11/27/19

Kartoffeln, Klee & Kluge Köpfe

Buchbesprechung von Thomas Barth

Stuber, Martin u.a. (Hg.), Kartoffeln, Klee und kluge Köpfe: Die Oekonomische und Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Bern OGG (1759-2009). Bern: Haupt-Verlag 2009. 309 Seiten

Nicht nur in Sachen direkte Demokratie, auch in der Reform der Landwirtschaft und im bäuerlichen Bildungsstreben ist die Schweiz seit Jahrhunderten Vorreiter gewesen. Die OGG war im 18.Jh. als Reformsozietät des Kantons Bern gegründet worden, wurde im 19.Jh. zum Landwirtschaftsverein und im 20.Jh. schließlich bäuerliche Bildungsinstitution. Bei der Gründung 1759 herrschte in Europa eine unsichere Versorgungslage, neben dem Wüten des Siebenjährigen Krieges hatte es zwei Missernten in Folge gegeben. Die Gründer der OGG orientierten sich an den großen Wissenschaftsakademie und Gelehrtengesellschaften, etwa in Stockholm, Kopenhagen oder Göttingen, aber auch an ökonomisch-patriotischen Sozietäten in Dublin, London und Rennes. Ziel war die Suche nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, ihre Anwendung in der Landwirtschaft und ihre Vermittlung an die bäuerliche Bevölkerung. Kluge Köpfe gab es glücklicherweise viele in Bern, Frauen und Männer, von der ersten Bienenforscherin bis zum Pionier der Güllenwirtschaft, von der Vorkämpferin des bäuerlich-hauswirtschaftlichen Unterrichts bis zum Praktiker des integrierten Landbaus. Im schwergewichtigen, reich bebilderten Band wird auf über 300 Seiten die 250jährige Geschichte der OGG hauptsächlich an Profilen von Einzelpersonen dargelegt, deren Schicksal ebenso fasziniert wie ihre Persönlichkeit. Etwa die aus Aarau im Aargau stammende Pfarrfrau von St.Stephan, Susanna Magdalena Schmid, die im Jahr 1784 die silberne Medaille der OGG verliehen bekam. Pfarrer Schmid war Ehrenmitglied der OGG, seine Frau hatte ein Nesselgarn aus heimischen Brennnesseln produziert, nachdem sie einer zeitgenössischen Enzyklopädie, dem „Dictionnaire universel de Commerce“ von Savary, diese aus Kamtschtka importierte Idee entnommen hatte. Die OGG hoffte auf die Behebung des Mangels an Rohstoffen für die Textilindustrie der Schweiz, Hanf und Flachs waren knapper und teurer als die verbreitete Brennnessel. Nesseltuch fand freilich in der Schweiz nicht viele Anhänger, war in Frankreich jedoch eine Weile recht beliebt und in Deutschland bis ins 20.Jh. noch in Gebrauch (S.131). Um die Kultivierung der Kartoffel machte sich Samuel Engel sehr verdient, der unter dem Eindruck der europaweiten Hungerkrise 1773 eine umfangreiche Schrift zur Propagierung der Erdäpfel publizierte. Engel hatte sich 60 verschiedene Sorten beschafft und in der Schweiz getestet –rund ein Drittel davon befand er für alpines Klima geeignet. Besonders frühe Kartoffeln lagen ihm dabei am Herzen, da in der Zeit bis zum Beginn der Getreideernte die meisten Hungertoten zu beklagen waren. Engel präsentierte sogar ein verfahren, ein nahrhaften Brot aus den Erdknollen zu backen und erhielt 1772 eine eigens für ihn vom Rat in Nyon geprägte Triptolemus-Medaille, nach dem griechischen Heros benannt, der als Begründer und Beschützer des Ackerbaus gilt (S.123). Mit seinen zahlreichen Abbildungen von Pflanzen, Tieren, Personen und Gerätschaften vermittelt das Buch einen anschaulichen Überblick über die Geschichte nicht nur der Berner OGG, sondern der mitteleuropäischen Landwirtschaft überhaupt, vom 18.Jh. bis heute.

