06/15/15

Netzphilosoph Michel Foucault

Thomas Barth

Westliche Rationalität sieht Foucault als im Netz einer Macht entstanden und verstrickt, die sich in unsere Diskurspraktiken einschreibt. Koloniale, patriarchale, klassistische Unterdrückung sind nur ihre leicht sichtbaren Blumen des Bösen, deren Rhizom, deren Wurzelwerk tief in unserer Kultur verborgen liegt.

Michel Foucault glänzte als Denker und Provokateur, als undogmatischer Linker und Gegenspieler Sartres. Er verstand es, sich erfolgreich einer disziplinierten Wissenschaft zu entziehen: Die Philosophie nannte ihn einen Historiker, Historiker sahen in ihm den Philosophen; Marxisten warfen ihm „infantile leftism“ vor, weil er, wie er selbst mutmaßte, sich weigerte, die obligatorischen Marx-Zitate in seine Schriften einzuflechten. Statt dessen nannte er Marx gern einen „berühmten Nach-Hegelianer“, dessen Reduktion des Menschen auf die Arbeit man vergessen solle.

Auch seine Bekenntnisse zu Nietzsche und Heidegger, den beiden gern als Nazi-Philosophen abgetanen Vordenkern postmoderner Aufklärungskritik, machten ihn verdächtig. (Nietzsche wird dabei wohl fälschlich verdächtigt, wohingegen Heidegger tatsächlich Antisemit im Sinne der Nazis war und in Nazi-Deutschland Karriere machte, was seine philosophischen Einsichten aber nicht völlig entwertet.) Foucaults schwer fassbarer, netzartiger Begriff von Macht ist kaum mit orthodox-marxistischen Vorstellungen kompatibel, weshalb der Denker der Kommunistischen Partei Frankreichs auch schnell den Rücken kehrte.
Die Biographie Foucaults ist reich an Brüchen und Verwerfungen persönlicher und politischer Natur. In zwölf Semestern Studium an der Pariser École normale supérieure brachte der Sohn eines Mediziners es auf drei Abschlüsse (Philosophie/Psychologie) sowie zwei Selbstmordversuche. Er lehrte und forschte dann 1955-59 in Schweden, Polen und Hamburg. 1961 erhielt er den Doktortitel mit „Wahnsinn und Gesellschaft“, eine Geschichte der Ausschließung der Irren im Zusammenhang der Entfaltung abendländischer Vernunft. Die Schrift brachte ihm, wie er sagte, noch 20 Jahre nach der Publikation wütende Briefe von Psychiatern ein. Sein nächstes großes Werk „Die Ordnung der Dinge“ machte ihn 1966 als strukturalistischen Gegenspieler Sartres berühmt. 1970 wird Foucault Professor für die Geschichte der Denksysteme am Collège de France, entwirft ein Programm für die Erforschung diskursiver und sozialer Ausschließungen. 1971 Gründungsmitglied der G.I.P. (Gruppe Gefängnisinformation), deren Arbeit mit Häftlingen zur Kritik an Zuständen im französischen Justizapparat bis hin zu Gefängnisrevolten führt.

1974 deckt Foucault mit „Überwachen und Strafen“ gemeinsame Wurzeln von Liberalismus und Einsperrung, von Freiheitsrechten und Disziplinarinstitutionen auf: Der Panoptismus, die Überwachung vieler durch wenige, erscheint als dunkle Seite der Aufklärung, welche die traditionelle Kritik von Staat und Ökonomie bislang ausgeblendet hatte. Anders als die Frankfurter Schule (Horkheimer/Adorno) sieht Foucault jedoch Widerstandspotentiale jenseits des gescheiterten marxistischen Projekts. 1976 in „Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1)“ lokalisiert Foucault den zentralen Mechanismus einer „Bio-Macht“ in der Kontrolle menschlicher Sexualität, die das Subjekt in seinen Lüsten und Begierden wie die Bevölkerung in der Reproduktion erfasst.

Mikrophysik der Macht

Doch Foucault war nicht nur Wissenschaftler. Immer wieder zog es ihn zu Brennpunkten der Krise westlicher Zivilisation. 1978 berichtete er als Journalist aus Teheran über die erste erfolgreiche Revolution islamischer Fundamentalisten, die im Iran das CIA-gestützte Folterregime des Schahs besiegen: der Beginn der heutigen islamischen Bedrohung der USA. Vier Jahre später war er in Polen und unterstützte mit Hilfstransporten die Gewerkschaft Solidarnosch, die das Ende des „realen Sozialismus“ und der Blockkonfrontation einleitete. Ende der 70er-Jahre, bei Aufenthalten in der schwulen SM-Szene Kaliforniens (Foucault machte keinen Hehl aus seinen Neigungen, bezeichnete sie im Interview als zu gewöhnlich und banal, um sie dem Publikum vorzuenthalten), infizierte er sich vermutlich mit dem damals noch unbekannten HI-Virus. Er starb am 25.6.1984 an Aids. Seine beiden letzten, im selben Jahr erschienenen Bücher „Der Gebrauch der Lüste“ und „Die Sorge um sich“ (Sexualität und Wahrheit 2 u.3) werden als Versuch gedeutet, eine postmoderne Ethik der Selbstkonstituierung zu formulieren.

Anstelle der proletarischen Weltrevolution prognostizierte Foucault den „Tod des Menschen“ bzw. „des Subjekts“: Diese Thesen wurden von Sozialwissenschaftlern der Generation 68 Anfang der 90er-Jahre noch unverstanden bzw. anklagend deklamiert (als Beweis der Verrücktheit Foucaults), dann aber zunehmend kontrovers diskutiert. Für Foucault sind „Mensch“ und „Subjekt“ Formationen in der diskursiven Ordnung der Humanwissenschaften und damit Teil eines heute auf dem Rückzug befindlichen Macht-Wissens-Komplexes. Das Subjekt kann nicht mehr Ursprung der Erkenntnis einer Wahrheit sein, die „Objektivität“ als „intersubjektive Überprüfbarkeit“ definiert. Selbst dann nicht, wenn das erkennende Subjekt Karl Marx heißt.

Die von Foucault analysierte „Mikrophysik der Macht“ wirkt durch kleinste Elemente, sie wirkt als Netz, das die Familie, sexuelle Beziehungen, Wohnverhältnisse, Schule, Krankenhäuser, Psychiatrie, Gefängnisse etc. als Feld von Kräfteverhältnissen und Macht-Wissens-Techniken begreift. Die Macht ist mithin keineswegs, wie Marxisten glauben, im Besitz einer bestimmten Klasse angesiedelt; sie kann auch nicht einfach durch den Sturm auf ihr Zentrum erobert werden. Daher lässt sich Macht auch nicht einfach mit ökonomischer Macht gleichsetzen. Sie ist nicht „monolithisch“ und wird somit nicht von einem einzelnen Punkt aus kontrolliert. Damit wollte Foucault keineswegs traditionelle, etwa gewerkschaftliche Kämpfe gegen die ökonomische Macht unterdrückerischer Geldeliten für nutzlos erklären. Er weist aber darauf hin, dass weitere, weniger sichtbare Zwänge in anderen Machtmechanismen wirken.

Klassische linke Kritikfiguren von Ideologie, Gewalt und Unterdrückung greifen ebenfalls nicht hinsichtlich der Wirkungsweise von so verstandenen Machtverhältnissen. Foucault kritisiert den Ideologiebegriff, da er immer im potentiellen Gegensatz zu etwas steht, was Wahrheit wäre. „Wahrheit“ ist aber selbst ein diskursives Ausschlussprinzip, ein Machtmechanismus, den es zu reflektieren gilt (was von anderen Ansätzen gern in die Spezialdisziplinen z.B. der Wissenschaftssoziologie abgeschoben wird).

Die Macht und die Wahrheit

Im Gegensatz zur marxistischen Vorstellung von Ideologie gibt es für Foucault kein von der Macht abgetrenntes und mit einem (entweder falschen oder marxistischen) Bewusstsein ausgestattetes Subjekt. Statt dessen produziert die Macht Wissen vom Individuum, formt es und ist in seinen Vorstellungen z.B. von Freiheit und Unterdrückung, immer schon präsent. Machtverhältnisse brauchen daher nicht unbedingt Gewalt, vielmehr die Anerkennung des anderen als Subjekt mit einer normierten bzw. zu normalisierenden Individualität.

Sein Hauptaugenmerk gilt daher den Disziplinen und Instanzen, denen diese Normalisierung (meist mit dem Anspruch zu behandeln, zu helfen, sogar zu befreien) obliegt: Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Medizin, Kriminologie, Justiz. Deren Umgang mit dem Subjekt, ihre Diskurse über den Menschen, die das Subjekt erst konstituieren, gilt es zu hinterfragen. Die dunkle Seite der Aufklärung sieht Foucault dabei gerade im „Humanismus“:

>Ich verstehe unter Humanismus die Gesamtheit der Diskurse, in denen man dem abendländischen Menschen eingeredet hat… Auch wenn du die Macht nicht ausübst, kannst du sehr wohl souverän sein. Ja, …je besser du dich der Macht unterwirfst, die über dich gesetzt ist, umso souveräner wirst du sein. Der Humanismus ist die Gesamtheit der Erfindungen, die um diese unterworfenen Souveränitäten herum aufgebaut worden ist…< Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, 1978, S.114

Foucault heute: Anti-Psychiatrie, kritische Kriminologie, Gouvernementalität

In Theorie und Praxis wirkt Foucault heute vor allem überall dort, wo Mechanismen sozialer Ausschließung wirken und Gruppen von Menschen als krank oder kriminell von der Gesellschaft einer Kontrolle oder Behandlung unterzogen werden. In der Anti-Psychiatrie (Ronald D. Laing, Thomas S. Szasz), mit der Foucault von Beginn an sympathisierte gibt es etwa ein deutsches Foucault-Tribunal zur Lage der Psychiatrischen Behandlung, während andere Mediziner und Psychologen ihrerseits hart mit seinem Ansatz ins Gericht gehen.

Besonders seltsam mutet die lange Abwehrhaltung gegenüber Foucault in einer Wissenschaft an, die sich „kritische Kriminologie“ nennt. Ihr Credo entsprach genau dem Foucaults: Analyse der gesellschaftlichen Mechanismen der Ausschließung, speziell von Kriminalisierten. Basis war meist der sozialkonstruktivistische „Labeling“-Ansatz. Der besagt, dass den sozial Ausgegrenzten Etiketten, soziale Stigmata (Labels), angehängt werden, kann aber leider nur schwer erklären, wie und warum das geschieht. Die „kritische Kriminologie“ sah im Hintergrund meist die marxistische Gesellschaftstheorie, nahezu als Synonym für Kritik, und konnte sich von Vorurteilen gegenüber Foucault nur schwer lösen. Diese vielleicht typische Rezeptionsgeschichte kann selbst als Beispiel von Ausschließung im Bereich der Wissenschaft gelten.

