10/1/25

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus?

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung. Brandes & Apsel, Frankfurt 2024, 199 S., 29,90 EUR

Rezension von Thomas Barth

Investigativ-Journalismus ist bedeutsam für das Selbstbild des Journalismus und der westlichen Gesellschaften, als Kampf um Wahrheit im Namen der Demokratie. Nur wenn das Wahlvolk auch über zweifelhafte Machenschaften der eigenen Regierungen und Mächtigen informiert ist, kann man von wirklich demokratischen Wahlen sprechen. Die Freiheit der Medien und damit der Wahlen wird regelmäßig in nicht-westlichen, autokratischen Ländern angezweifelt, von denen sich der Westen gerne abgrenzt. Umso schwerer wiegt Kritik an mangelhafter Freiheit unserer westlichen Medien, zumal wenn sie von renommierten Insidern kommt wie dem berühmten ARD-Mann Wolfgang Landgraeber. Er dokumentiert Manipulation, Überwachung und Verfolgung, denen unsere Medien seitens der Mächtigen ausgesetzt sind und schrieb selbst Mediengeschichte als Mitautor des Buches „Das RAF-Phantom. Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen brauchen“. Landgraeber beschreibt im vorliegenden Buch, wie er (und viele andere) während der Recherchen zu bzw. der Publikation von „Das RAF-Phantom“ Ziel von Bespitzelung, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen und Strafverfolgung wurden. Er schreckte bei Recherchen nie vor Spuren zurück, die in Richtung von Geheimdiensten auch des eigenen Landes führten, was viele Vertreter seiner Zunft zu sofortigem Verstummen bzw. zur Flucht in vernebelnde Narrative von angeblichen „Verschwörungstheorien“ geführt hätte. An zahlreichen weiteren, wenn auch meist weniger bedeutenden Enthüllungen werden staatliche Eingriffe in die Pressefreiheit dokumentiert, von denen Medienkonsumenten meist wenig oder gar nichts erfahren haben dürften.

Autor, Gastbeiträger und Hintergrund

Wolfgang Landgraeber studierte Sozialwissenschaften, Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik, war vielfach preisgekrönter Redakteur bei den seinerzeit bedeutsamen ARD-Polit-Magazinen „Monitor“ (1976-88, Grimme-Preis 1985) und „Panorama“ (1988-93), oft mit Rüstungs-, Militär- und Geheimdienstkritik (etwa „Die Zerstörung der RAF-Legende“, ARD 1992), in seinem mit Ekkehard Sieker und Gerhard Wisnewski verfassten Buch „Das RAF-Phantom. Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen brauchen“ wurde die offizielle Geschichte der Terrorgruppe „Rote Armee Fraktion“ in Frage gestellt: Ab der sog. „3.Generation der RAF“ (80er Jahre) sei sie als unterwandert bzw. von deutschen Behörden und verbündeten Geheimdiensten (CIA) instrumentalisiert zu betrachten; ihre Terroranschläge seien im Zusammenhang mit anderen infiltrierten Terrorgruppen und dem geheimen „Stay-Behind-Netzwerk“ der Nato zu sehen, aufgeflogen 1990 als „Gladio“-Skandal. Das Buch und das daran anschließende Nachfolgewerk „Operation RAF“ wurden Bestseller und sogar als Polit-Thriller „Das RAF-Phantom“ verfilmt –was leider zur Mystifizierung der Thematik beitrug. Viele Schlussfolgerungen und Verdachtsmomente erwiesen sich jedoch im weiteren Verlauf der Aufklärung von „Gladio“ als stichhaltig.Später beförderte die ARD Landgraeber zum WDR-Leiter für Kultur- und Naturdokumentationen; ferner war Landgraeber von 1982-2022 Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen. Seine Gastbeiträger sind die ebenfalls investigativ-sozialkritischen Dokumentarfilmer Peter Heller und Gert Monheim ( Ex-WDR-Redakteur).

Inhalt

Das Buch gliedert sich in Vorwort und 15 Kapitel in historischer Reihenfolge, die zumeist der Biografie Landgraebers folgen. Im Vorwort relativiert Landgraeber aktuelle Aufregungen um rechtsradikale Attacken auf Journalisten, die etwa von Demonstrationen gegen Migration berichten und dabei beleidigt, angespuckt und geschlagen wurden. Dies sei „alles schon mal dagewesen“, 1977 sei etwa ein WDR-Team mit einem angespitzten Baumstamm von Rechtsextremen angegriffen worden (S.7). In Demokratien müsse freier, unabhängiger Journalismus immer gegen Widerstand erkämpft werden. Landgraeber beginnt in Kapitel 1 historisch mit dem Kampf um eine Neuordnung von Presse und Rundfunk nach Nazidiktatur und gleichgeschalteten Medien: 1947 kam Augsteins „Spiegel“, 1950 die ARD. 1960 versuchte der damals bereits elf Jahre regierende CDU-Bundeskanzler Adenauer ein Privatfernsehen zu installieren, mit einem Unterhaltungschef namens Helmut Schreiber, der Hitler und Goebbels nahegestanden haben soll (S.13). SPD-geführte Bundesländer verhinderten dies zwar vor dem Bundesverfassungsgericht, aber Adenauer installierte stattdessen das CDU-nahe ZDF.

Kapitel 2 erörtert die (parteipolitische) Ausgewogenheit der Polit-Magazine: „Report München“ und „ZDF-Magazin“ auf CDU/CSU-Linie, „Kennzeichen D“ und „Monitor“ liberal, „Panorama“ SPD-nah -so war die politische Geometrie des Fernsehens austariert als Landgraeber 1976 bei „Monitor“ startete; dass manche Kollegen bei ARD und ZDF die Karriere ihrem roten oder schwarzen Parteibuch verdankten, war bekannt (S.146). Man kritisierte Bayerns CSU-Chef und Verteidigungsminister Franz Josef Strauss und seine Starfighter-Affäre (116 Piloten starben bei Abstürzen des mangelhaften Kampfjets der Bundeswehr): Eine „Frühform des Investigativjournalismus im Deutschen Fernsehen“ (S.23). Landgraeber erlebte dort einen Fall von Zensur, als „Monitor“ vom Chefredakteur Theo M.Loch (CDU) genötigt wurde, eine Atomkritikerin aus einem TV-Bericht über die Brokdorf-Demonstrationen zu entfernen; Loch wurde danach jedoch selbst schnell aus dem Amt geworfen, weil jemand recherchiert hatte, dass er bei Einstellung seine Mitgliedschaft in Hitlers Waffen-SS verschwiegen hatte (S.25).