04/28/19

Felwine Sarr: Afrotopia – Kultur, Zeit, Netze

Rezension von Thomas Barth

Afrotopia ist ein Manifest des senegalesischen Kultur- und Wirtschaftswissenschaftlers, Musikers und Schriftstellers Felwine Sarr. In seinem Buch plädiert Sarr für eine Neugestaltung der afrikanischen Gesellschaften und Wirtschaftssysteme, um eine bessere Zukunft für den Kontinent zu schaffen. Eigene sozioökonomische und digitale Netzwerke, eigene Zeit- und Kulturautonomie wären die notwendige Basis, um sich aus der politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Dominanz des Westens zu befreien.

Dem neoliberal-neokolonialistischen Homo Oekonomicus ist die soziokulturelle Rationalität eines Homo Africans entgegenzustellen, von der zur Abwechslung jetzt der Westen einmal etwas lernen könne. In der Netzkultur kennen wir schon aus den Bantu-Sprachen den Begriff Ubuntu, was für die Zulu- und Xhosa-Kulturen etwa „Menschlichkeit“ bedeutet und die Achtung der Menschenwürde mit dem kollektiven Streben nach einer friedlichen und harmonischen Gemeinschaft verbindet (Nelson Mandela erklärt den Begriff Ubuntu). Die Debian-Opensource-Community wählte den Namen Ubuntu in diesem Sinne für ihr gemeinschaftlich entwickeltes Linux-Betriebssystem, wie der Kulturphilosoph Felix Stalder ausführt.

Hintergrund: Restitution und Neoliberalismus

„Die Maxime der Ubuntu-Philosophie, Ich bin, weil wir sind, nimmt das gesellschaftliche Wesen des Individuums zum Ausgangspunkt, gibt dem Gemeinwohl und dem Respekt vor der Menschlichkeit des anderen den Vorrang.“ (Sarr, Afrotopia, S.96) So referiert Sarr die bedeutendste Wurzel der erhabenen Vision des Politischen, die Nelson Mandela während seiner Haft als politischer Gefangener des rassistischen „Apartheit-Regimes“ in Südafrika entwickelte und schließlich zum Sieg führte. Sie ist das Gegenteil der Ideologie des Neoliberalismus, den heutige Neoimperialisten wie Niall Ferguson (so kritisiert ihn Pankaj Mishra) durch Wiederbelebung kolonialer Machthierarchien und imperialen Größenwahns aus seiner weiter schwelenden Finanzkrise führen wollen. Doch Autoren wie Sarr leisten Gegenwehr und lassen die Ausblendung kolonial-imperialistischer Verbrechen nicht zu.

Felwine Sarr machte sich auch, zusammen mit seiner Kollegin Bénédicte Savoy, einen Namen im Bereich der Restitutionsforschung. Zur Kulturautonomie gehört das selbstbewusste Zurückfordern von Raub- und Diebesgut, wie perspektivisch auch das Einklagen von Entschädigung für die Barbarei des jahrhundertelangen Sklavenhandels, der den Westen bei seinem Aufstieg zu globaler Dominanz überhaupt erst reich gemacht hat. Das betrifft auch den, von konkurrierenden Kolonialmächten freilich schnell beendeten, kaiserlich-deutschen Raubzug nach Afrika. Die Entschuldigung bei den Hereros für den deutsch-wilhelminischen Vökermord und die Rückgabe von Benin-Bronzen an Nigeria sind nur der Anfang. In den etwa 50 deutschen Völkerkundemuseen lagern noch mehrere hunderttausend Objekte, die aus der Kolonialzeit stammen und deren Herkunft angeblich unklar ist. Obwohl wahrscheinlich ist, dass es sich zumeist um Hehlerware handeln dürfte, um Beute- oder Raubkunst, tut man sich in der Wissenschaft schwer, mit afrikanischen Kollegen zu verhandeln. Allen deutsch-museal Beschäftigten wäre Afrotopia auch als Verständnishilfe in der interkulturellen Kommunikation zu empfehlen, denn die Zeit scheint endgültig vorbei, wo man ganz naiv von den „unterentwickelten Ländern“ eine Übernahme westlicher „Standards“, die oft nur ideologische Sichtweisen meinen, erwarten durfte.