Eine erste auf der Gesellschaftskritik von Michel Foucault basierende kritisch-kriminologische Studie kam 1993 aus der Feder des Autors dieser Zeilen: „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft: Systemtheorie, Foucault und die Computerfreaks als Gegenmacht zum Panoptismus der Computer- und Multimedia-Kultur“, befasste sich mit der kriminalisierten Gruppe der Computer-Hacker und setzt sie in Bezug zu einer Genealogie der Informationsgesellschaft.[1] Von der taz wurde es mit der orthodox-marxistischen Kritik aufgenommen, die Computerhacker seien nicht als ökonomische Klasse zu betrachten, daher nicht als Gegenmacht zum globalen Überwachungsnetz denkbar.[2]

In der weiteren Foucault-Rezeption der kritischen Kriminologie zeigt sich heute eine Verlagerung des Schwerpunkts auf Foucaults Begriff der „Gouvernementalität“, auch „gouvernementalization“. Ein Begriff, der den Bezug von Macht-Wissen-Komplexen, die die Mentalität konstituieren, auf das Regieren, insbesondere auf Anbindung an den Staat zeigen soll: ein keineswegs neuer Zugang[3] zu Foucault, der marxistisch sozialisierten Geistern vermutlich leichter fällt. Und auch der heute dominierende Neoliberalismus ist somit trefflich mit Foucault zu kritisieren, vgl.
Cyberspace, Neoliberalismus und inverser Panoptismus
(T.Barth 1997)

Fußnoten:

[1] Als ich 1993 bei den im Hamburger Reformstudiengang „Jura 2“ angesiedelten Kriminologen die erste kritisch-kriminologische Studie vorlegte, die auf der Gesellschaftskritik von Michel Foucault basiert, waren die Reaktionen ambivalent. Die Arbeit „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft“ (Barth, Centaurus-Verlag 1997) wurde zwar in die Schriftenreihe „Hamburger Studien zur Kriminologie“ aufgenommen – jedoch nicht publiziert, sondern von Herausgebern und Hausverlag gute vier Jahre lang auf Eis gelegt. In diesen Jahren vollzog sich geradezu eine „Foucaultianische Wende“ der Kriminologen, wobei die „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft“ natürlich auf keiner Literaturliste auftauchte. Zweifel an der kritisch-kriminologischen Rezeption der Studie verfliegen jedoch z.B. bei Lektüre eines Textes von Professor Sebastian Scheerer „Zehn Thesen zur Zukunft des Gefängnisses – und acht über die Zukunft der sozialen Kontrolle“ -der frappierende Ähnlichkeiten zum Kapitel „Die Antiquiertheit der Einsperrung“ aus Barth 1993 (in der kriminologischen Schriftenreihe von Scheerers Institut publiziert erst 1997) aufweist.

[2] Eine revidierte und weiterentwickelte Fassung meiner inzwischen vergriffenen Studie (Centaurus, der Hausverlag der Kriminologen druckte nur 200 Exemplare) war geplant, konnte von mir jedoch nicht realisiert werden.

[3] Vgl. Smart, Barry, Michel Foucault, London, New York 1985 S.130 ff.

05/28/15

WDR: Interaktiver Themenabend Überwachung

Am Donnerstag, 28. Mai veranstaltet der Westdeutsche Rundfunk einen interaktiven Themen-Abend zu digitaler Überwachung. Die Whistleblower Edward Snowden und Julian Assange werden live zugeschaltet und Zuschauer.innen können sich über das Internet beteiligen.

Johanna Springhorn 27.05.2015

Am Donnerstag, 28. Mai hat der Westdeutsche Rundfungk einen „interaktiven Überwachungsabend“ im Programm: Überwachung und Bespitzelung findet täglich durch Geheimdienste und Konzerne statt. Aber was bedeutet diese ständige Überwachung für den einzelnen Menschen?

Supernerds im Theater, Radio und TV

Unter dem Namen „Supernerds“ bringt die Kölner Regisseurin Angela Richter ein Theaterstück über Enthüllung und digitale Überwachung auf die Bühne, das an diesem Abend Premiere feiert. Parallel wird in einem WDR-Studio nebenan eine Livesendung mit Bettina Böttinger stattfinden, die auf das Theaterstück Bezug nimmt. Fernsehen und Theater sollen gegenseitig aufeinander reagieren. Außerdem sendet das WDR3 Radio live mit Max von Malotki von der Bühne des Theaterstücks.

Zuschauer.innen erleben Folgen von Überwachung

Zuschauerinnen und Zuschauer werden in das Geschehen auf der Theaterbühne eingebunden: „Wir fordern die Zuschauer auf, ihre eigenen Daten preiszugeben“, sagte eine Sprecherin. Durch die Preisgabe ihrer Daten können Sie erfahren, wie angreifbar Menschen werden, wenn Sie bestimmte Details von sich zu veröffentlichen. Wer sich auf das Experiment einlassen möchte, kann sich im Vorfeld auf www.supernerds.tv anmelden und persönliche Daten wie Geburtstage und Mobilfunknummern angeben. Und auch während der Show wird Interaktion im Stück möglich sein.

Live: Edward Snowden und Julian Assange

Die Supernerds-Regissuerin Angela Richter hat Snowden, Assange und weitere Enthüller im Vorfeld getroffen und mit ihnen Interviews zur alltäglichen Überwachung geführt. Im Rahmen des Supernerds-Abends sollen sowohl Snowden als auch Assange live zugeschaltet werden.

Digitale Dissidenten – Die Dokumentation

Im Anschluss an die Live-Übertragung des Theaterstücks SUPERNERDS zeigt das WDR-Fernsehen um 22:15 Uhr die 90-minütige Hintergrund-Dokumentation „Digitale Dissidenten“. Der Film fragt nach der Motivation und den Schicksalen von Whistleblower.innen, Hacker.innen und Aktivist.innen, u.a. mit Edward Snowden, Julian Assange, Daniel Ellsberg, Thomas Drake und William Binney.

Weitere Vorstellungen des Theaterstücks Supernerds

Das Theaterstück Supernerds wird elf weitere Male auf der Bühne aufgeführt. Live ist die Veranstaltung jeweils im WDR-Fernsehen und auf www.supernerds.tv im Stream zu sehen. Auch hier ist die Beteiligung von Zuschauer.innen eingeplant.

(reblogged von https://digitalcourage.de/blog/2015/interaktiver-themenabend-zu-ueberwachung-im-wdr)

Weiterführende Links

03/18/15

Mark Lombardi: Kunst & Konspiration

Filmkritik von Thomas Barth

Es ist ein deutscher Dokumentarfilm von Mareike Wegener (Realfictionfilm) über Leben und Werk des unter mysteriösen Umständen verstorbenen Künstlers Mark Lombardi, der dubiose Transaktionen der Finanzindustrie zu Bildern verarbeitete: Kunst als konkrete Netzphilosophie, die Machtnetzwerke sichtbar macht.

Lombardis „Narrative Structures“ sind elegante Organi- und Soziogramme, Bleistift auf beigem Papier: Eine künstlerisch bemerkenswerte Serie von Zeichnungen, Diagramme mit visuellen Darstellungen, die Machtbeziehungen der globalen Wirtschaft und Politik darstellen. Jetzt läuft in deutschen Kinos der Film „Mark Lombardi: Kunst und Konspiration“ über Leben und Werk des Künstlers, der sich, laut offizieller Darstellung, am 22.März 2000 das Leben nahm.

In ihrer betont unaufgeregten Dokumentation porträtiert Wegner posthum einen bemerkenswerten Künstler, der fast investigativ-journalistische „Elitenforschung betrieb. Im Internet ein Phänomen, ist Lombardi in Deutschland über die engere Kunstszene hinaus noch weitgehend unbekannt. Wegener recherchierte und drehte für diesen Film monatelang in den USA. Visuell arbeitet sie mit Bildern, die man aus journalistischen Enthüllungsfilmen kennt, mit Aufnahmen imposanter Gebäudefassaden, Experten- und Zeugen-Interviews, Kamerafahrten hinab ins Archiv Lombardis. Doch statt den sonst auf Betrachter einprasselnden Fakten und atemlosen Reporterberichten begleitet die Aufnahmen oft Schweigen, die Gespräche und Kommentare sind ruhig, lassen Zeit zum Nachdenken. Ähnliche Eindrücke in einem vergleichbaren Kontext weckte bislang nur der Film von Gerhard Friedl: „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ Die bemerkenswerte Kameraführung ist Sophie Maintigneux zu verdanken, die schon mit Godard filmte.

In 1994 I began a series of drawings I refer to as „narrative structures.“ Most were executed in graphite or pen and ink on paper. Some are quite large, measuring up to 5×12 feet. I call them „narrative structures“ because each consists of a network of lines and notations that are meant to convey a story, typically a recent event of interest to me, like the collapse of a large international bank, trading company, or investment house. One of my goals is to explore the interaction of political, social, and economic forces in contemporary affairs. Mark Lombardi, The Recent Drawings: An Overview

Originalzeichnung Mark Lombardi

Mark Lombardi begann 1995, zunächst wenig beachtet, in Houston seine Zeichnungen auszustellen. Erste größere Aufmerksamkeit weckte er im Rahmen einer Gruppenausstellung im Drawing Center, SoHo 1997. Er zog nach New York und hatte seine erste Einzelausstellung, “Silent Partners“, im Jahr 1999 in der Galerie Pierogi 2000, die heute noch seine Werke im Bestand führt, dann folgte “Vicious Circles“ in der Devon Golden Gallery in Chelsea. Es war ein kurzer, aber stetiger Anstieg der Aufmerksamkeit: Lombardis Arbeiten wurden inzwischen weltweit in zahlreichen Museen und Galerien ausgestellt.

Mark Lombardi: Der Künstler, der Elitenforschung betrieb

Dennoch ist Lombardi in Deutschland über die engere Kunstszene hinaus noch weitgehend unbekannt, wie der fast leere Kinosaal in Hamburg bezeugen konnte. Die meisten Besucher interessierten sich für die rein künstlerische Seite, begeisterten sich für die Kameraführung, Sophie Maintigneux zu verdanken, die schon mit Godard filmte. Interesse galt auch den Zeichnungen Lombardis, man bewundert die exakte Raumaufteilung, auch die akribische Ausführung der auf den ersten Blick wie florale Ornamente wirkenden, quadratmetergroßen Diagramme. Im Film wie im Netz sind die Bilder schwer darstellbar, es gibt zu viele Details, man verliert schnell den Überblick. Nur wenige Fragen bezogen sich auf die Inhalte hinter der Kunst, ein Besucher des Metropolis wies auf die Website They Rule hin, ein weiterer auf den deutschen Professor Hans-Jürgen Krysmanski (Wer die Fäden zieht), der sich soziologisch mit Power Structure Research befasst, jenem Gebiet, das am ehesten Lombardis Kunst in den Wissenschaften entspricht.