Kapitel 3 „Selbst erlebte Beispiele staatlicher Eingriffe in die Medienfreiheit“ beschreibt drastisch, wie Landgraeber selbst Ziel von Strafverfolgung wurde, eine frühmorgendliche Razzia nebst Beschlagnahme von Recherche-Material erlebte, Hausdurchsuchungen auch bei seinen Co-Autoren Ekkehart Sieker und Gerhard Wisnewski sowie beim WDR, der Vorwurf: „Beihilfe zum Geheimnisverrat“. Dem Autorentrio gelang u.a. den Kronzeugen der Anklage gegen die RAF im Fall des Mordes am Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen zu interviewen; Siegfried Nonne , ein depressiver Drogenabhängiger, dementierte vor ihrer Kamera, je Mitglied oder Helfer der RAF gewesen zu sein, vielmehr hätten Agenten des hessischen Verfassungsschutzes ihn durch eine „verhüllte Morddrohung“ zu dem falschen Geständnis genötigt (S.33). Die Staatsanwaltschaft verteidigte ihre Ermittlungen gegen die Autoren vor der empörten Presse damit, Deckung durch die hessischen Innen- und Justizminister zu haben. Die Strafverfolgung wurde eingestellt. „Auch gegen den angeblichen Kronzeugen Siegfried Nonne wurde wegen Beihilfe zum Mord nicht weiter ermittelt. Er ist inzwischen verstorben.“ (S.34)

Auch Kapitel 4 dokumentiert, wie Mächtige in Staat, Politik und Rundfumkanstalten die Medienfreiheit behindern, im Kontext der Barschel –Affäre wurde etwa in die Wohnung Landgraebers eingebrochen, seine Akten durchwühlt (S.38); Parteipolitiker drangsalierten und zensierten kritische Sendungen. Kapitel 5 „Filmemacher unter dem Druck von Großkonzernen“ bringt die beiden Gastbeiträge: Peter Heller kritisiert den Fast-Food-Konzern McDonald’s der gegen eine Kampagne von Greenpeace klagte, die seinen Film „Dschungelburger“ verwendet hatte; Gert Monheim berichtete unter Attacken seitens CDU-Politikern über gefährliche Giftmülldeponien und Chemikalien der Unternehmen Bayer und BASF.

Kapitel 6 „Journalisten-Blocker“ erwähnt „die Enthüllungsplattform Wikileaks“ (nur ein einziges Mal im ganzen Buch, obgleich sie im investigativen Mediensektor eine immense Rolle spielt) im Fall der Schweizer Großbank Julius Bär; deren Whistleblower Rudolf Elmer konnte bei deutschsprachigen Medien nirgends Gehör finden mit seiner Enthüllung von Geldwäsche auf den Caymans, wurde von seinem Arbeitgeber und der Polizei verfolgt, saß unschuldig 220 Tage in U-Haft (S.85). Erst Wikileaks brachte seine Entlastung durch Publikation der geleakten Bank-Dokumente von Elmer; weitere Enthüllungen folgten in den „Suisse Secrets“-Leaks diverser Medien (nur nicht denen der Schweiz). Bank-, Firmen- und Militärgeheimnisse seien wichtige Hindernisse für freien Journalismus.

In den Kapitel 7-9 berichtet Landgraeber von eigenen Enthüllungserfolgen gegen Rüstungsfirmen, Biowaffen, Argentiniens Militärjunta (getarnt als Militärhistoriker Leutnant Landgraeber), um in Kapitel 10 zum „Abhörfall Günter Wallraff“ zu kommen. Herausragender Akteur seiner Zunft ist der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff, nachdem man sogar vom „Wallraffen“ spricht und damit besonders gewagtes Recherchieren meint: Undercover Einsätze, maskiert, mit falscher Biografie. Wallraff entlarvte deutschen Alltagsrassismus in der Rolle eines türkischen Gastarbeiters oder Schwarzafrikaners, deckte skrupellose Methoden der „Bild“-Zeitung auf –und wurde Ziel auch von illegalen Lauschangriffen. Ob Geheimdienste der „Bild“ gegen Wallraff halfen, bleibt unaufgeklärt; Wallraffs Kronzeuge für das Abhören, der „Bild“-Redakteur Heinz Willmann wurde vom Springer-Verlag gefeuert weil er auspackte, danach noch mehrfach von Unbekannten zusammengeschlagen und schließlich 1980 tot in seiner Wohnung aufgefunden. „’Natürliche Todesursache‘ stand im Obduktionsbericht. Wallraff hielt Willmanns Tod dagegen für Mord.“ (S.141) Kapitel 11 widmet sich Journalisten, „die sich kaufen lassen oder mit Geheimdiensten kungeln“, allen voran der „Quick“- und „Focus“-Reporter Wilhelm Dietl, der als Experte für Terrorismus und Geheimdienste auftrat, aber zugab, dass er lange auch im Sold des BND stand (S.149) und dessen dubiose Rolle schon im Buch „Das RAF-Phantom“ kritisiert wurde. BND-Mann Dietl kommentierte im Fernsehen auch Terrorakte der RAF, hinter denen Landgraeber et al. den BND vermuteten. Jahrelang bespitzelt wurde dagegen der unbestechliche Geheimdienst-Experte Erich Schmidt-Eenboom, was Landgraeber durch eigene Erfahrungen mit „Knacklauten“ im Telefon im Rahmen seiner eigenen „RAF-Phantom“-Recherchen unterstreicht (S.150).

Kapitel 12 „Wenn Propagandalügen große Kriege auslösen“ arbeitet sich durch die Historie von Bismarck und Wilhelm Zwo zu Hitler und Vietnamkrieg; dann folgen die „Brutkastenlüge“ vom Ersten Golfkrieg und das „Märchen von den irakischen Massenvernichtungswaffen“ vom Zweiten Golfkrieg, um zu Putins (von Jelzin begonnenen) Tschetschenienkrieg zu kommen, dessen Wiederaufnahme durch vier tschetschenische Bombenanschläge mit Hunderten Opfern gerechtfertigt wurde –russische Geheimdienste, Militärs und Rüstungsfirmen kämen aber als Hintermänner in Betracht; danach geht es um die „Lüge von den Faschisten in der Ukraine, die Russland zum Verteidigungskrieg zwingen“ (S.176), ob diese Faschisten nicht existieren oder sie lediglich Putin nicht zum Krieg gezwungen haben, bleibt bei Landgraeber unklar; Soziale Medien würden Propaganda verbreiten, aber etwa die investigative Plattform „Bellingcat“ habe auch russische Fakenews bekämpft. Landgraeber holt dann weiter aus, um die Geschichte der „false flag“-Operationen zu erörtern; 1998 seien Dokumente der CIA und des US-Militärs ans Licht gekommen, die den Plan eines General Lemnitzer enthüllten, 1962 in der Kuba-Krise Terrorangriffe auf das eigene Land auszuführen; durch politische Morde, die den Kommunisten angehängt werden sollten, wollte man die US-Öffentlichkeit kriegsbereit gegen Kuba bomben, doch Präsident Kennedy lehnte dies ab (S.179ff.). Kapitel 13-15 beschreiben die „Medienfreiheit in Gefahr“ durch zunehmende Überwachung (unter knappem Verweis auf die Leaks von Edward Snowden sowie die „erkennungsdienstliche Behandlung bei uns Autoren des Buches Das RAF-Phantom“, S.185) und Gewalt, etwa Fußtritte in Berlin und Sachsen oder tödlichen Beschuss durch israelisches Militär im Libanon (S.190); abhelfen könnten heute jedoch auch Recherche-Netzwerke wie GN-STAT (Global Net Stop the Arms Trade) oder ICIJ (International Consortium of Investigatve Journalists) die gegen Waffenhandel und sonstige Wirtschafts- und Steuerkriminalität ermitteln (S.195).