Der Westen bemisst und bewertet die ganze Welt anhand seines Modells, kritisiert Sarr, das an Kriterien von Reichtum, „freien Märkten“ und der grenzenlosen ökonomischen Expansion orientiert ist. Er meint die erzkapitalistische Ideologie des Neoliberalismus, die unserem Leben nur als ökonomische Leistung einen Wert zugesteht, nicht als Erfahrung, Kultur und Gesellschaft. Diese ökonomische Leistung ist dabei grundsätzlich etwas, das diejenigen, die in der Hierarchie unten sind, zum Nutzen derjenigen zu erbringen haben, die das Privileg der Herrschaft besitzen. Der Sozialstaat, Solidarität und soziale Rechte werden als „Sozialismus“ dämonisiert und im Namen einer „Freiheit“ bekämpft, die streng nach individueller Finanzkraft zugemessen oder vorenthalten wird.

„Es gibt keine Gesellschaft“, da sind nur Individuen, behauptete die Scharfrichterin der britischen Arbeiterbewegung, Premierministerin Margret Thatcher, wofür erzkonservative Propagandisten einer brutalen Marktideologie sie bis heute bejubeln, etwa im Deutschlandfunk (DLF): Die Gesellschaft sei nur Konstrukt, die Freiheit beginne „beim Ich“, nur das könne denken und handeln, nicht das Kollektiv; „Insofern gibt es keine Gesellschaft, es gibt immer nur Individuen. Wir leben schließlich nicht im Sozialismus.“ Und die neoliberale Thatcher, die Millionen britische Arbeiter ins Elend brachte, um Konzerngewinne explodieren zu lassen, habe ja auch „die Familie“ in ihrem viel zu selten vollständig gelesenen Interview erwähnt -„die Familie“, jeder Mafia-Pate und Rechtspopulist lobt sie über den grünen Klee. Hier dient sie, um suggestiv vom brutalen Kerninhalt der Aussage, von der unsozialen Politik Thatchers und des Neoliberalismus abzulenken.

Doch die meisten Menschen der Welt haben genug vom neoliberalen Raubtierkapitalismus und der ausgefeilten Propaganda seiner Ideologen, nicht nur in Afrika. Das westliche Modell beruft sich auf angeblich „freie Märkte“, hinter denen sich aber oft nur lichtscheue Netzwerke der Herrschaftseliten verbergen, und will arrogant darüber entscheiden, welches Land, sogar welcher Kontinent, als „entwickelt“ gilt oder als „unterentwickelt“. Nebenbei bemerkt: Der diktatorische Sozialismus Libyens brachte den Libyern zwar nicht die volle westliche Freiheit, aber -sogar nach westlichen, laut Sarr, wie wir sehen werden, „quantophrenischen“ Maßstäben- den höchsten Lebensstandard Afrikas, Bildung, Gesundheitswesen, Frauenemanzipation. Weil das aber nicht ins ideologische Weltbild passte und Libyen frecherweise auch noch sein Öl eigenmächtig an die Chinesen verkaufen wollte, bombte der Westen völkerrechtswidrig islamistischen Terrorhorden den Weg nach Tripolis frei: Den Afrikanern ging es wieder dreckig und das begehrte Öl floss westwärts. Neokolonialismus macht reich, aber niemals frei -und reich auch nur die Kolonialisten.