Elitenforschung, Power Structure Research, wird nicht nur von professionellen Sozialwissenschaftlern getrieben, sondern auch von Journalisten, watchdog groups, politischen Parteien, Aktivisten in sozialen Bewegungen, Gewerkschaftern, Nerds und sogar von Künstlern. Der amerikanische Maler Mark Lombardi (1951-2000) nahm seinerzeit politische und Finanz-Skandale zum Anlass, großformatige Diagramme der beteiligten Personen und Personengruppen anzufertigen, die einerseits auf dem Kunstmarkt reüssierten, andererseits aber schmutzige Deals und kriminelle Aktivitäten der oberen Zehntausend festhielten. Lombardi hatte sich eine private Datenbank mit über 12 000 Karteikarten angelegt. Seine Kunst überschritt ständig die Grenze zum investigativen Journalismus und zum Verschwörungsdenken, so dass sich vor seinem mysterösen Tod – er wurde erhängt in seinem Atelier aufgefunden – auch das FBI für seine Diagramme zu interessieren begann. Für mich ist Lombardi ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Power Structure Research auch Graswurzelforschung sein kann.

Wer war der Mensch hinter den seltsamen Zeichnungen? An Spekulationen über den offiziell als Selbstmord deklarierten Tod Lombardis beteiligt sich Mareike Wegener bewusst nicht. Nur wenige von ihr Interviewte deuten ihr Unverständnis an, allein den Eltern wird mehr Raum gegeben, Zweifel an der Suizidtheorie der Polizei zu äußern. Die Dokumentation bleibt auch hier sachlich und nüchtern, verzichtet auf jede reißerische Darstellung. Intensive Einstellungen fangen dennoch Resignation und Trauer ein. Auch weitere Verwandte und Freunde werden im Film zurückhaltend befragt, erzählen von abgehörten Telefonaten, späteren Interventionen des Heimatschutzministeriums und einer FBI-Beamtin, die nach den 9/11-Anschlägen eine Zeichnung beschlagnahmen ließ. Letztlich teilt der Betrachter des Films die Ratlosigkeit der Interviewten.

Kann Lombardis Biographie Antworten geben? Sie wurde bereits in der Vergangenheit Ziel von Spekulationen. Nach seinem Tod im Jahr 2000 brachte die New York Times ein kurzes Porträt über „den Künstler, der sich von Skandalen inspirieren ließ“. Mark Lombardi wurde 1951 in Syrakus geboren, wo er studierte und eine Bachelor-Prüfung in Kunstgeschichte an der Syracuse University ablegte. Nach seinem College-Abschluss zog er nach Houston, wo er kurz die Stelle des stellvertretenden Kurators am Museum of Contemporary Art bekleidete. Dann betrieb Lombardi eine kleine Galerie, um sich nebenher der abstrakten Malerei zu widmen. Er begann mit seinen Zeichnungen 1993, inspiriert durch ein beim Telefonieren gekritzeltes Diagramm, ein befreundeter Banker hatte ihm über den Skandal der US-Sparkassenkrise berichtet.

Damals war es in Folge der ersten Deregulierungswelle im Finanzsektor durch Ronald Reagan zu Spekulationsblasen und betrügerischen Bankrotten gekommen: Ein kleiner Vorgeschmack auf die Dot-Com-Blase 2000 und die große Bankenkrise 2008, die uns heute als Staatsschuldenkrise weiter verfolgt. Soweit die NYT. In Wikipedia liest man eine andere Version: Es ging in dem Telefonat um den Iran-Contra-Skandal, genauer: um den Waffenhändler Adnan Khashoggi, dessen Beziehungen Lombardi in einem einfachen Baumdiagramm dargestellt habe. Beide Bezüge weisen auf das besondere Interesse Lombardis an mafiösen Strukturen der Finanzwelt hin.

In einem der wenigen von ihm überlieferten Texte: The ‚Offshore‘ Phenomenon: Dirty Banking in a Brave New World geht er den Schwarzgeldströmen nach, die Steuerhinterziehung, Drogen- und Waffenhandel sowie die Geheimdienste einbeziehen, fordert ein Verbot der Schattenökonomie, wie später die Globalisierungskritiker von Attac. Sein Text liest sich wie die sorgsam rekonstruierte Vorgeschichte der aktuellen Finanzkrise.

Lombardi: The „Offshore“ Phenomenon

Doch Lombardi war kein Aktivist, er verwandelte seine Erkenntnisse in Kunst, damit entkam er einer Subsummierung unter die Rubrik „Verschwörungstheorie“. Zweifellos kann man seine Werke einfach als Kunst genießen. Die Kunstkritikerin Frances Richard meint, dass Lombardi mit seinem Begriff „Narrative Strukturen“ stillschweigend zugab, seine kartographierte Konversation sei eine konstruierte Fantasie, eine abenteuerliche und vorsätzliche Verwechslung von quantitativer und qualitativer Analyse. Karten gehören für sie in den Bereich von Zahlen und Körperlichkeit (oder scheinen dorthin zu gehören), während das Gespräch ein durch und durch subjektiver, immaterieller Prozess ist.

Dennoch mutet es geradezu hellseherisch an, wie Lombardi die Themen vorauszusehen schien, die uns seitdem beschäftigen. Wie kam er zu seinen Ideen, wie zu den Informationen? Lombardi las täglich mehrere Zeitungen, viele Bücher und zog seine Information ausschließlich aus öffentlichen Quellen. Er erstellte ein Archiv mit über 12.000 Karteikarten voll Information über Verbindungen von Macht, Geld und Personen, mit nachvollziehbarer Quellendokumentation. In einem künstlerisch kreativen Akt schuf er dann ein Organigramm zu einer Thematik, die ästhetische Gestaltung mit präziser Tatsachendarstellung verband. Bislang wurden, soweit bekannt, die Archivdaten noch nicht weiter ausgewertet – soziologische Forscher zeigten ebenso Interesse wie das FBI.

Kassel stellte auch das Opus Magnum Lombardis aus: „BCCI-ICIC & FAB, 1972-91“, jenes Bild, das nach 9/11 2001 vom FBI konfisziert wurde. Wegener beschreibt in ihrem Film, wie dieses Bild im Jahr 2000 vor einer wichtigen Ausstellung New Yorker Museum PS 1 zerstört wurde – ein Defekt in der Sprinkleranlage des Ateliers. Lombardi arbeitete bis zur Erschöpfung an einer Restaurierung, aber schon drei Wochen später fand man ihn erhängt in seiner Wohnung. Ein Suizid scheint unverständlich, so kurz nach einem großen öffentlichen Durchbruch seiner Kunst. Das 3sat-Magazin Kulturzeit sagt über das Bild:

Die Bank of Credit and Commerce, kurz BCCI, stand in den 1980er Jahren im Zentrum eines riesigen Bankenskandals. BCCI war keine normale Bank, ihre Manager waren Geheimdienstleute. Ihr einziger Zweck: Gelder waschen, korrupte Politiker schmieren, Waffengelder schleusen.

Lombardis Werk nahm künstlerisch Erkenntnisse auch der Ökonomen vorweg, so wirkt zumindest ein Blick auf sein Bild World Finance Corporation and Associates, ca. 1970-84, vergleicht man es mit Ergebnissen der ETH Zürich zur Vernetzung der 147 mächtigsten Großkonzerne der Welt (meist Banken), deren Studie „The network of global corporate control“auch Korruptionsforscher wie Werner Rügemer inspirierte (Die Macht der Rating-Agenturen).

Lombardi las Bücher über Korruption, politische Verbrechen und Geldwäsche, verfolgte die dubiosen Transaktionen der Finanzindustrie – zweifellos ungewöhnlich für einen Künstler. Ob seine Zeichnungen uns je als Tapetenmuster begegnen werden, wie Motive van Goghs? Ihre Ästhetik würde dies rechtfertigen, ihr zeitkritischer Inhalt ebenso und vermutlich wäre es auch im Sinne ihres Schöpfers. Der Kunsthistoriker Robert Hobbs glaubt in Wegeners Film, die Motivation Lombardis zu kennen: Er wollte die Menschen anstiften, die Welt zu verändern.

02/3/15

Zivilgesellschaft & digitaler Ungehorsam

In einem aktuellen Beitrag beschäftigen sich Heinz Kleger und Eric Makswitat von der Universität Potsdam mit dem Thema Datenschutz in Europa. Im Gegensatz zu Anthony Dworkins richten sie ihren Fokus nicht auf die Politik, sondern auf Aktionen von der Zivilgesellschaft.

Theresa Kruse 25.02.2015

So merkwürdig es scheint: Die meisten Akteure aus dem NGO-Sektor und die vielen zivilgesellschaftlichen Aktivisten mit ihrem kritischen Bürgersinn, finden zwar nicht gut, was gerade so datenmäßig und überwachungstechnisch alles passiert – aber sie haben weder ein gesteigertes Interesse an ihrem eigenen Schutz, noch setzen sie sich für grundlegende Reformen ein. Stellvertretend für ‚die Zivilgesellschaft‘ kann man vielleicht das Bürgernetzwerk Bürgerschaftliches Engagement nennen, in dem sich große Teile der organisierten deutschen Zivilgesellschaft zusammengeschlossen haben. Hier sucht man vergeblich nach Ideen, was Snowdens Enthüllungen für die deutsche Zivilgesellschaft und für das bürgerschaftliche Engagement in unserem Land bedeuten.

Selbst internationale Demokratie-Aktivisten, die von Überwachung bedroht sind, nutzen nicht automatisch Sicherheits-Tools. Sehr selten reflektieren sie über ihren persönlichen Schutz hinaus die politische Bedeutung und was das Recht auf Privatheit in ihren Konzeptionen von Demokratie und Menschenrechten zu suchen hat.

Bleiben die Aktions- und Beteiligungsformen abseits der formalen Strukturen der Zivilgesellschaft. Hier kreisen mehr und mehr informelle Gruppen und oft künstlerische Akteure um die Fragen Überwachung, Selbstbestimmung, Privatheit und Sicherheit. Heinz Kleger und Eric Makswitat von der Universität Potsdam untersuchen den zivilen Ungehorsam als Handlungsfeld des digitalen Aktivismus.

Handlungen, die im Sinne des guten Ziels als legitim angesehen werden, gehören seit jeher zum digitalen Aktivismus – auch wenn sie illegal sind. Die Autoren diagnostizieren, dass das qualitativ Neue am digitalen zivilen Ungehorsam ist, dass dieser um „Sichtbarmachung und Thematisierung“ kreist. Dieser Ungehorsam speise sich nicht so sehr aus einer protestbereiten Öffentlichkeit, sondern schaffe diese erst einmal, um den Mangel an öffentlichem Bewusstsein und Information auszugleichen.