Diskussion

Paradebeispiel für unerschrockenen Journalismus ist (nicht nur) für Landgraeber der berühmte Reporter Günter Wallraff . Der kettete sich z.B. 1974 todesmutig als „Fabrikarbeiter Hans Wallraff“ in Athen an und protestierte gegen die dortige Militär-Diktatur (vgl. Spoo/Wallraff S.67), und ist auch hier ein kämpferisches Vorbild. Auch Landgraeber beklagt sich zu Recht und wohlbegründet über zunehmende Gängelung der Medien, doch klaffen in seiner Darstellung doch auch einige Lücken. Sehr engagiert kritisiert Landgraeber verdeckte Krieg und Putsche, für die die CIA verantwortlich zu machen ist, in Guatemala, Iran, Chile. „Insgesamt waren es 211 Umstürze und verdeckte Krieg allein in Lateinamerika.“ (S.181) Doch scheint Landgraeber nie von der „Jakarta-Mehode“ gehört zu haben, nach der dieser Staatsterrorismus seit 1965 weltweit organisiert wird (vgl. Vincent Bevins 2023). Auch was die in diesem strategischen Zusammenhang in Europa aktiven „Gladio“-Strukturen angeht, ist Landgraeber wohl nicht mehr auf dem neuesten Stand, was seine Bücher und Dokumentarfilme zum „RAF-Phantom“ noch in Anspruch nehmen konnten (vgl. Ganser).

Was die juristische Seite des Journalismus angeht, lobt Landgraeber zwar die Entschärfung des für Enthüllungs-Reporter gefährlichen Paragrafen 353b StGB (Dienstgeheimnis/Beihilfe zum Geheimnisverrat) anno 2010 (S.35), übersieht jedoch die Verschärfung von 130 StGB (Volksverhetzung), die –freilich öffentlich kaum beachtet- am 20.10.2022 den Bundestag passierte: Sie stellt neben dem bisherigen Tatbestand des Anstachelns von Hass und Pogromen im Inland nunmehr auch „das öffentliche Billigen, Leugnen und gröbliche Verharmlosen“ von Völkermord und Kriegsverbrechen unter Strafe; laut dem Kritiker Stefan Luft zielt das Gesetz auf „das Leugnen von Verbrechen im Ukraine-Krieg“ worin der Strafrechtler Gerhard Strate die Gefahr einer gefährlich schwammigen „Gesinnungsjustiz“ sieht, die womöglich Gegenstimmen zu Nato-Narrativen über Russland disziplinieren soll -und damit einer dringend nötigen Entspannungspolitik entgegen steht (Luft S.312).

Ex-Gesundheitsminister Spahn bei zweifelhaften Geschäften anzuprangern mag politisch relevant sein (S.155), aber dafür übersieht Landgraeber das zweifelhafte mediale Agieren des damaligen CDU-Steuerexperten und heutigen Kanzlers Friedrich Merz im Sinne der Finanzkonzerne in der Finanzkrise 2008 (vgl. Barth 2009). Die wachsende Dominanz privater Medien als Blocker für Aufklärung und Medienfreiheit kommt ebenfalls zu kurz (vgl. Spoo 2006). Auch ein hochmotivierter Journalist kann zwar nicht alles wissen, aber einige Lücken Landgraebers verblüffen doch: Darf man heute noch über die abnehmende Glaubwürdigkeit unserer Qualitätsmedien räsonieren, ohne ein einziges Mal den Relotius-Skandal zu erwähnen? Kein ARD-Polit-Magazin oder Investigativ-Recherche-Netzwerk kam den massenhaften, vielfach mit Journalismus-Preisen überhäuften Lügen auf die Schliche, sondern der von Relotius unkollegial behandelte Ko-Autor einer Reportage, Juan Moreno (vgl. Moreno 2019). Oder den ARD-Framing-Skandal um die Manipulations-Expertin Elisabeth Wehling, die für ein fünfstelliges Honorar der ARD erklärte, wie sie ihre Zuschauer noch effektiver mit „Narrativen“ einwickeln kann? (Anstatt sie auf Basis sauberer Recherche mit ausgewogener Information zu versorgen.) Und wenn man zwar anhand des Geheimdienst-Experten Erich Schmidt-Eenboom die Verwicklung von Journalisten in Geheimdienste kritisiert, darf man dann aber dessen einschlägiges Buch verschweigen: „Geheimdienst, Politik und Medien. Meinungsmache UNDERCOVER“ (2004), wo über diese für Landgraebers Thema so fundamental wichtige Problematik doch umfassend aufgeklärt (!) wird?

Hat dieses verschwiegene Buch von Erich Schmidt-Eenboom womöglich ein in (fast) allen Medien tabuisiertes Thema zu deutlich behandelt: Dass besonders die westdeutsche Kulturszene und insbesondere Publizisten und Journalisten bereits seit den 1950er-Jahren Ziel korrumpierender CIA-Geldflüssen sind? (vgl. Saunders: CIA & Arts & Letters) Trotz immenser kulturhistorischer und politischer Bedeutung wird der CCF („Congress for Culturel Freedom“, manchmal auf „Conference“) nach Kräften beschwiegen, abgesehen von wenigen halbversteckten und kaum wahrgenommenen (siehe Landgraeber!) Feigenblatt-Artikeln, wie jenem im DLF, den hauptsächlich störte, die üppig mit CIA-Dollars, Kaviar und Luxushotelzimmern geschmierten Publizisten könnten nicht antikommunistisch genug gewesen sein („geldgierige wie ruhmsüchtige Lumpenkünstler und Lumpenintellektuelle, die sich das antikommunistische Mäntelchen lediglich aus Verkaufsgründen umhingen“ DLF). Der CIA schuf jedoch zum Zweck der Kontrolle und der Infiltration des westlichen Kulturbetriebs den CCF und viele namhafte Publizisten zogen in den intellektuellen Kampf gegen die Sowjets: Besonders effektiv waren die linksliberalen, sozialdemokratischen, sozialistischen Antikommunisten. Die meisten von ihnen hatten (angeblich) keine Ahnung, von wem ihr Geld wirklich kam, obwohl sie es sich hätten denken können. Mehrfach angeblich eingestellt, dürfen wir vermuten, dass dies Programm oder ähnliches weiterläuft, vermutlich inzwischen digitalisiert.