Das neoliberale Denken hat sich von den humanistischen Wurzeln des politischen Liberalismus weit entfernt, denn in der Technokratie gibt es (angeblich) kein Gegenüber mehr, bei dem wir unsere Menschenrechte einfordern könnten (Günther Anders). Der Neoliberalismus basiert auf einer bornierten Ideologie, die der Humanität und der Vernunft ebenso Hohn spricht wie der Vielfalt menschlicher Kulturen. Insbesondere der Vielzahl lokaler und regionaler Kulturen, wie sie allein Afrika, die Wiege der Menschheit, hervorgebracht hat.

Zu Afrotopia: Der blinde Fleck der Liberalen

Sarr will den „blinden Fleck des neoklassischen Paradigmas“ enthüllen, „kollektive Kräfte“ zur Kenntnis nehmen (S.79) und entlarvt das neoliberale Gerede vom universalen „Ich“ versus der „konstruierten Gesellschaft“ als ideologisch einseitige Verkürzung: Selbstverständlich ist auch das im staatsnahen DLF propagierte angeblich „freie Ich“ nur eine Konstruktion, leider die einer toxisch gewordenen Unkultur von Konkurrenz, Überwachung und Angst. Sarr aber konstruiert, unter Verweis auf Arendt, Adorno, David Throsby und den Netzphilosophen Michel Foucault, die Ökonomie lieber als kulturellen Prozess statt umgekehrt (S.71 ff.). Und Sarr dreht auch die in westlichen Medien kolportierten, einseitig als katastrophisch konstruierten Meldungen von hoher Geburtenrate und Übervölkerung um: Die Demografie spricht für Afrika als kommenden Kontinent.

In 35 Jahren wird bei Fortschreibung heutiger demografischer Trends ein Viertel der Weltbevölkerung in Afrika zuhause sein. Es ist also an der Zeit, die verborgene Lebenskraft dieses Kontinents zu entdecken und das Zeitalter eines Afrofuturismus auszurufen. Afrotopia hat in der intellektuellen Welt viel Aufmerksamkeit erregt und wird oft als wichtiger Beitrag zur Debatte über die Zukunft Afrikas angesehen. In „Afrotopia“, wie der Essay auch im französischen Original heißt, steckt der Begriff „Utopia“ – Sarr rehabilitiert den von Reaktionären und Liberalen aus Angst vor der kommunistischen Utopie durch diffamierende Reduktionen in Misskredit gebrachten Begriff. Die allzu billige Gleichsetzung jeder „utopischen“ Forderung nach Entmachtung und Enteignung bourgeoiser Herrschaftsklassen mit dem gebetsmühlenhaft beschworenen Stalinismus lässt sich der afrikanische Star-Ökonom nicht so leicht aufschwatzen wie die konformistische Mehrheit seiner westlichen Kollegen. Ist Sarr ein sozialistischer Denker? In vieler Hinsicht schon, besonders in seiner Gegnerschaft zur herrschenden kapitalistischen Ideologie, ob man sie nun „Globalisierung“ oder Neoliberalismus nennt.

Bei Felwine Sarr sind antikommunistische Konservative und Reaktionäre jedoch mit ihrem Pochen auf Familie und Tradition gegen „die gottlosen Sozialisten“ an der falschen Adresse: Traditionelle Sitten und Strukturen führt er in Hülle und Fülle an, nur eben nicht die biologistisch verabsolutierte bourgeoise Kleinfamilie, die konservative Westeliten ihrem Proletariat und neuerdings Prekariat als Paradies der Seligkeit verkaufen wollen. Er verweist auf die Kulturen der Muriden und Sufis, Wiredu und Modimbe, die Serer und Songhai und ihre soziohistorischen Wurzeln im Malireich, Ghana und Altägypten. In der Bildungsforschung stellt die Ethnologie der „New Kinship Studies“ inzwischen ähnliche Fragen an hergebrachte Konstrukte wie „die Familie“.