Ist das der politikwissenschaftliche Ritterschlag für Anonymous? Mitnichten, denn gerade bei deren Aktionen sehen Kleger und Maskwitat die legitimen Grenzen des zivilen Ungehorsames oft überschritten. Im Unterschied zu analogen Sitzblockaden, mit denen man Distributed Denial of Service-Attacken am ehesten vergleichen könnte, seien die Folgen der Ausschaltung großer und wichtiger Dienste im Internet jedoch wesentlich weniger kalkulierbar. Zu viele Unbeteiligte seien betroffen: „Die Folgenverantwortung, die zur politischen Ethik gehört, ist nicht im Blick“, schreiben sie. Kritisch sehen die Autoren auch, wenn Aktivisten „nicht nur informieren, sondern ihre vermeintlichen Gegner auch bestrafen“. Selbstjustiz sei aber gerade kein legitimes Ziel demokratischen Aktivismus. Ebenso widersprächen „die Züge des Klandestinen und Konspirativen den Kriterien des zivilen Ungehorsames.“

Unstrittig ist für die beiden Autoren, dass Edward Snowdens Aktionen zum zivilen Ungehorsam gehören. Im Gegensatz zu Julian Assanges Ohne-Rücksicht-auf-Verluste-Strategie der Veröffentlichung kritischer Informationen (Anm. Netzphil: inzwischen ist bekannt, dass dieser falsche Vorwurf gegen Assange von genau jenen Guardian-Journalisten verbreitet wurde, die für die fahrlässige Publikation des Passwortes verantwortlich waren, mit dem die wegen der Verfolgung durch NSA, CIA, FBI usw. verschlüsselten und global verteilten Wikileaks-Dateien weltweit lesbar wurden; Geheimdienste und willige Medien griffen die Verleumdung jahrelang begierig auf, um Stimmung gegen Wikileaks zu machen; Assange hat diese Beschuldigungen zurückgewiesen, ihm wurde niemals entsprechendes Fehlverhalten nachgewiesen) schätzen sie an Snowdens dosierter Herausgabe von Informationen das verantwortungsbewusste Bemühen um eine Begrenzung des möglichen Schadens, weil er eine qualitative journalistische Aufarbeitung ermöglicht.

Letztlich sei die richtige und legitime Strategie in der Demokratie aber die Mehrheiten zu bilden. Ungehorsam könne da nur die Ausnahme bleiben und ist im Sinne einer „Zivilität des Ungehorsams“ an Kriterien wie die immaterielle und materielle Abwägung der Folgen, Zielgerichtetheit, Friedlichkeit und die Relation des Handelns zu höheren verfassungsmäßigen Werten gebunden.

Das Schweigen der organisierten Zivilgesellschaft

Dworkins auf der einen sowie Kleger und Makswitat auf der anderen Seite behandeln die zwei entgegengesetzten Richtungen des politischen Handlungsspektrums. Hier die Sphäre der supranationalen Verhandlung, der Advocacy und des juristischen Kampfs auf europäischer Ebene, dort der Aktivismus einzelner oder loser Gruppen.

In Europa befindet man sich bei manchem politischen Vorhaben womöglich auch mit denen in einem Boot, die man wegen anderer Dinge bei den BigBrotherAwards prämiert. Das passiert etwa bei Fragen der Verschlüsselung oder Netzneutralität, mit Abstrichen auch bei Urheberrechtsfragen. Bei anderem wie den Big-Data-Regulierungen bleibt man Gegner. Hier muss man Pragmatismus wagen, ohne die Glaubwürdigkeit der digitalen Advocates zu unterlaufen.

Der digitale Aktivismus hat eine spezifische Ausprägung des zivilen Ungehorsames hervorgebracht, der zum kulturellen Kern seiner Bewegung gehört. Er schafft es in einzelnen Fällen Aufmerksamkeit zu erregen und hat auch durchaus Sympathisanten unter Bürgern, in der Politik und in den Medien, die seine Aktivisten als Experten schätzen und in einer speziellen Weise als Hacker oder digitale Bohème heroisieren. Digitaler Ungehorsam kann aber aus demokratie-theoretischen Erwägungen nur ein Teil einer größeren politischen Strategie sein, muss die Ausnahme der Aktionsformen darstellen und Standards genügen, die ihn zivil und demokratisch machen.

Wirksame Bewegungen haben funktionale Lösungen gefunden, wie sie in solch unterschiedlichen Sphären handlungsfähig sein können und die sich ergebenden Dilemmata verhandeln. Insofern kommt Organisationen wie Digitalcourage, aber auch Netzwerkveranstaltungen wie dem CCC oder sektorenübergreifenden Foren des Austauschs und der Kooperation eine wichtige intermediäre Funktion zu.

(reblogged von https://digitalcourage.de/blog/zivilgesellschaft-und-digitaler-ungehorsam)

Weiterführende Links

12/5/14

Uralte Stereotype: Hacker, Nerds, Computerfreaks

Thomas Barth

Als im Wahlkampf 2012 SPIEGEL-Schreiber Mathias Matussek mit seinem Pamphlet „Das maschinenhafte Menschenbild der Piraten“ gegen die neue Netzpartei trommeln wollte, ahnte er wohl nicht, dass er sich damit in eine lange Tradition stellte: Das Stigmatisieren der Netzkultur. Er stellte sich damit gegen neue Ansätze zur Vermeidung einer drohenden totalen Überwachung, welche mit ausuferndem Lobbyismus und Korruption in Medien und Politik einhergeht.

Matussek bediente sich im Dienste Bertelsmanns für den „Spiegel“ eines der ältesten Stereotype gegen Computernutzer –wenn auch nur unbewusst bzw. nach Hörensagen, wie man angesichts seiner eher mäßigen Kenntnisse der Netzkultur wohl vermuten muss.

Der „Maschinelle Charakter“

1987 galt die Studie „Der maschinelle Charakter“ (in Anlehnung an Adornos „Studie zum Autoritären Charakter“) der führenden akademischen Experten Pflüger & Schurz als Stand der Forschung; darin wurde allen Ernstes behauptet, „übermäßige“ Computernutzung führe zu einem totalitären „Schwarz-Weiß-Denken“, quasi durch psychische Infektion mit der binären Null-Eins-Logik der neuen digitalen Medien. In meiner Diplomarbeit konnte ich 1990 signifikant nachweisen, dass die zugrunde gelegten Daten dürftig und zudem falsch interpretiert waren sowie dass Forschungsdesign und Theoriebasis desolat waren.

Warum das Inverse Panoptikum der Hackerkultur nicht verstanden wurde

1997 konnte ich in einer weiteren Studie aufzeigen, wie der „Maschinelle Charakter“ sich als Standardisierung und Normierung von Vorurteilen in eine Stigmatisierungs-Kampagne gegen die damals noch kleine Computer- und Netzkultur einfügte. An diese Stigmatisierung knüpfte 25 Jahre später Matusseks „Spiegel“-Pamphlet an. Der Netzbewohner, Hacker bzw. „Computerfreak“ war schon damals zur Projektionsfläche von Ängsten und Wünschen bezüglich der heranrollenden digitalen Medienkultur geworden, deshalb wurde er pathologisiert und kriminalisiert. Außerdem tobten bereits erste politische Kämpfe um den künftigen Cyberspace der Netze, für die ich damals zwei Hauptfelder prognostizierte:

  1. Strafrecht und Überwachungsstaat, der sich im Internet gegen Hacker richten würde, die nach Transparenz von Daten der Mächtigen strebten, frühe Vorläufer von Anonymous und WikiLeaks;
  2. Die ökonomische Erdrosselung der Netzkultur durch das Copyright, wenn der digitalen Kommunikation die Besitzmetaphorik der Warenwelt übergestülpt würde.

Als Lösungsansatz unterbreitete ich 1997 das Utopiemodell des „inversen Panoptikums“, das den Panoptismus moderner Gesellschaften (Foucault) vom Kopf auf die Füße stellt: Anstatt einer immer weiter ausgebauten Überwachung der vielen Machtlosen durch wenige Mächtige sollte umgekehrt die Transparenz der Mächtigen und der Datenschutz für die vielen zur Norm werden. Meine Studie „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft: Systemtheorie, Foucault und die Computerfreaks als Gegenmacht zum Panoptismus der Computer- und Multimedia-Kultur“ steht inzwischen in vielen Informatik-Fachbibliotheken, die Debatte des Panoptismus-Begriffes findet sich in vielen Beiträgen wieder. Im „Spiegel“ und anderen Mainstream-Medien weigert man sich aber verbissen, die neuen Wertvorstellungen der Netzkultur zur Kenntnis zu nehmen. So wird dort immer wieder der angebliche Widerspruch bei Netzaktivisten und Piraten gegeißelt, sie seien für Transparenz, aber wollen zugleich Anonymität im Netz.

„Spiegel“ geißelte „Traum totaler Herrschaftsfreiheit“

Mit dem im „Spiegel“ gegeißelten „Traum totaler Herrschaftsfreiheit“ hat das natürlich nichts zu tun. Das „inverse Panoptikum“ stellt lediglich ein Leitbild zur Vermeidung einer drohenden totalen Überwachung dar, die zudem mit ausuferndem Lobbyismus und Korruption in Medien und Politik einhergeht. Digitale Technologie konzentriert immer mehr Macht bei wenigen Überwachern: Macht durch Kontrolle über die Daten der Einzelnen und Macht über den Zugang der Einzelnen zu den Medien. In einer Demokratie können die vielen Machtlosen sich jedoch gegen die zunehmende Drangsalierung wehren. Die Dunkelmänner der Datenwelt haben das natürlich auch begriffen und schreien allerorten selbst laut nach Transparenz, meinen damit aber Kontrolle über Netznutzer, Kunden, Arbeitende.

Als Gegenmächte stehen der Netzkultur damit vor allem die Geheimdienste und die großen Medienkonzerne, sprich: die Verwerter, gegenüber. Der größte Verwerter in Europa heißt Bertelsmann, der Kampf um alte Pfründe, z.B. des Copyright auch in der neuen Netzkultur, steht für diese Machtgruppen an erster Stelle. Wer etwas Neues will, wird von diesen Machtgruppen angefeindet, schlechtgeredet, später vielleicht korrumpiert, infiltriert und gekauft. So ging es der SPD, als Medienkanzler (!) Schröder für seine „Agenda 2010“ sein Hartz IV-Konzept von der Bertelsmann-Stiftung schreiben, durch McKinsey (damals Bertelsmanns Unternehmensberater) umsetzen und von Bertelsmann-Medien beklatschen ließ. So ging es den Grünen, als sie sich die Bildungspolitik der Bertelsmann-Stiftung aufschwatzen ließen, das „Leuchtturm“-Gefasel, Privatisierung und Studiengebühren. Als Grüne nach jahrzehntelangem Kampf endlich auf EU-Ebene ein Chemikaliengesetz mit formulieren durften, hatten sie sich von neoliberalen Ideologen schon so sehr einlullen lassen, dass sie sich einen Chemielobbyisten unterschieben ließen, der dem Gesetz die Zähne zog. Auch bei den Grünen begann es mit einer medialen Mischung aus Lobhudelei und Verteufelung; Lobhudelei, denn ihre Anhänger sollten ja letztlich an der Nase im Kreis herum geführt werden; Verteufelung für jene, die das nicht mit sich machen lassen wollten.

Piraten als Nerds?