Wenn Landgraeber die Digitalisierung mit zunehmender Überwachung und Drangsalierung von Journalisten verbunden sieht (S.157), liegt er richtig, hätte aber genauer über die Verbindung des von ihm herbei zitierten Edward Snowden (S.183) mit Wikileaks recherchieren sollen; dessen Team hatte u.a. Snowdens Flucht ins russische Asyl organisiert. Insbesondere entgeht Landgraeber überhaupt die für Aufklärungs-Journalismus enorme Bedeutung von Wikileaks (WL), wenn er einzig die Julius-Bär-Enthüllung nennt; die wurden 2008 hierzulande aber kaum wahrgenommen. Wichtiger wären ohnehin WL-Enthüllungen zum Toll-Collect-Skandal und der Kaupting Bank gewesen, die während der Finanzkrise 2009 in Reykjavik eine Regierung stürzten. Erst am 5.April 2010 kam Wikileaks bekanntlich erstmals in die ARD-„Tagesschau“, mit kurzen Auszügen aus dem Video „Collateral Murder“, das WL-Gründer Julian Assange weltberühmt machte. Es zeigt den kaltblütigen Mord an Journalisten in Bagdad durch Beschuss aus einem US-Kampfhubschrauber und den hinterhältigen Angriff auf eine Familie mit kleinen Kindern, die den Opfern zu Hilfe kommen wollten: Bilder, die die Welt ähnlich erschütterten wie in den 1970ern das kleine von Napalm verbrannte Mädchen als Symbol der Brutalität des Vietnamkriegs.

Landgraeber aber erwähnt „Collateral Murder“ nicht, obwohl diese historische Sternstunde des Enthüllungs-Journalismus durchaus in sein Kapitel über Tötungen von Reportern gepasst hätte. Weitere Leaks aus Militärdaten zu Kriegsverbrechen v.a. der USA in Irak und Afghanistan folgten bei WL (eigentlich in bester Landgraeber-Manier). Sie wurden begleitet von einer politischen Hetzjagd auf Assange, basierend auf falschen Beschuldigungen und der Konstruktion eines „Vergewaltigungsverdachts“ –eine Geheimdienst-Justizintrige, wie später zwar herauskam, aber durch fadenscheinige Nicht-Berichterstattung von unseren Medien bis heute verschleiert wird. All dies hätte einem Buch über Investivjournalismus sehr gut angestanden, aber Landgraeber unterliegt hier leider der Verdunkelungstaktik unserer Medien und übergeht eine Richtigstellung des jahrelangen medialen Rufmordes an seinem Enthüller-Kollegen Julian Assange; vgl. Nils Melzer (Jura-Professor und langjähriger UNO-Beauftragter für Folter), der 2021 eine weitgehend ahnungslose deutsche Öffentlichkeit über diese besonders heimtückische Intrige gegen den vielleicht bislang erfolgreichsten Enthüllungs-Journalisten umfassend aufklären (!) wollte. Melzer wurde aber medial derart totgeschwiegen bzw. angefeindet, dass seine akribischen Recherchen im „Fall Assange“ bis heute bislang nahezu unbekannt blieben.

Dies mag einerseits auf den Einfluss von Geheimdiensten auf unsere Medien, wie z.B. von Schmidt-Eenboom beschrieben zurückgehen; andererseits verdunkeln unsere Medien dabei auch ihre eigene Mitverantwortung. Denn der UNO-Folter-Experte Melzer begründet ausführlich, warum die von unseren Medien weitgehend kritiklos (Ausnahme vgl. etwa Rueger) transportierte Rufmord-Kampagne gegen Assange als Teil der an ihm verübten seelischen Folter zu bewerten ist (vgl. Melzer S.90ff.). Damit wäre auch jede ARD-Meldung zu Assange, die seinen Namen mit dem geheimdienstlich konstruierten „Vergewaltigungsverdacht“ verbindet, nicht nur Teil der politischen Verfolgung eines Journalistenkollegen, sondern sogar Teil der an ihm begangenen Folter (verständlich, dass man diese Kritik lieber totschweigen möchte). Ziel war aber nicht nur die psychische Zerstörung von Julian Assange, sondern auch die mediale Zerstörung von Wikileaks und die Neutralisierung seiner Enthüllungen (von denen viele der Öffentlichkeit auch unbekannt blieben): Es geht also bei Melzer um genau die Art von geheimdienstlicher Manipulation der Öffentlichkeit, die Landgraeber in seinem vorliegenden Buch angeprangert hat.

Fazit

Landgraeber sieht den kritischen Journalismus als unverzichtbare Säule der Demokratie und plädiert für mehr Mut, Unabhängigkeit und Aufklärung. Sein Buch dokumentiert die Einmischung staatlicher, politischer und wirtschaftlicher Akteure, um kritischen Journalismus zu verhindern -leider nur unter bestenfalls nebelhafter Andeutung des diesbezüglich bedeutsamsten Falles: Julian Assange und Wikileaks. Es richtet sich an Medienschaffende und alle, die sich für die Zukunft der demokratischen Meinungsbildung interessieren.

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung, Brandes & Apsel (Frankfurt) 2024. 199 Seiten. ISBN 978-3-95558-376-7. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

19.403 Zeichen, vgl. Landgraeber-Rezension von Arnold Schmieder, socialnet 20.12.2024 (Umfang 20.023 Zeichen), die nahezu alle kritischen Enthüllungen von Landgraeber ausspart, sich der Bedeutung von „Das RAF-Phantom“ scheinbar nicht bewusst ist und sich stattdessen über den Begriff „Aufklärung“ und der Philosophie Immanuel Kants verbreitet (nichts gegen Kant, aber hier wirkt das wie entpolitisierende Ablenkung vom regierungskritischen Kern der Arbeit Landgraebers).

Quellen

Barth, Thomas: Finanzmafia, Lobby und ihr medialer Nebelschirm, in: Elmar Altvater: Privatisierung und Korruption. Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S.75-81.

Bevins, Vincent: Die Jakarta Methode. Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt, Köln 2023.

Ganser, Daniele: NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, Zürich 2018 (14.Aufl., Original 2005).

Landgraeber, Wolfgang, Ekkehard Sieker, Gerhard Wisnewski: Das RAF-Phantom. Neue Ermittlungen in Sachen Terror, München 1992.

Landgraeber, Wolfgang: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung, Frankfurt/M. 2024.

Luft, Stefan: Deutschland und der Krieg, in: Sandra Kostner und Stefan Luft: Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, Frankfurt/M. 2023, S.309-329.

Melzer, Nils: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung, München 2021.