Der visionäre Ökonom und Kulturwissenschaftler Felwine Sarr entwickelt in seinem Manifest eine visionäre Utopie, wie eine eigene Form afrikanischen Fortschritts gelingen könnte, vor allem durch Entscheidungsautonomie und ein selbst gewähltes Entwicklungstempo. Langfristig könnte die afrikanische Kulturrevolution auch neue Ansätze für eine nachhaltige Entwicklung auf anderen Kontinenten liefern, bringt Sarr den generationenlang emsigen „Entwicklungshelfern“ ironisch seine Deutung nahe. Der Süden kann Vorbild werden -wenn es Afrika gelingt, sich vom schwarzen Erbe der europäischen Invasoren und Kolonialdiktaturen zu befreien. Denn das heutige „Afrika“ ist eine Erfindung Europas, die Sarr „Afropessimismus“ nennt:

„Seit den 1960er-Jahren und seit dem Morgen der Unabhängigkeit ist Afrika… ohne Unterlass als der Kontinent beschrieben worden, der einen Fehlstart hingelegt hat und seitdem am Abdriften ist: ein sterbendes Ungeheuer, dessen jüngste Zuckungen das baldige Ende ankündigen. Die grimmigen Zukunftsprognosen folgen einander im Gleichschritt… Auf dem Höhepunkt der Aids-Pandemie prophezeiten einige Auguren nichts weniger als die Auslöschung allen Lebens auf dem afrikanischen Kontinent. Soll diese Ansammlung von Elend doch von einer Gesundheitskatastrophe zugrunde gerichtet werden, der übrigen Menschheit kann es dann nur besser gehen.“ (S.9)

Deshalb ist „Afrika“ auch unter Ägide des Postkolonialismus ein finsteres Wort geblieben: „Dunkler Kontinent“, „Elendsgebiet“, „Rohstofflager der Welt“. Weiterhin wird Afrika mit Stereotypen belegt, die Unterentwicklung und Armut betonen. Weiterhin werden die Perspektiven des Kontinents an westlichen Fortschrittsmaßstäben gemessen, obwohl sich diese längst als unbrauchbar, wenn nicht gar zerstörerisch erwiesen haben. In seinem bahnbrechenden Manifest, das Analyse und Utopie anstrebt, fordert Felwine Sarr eine wirkliche Entkolonialisierung Afrikas, die auch auf die Kolonialzeit zurückgehende Institutionen und Handelsbeziehungen überwindet. Afrikanische Probleme können nur durch ein umfassenderes Verständnis ihrer Ursachen und nur durch die Afrikanerinnen und Afrikaner selbst gelöst werden.

Entwicklung“ -ein ideologisches Konzept

Wenn im Westen von „entwickelten“ oder gar von „unterentwickelten“ Ländern geredet wird, werden diese Begriffe selten reflektiert. Sarr analysiert diesen Begriff, der sich bis in die UNO-Milleniums-Entwicklungsziele verfolgen lässt, als Worthülse, die darauf zielt, „die Mythen des Westens auf die Entwicklungsverläufe afrikanischer Gesellschaften zu projizieren; der Westen habe habe damit „fremden mythologischen Universen“ sein „Interpretationsraster aufoktroyiert“ (S.17).

Ein begriffliches Defizit sei dabei die „quantophrenische Schieflage“, der „Zwang, alles zu zählen, zu bewerten, zu quantifizieren und in Gleichungen einzufügen.“ Bei einer solchen „mathematischen Reduktion der Realität bestehe die Gefahr, dass unvollkommene Maßeinheiten und Bezugspunkte unter der Hand in Zwecke des gesellschaftlichen Abenteuers umgedeutet werden.“ Sogar der Lebensqualität einbeziehende „Index der menschlichen Entwicklung“ diene letztlich dazu, Nationen zu klassifizieren und Rangordnungen zu erstellen, „mit Klassenbesten und Klassenschlechtesten“. Dabei sagen solche Indikatoren „nichts über das Leben selbst“ (S.18).