Die Piraten wurden in den Mainstream-Medien aus politischem Kalkül unter dem Stereotyp der Hacker-, Nerd- und Netzkultur stigmatisiert. Der größte Skandal scheint den sie anfeindenden Gegner aber zu sein, dass hier „computeraffine“ Menschen tatsächlich politisch sind. Sie sind eben nicht unpolitische Fachidioten wie die Nerds aus der US-Soap „The Big-Bang-Theory“. Verschiedenste Label werden ihnen aufgedrückt, was im Grunde jedoch nur eines zeigt: Sie dienen als Projektionsfläche für Hoffnungen und Ängste. Vor allem wohl der Hoffnung, sie mögen bei aller Computerkompetenz doch so dumm sein, dass sie wie geschmiert von der korrupten Mainstream-Medienwelt und -Politik assimiliert werden können.

Mathias Matussek hat mit seinem Pamphlet damals wohl den bislang aggressivsten Beitrag zur Medienkampagne gegen die Piraten geleistet und vielleicht sogar maßgeblich zu ihrem Abstieg nebst Selbstzerlegung beigetragen. Ihr Anliegen hat dies keinesfalls verdient, ihre (Netz-) Politik nur teilweise.

Zuerst erschienen bei InversePanopticon

12/5/14

Big Brother Awards: Positivpreis (2014) Edward Snowden

Laudator.in: Heribert Prantl

Erstmals vergeben wir einen Positiv-Award namens „Julia-und-Winston-Award“. Diesen Preis erhält der Whistleblower Edward Snowden für seine Verdienste um die Aufklärung der Machenschaften der Geheimdienste der „Big Five“ (USA, Großbritanien, Neuseeland, Australien, Neuseeland) und anderer Länder (Deutschland, Frankreich). Dies ist verbunden mit enormen persönlichem Einsatz, für den er seine eigene Freiheit zur Disposition gestellt hat. Den Preis dotieren wir mit 1.000.000 gedruckten Aufklebern, die wir kostenlos verteilen, um der Forderung nach Asyl und sicheren Aufenthalt für Edward Snowden in Deutschland Nachdruck zu verleihen.

In diesem Jahr verleihen wir zum ersten Mal einen Positivpreis. Der „Julia-und-Winston-Award“ wurde benannt nach den „rebellischen“ Hauptcharakteren aus George Orwells dystopischem Roman „1984“, aus dem auch der „Große Bruder“ stammt. Der Award soll Personen auszeichnen, die sich in besonderem Maße gegen Überwachung und Datensammelwut eingesetzt haben. Der Preis ist auf eine Million dotiert – allerdings nicht eine Million Euro.

Der Preisträger des ersten Julia-und-Winston-Award ist Edward Snowden.

In Berlin hat der Bundestag einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, der den NSA-Skandal aufklären soll. Das Seltsame dabei ist, dass die Mehrheit im Ausschuß den nicht hören will, der den Skandal aufgedeckt hat. Die CDU/CSU redet über Snowden, als habe er eine ansteckende Krankheit. Und die SPD widerspricht kaum. Das ist grober Undank.

Der Mann habe doch schon alles gesagt, was er wisse, heißt es; man brauche ihn doch daher gar nicht mehr zu vernehmen. Das ist vorweggenommene Beweiswürdigung. Die ist im gesamten Recht verboten; im Deutschen Bundestag auch. Snowden ist ein zentrales Beweismittel, das weiß jeder. Der wahre Grund dafür, warum man Snowden nicht einmal einladen will, ist der: die Kanzlerin Angela Merkel fürchtet, dass dann die Amerikaner pikiert und unwirsch reagieren, wenn sie im Mai in die USA reist. Das ist nicht nur hasenherzig. In ihrem Amseid hat die Kanzlerin geschworen, Schaden vom deutschen Volk zu wenden. Schaden wenden – das heißt: etwas gegen den Schaden zu tun, den die NSA anrichtet. Stattdessen tut die Bundesregierung so, als sei Snowden und nicht die USA der Schädiger.

Edward Snowden ist ein Aufklärer. Er hat die globale US-Großinquisition aufgedeckt und musste fliehen vor dem Großinquisitor. Er hat persönlich keinerlei Vorteile von seiner Whistlerblowerei, er hat nur Nachteile. Den Gewinn hat die Rechtsstaatlichkeit der westlichen Demokratien, sie könnte ihn haben, wenn diese den globalen Skandal zum Anlass nehmen, ihren Geheimdiensten Grenzen zu setzen.

Snowden ist also nicht nur Aufklärer, er ist auch Motivator. Er hat etwas Besseres verdient als ein wackeliges, zeitlich begrenztes Asyl in Russland. Die Amerikaner verfolgen ihn, als handele es sich bei Snowden um die Reinkarnation von Bin Laden. Dabei ist er nur ein einzelner Flüchtling; er ist ein Flüchtling, wie er im Buche steht. Wie soll, wie muss Deutschland mit Edward Snowden umgehen? Vor allem dankbar! Snowden hat Schutz und Hilfe verdient. Er ist ein klassischer Flüchtling.

Man soll, man muss Edward Snowden einen stabilen Aufenthaltstitel für Deutschland geben. Man soll, man muss Edward Snowden freies Geleit gewähren. Das alles ist rechtlich möglich. Stattdessen tun die Politiker der großen Koalition so, als sei die Macht Amerikas in Deutschland rechtssetzend. Deutschland braucht Aufklärung über die umfassenden Lauschangriffe der USA. Aufklärung ist der Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.

Snowdens Handeln mag in den USA strafbar sein, weil er US-Gesetze verletzt hat; wirklich kriminell sind aber die Zustände und die Machenschaften, die er anprangert. Snowden hat gegen US-Geheimhaltungsvorschriften verstoßen. Ist er deswegen Landesverräter? Nein. Verräter nennen ihn die, die selbst die Grundrechte verraten haben. Snowden hat dem Rechtsstaat Nothilfe geleistet.

Das verdient Anerkennung durch Justiz und Staat, in Deutschland und in Amerika. Snowden hat sich verdient gemacht um die rechtsstaatliche Demokratie. Er hat eine Diskussion in Gang gesetzt, die hoffentlich dazu führt, dass sich der Rechtsstaat schützt vor den NSA-Angriffen, die ihn gefährden. Einen deutschen Orden braucht er nicht unbedingt; davon kann er nicht abbeißen. Aber er braucht Schutz und Hilfe.

„Unglücklich das Land, das keine Helden hat“, sagt Galileo Galileis Schüler Andrea Sarti im Theaterstück von Bert Brecht. Amerika kann sich also eigentlich glücklich schätzen, dass es einen Snowden hat. Galilei erwidert seinem Schüler Sarti wie folgt: „Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“. Das stimmt auch.

Snowden ist ein Symbol für den zivilcouragierten Widerstand eines Einzelnen gegen ein mächtiges staatliches System. Er ist ein Winzlings-David, der gegen einen Super-Goliath aufgestanden ist. Snowden hat Widerstand geleistet und er tut das immer noch.

Widerstand ist ein Wort, das man mit dem Aufbegehren gegen ein diktatorisches Regime verbindet. Widerstand ist aber auch in der Demokratie, auch im Rechtsstaat notwendig. Widerstand heißt in der Demokratie nur anders: Er heißt Widerspruch, Zivilcourage, aufrechter Gang oder auch einfach – Edward Snowden.

Wenn Widerstand strafbar ist: Widerständler nehmen das in Kauf. Sie nehmen die Strafe oder die Mühen der Flucht in Kauf, um die Verhältnisse zu ändern, um Mißstände und Unrecht zu beseitigen.

Der verstorbene Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann hat einmal vom Widerstand in der Demokratie als dem „kleinen Widerstand“ gesprochen. Dieser kleine Widerstand müsse geleistet werden „damit der große Widerstand entbehrlich bleibt“. Manchmal ist dieser angeblich kleine Widerstand aber ein ganz großer. So ist es bei Snowden. Sein Widerstand erfasst seine ganze physische und psychische Existenz.

Danke, Edward Snowden.

Digitalcourage wird eine Million Aufkleber mit dem Bild Edward Snowdens und der Forderung nach Asyl für Edward Snowden in ganz Deutschland verbreiten. Die Aufkleber können kostenlos im Digitalcourage-Shop bestellt werden. Wir rufen dazu auf, die Aufkleber zahlreich und gut sichtbar anzubringen, zu fotografieren und unsere Forderung mit dem Hashtag #Snowden sowie den Bestell-Link auch online zu verbreiten! (reblogged von https://bigbrotherawards.de/2014/edward-snowden)

Jahr 2014 Kategorie Julia-und-Winston-Award (Positivpreis)

11/21/14

Michel Foucault: Macht-Wissens-Netze

Thomas Barth
Lange vor den Computernetzen entwickelte der vielseitige Denker Michel Foucault seine Kritik der modernen Vernunft. Auf Nietzsche zurückgreifend schuf er eine Netztheorie der Macht-Wissens-Komplexe rund um die Begriffe des Diskurses und der Archive. Einer Disziplin wollte er sich nicht gerne zuordnen lassen, Philosophie, Ideengeschichte, Sozialtheorie? Seine Kritik begann mit Psychologie, Psychiatrie, Medizin, deren Diskurse und Geschichte er untersuchte.

Im Jahr 1961 erlangte Michel Foucault seinen Doktortitel mit „Wahnsinn und Gesellschaft“, welches eine Geschichte der Ausschließung der Irren im Zusammenhang der Entfaltung abendländischer Vernunft schreibt und ihm, wie er sagte, noch 20 Jahre nach der Publikation wütende Briefe von Psychiatern einbrachte. Sein nächstes großes Werk „Die Ordnung der Dinge“ macht ihn 1966 als strukturalistischen Gegenspieler Sartres berühmt. 1970 wird Foucault Professor für die Geschichte der Denksysteme am Collège de France, entwirft ein Programm für die Erforschung diskursiver und sozialer Ausschließungen.

Die Psychologie nimmt der frühe Foucault stellvertretend für alle modernen Wissenschaften vom Menschen. Ihre Ideologie ist der Humanismus, in welchem Foucault hinter dem „guten Willen“ Kants den Willen zur Macht Nietzsches sichtbar macht: Die Human-Wissenschaften sind in ihren Ursprüngen jenen Individuen vorbehalten, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht. Eigene Erfahrungen mit der Psychiatrie könnten eine Rolle bei seiner kritischen Haltung gespielt haben.