Moreno, Juan: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus, Berlin 2019.

Rueger, Gerd R.: Julian Assange – Die Zerstörung von Wikileaks, Hamburg 2011.

Saunders, Frances Stonor: The Cultural Cold War: The CIA and the World of Arts and Letters, New York 2000, (free PDF) Originally published in the United Kingdom under the title “Who Paid the Piper?“ by Granta Publications, 1999 (dt. Wer die Zeche zahlt)

Schmidt-Eenboom, Erich: Geheimdienst, Politik und Medien. Meinungsmache UNDERCOVER, Berlin 2004.

Spoo, Eckart, Günter Wallraff: Unser Faschismus nebenan. Erfahrungen bei Nato-Partnern, Reinbek 1982.

Spoo, Eckart: Pressekonzentration und Demokratie, in: Thomas Barth (Hg.), Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S.23-48.

11/9/24

Gerd Schumann: Patrice Lumumba

Rezensent: Thomas Barth

Gerd Schumann: Patrice Lumumba, Papyrossa Verlag, Köln 2024, 135 Seiten, 12,00 Euro

Patrice Lumumba war der erste freigewählte Premier der 1960 befreiten belgischen Kolonie Kongo, damals und noch mehr heute eine Schatzkammer an bedeutenden Rohstoffen: Coltan, Kobalt, Uran, Kupfer. Lumumbas immense historische Bedeutung ist hierzulande weitgehend unbekannt, was der Kolonialismus-Experte Gerd Schumann mit seiner Biographie des großen Staatsmannes ändern will.

Die Handels- und Ausbeutungsnetze des Kolonialismus gingen den Medien- und Kommunikationsnetzen der heutigen Digitalkultur voraus und sind ihr ökonomisch, politisch und technologisch verbunden. Rassistische Propaganda und Desinformation über koloniale Verbrechen flankieren bis heute die Ausplünderung des Südens („Dritte Welt“) durch den Westen (die „liberalen Demokratien“) medial.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir in unserem Mediensystem und auch in unserer historischen Literatur sehr viel über die Verfehlungen und Verbrechen nichtwestlicher Länder hören. Vorzugsweise trifft die Kritik solche Länder, die sich dem Westen widersetzten, besonders wenn sie sich selbst auch noch „sozialistisch“ nennen oder nannten. Sehr viel weniger hören wir über Untaten westlicher Länder, wobei derzeit immerhin Verbrechen der Kolonialzeit im Gespräch sind, etwa der deutsche Völkermord an Nama und Herero. Dabei wird jedoch regelmäßig die Frage ausgeklammert, warum die in den 1960er Jahren von der europäischen Kolonialherrschaft befreiten Länder insbesondere Afrikas trotz ihres Reichtums an Plantagen und Bodenschätzen fast alle dennoch seit über 60 Jahren in bitterer Armut verharren.

Eine platt-rassistische Weltsicht führt dies auf Defizite nicht-weißer Menschen zurück, die zu dumm oder zu faul sind, ihre Länder selbst zu regieren; westliche Mainstream-Ökonomen unterfüttern diese Ideologie mit windigen Theorien von einem „Rohstoff-Fluch“, der die an Naturschätzen reichen Länder angeblich quasi gesetzmäßig in Korruption und Armut stürzt. Beide blenden natürlich aus, dass die alten Kolonialmächte sich mit Zähnen und Klauen an ihre Privilegien klammern, also mit Intrigen, Bestechung, Erpressung, Terrorismus, Attentaten und Massenmorden. All dies versteckt man hinter einem Schirm von Propaganda, die in wechselnder Gestalt die Mär von der Zivilisation fortschreibt, die der Weiße den Farbigen gönnerhaft zuteil werden lässt, etwa als „Entwicklungshilfe“ (siehe die Kritik von Felwine Sarr).

Schatzkammer und Armenhaus Kongo

Dies gilt besonders für den gewaltigen Kongo, die Schatzkammer Afrikas, aber zugleich ein von Gewalt zerrüttetes Armenhaus. Das Wissen unserer Kultureliten über den Kongo endet oft bei Bismarcks Afrika-Konferenz 1885 und den vom belgischen König Leopold begangenen „Kongo-Gräueln“, einem der grausamsten Völkermorde der Geschichte. Vielen offenbar unbekannt ist die Ermordung von Patrice Lumumba durch westliche Schergen 1961, die unmittelbar zur weiteren und bis heute andauernden Ausbeutung und Verarmung des Landes führte: Siehe etwa die kürzlich ausgestrahlte Scobel-Sendung „Aufbruch Afrika“, die afrikanische Verelendung sehr bequem auf korrupte lokale Despoten zurückführte; es fehlte jedoch die Frage, ob diese Diktatoren durch die alten Kolonialherren an die Macht gekommen sein könnten. Schumanns Buch leistet hier dringend benötigte Aufklärungsarbeit und erklärt, wie westliche Intrigen, Interventionen und Gewalttaten den Hoffnungsträger Lumumba durch willfährige Despoten ersetzten.

Lumumba versuchte das Unmögliche, als er den Kongo vom belgischen Kolonialsystem unabhängig machen und aus der kolonialen Herrschaft befreien wollte. „Eine Treibjagd westlicher Geheimdienste folgte und endete am 17. Januar 1961 tragisch in Kongo-Katanga: Mit der Ermordung des charismatischen Redners, Denkers und erklärten Panafrikaners war ein Epochenwechsel hin zu einem vereinten, freien Afrika vorerst gescheitert. Auch das geostrategisch bedeutende, rohstoffreiche Land am Kongo-Strom würde in neokolonialen Strukturen verharren.” (Verlagstext)

Gerd Schumann zu Lumumba

Einführend beschreibt Schumann im Vorwort wie er als junger Zeitzeuge die fehlenden Reaktionen der westdeutschen Öffentlichkeit auf die Ermordung von Patrice Lumumba im Januar 1961 erlebte, wie der ganze Kontinent als primitives Buschland, bewohnt von Wilden hingestellt wurde. Das Afrikabild hierzulande sei immer noch durch die Völkerschauen Hagenbecks und andere Kolonialausstellungen geprägt gewesen: „106 nichteuropäische Menschen werden fünfeinhalb Monate öffentlich vorgeführt, die Bevölkerung glotzt wie im Zoo… und der gütige weiße Mann bringt hoch zu Ross mit Tropenhelm und in weißer Uniform die europäische ‚Zivilisation‘ in Strohhüttendörfer.“ (S.8)

Doch die Völker im Süden wollten nicht mehr so wie ihre weiße Herrschaft und der Vietnamkrieg machte die Generation ’68 hellhörig für imperialistische Verbrechen, begangen von Weißen an farbigen Menschen. Da sei Patrice Lumumba jedoch längst tot gewesen, „der erste frei gewählte Premier Kongos ermordet, sein Körper zerstückelt und in einem Säurefass aufgelöst“ (ebd.) Einzelheiten und Verantwortliche kamen erst viel später ans Licht, teils erst nach der Jahrtausendwende. Bei einer feierlichen Zeremonie in Belgien wurden Lumumbas Nachfahren erst 2022 jene Goldzähne zurückgegeben, die sich der verantwortliche belgische Kolonialoffizier aus dem Mund des Toten gebrochen hatte. Anschließend hatte er dem afrikanischen Staatsmann auch noch einige Finger abgeschnitten -ein perverses Souvenier, das deutlich dokumentiert, wer in diesem Kontext die „Wilden“ waren. Im keineswegs allzu reuigen Belgien dachte niemand an Reparationszahlungen, an die Rückgabe geraubter Reichtümer, man tat so als sei „die Horrortat ein, vielleicht durchaus schändliches, aber doch ein Kavaliersdelikt gewesen.“ (ebd.)