Etymologisch sei „Entwickeln“ der Gegensatz des „Einwickelns“ und genau das habe der Westen in Wirklichkeit mit nichtwestlichen Gesellschaften in seiner „Entwicklungspolitik“ getan: „Man hat sie in gesellschaftliche Formen eingewickelt, die ihnen nicht entsprechen.“ (S.23). Geködert mit Wohlstand, den der Westen der Plünderung seiner Kolonialreiche verdankt, wären viele dieser Ideologie auf den Leim gegangen. Deren scheinbare Objektivität des Bruttosozialprodukts basiere auf einem Weltbild der westlichen Neuzeit-Kultur, das Rationalität mit bestimmten westlichen Mythen verbinde: Gesellschaftlicher Evolutionismus, sprich: „Entwicklung“, sei analog biologischer Prozesse konstruiert; die Utopie grenzenlosen Wirtschaftswachstums wurzelt nach Sarr in „der Vorstellung eines unbegrenzten Himmelsreichs, wie man sie aus der christlichen Eschatologie kennt“ (S.22). Profanisiert zu westlichen Leitbegriffen wie Ordnung, Vernunft, Fortschritt und Wachstum finde sich dort die „Utopie einer deterministischen und vorhersagbaren Welt“, die im Europa des 17.Jahrhunderts entstand.

Ein Kernbegriff der Kritik von Falwine Sarr ist leider schwer ins Deutsche zu übersetzen: Ökomythos (S.25). Die Vorsilbe „Öko“ ist bei uns fest mit „Ökologie“ verknüpft, meint aber bei Sarr die Ökonomie. Da es kein naheliegendes deutsches Wort gibt („Kapitalismus“, „Instrumentelle Rationalität“ wären zu holprig) blieb es missverständlich im Text stehen -besser wäre vielleicht noch „Finanzmythos“, doch das fasst die Begriffsgeschichte erst ab der neoliberalen Finanzialisierung der Weltökonomie.

„Dieser Ökomythos ist zum einen dadurch hegemonial geworden, dass er westliche Vorstellungen des gesellschaftlichen Abenteuers auf Afrika projiziert hat, zum anderen dadurch, dass er stets dazu tendierte, sich in sämtliche soziale Praktiken einzuschreiben.“ (S.26) Das verhängnisvolle Versagen dieses Öko– bzw. Finanzmythos zeige sich in „Krise der Weltwirtschaft, die wir heute durchleben“. Die seit 2008 gärende Finanzkrise, deren Schockwellen, ausgehend von der Lehman-Pleite, weltweit Krisen verursachten, war für Sarr 2016 noch gegenwärtiger als heute. Abgelenkt von der endlich nicht mehr abzuleugnenden Klimakrise und vor allem vom Ukrainekrieg, sind sie fast schon wieder vergessen, die Bruchstellen im Finanzsystem -sie sind jedoch nur dürftig gekittet. Derzeitig explodierende Rüstungsetats im Westen könnten sogar als brandgefährlicher Versuch gedeutet werden, die Finanzkrise weiter zu verbergen und einer fatalen „Lösung“ in einem Dritten Weltkrieg zuzuführen.

Kein Wunder, dass Sarr dazu rät, „sich von der Herrschaft der mechanischen Vernunft zu befreien, indem man aufhört, den Geboten der herrschenden Wirtschaftsordnung zu folgen (Entwicklung, Ökonomismus, unbegrenztes Wachstum, Massenkonsum).“ (S.27) Die Wirtschaft solle, ihres dominierenden Selbstzwecks entkleidet, endlich wieder zu einem Mittel werden, das „den von der Gruppe definierten gesellschaftlichen Zwecken dient“ (S.28).

