andere Mediziner und Psychologen ihrerseits hart mit seinem Ansatz ins Gericht gehen.

Besonders seltsam mutet die lange Abwehrhaltung gegenüber Foucault in einer Wissenschaft an, die sich „kritische Kriminologie“ nennt. Ihr Credo entsprach genau dem Foucaults: Analyse der gesellschaftlichen Mechanismen der Ausschließung, speziell von Kriminalisierten. Basis war meist der sozialkonstruktivistische „Labeling“-Ansatz. Der besagt, dass den sozial Ausgegrenzten Etiketten, soziale Stigmata (Labels), angehängt werden, kann aber leider nur schwer erklären, wie und warum das geschieht. Die „kritische Kriminologie“ sah im Hintergrund meist die marxistische Gesellschaftstheorie, nahezu als Synonym für Kritik, und konnte sich von Vorurteilen gegenüber Foucault nur schwer lösen. Diese vielleicht typische Rezeptionsgeschichte kann selbst als Beispiel von Ausschließung im Bereich der Wissenschaft gelten.

Eine erste auf der Gesellschaftskritik von Michel Foucault basierende kritisch-kriminologische Studie kam 1993 aus der Feder des Autors dieser Zeilen: „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft: Systemtheorie, Foucault und die Computerfreaks als Gegenmacht zum Panoptismus der Computer- und Multimedia-Kultur“, befasste sich mit der kriminalisierten Gruppe der Computer-Hacker und setzt sie in Bezug zu einer Genealogie der Informationsgesellschaft.[1] Von der taz wurde es mit der orthodox-marxistischen Kritik aufgenommen, die Computerhacker seien nicht als ökonomische Klasse zu betrachten, daher nicht als Gegenmacht zum globalen Überwachungsnetz denkbar.[2]

In der weiteren Foucault-Rezeption der kritischen Kriminologie zeigt sich heute eine Verlagerung des Schwerpunkts auf Foucaults Begriff der „Gouvernementalität“, auch „gouvernementalization“. Ein Begriff, der den Bezug von Macht-Wissen-Komplexen, die die Mentalität konstituieren, auf das Regieren, insbesondere auf Anbindung an den Staat zeigen soll: ein keineswegs neuer Zugang[3] zu Foucault, der marxistisch sozialisierten Geistern vermutlich leichter fällt. Und auch der heute dominierende Neoliberalismus ist somit trefflich mit Foucault zu kritisieren, vgl.
Cyberspace, Neoliberalismus und inverser Panoptismus
(T.Barth 1997)

Fußnoten:

[1] Als ich 1993 bei den im Hamburger Reformstudiengang „Jura 2“ angesiedelten Kriminologen die erste kritisch-kriminologische Studie vorlegte, die auf der Gesellschaftskritik von Michel Foucault basiert, waren die Reaktionen ambivalent. Die Arbeit „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft“ (Barth, Centaurus-Verlag 1997) wurde zwar in die Schriftenreihe „Hamburger Studien zur Kriminologie“ aufgenommen – jedoch nicht publiziert, sondern von Herausgebern und Hausverlag gute vier Jahre lang auf Eis gelegt. In diesen Jahren vollzog sich geradezu eine „Foucaultianische Wende“ der Kriminologen, wobei die „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft“ natürlich auf keiner Literaturliste auftauchte. Zweifel an der kritisch-kriminologischen Rezeption der Studie verfliegen jedoch z.B. bei Lektüre eines Textes von Professor Sebastian Scheerer „Zehn Thesen zur Zukunft des Gefängnisses – und acht über die Zukunft der sozialen Kontrolle“ -der frappierende Ähnlichkeiten zum Kapitel „Die Antiquiertheit der Einsperrung“ aus Barth 1993 (in der kriminologischen Schriftenreihe von Scheerers Institut publiziert erst 1997) aufweist.

[2] Eine revidierte und weiterentwickelte Fassung meiner inzwischen vergriffenen Studie (Centaurus, der Hausverlag der Kriminologen druckte nur 200 Exemplare) war geplant, konnte von mir jedoch nicht realisiert werden.

[3] Vgl. Smart, Barry, Michel Foucault, London, New York 1985 S.130 ff.