Rückblick: Bismarck und die Kongo-Gräuel

Im ersten Kapitel „Belgisch-Kongo“ wird erzählt, wie mit der Berliner Konferenz 1885/86 eine Schreckensherrschaft des belgischen Königs Leopold II beginnt, der etwa die Hälfte der Bevölkerung des Kongo massakrierte (S.13).

Der ehrgeizige belgische König strebte wie bald darauf Kaiser Wilhelm II nach einem Imperium nach Vorbild der Briten und Franzosen. Er engagierte im Vorfeld der Aufteilung Afrikas schon 1878 den berühmten britischen Afrikaforscher Henry Morton Stanley, um seine gewaltige Kolonie mit Gewalt, List und Tücke zu unterwerfen. Der Brite vertrat später in Berlin die belgischen Belange und Bismarck hielt es für schlau, den Kongo an das kleine Königreich zu vergeben, um die Großmächte London und Paris zu schwächen. Stanley hatte bei einer Rundreise etwa 450 lokale „Häuptlinge“ gegen die buchstäblichen Glasperlen-“Geschenke“ ihre Kreuze unter ihnen völlig unverständliche Papierstücke setzen lassen. Mit diesen „Verträgen“ befanden sich Land und Menschen somit (aus europäischer Sicht) im Besitz des Belgiers.

Gönnerhafter Kolonialismus, der sich selbstgefällig im Gefühl eigener Überlegenheit sonnt, mag das als Beweis sehen, dass diese „Wilden“ dringend europäischer Führung bedurften; psychopathischer Rassismus, der das Ziel brutaler Ausbeutung sogar realistischer sieht, wird hier stolz den schlauen Weißen preisen, der den „Primitiven“ ihr Land abgaunert. Aus Sicht der Indigenen waren die Unterzeichnungen solcher „Verträge“ wohl eher ein absonderliches Ritual der bedrohlich mit überlegenen Schusswaffen auftretenden Kolonialisten. Ein Ritual, bei dem man aus höflicher Gastfreundlichkeit teilnahm, vielleicht auch, um die darauf drängenden martialischen Fremden schnell wieder loszuwerden. Dass derartige „Verträge“ der gewaltsamen Landnahme und Versklavung der indigenen Bevölkerung als Rechtfertigung dienen sollten, war lokalen Eliten eher nicht offengelegt worden.

Leopolds Kolonialfürst Stanley ließ dann „unter Einsatz massiver Gewalt und Unterdrückung“ (S.19) Eisenbahnen zur Ausbeutung des Kongo und seiner Bevölkerung bauen, ca. 20.000 Zwangsarbeiter wurden dabei zu Tode geschunden. Ziel war zunächst Elfenbein, später Kautschuk, den Belgien an die Automobil-Industrie verkaufte. Die „Kongogräuel“ dienten der Motorisierung der reichen weißen Eliten, etwa zehn Millionen Menschen wurden massakriert, um die Fronarbeit zu erzwingen; Abertausende wurden verstümmelt, meist durch Abschlagen der rechten Hand (S.28). Der Kolonialdiktator versechzigfachte von 1890 bis 1901 die Kautschukausbeute, bis seine Gräueltaten an die Öffentlichkeit kamen, unter anderem durch den Roman Heart of Darkness (1899) von Joseph Conrad. Dann verkaufte Leopold „seine“ Kolonie an die belgische Regierung, die jedoch die Ausbeutung kaum weniger brutal fortsetzte (S.30).

Patrice Lumumba als „neuer Hitler“

Im zweiten Kapitel, „Das ganze Afrika“ versucht Schumann eine biografische Annäherung an den kongolesischen Freiheitskämpfer Patrice Lumumba. Der charismatische junge Mann beherrschte neben Französisch vier einheimische Sprachen und gehörte zu einer winzig kleinen Schicht schwarzer Kolonialbediensteter. Vom Postschalterbeamten stieg er in zehn Jahren zum Assistenten eines Soziologen auf, der den Kongo erforschen wollte. Er wurde Mitglied einer belgischen liberalen Partei und wurde 1958 Mitgründer der ersten gesamtkongolesischen Partei MNC (Mouvement National Congolais, S.44). Im Kongo gab es zahlreiche weitere, lokale Befreiungsbestrebungen. Dort fand Lumumba Mitstreiter gegen die Belgier, von denen einige ihm später in den Rücken fallen sollten. Tschombe sollte später die Provinz Katanga abspalten, Kasavubu mit den Belgiern gegen ihn putschen, mit dem späteren Despoten Mobutu glaubte sich Lumumba sogar in Freundschaft verbunden (S.49). Zunächst wollten alle Parteien und Regionen die Belgier und ihr mit Gewalt und Unterdrückung betriebenes Kolonialregime loswerden.

Die Kolonie Belgisch Kongo war inzwischen strategisch wichtiger Rohstofflieferant, was westliche Interessen um so fanatischer an einer Vorherrschaft festhalten ließ. Kongo förderte 75 Prozent der Weltkobalterze, Kupfer, Silber und sogar das Uran für die ersten Atombomben der USA. Lumumba traf den ersten Präsidenten des 1958 befreiten Ghana, Kwame Nkrumah (1909-1972) und organisierte Proteste gegen die Kolonialherrschaft Belgiens, wurde inhaftiert. Mitte 1960, die Entkolonialisierung stand bevor, denunzierten belgische Autoritäten den keineswegs marxistischen Lumumba in einer antikommunistischen Rufmordkampagne aggressiv als neuen „Hitler“ (S.53), die propagandistische Gleichsetzung von Nazis und Kommunisten war schon damals eine gängige Propaganda-Methode, die sich im ideologischen Medien-Jargon als undifferenziertes Gerede von „den politischen Rändern“ bis heute fortsetzt. In Bezug auf den eher sozial-liberal einzuordnenden Aktivisten Lumumba sollte die Propaganda damals einen mörderischen Putsch vorbereiten.