Panoptismus und das Netz der Disziplinierung

Die Anstalten, die psychiatrischen Kliniken und die Gefängnisse sind die Orte des Zurechtrückens der ver-rückten Subjekte. So gibt es für Foucault kein vom Netz der Macht isoliertes Subjekt. Statt dessen produziert die Macht Wissen vom Individuum, formt es und ist in seinen Vorstellungen z.B. von Freiheit und Unterdrückung immer schon präsent. Machtverhältnisse brauchen daher nicht unbedingt Gewalt, vielmehr die Anerkennung des anderen als Subjekt mit einer normierten bzw. zu normalisierenden Individualität. Sein Hauptaugenmerk gilt daher den Disziplinen und Instanzen, denen diese Normalisierung (meist mit dem Anspruch zu behandeln, zu helfen, sogar zu befreien) obliegt: Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Medizin, Kriminologie, Justiz.
„Die Psychologie steht immer und von Natur aus an einem Kreuzpunkt der beiden Wege, wo einerseits die Negativität des Menschen bis zu einem extremen Punkt vertieft wird (…) und wo andererseits das Spiel unaufhörlichen Wiederaufnehmens, Zurechtrückens von Subjekt und Objekt, von Innen und Außen, von Erlebtem und Erkanntem sich übt.“ Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft (1973) S. 547 f.

Foucault ist 1971 Gründungsmitglied der G.I.P. (Gruppe Gefängnisinformation), deren Arbeit mit Häftlingen zur Kritik an Zuständen im französischen Justizapparat bis hin zu Gefängnisrevolten führt. 1974 deckt Foucault mit „Überwachen und Strafen“ gemeinsame Wurzeln von Liberalismus und Einsperrung, von Freiheitsrechten und Disziplinarinstitutionen auf: Der Panoptismus, die Überwachung vieler durch wenige, erscheint als dunkle Seite der Aufklärung, welche die traditionelle Kritik von Staat und Ökonomie bislang ausgeblendet hatte.

Derjenige, welcher einem kontrollierenden Sichtfeld ausgesetzt ist und dies weiß, so Foucault, übernimmt die Zwangsmittel der panoptischen Macht. Der Kontrollierte spielt sie gegen sich selber aus und schreibt das Machtverhältnis in sich ein: Er wird zum Gehilfen seiner eigenen Unterwerfung. Anders als die Frankfurter Schule (Horkheimer/Adorno) sieht Foucault jedoch Widerstandspotentiale jenseits des gescheiterten marxistischen Projekts. 1976 in „Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1)“ lokalisiert Foucault den zentralen Mechanismus einer „Bio-Macht“ in der Kontrolle menschlicher Sexualität, die das Subjekt in seinen Lüsten und Begierden wie die Bevölkerung in der Reproduktion erfasst.

Netz- und Mikrophysik der Macht

Provokativ prognostizierte Foucault den „Tod des Menschen“ bzw. „des Subjekts“: Diese Thesen wurden von Sozialwissenschaftlern der Generation ‘68 Anfang der 90er-Jahre noch unverstanden als Beweis der Verrücktheit Foucaults laut deklamiert, dann aber zunehmend kontrovers diskutiert. Für Foucault sind „Mensch“ und „Subjekt“ Formationen in der diskursiven Ordnung der Humanwissenschaften, und damit Teil eines heute auf dem Rückzug befindlichen Macht-Wissens-Komplexes. Das Subjekt kann nicht mehr Ursprung der Erkenntnis einer Wahrheit sein, die „Objektivität“ als „intersubjektive Überprüfbarkeit“ definiert.

Die von Foucault proklamierte „Mikrophysik der Macht“ wirkt durch kleinste Elemente, sie wirkt als Netz, das die Familie, sexuelle Beziehungen, Wohnverhältnisse, Schule, Krankenhäuser, Psychiatrie, Gefängnisse etc. als Feld von Kräfteverhältnissen und Macht-Wissens-Techniken begreift. Also ist die Macht keineswegs, wie Marxisten glauben, im Besitz einer bestimmten Klasse und kann auch nicht einfach durch den Sturm auf ihr Zentrum erobert werden. Daher läßt sich Macht auch nicht einfach mit ökonomischer Macht gleichsetzen. Sie ist nicht „monolithisch“ und wird somit nicht von einem einzelnen Punkt aus kontrolliert.

Kritik an Humanismus und „Wahrheit“

Klassische linke Kritikfiguren von Ideologie, Gewalt und Unterdrückung greifen ebenfalls nicht hinsichtlich der Wirkungsweise von so verstandenen Machtverhältnissen. Foucault kritisiert den Ideologiebegriff, da er immer im potentiellen Gegensatz zu etwas steht, was Wahrheit wäre; „Wahrheit“ ist aber selbst ein diskursives Ausschlußprinzip, ein Machtmechanismus, den es zu reflektieren gilt. Die dunkle Seite der Aufklärung sieht Foucault dabei gerade im „Humanismus“:

„Ich verstehe unter Humanismus die Gesamtheit der Diskurse, in denen man dem abendländischen Menschen eingeredet hat: Auch wenn du die Macht nicht ausübst, kannst du sehr wohl souverän sein. Ja, …je besser du dich der Macht unterwirfst, die über dich gesetzt ist, umso souveräner wirst du sein. Der Humanismus ist die Gesamtheit der Erfindungen, die um diese unterworfenen Souveränitäten herum aufgebaut worden ist: die Seele (souverän gegenüber dem Leib, Gott unterworfen), das Gewissen (frei im Bereich des Urteils, der Ordnung der Wahrheit unterworfen), das Individuum (souveräner Inhaber seiner Rechte, den Gesetzen der Natur oder den Regeln der Gesellschaft unterworfen).“ Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, 1978, S.114

In Theorie und Praxis wirkt Foucault heute vor allem überall dort, wo Mechanismen sozialer Ausschließung wirken und Gruppen von Menschen als krank oder kriminell von der Gesellschaft einer Kontrolle oder Behandlung unterzogen werden. In der Anti-Psychiatrie (Ronald D. Laing, Thomas S. Szasz), mit der Foucault von Beginn an sympathisierte, gibt es etwa ein deutsches Foucault-Tribunal zur Lage der Psychiatrischen Behandlung, das von etablierten Sozialkritikern weitgehend ignoriert wird (von der psychiatrischen „Wissenschaft“ sowieso). Sein Begriff des Panoptismus inspiriert auch Netz- und Überwachungskritik.

02/28/14

Snowden Überwachtes Netz

Buch zu verschenken: Bereits 60.000 Downloads von „Überwachtes Netz“

24.02.2014 Markus Beckedahl

Vergangenen Donnerstag haben wir unser Buch „Überwachtes Netz – Edward Snowden und der größte Überwachungsskandal der Geschichte“ zum freien Download online gestellt. Seitdem wurde das eBook über 60.000x heruntergeladen. 24550x wurde das Zip-File mit den beiden eBook-Formaten heruntergeladen, 36632x das PDF. Die Zahl freut uns, weil unser Ziel war, dass möglichst viele Menschen die Inhalte des Buches zum Lesen bekommen. Das spannende ist, dass diese Zahl vollkommen ohne klassische Medienberichterstattung zustande kam, lediglich durch Mundpropaganda über soziale Medien. Danke fürs Weitersagen! (von Netzpolitik.org) BUCH als PDF

10/28/13

Kinofilm: Inside Wikileaks – Die fünfte Gewalt

Filmkritik von Thomas Barth 28.10.2013

Der Kinofilm „Inside Wikileaks – Die fünfte Gewalt“ basiert hauptsächlich auf der Sicht der etablierten Medien und des WikiLeaks-Aussteigers Domscheit-Berg: Dafür geht er jedoch überraschend freundlich mit Assange und seinem Projekt um und bedient damit Erwartungen vieler Fans. Selten zuvor hat eine Vorab-Pressevorführung im sonst meist dünn besetzten, jetzt aber brechend vollen Kino so viele junge weibliche Cineasten erlebt. Auch die Sicherungsmaßnahmen gegen Screenshot-Raubkopierer waren überdurchschnittlich, alle Handys waren abzuliefern, verdächtig wirkende Gestalten, wie offenbar der Autor dieser Zeilen, wurden gründlich auf Kameras gefilzt. „Inside Wikileaks – Die fünfte Gewalt“ (Originaltitel: „The Fifth Estate“) wird beworben als „Thriller über das Leben von WikiLeaks-Gründer Julian Assange, der für seine Veröffentlichung brisanter Geheimdokumente bekannt wurde.“

In Wahrheit geht es um die frühen Jahre von WikiLeaks, Assange in Kenia, den Julius-Bär- und den Island-Finanz-Leak bis hin zu den jenen Enthüllungen, die ganz große Schlagzeilen machten: Das US-Killer-Video aus dem Irak („Collateral Murder“), das WikiLeaks erstmals auch dem Tagesschau-Publikum bekannt machte, die geheimen Militärberichte aus Irak und Afghanistan und die US-Depeschen. Dabei werden, wohl aus dramaturgischen Gründen, einige Abläufe anders dargestellt als man sie aus wohlmeinenden Quellen wie „Julian Assange –Die Zerstörung von WikiLeaks?“kennt, vor allem wird die Rolle der Guardian-Journalisten freundlicher dargestellt.

Benedict Cumberbatch (bekannt geworden als Nerd-Version von Sherlock Holms) spielt Julian Assange, der Deutsche Daniel Brühl (kümmerte sich in „Good Bye, Lenin!“ rührend um seine kranke DDR-Mutti) bekam die Rolle des deutschen Hackers Daniel Domscheit-Berg, dem deutschen Gefoglsmann und engsten Mitarbeiter Julian Assanges, der später zum „Verräter“ wurde und seine eigene Plattform „OpenLeaks“ gründete. Unter Regie von Bill Condon wurde ein Drehbuch von Mystery-Autor Josh Singer („Fringe“) verfilmt. Singer schöpfte sein Wissen für den Film aus den Büchern „Inside WikiLeaks: Meine Zeit bei der gefährlichsten Website der Welt“ des im Streit geschiedenen Ex-WikiLeaks-Sprechers Daniel Domscheit-Berg sowie aus dem Buch „WikiLeaks: Inside Julian Assange’s War on Secrecy“ der Guardian-Journalisten Luke Harding und David Leigh, heute als verbissene Assange-Gegner bekannt.

Eine neue Version der Wahrheit

In der TV-Dokumentation von Patrick Forbes „WikiLeaks – Geheimnisse und Lügen“ durften die Guardian-Journalisten bereits ihre Version der Ereignisse ausbreiten. Laut dieser Doku traf den Guardian weder Schuld an der Diskreditierung von WikiLeaks noch an der öffentlichen Demontage von Julian Assange, die mit einer einseitigen Darstellung der schwedischen Sex-Affäre in dem Film weiterbetrieben wurde. Nicht einmal die Schuld für die überstürzte Freigabe aller US-Depeschen wollten die Qualitäts-Journalisten übernehmen, dabei wurde das Passwort der verschlüsselt zirkulierenden Depeschen zuerst im besagten Guardian-Buch von Harding und Leigh publiziert, doch zu Wort kam dazu nur David Leigh selbst.