In Verhandlungen vor der Entlassung aus der Kolonialdiktatur hatten die Belgier trickreich ihre Herrschaft über Land und Rohstoffe fortzuschreiben gewusst. Schumann beschreibt wie belgische Experten in Brüssel schlecht vorbereitete und falsch informierte kongolesische Delegationen über den Tisch zogen. Deren primäres Ziel war ohnehin eine politische Befreiung, vielleicht glaubte man, die unverschämten belgischen Ansprüche auf Rohstoffe und Privilegien in der souveränen Republik Kongo dann später immer noch zügeln zu können. Doch die Westmächte dachten nicht daran, dem Land wirklich Souveränität zu gönnen, geschweige denn künftig faire Preise für die ausgebeuteten Rohstoffe zu zahlen.

Eine dem Anspruch nach demokratische Wahl (unter belgischer Aufsicht) machte zunächst Lumumbas MNC zur stärksten Kraft und ihn zum Premier. Einer Entlassung der Kolonie in die hart erkämpfte Unabhängigkeit stand nun scheinbar nichts mehr im Wege. Am 30.Juni hielt der belgische König zur Amtsübergabe des Regierungsmandats eine salbungsvolle Rede, die angebliche Zivilisierungserfolge pries, welche die Afrikaner Belgien angeblich zu verdanken hätten, aber Kongogräuel, Rassismus und Ausbeutung verschwieg. Lumumba, den man trotz seiner Wahl zum Premierminister wohlweislich nicht als Redner vorgesehen hatte, ergriff dennoch das Wort und stellte in maßvoller Kritik klar, dass man dies anders bewertet. Kapitel 3, „Glanzstück des Antikolonialismus“ referiert über vier Seiten im von Schumann aus dem Französischen übersetzten Wortlaut die historische Rede Lumumbas am Tag der kongolesischen Unabhängigkeit, ein panafrikanisches Manifest für Freiheit und Menschenwürde.

Propaganda, Putsch und Bürgerkrieg nach Jakarta-Methode

Kapitel 4, „Das Ende der Hoffnung“ erzählt von der Intrige, die Lumumba durch einen Putsch des kolonial-kompatiblen Präsidenten Kasavubu und des von der CIA gestützten Oberst Mobutu, des späteren Diktators, entmachtet hatte. Zuvor ließ man die Rohstoff-Provinz Katanga gegen Lumumbas Regierung rebellieren, um das Land in Chaos zu stürzen. Die Regierungstruppen standen immer noch unter Führung belgischer Offiziere und einer von ihnen, General Emile Janssen, wiegelte sie gegen Lumumba auf.

Es kam zu Unruhen im Land, westliche Medien berichteten über Vergewaltigungen weißer Frauen durch schwarze Männer und Fluchtbewegungen der belgischen Einwohner des Kongo (S.78). Der Premier griff ein, setzte den belgischen Armeechef ab, ernannte Major Lulunda zu dessen Nachfolger und „seinen vermeintlichen Freund Mobutu“ zum Stabschef, obwohl bereits Gerüchte über dessen Kontakt zur CIA und belgischem Geheimdienst kursierten. Eine Entlassung der belgischen Armeeoffiziere lähmte Lumumbas Truppen, da sie ohne ausgebildete Führung orientierungslos waren. Dazu kam eine perfide Kampagne mit aufgebauschten Horromeldungen in westlichen Leitmedien, die das Chaos im Land schüren sollte:

„Die Heraufbeschwörung des größtmöglichen Tabubruchs ‚Schwarzer Mann – Weiße Frau‘ erzeugte eine Massenpsychose, die zum Exodus führte, und man könnte meinen, das Szenarium sei in einem Thinktank entwickelt worden.“ (S.79)

Schumann fällt auf, dass ähnliche Putschpläne später in Argentinien, Chile, Guatemala und Indonesien von der CIA umgesetzt wurden (S.74). Er kennt offensichtlich nicht das Buch „Die Jakarta-Methode“ von Vincent Bevins, der genau beschreibt, wie dieser immer wieder angewandte Plot funktioniert; eine breite propagandistische Ausschlachtung angeblicher Sexualverbrechen gehört fast immer dazu. Vom CIA-initierten und gesteuerten „Indonesian Genocide“ (5-10 Millionen Todesopfer) bis zur politischen Verfolgung des Wikileaks-Gründers Julian Assange wurden Gewaltmaßnahmen so propagandistisch „gerechtfertigt“ bzw. massenpsychologisch möglich gemacht. Auch im Kongo heizte man rücksichtslos Hass und Gewalt an.

Dazu kam (ebenfalls Teil der Jakarta-Methode) ein Wirtschaftskrieg, der die Exporte des Kongo sabotierte und Land wie Regierung in eine finanzielle Krise stürzte. Premier Lumumba wandte sich in Radioansprachen an sein Volk, protestierte gegen die angezettelte Sezession von Katanga. Der belgische König hatte persönlich dem Separatisten Tschombe gratuliert. Die Unruhen nahmen zu. Belgien evakuierte erst 30.000 Weiße und marschierte am 10.Juli 1960 (natürlich völlig völkerrechtswidrig) in die gerade erst „entlassene“ Kolonie ein, angeblich um belgische Bürger vor dem afrikanischen Chaos zu schützen. Hafenstädte wurden bombardiert und besetzt, Westkongo unter Kontrolle gebracht.

Die UNO half Lumumba nicht

Lumumba suchte Hilfe gegen den Überfall der Belgier bei der UNO, jedoch ohne großen Erfolg. UNO-Friedenstruppen griffen nicht gegen die belgischen Angreifer durch. Als Lumumba, der keineswegs dem Marxismus zuneigte, in seiner Not schließlich Hilfe auch bei der Sowjetunion suchte, sah der Westen buchstäblich rot. Chruschtschow hatte als einziger im Sicherheitsrat den Kongo unterstützt, US-Präsident Eisenhower hatte dagegen Gespräche mit Lumumba verweigert. Schumann zitiert Peter Scholl-Latour, der Lumumba seinerzeit persönlich interviewt hatte, der berichtete, wie die CIA einen Giftanschlag auf den Premierminister vorbereitete; 1982 enthüllte „Congo-Cables“ hätten später die von Scholl-Latour berichteten Mordpläne der CIA bestätigt (S.88).

Am 5.September 1960 putschten Kasavubu und Mobutu, doch das Parlament bestätigte den Premier zwei Tage später und erteilte Lumumba am 13.September Notstandsvollmachten. Ein weiterer Putsch entmachtete den Premier „mit Unterstützung der CIA“ endgültig (S.93). Vom gewaltsam erzwungenen Hausarrest aus gelang es Lumumba jedoch, Widerstand zu organisieren und während belgische Truppen Westkongo besetzten, blieb der Ostkongo zunächst in der Hand von Lumumbisten. Das Kapitel beschreibt drastisch, wie der Hoffnungsträger, der von Felwine Sarr in seinem Manifest „Afrotopia“ neben Nelson Mandela und Kwame Nkrumah gestellt wird (S.96), von geheimdienstlichen Verschwörern schließlich nach einer gescheiterten Flucht mittels lokaler Schergen vor laufender Kamera gedemütigt, gefoltert und ermordet wurde.

Die Ermordung von UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld

Der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld hatte Lumumba im Juli zu Beratungen in New York getroffen. Hammarskjöld hätte sich dabei distanziert gezeigt, später war die Zusammenarbeit mit UN-Truppen schwierig gewesen. Hammarskjöld hatte dennoch nach dem Putsch vergeblich für Lumumba plädiert (S.93). Er starb am 18.September 1961 beim mysteriösen Absturz, wie sich später herausstellte, Abschuss seines Flugzeugs durch Katanga-Söldner „wohl auch mit Billigung der CIA“ und der Briten (S.103). Man kann annehmen, dass er den Interessen jener entgegenstand, die ungehemmten Zugriff auf die Reichtümer Kongos, insbesondere auf das kriegswichtige Uran, wollten und dafür sogar über die Leichen bedeutender weißer Männer zu gehen bereit waren.

Kritisch zu hinterfragen ist vielleicht eine ansonsten sensationelle und in anderen Kongokriegs-Darstellungen fehlende Behauptung Gerd Schumanns hinsichtlich ihrer dürftigen Quellenlage. „Ein Bruder“ von Dag Hammarskjöld sei „mit der belgischen Krone verschwägert“ gewesen, hätte Aktienpakete des wichtigsten belgischen Rohstoff-Konzerns im Kongo besessen und war sogar „einer der Direktoren der Union Miniér“, so der Name des Konzerns (S.45). Dies sollte vielleicht die anfängliche Distanziertheit des UNO-Chefs zu Lumumba und die wirkungslose UNO-Friedensmission im Kongo erklären. Eine (zugegeben kurze) Netzrecherche zeigt jedoch nur einen Bruder von Hammarskjöld, jedoch keine Verbindung von ihm zur berüchtigten belgischen Union Miniér. Als Quelle nennt Schumann dafür nur ein Buch aus der DDR: Kurt Rückmann „Schlagzeile Mord. Fälle, die die Welt erregten“ (1964). Zu dieser Zeit, im tiefsten Kalten Krieg, wurden in der DDR jedoch gelegentlich auch Desinformationen über den kapitalistischen Gegner verbreitet. Andererseits waren DDR-Bürger bei anderen Weltereignissen auch besser informiert als Westdeutsche, etwa über den im Westen totgeschwiegenen „Indonesian Holocaust“. Im Fall der Verbindung Hammarskjöld – Union Miniér ist also weitere Nachforschung nötig.

BRICS, IWF, Che Guevara und Lumumba

Kapitel 5, „Che Guevara und Lumumba“, erzählt wie eine kleine kubanische Guerillagruppe unter Che Guevara vergeblich versuchte, für die Seite Lumumbas gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Putschisten, Separatisten und andere Komplizen der westlichen Kolonialverbrecher einzugreifen. Che Guevara hätte vom Anführer der Aufständischen Kabila nicht viel gehalten. Dieser sollte 1997 nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg schließlich den prowestlichen Despoten Mobutu ablösen, aber die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen (S.117).

Das abschließende Kapitel 6, „Der Kongo und wir“, beschwört die Nachhaltigkeit von Lumumbas Ideen und kritisiert den aktuellen Umgang des Nordens mit den Reichtümern und den Arbeitskräften des Südens -etwa den ausgebeuteten Kinderarbeitern, die bis heute für Hungerlöhne das Coltan für unsere Handys aus dem Boden kratzen müssen. Hoffnungsschimmer für das Land sieht Schumann in nicht-westlichen Bündnissen wie den BRICS und in China. Dessen Investitionspläne würden jedoch vom westlich dominierten IWF torpediert, der auf die 13 Milliarden Dollar Schulden pochte, die der prowestliche Despot Mobutu hinterlassen habe, bevor der Mobutu-Clan sich mit einem Privatvermögen von mindestens vier Milliarden Dollar in die Schweiz zurückzog.

„Die vormaligen Kolonialstaaten behaupten wie einst (der belgische König) Baudouin I bei seiner fatalen Rede 1960 in Elisabethville, der Kolonialismus sei nunmehr historisch. Sie selbst seien keine kolonialen Mächte mehr, sondern hätten dem globalen Süden die Unabhängigkeit gewährt. Wenn überhaupt seien die Verhältnisse ‚postkolonial‘. Im selben Atemzug bedienen sich ‚die Ehemaligen‘ weiter ungeniert in den nun ‚unabhängigen‘ Ländern… holen sich weiterhin die Reichtümer aus dem in Armut verharrenden Süden. Derweil häufen sie unvorstellbare Reichtümer an, die jeden Menschen erschaudern lassen, weil sich hinter der ungleichen Verteilung der Güter… ein unfassbares Maß an Unrecht verbirgt.“ (S.122)

Fazit

Die Biografie “Patrice Lumumba” hinterfragt unser oft selbstgefälliges Afrika-Bild durch die Dokumentation „postkolonialer“ Staatsverbrechen Belgiens, der USA und weiterer westlicher Länder. Die brutale Ermordung des großen Panafrikaners Lumumba wird in historischen und aktuellen Kontext gestellt und ihre Bedeutung für die andauernde Ausbeutung des Kontinents und insbesondere des Kongo durch westliche Konzerne engagiert und kritisch dargestellt. Das schmale Taschenbuch im Format eines Smartphones ist jedem zu empfehlen, der einen anderen als den Mainstream-Medien-Blick auf den Kolonialismus werfen möchte.

Der Autor

Gerd Schumann, geb. 1951, lebt und arbeitet als Autor und Journalist in Berlin und Mecklenburg, publizierte Reportagen und Hintergrundberichte vom Balkan, aus der Karibik und vom afrikanischen Kontinent. Zahlreiche Reportagen, Features für Hörfunk und Printmedien sowie Buchpublikationen, darunter in derselben Buchreihe „Basiswissen“: „Kolonialismus, Neokolonialismus, Rekolonisierung“ (2014). Die Buchreihe »Basiswissen« des politisch links einzuordnenden Papyrossa-Verlags bringt in handlichem Taschenbuch-Format leicht verständliche kritische Einführungen in Grundbegriffe aus Politik, Geschichte, Gesellschaft und Ökonomie.

Gerd Schumann: Patrice Lumumba, Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie, Pocketformat, Papyrossa Verlag, Köln 2024, 135 Seiten, € 12,00 [D] ISBN 978-3-89438-829-4 https://www.papyrossa.de/neuerscheinung-112