Der Kinofilm „Inside Wikileaks“ hebt sich wohltuend von Patrick Forbes‘ Darstellung ab, stellt zwar die Depeschen-Affäre nicht völlig klar, zeigt aber die Vergewaltigungs- bzw. sexuellen Missbrauchs-Vorwürfe der beiden Schwedinnen aus völlig anderer Perspektive dar: Eher als wahrscheinlichen Teil eines US-Komplotts gegen Assange. (Nachtrag: Diese Version stellte sich als Realität heraus, als Nils Melzer die Geheimdienst- und Justizintrige nachwies, die Assange den „Vergewaltigungsverdacht“ anhängen sollte -die penetrant hetzenden Mainstream-Medien bedienten gierig diese politisch motivierte Rufmord-Kampagne.) Filmemacher Bill Condon enthüllt sogar eine klare US-Propaganda-Strategie gegen WikiLeaks, die nach dem „Collateral Murder“-Video und den Kriegs-Enthüllungen darauf abzielte zu behaupten, es klebe nun „Blut an den Händen“ von Assange.

Patrick Forbes‘ WikiLeaks –Doku hatte diesen Punkt noch ganz im Sinne von Pentagon und US-Regierung dargestellt: „Der Doku-Abschnitt über die Publikation der Afghanistan Warlogs durch Guardian, Spiegel & Co. rückt den medialen Gegenschlag der USA in den Mittelpunkt. Aber sie analysiert ihn nicht, sondern stellt ihn als unbezweifelbare Wahrheit hin. Assange wird dabei quasi zum Hauptskandal der Enthüllung gemacht: “48 Stunden lang sprach die ganze Welt von zivilen Opfern und von Taskforce 373, dann fand die NYT auf WikiLeaks Dokumente, die eindeutig die Sicherheit afghanischer Zivilisten gefährdeten.”

Das US-TV dazu: “An WikiLeaks Händen klebt Blut!” An dieser Stelle der Doku wiederholt ein unheimlicher Hall-Effekt: “…klebt Bluuuut!” Soll damit das Blut, das angeblich an WikiLeaks klebt, ins Gedächtnis der Zuschauer eingebrannt werden? … Beinahe nebenher erfahren wir, dass eine Taskforce 373 als US-Killerkommando Mordanschläge auf als Taliban-Verdächtigte und ihre Familien durchführte. Aber der wahre Skandal ist anscheinend nicht dies, sondern der Geheimnisverrat. Und natürlich das Blut, das durch die Enthüllung der Kriegsverbrechen angeblich an den Händen von Assange klebt.“

Unverantwortlich, kontraproduktiv und schädlich?

Eine widersprüchliche Seite des Kinofilms ist, dass ein frei erfundener Handlungsstrang sein Thriller-Potential genau aus so einer Story schöpft: Ein US-Spitzel wird durch WikiLeaks enttarnt und muss plötzlich vor dem islamistischen Regime flüchten, aus dem er Washington mit Information belieferte. Aus der vernichtenden Kritik von WikiLeaks.org selbst an der Filmproduktion geht hervor, dass die Szenen ursprünglich im Iran spielen sollten, dann aber nach Libyen verlegt wurden (wohl den aktuellen Ölraub-Kriegsplänen Washingtons folgend). Die dort geäußerte Filmbewertung ist hart: „from WikiLeaks’ perspective, irresponsible, counterproductive and harmful“.

Insbesondere wird Julian Assange selbst wohl weniger, wie die Filmkritik im „Spiegel“ meinte, als „eine Art Fürst der Internetfinsternis“ dargestellt, sondern von Cumberbatch durchaus als Visionär und Idealist gezeigt, freilich mit vielen Zügen, die dem Klischee des Hackers bzw. Nerds entsprechen. Auch wenn einige wegen Julian Assange und Domscheit-Berg hier einen „Film über Mozart aus Sicht von Salieri“ erkennen wollen, dürfte der Film dem Ansehen von WikiLeaks insgesamt eher förderlich sein.

WikiLeaks wird in den etablierten Medien seit der ungefilterten Veröffentlichung tausender US-Depeschen (Cablegate) als gescheitert dargestellt, trotz vieler weitere Enthüllungen wie etwa den Kissinger-Files. Doch die Medien folgen vereinfachenden Erklärungsmustern, personifizieren komplexe Probleme und forderten von WikiLeaks journalistische Standards ein, die sie selbst nur selten einhalten. Die Zunft der Journalisten scheint bislang überwiegend fixiert auf die Verteidigung ihrer gesellschaftlichen Machtposition gegen eine neuartige Konkurrenz aus dem Netz, für die WikiLeaks nur ein Vorbote sein dürfte – für den sich selbst organisierenden inversen Panoptismus.Thomas Barth erschienen 27.10.2013 auf https://berlinergazette.de/de/wikileaks-film-fifth-estate/

08/15/13

Medien-Mainstream & Netzkultur: Wikileaks – Edward Snowden

Thomas Barth

Die Netzkultur steht den Mainstreammedien heute kritisch gegenüber, von deren Aufmerksamkeit sie gleichwohl abhängig ist. Denn die klassischen Leitmedien Presse und Fernsehen machen immer noch den Kern der Öffentlichkeit aus, in welcher die politischen Debatten sich in gesellschaftliche Veränderungen umsetzen lassen – auch wenn jüngere Generationen ihnen ihrerseits zunehmend die Aufmerksamkeit entziehen. Kein Wunder, hatte doch die Medien-Industrie in Anti-Raubkopierer-Kampagnen ihre Verbraucher lange genug zu Verbrechern erklärt, statt vernünftige und faire Verfahren zu entwickeln.

WikiLeaks hatte erfolgreich den Bogen zurück zum Mainstream geschlagen, nicht zur ungetrübten Freude aller etablierten Meinungsmacher. Und wurde in Gestalt von Juian Assange dämonisiert. Mit Edward Snowden und The Intercept von Glenn Greenwald schlägt die Netzkultur jetzt zurück, bietet weniger Angriffsfläche für Personalisierung und macht es schwerer, die Inhalte zu verschweigen. Das Image der Medien leidet unter ihrer immer unkritischer werdenden Haltung gegenüber den Machthabern im eigenen Land bzw. Machtblock. Einzelne, die diese blinden Flecken aufzeigen wollten, gab es schon immer. Oft nahmen sie, von den Medien wenig beachtet, ein schlimmes Ende, wie etwa der Künstler Mark Lombardi, der westlichen Oligarchen und ihren Machtstrukturen nachging. Jeder, der mit westlichen konkurrierende Machteliten angreift, ist sich dagegen der medialen Aufmerksamkeit gewiss. Aber diese Einseitigkeit genügt offenbar nicht, unsere Journalisten verstehen sich immer öfter auch als Wadenbeißer im Dienste westlicher Herrschaftseliten, die über deren Kritiker hemmungslos herfallen.

Wie WikiLeaks zum Flop erklärt wurde

WikiLeaks gilt den Mainstream-Medien seit der ungefilterten Veröffentlichung tausender Cables als gescheitert. Doch es gibt zahlreiche offene Fragen. Etablierte Medien folgen einer vereinfachenden Erzählung, personifizieren komplexe Probleme, führen Standards an, die sie selbst kaum einhalten und brachten sich selbst gegen WikiLeaks in Stellung -selbst dann, wenn sie zuvor massiv von den Enthüllungen der Plattform profitiert hatten.

Today, 15 September 2014, WikiLeaks releases previously unseen copies of weaponised German surveillance malware used by intelligence agencies around the world to spy on journalists, political dissidents and others. Interaktion von Netzplattform und Medien bleibt problematisch

WikiLeaks ist aus der Hacker-Subkultur hervorgegangen und noch immer darin tief verwurzelt. Seit den Anfängen des Internet traten Hacker ein für freien Informationszugang aller bei vollem Schutz der Privatsphäre. Ihre natürlichen Widersacher waren die Geheimdienste, deren Job im Großen und Ganzen die umgekehrte Ausrichtung hatte. WikiLeaks bezeichnet sich in dieser Tradition auch als „Counter-Intelligence“ und „First Intelligence Agency of the People“ – als erster Geheimdienst des Volkes.

Die technologische Avantgarde der Hacker, deren ehedem esoterische Praxis der Online-Kommunikation heute die breite Masse zumindest der jüngeren Generationen erreicht hat, wurde von Anbeginn misstrauisch von den etablierten Medien beäugt. Heute ist sie selbstbewusst zur „Netzkultur“ gereift und ihr stehen neben staatlichen Institutionen auch die Medienkonzerne gegenüber, die von den neuen „Netzbürgern“ oft als „gnadenlose, gierige Content-Verwerter“ gesehen werden.

Kein Wunder, hat doch die Medien-Industrie in Anti-Raubkopierer-Kampagnen ihre Verbraucher so lange zu Verbrechern erklärt, bis sogar eine Piratenpartei in die politischen Arena stieg. Dabei sehen sich die Medien-Konzerne oft sogar als Säule der Demokratie und Pressefreiheit, vertreten aber zunehmend eigene Unternehmensinteressen. Der Antagonismus von Netzkultur und Medienindustrie schwingt unterschwellig mit, wenn etablierte Journalisten über Hackerprojekte berichten – besonders vielleicht, wenn diese – wie WikiLeaks – mit neuen Publikationsformen in die zentrale Sphäre des Nachrichtengeschäfts eindringen.

“Cablegate” und die mediale Schuldfrage

Am 1.9.2011 machte WikiLeaks, die Whistleblower-Plattform des weltberühmten Hackers Julian Assange, negative Schlagzeilen: Durch eine Sicherheitspanne wurden rund 250.000 US-Diplomaten-Depeschen aus dem WikiLeaks-Datenbestand im Internet zugänglich. Diese Depeschen sind, anders als bei vorherigen Depeschen-Publikationen, nicht redaktionell bearbeitet. Somit enthüllen sie womöglich unabsichtlich Namen von Informanten der US-Auslandsvertretungen. Die Aufregung in den Medien war groß und der Ruf von WikiLeaks, durch einen mysteriösen „Sex-Skandal“ um Assange bereits angeschlagen, drohte nachhaltig beschädigt zu werden. (Nachtrag 2022: Nils Melzer „Der Fall Assange“ stellte klar: Die Verleumdungen von Julian Assange mit einem angeblichen „Vergewaltigungsverdacht“ basierten auf einer geheimdienst-gesteuerten Justizintrige in Schweden.) Vielleicht sollten sogar Internet-Enthüllungsplattformen, die bereits als neue, den herkömmlichen Journalismus ergänzende Form der öffentlichen Aufklärung gesehen wurden, generell in Frage gestellt werden. Die Snowden-Enthüllungen und The Intercept konnten dieses mögliche Ziel jedoch unterlaufen, obgleich sie heute von den Medien tendenziell totgeschwiegen werden.

Die von Journalisten gegen die Whistleblower-Plattform und speziell Assange vorgetragenen Vorwürfe lauteten damals, WikiLeaks würde den Informantenschutz und die journalistische Ethik bzw. Sorgfalt vernachlässigen. Beide Vorwürfe erweisen sich jedoch bei genauerer Betrachtung als zumindest fragwürdig.

Was war geschehen? Bei der Weitergabe der Botschafts-Depeschen hatte WikiLeaks zunächst ein verschlüsseltes Datenpaket gepackt und dieses im Internet in Umlauf gebracht. Ziel war, die Daten auf zahlreichen verteilten Rechnern vor dem physischen Zugriff von Polizei, Militär und Geheimdiensten in Sicherheit zu bringen. Die spätere Jagd auf Assange mittels eines unter zweifelhaften Umständen zustande gekommenen Haftbefehls von Interpol zeigt, dass diese Befürchtungen nicht unbegründet waren.

Die so verschlüsselten Daten gelangten in die Hände der drei ausgewählten Presseredaktionen von „Spiegel“, New York Times und Guardian. Später übergab dann Assange den Redakteuren das geheime Passwort, so dass diese die Pakete öffnen und auswerten konnten. Soweit so gut. Doch zwei Journalisten vom Guardian publizierten 2011 auch ein Buch über die WikiLeaks-Geschichte und gaben dabei (versehentlich?) das Passwort bekannt. Sie hätten geglaubt, so später der Guardian, das Passwort sei nur zeitlich befristet gültig gewesen. Jeder Leser des Buches hatte nun die Möglichkeit, die zirkulierenden Datenpakete zu entschlüsseln und Identitäten von US-Informanten zu enthüllen.

Bei der Berichterstattung über den Vorfall ging im Folgenden vieles durcheinander. Die Tagesschau vom 1.9.2011 befragte in ihrem längeren Bericht einen ARD-Internetexperten, der kritisierte, eine Whistleblower-Plattform solle doch in der Lage sein, ihre Informanten zu schützen. In dieser ARD-Darstellung wurden also die hier betroffenen Informanten mit Whistleblowern durcheinander gebracht. Doch es geht in den Depeschen nicht um Enthüller, die öffentliche Aufklärung im Sinn haben, sondern um Zuträger der US-Administration, wie den FDP-Funktionär Metzner, der Interna aus den schwarzgelben Koalitionsverhandlungen verriet. Der Adressat für das Einklagen von Informantenschutz muss hier also nicht WikiLeaks, sondern die US-Administration sein. Es ist nebenbei bemerkt dieselbe US-Administration, die Assange zum Staatsfeind erklärte, ihm vermutlich die Konten sperren ließ, mutmaßlich seine Strafverfolgung wegen fadenscheiniger Vergewaltigungsanklagen und seine Auslieferung an die USA betrieb.

Und Bradley Manning?

Gleichwohl könnten die Depeschen fatale Folgen für Informanten haben, denn manche Zuträger der US-Botschaften müssen wohl mit bedrohlichen Konsequenzen rechnen –„in totalitären Ländern“, wie besorgte Kommentatoren der WikiLeaks-Datenpanne gern hinzufügten. Kaum einer erwähnte dabei jedoch einen Informanten von WikiLeaks selbst, der schon seit Mai 2010 leidet: Bradley Manning, der US-Soldat, der teilweise unter „harten“ Haftbedingungen in US-Militärgefängnissen gehalten wurde (Menschenrechts-Organisationen sprachen von Folter), um ein Geständnis und eine Aussage gegen Assange zu erzwingen.

Die Manning zugeschriebenen Enthüllungen brachten Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen seitens der US-Truppen ans Licht. Sie zeigten den Krieg in Irak und Afghanistan, der uns oft als hehre Friedensmission mit chirurgisch präzisen Schlägen präsentiert wurde, in seiner ganzen Breite und Grausamkeit. Hinter der offiziellen Version von Wiederaufbau und Krieg gegen den Terror erkannten manche in den WikiLeaks-Dokumenten einen zweiten Krieg: Die Strategie, innerafghanische Kontrahenten im Sinne von „teile und herrsche“ gegeneinander auszuspielen; etwa die entgegen der offiziellen Entwaffnungspolitik zugelassene Aufrüstung von Usbekenführer Dostum, der 2006 mit Warlords der Nordallianz einen Putsch gegen Karsai plante. Dies konnte zwar der US-Führung nicht gefallen, rechtfertigt aber nicht die unmenschliche Behandlung eines mutmaßlichen Whistleblowers. Ob mit Bradley Manning nicht einfach ein unbequemer junger Soldat zum Sündenbock gemacht wurde, um Enthüller von US-Geheimnissen generell einzuschüchtern, weiß bis heute niemand.

Die Darstellung von Leistungen von WikiLeaks und Assange erscheint in den Medien oft personalisiert und wenig auf politische Hintergründe ausgerichtet, so in den auf Bestsellerlisten gehandelten Büchern „Staatsfeind WikiLeaks“ und „Inside WikiLeaks“. Doch auch wo fundiertere Analysen vorgenommen werden, bleibt eine voreingenommene Haltung des etablierten Journalismus spürbar. So wird in einer Studie zum Krisenjournalismus das berühmte Video, mit dem sich WikiLeaks überhaupt erst einen Platz in den Hauptnachrichten erkämpfte, recht einsilbig beschrieben: „…ein WikiLeaks-Video, das den Angriff auf eine Gruppe von Menschen in Bagdad aus der Cockpit-Perspektive eines Kampfhelikopters zeigt. Bei dem Angriff kamen auch zwei Reuters-Journalisten ums Leben.“

Sogar den mit Bedacht von Assange gewählten Titel des Videos verschwiegen die Autoren: „Collateral Murder“, obwohl sie wenige Seiten zuvor noch von der Krisenberichterstattung gefordert hatten, „Euphemistische Wendungen wie… ‚Kollateralschäden‘… sollten durchschaut und vermieden werden.“ Assange & Co. hatten den Euphemismus nicht nur vermieden, sondern durchschaut und in seinem Zynismus entlarvt, aber dies wollten der Journalismus-Professor und sein Co-Autor wohl bei den Medien-Außenseitern von WikiLeaks nicht sehen. „Collateral Murder“ wurde gesendet und schnell vergessen, ebenso wie der Leidensweg des mutmaßlichen WikiLeaks-Informanten Bradley Manning.

Wichtiger als das reale Opfer Manning, schienen den Medien in Deutschland heute offenbar die infolge der Datenpanne möglichen Opfer der Publikation von US-Depeschen zu sein. Tatsächlich könnte man hier die Vernachlässigung journalistischer Ethik und Sorgfaltspflicht anführen. Aber gegen wen? Das Gros der Medien richtet seine Anklagen gegen Assange, etwa die Tagesschau vom 1.9.2011. Sie berichtete zwar, „WikiLeaks beschuldigte einen Journalisten der britischen Zeitung Guardian“, das Passwort publiziert zu haben, ließ aber im restlichen Beitrag keinen Zweifel daran, dass man die Schuld für die Panne bei der Internet-Plattform zu suchen habe. Fazit: WikiLeaks sitzt auf der Anklagebank und beschuldigt, womöglich nur um sich selbst zu entlasten, den Guardian. Diesem Muster folgen die meisten Berichte, aber ist das wirklich eine faire Bewertung?

Wer Standards verlangt, sollte sie selbst einhalten

Journalisten forderten von WikiLeaks seit deren Erscheinen in der Öffentlichkeit Verantwortung, Ethik und journalistische Standards ein, die man übrigens in der breiten Masse des Boulevard-Journalismus vergeblich sucht. Aber was ist mit den Qualitäts-Journalisten des britischen Traditionsblattes Guardian? Sollte eine naheliegende Frage nicht lauten: Welcher Teufel hat die Buchautoren geritten, ausgerechnet das echte Passwort in ihrer Reportage zu publizieren? Ein fanatisches Streben nach Authentizität um jeden Preis? Pure Trägheit, sich eine vergleichbare Phrase auszudenken? Für den Leser hätte ein Ersatzwort das Buch sicher nicht schlechter gemacht, für US-Informanten kann diese Unachtsamkeit der Autoren jedoch fatale Folgen haben.

Der Guardian hätte es wissen müssen

Die Guardian-Schreiber hätten wissen müssen, dass die verschlüsselte Datei mit den Depeschen überall im Netz zirkuliert, und dass sie mit diesem Passwort jeder würde öffnen können. Wäre es nicht ihre journalistische Sorgfaltspflicht gewesen, die Ungefährlichkeit ihrer „Enthüllung“ mit Assange abzuklären? Stattdessen konstruieren jetzt die medialen Ankläger eine kryptologische Bringschuld von Assange, auch in der Zusammenarbeit mit der bei diesem Projekt engstens verbündeten Presse jederzeit höchstes Misstrauen einkalkulieren zu müssen.

Assange hätte die zirkulierenden Sicherungskopien mit anderen Passwörtern verschlüsseln, die Passwörter mit einer Zeitbegrenzung versehen müssen usw. lauten die im Nachhinein besserwisserisch erhobenen Forderungen. Aber hätten nicht auch die seriösen Qualitäts-Journalisten und Buchautoren des Guardian einkalkulieren müssen, dass dem um den Globus gehetzten Assange und seiner zusammengewürfelten Hackergruppe Fehler unterlaufen könnten?

Netzkultur, Whistleblower und „einsame Helden“

Bei aller Hochachtung vor den Leistungen von Julian Assange – der Hacker-Subkultur scheinen die Gefahren bewusst zu sein, die mit seiner Person und auch mit der Fixierung auf einen „einsamen Helden“ verbunden sind.  Edward Snowden hat aus der sorgfältigen Beobachtung der medialen Verarbeitung des Falles Assange gelernt und sich bewusst selbst im Hintergrund gehalten. Die Ergebnisse dieses Ansatzes geben ihm Recht: Es fiel den Medien schwerer, durch Personalisierung von den aufgedeckten Problemen abzulenken. Man diskutiert überwiegend bis heute den NSA-Skandal und nicht den Fall Snowden, dem -anders als bei Assange- auch nicht derart massive Angriffe gelten.

Die Verantwortung wird von der Netzkultur aber vor allem von der Presse eingefordert. Deren zunehmendes Einknicken vor den Interessen herrschender ökonomischer und Machteliten wird von Netizens und Hackern als Hauptargument für die Notwendigkeit von Plattformen wie WikiLeaks und The Intercept angeführt.

So steht die Netzkultur den Mainstreammedien kritisch gegenüber, von deren Aufmerksamkeit sie gleichwohl abhängig ist. Denn die klassischen Leitmedien Presse und Fernsehen machen immer noch den Kern der Öffentlichkeit aus, in welcher die politischen Debatten sich in gesellschaftliche Veränderungen umsetzen lassen – auch wenn jüngere Generationen ihnen ihrerseits zunehmend die Aufmerksamkeit entziehen. WikiLeaks hat erfolgreich den Bogen zurück zum Mainstream geschlagen, nicht zur ungetrübten Freude aller etablierten Meinungsmacher. Die Netzkultur hat mit Snowden und WikiLeaks wichtige Schritte hin zu einem Inversen Panoptikum unternommen, das die Blickrichtung im globalen Überwachungsnetz umdreht: Wir alle werden von Geheimdiensten und Unternehmen beobachtet, aber wir beobachten zunehmend ebenfalls -die Machthaber im Zentrum der panoptischen Anlage.