Afrika sollte sich auf seine verfemten und verdrängten geistigen Ressourcen zurückbesinnen, ohne den Kontakt mit der Moderne zu verleugnen. So findet sich eine Fülle kulturellen und geistigen Reichtums, die auf ein anderes, ausgeglicheneres Verhältnis zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur verweist. Die afrikanische Kulturrevolution bietet dabei auch für den Rest des Planeten dringend benötigte Ansätze, um eine postkolonialistische Zivilisation zu begründen. Afrika muss niemanden einholen auf Pfaden, die man ihm vorgibt. Es muss einen Weg gehen, den es für sich selbst gewählt hat. Es muss sich aus dem Wettbewerb lösen, aus einer kindischen Haltung, in der sich die Nationen vergleichen, um zu sehen, wer den größten Reichtum angehäuft hat -im Fall der westlichen Nationen fast immer, ohne zu fragen wie dies geschah. Und Afrika hat auch das Potential, so der Ökonom Sarr, sich aus diesem unverantwortlichen Wettbewerb zu lösen, der unsere sozialen und ökologischen Lebensgrundlagen zu zerstören droht.

frz.Original Édition Philippe Rey 2016

Eigene Zeit, eigene Netzwerke
Oft hysterische, angeblich immer wohlmeinende westliche Entwicklungshilfe kann man angesichts der dürftigen Ergebnisse kritisch sehen. Afrikas einzige Dringlichkeit besteht darin, so Felwine Sarr, endlich seinem Potenzial gerecht zu werden. Afrika muss seine Entkolonialisierung durch eine fruchtbare Begegnung mit sich selbst vollenden. In 35 Jahren wird seine Bevölkerung ein Viertel der Weltbevölkerung ausmachen und die lebendige Kraft einer alternden, hoffentlich nicht mehr von „alten weißen Männern“ regierten Welt sein. Ein demografisches Gewicht und eine Vitalität, die das soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Gleichgewicht des Planeten beeinflussen werden. Schon heute verfügt der jüngste Kontinent der Welt über eine Jugend, die sich in den stereotypen Nachrichtenbildern von Hunger und Elend in den europäischen Medien nicht wiederfinden kann. Felwine Sarr wendet sich selbstbewusst gerade an die ehemaligen Kolonialisten in Paris:

„Diese Jugend nutzt die sozialen Netzwerke, betreibt Blogs, tweetet, kommentiert Nachrichtenmeldungen, äußert ihre Meinung und beobachtet den Lauf der Welt. Sie ist rasch zur Stelle, wenn es auf einen im Gewand der Frankofonie auftretenden kulturellen Imperialismus zu reagieren gilt. Wo doch demografische und soziolinguistische Dynamiken aus dem Französischen nicht nur eine afrikanische Sprache gemacht haben, sondern auch eine, die nur dank afrikanischer Demografie überleben und ihren internationalen Status behalten wird.“ (S.93)

Um ein treibender Akteur der Geschichte zu werden, muss Afrika eine tiefgreifende kulturelle Revolution durchlaufen. Es muss sich von den Versuchungen des Westens lösen, wie Sarr unter Berufung auf den indischen Kritiker westlicher Dominanz, Pankaj Mishra, betont, und den „Reichtum der eigenen gesellschaftlichen Besonderheiten“ retten (S.122). Es muss am Aufbau einer bewussteren Zivilisation mitwirken, die sich kraftvoller um das Gemeinwohl, das Gleichgewicht verschiedener soziokultureller Ordnungen und um die Würde des Menschen bemüht. Afrotopia ist ein Ausdruck des Vertrauens in diese beherzte Utopie: Sarr fordert ein Afrika, das dazu beiträgt, unsere globale Gesellschaft auf eine neue Stufe zu heben. So schließt Afrotopia optimistisch:

„Afrika muss auch die Rolle seiner Kultur neu überdenken. Kultur als Suche nach Zwecken, nach Zielen und Gründen, überhaupt zu leben, als Verfahren, um dem menschlichen Abenteuer einen Sinn zu verleihen. Um Kultur in diesem Sinn zu verwirklichen, bedarf es einer radikalen Kritik all dessen, was in den heutigen afrikanischen Kulturen die Menschheit und die Menschlichkeit eindämmt, behindert, begrenzt oder herabsetzt. Zugleich müssen aber bestimmte afrikanische Werte rehabilitiert werden: jom (Würde), Gemeinschaftlichkeit, téraanga (Gastfreundschaft), kersa (Bescheidenheit), ngor (Ehrgefühl). Es gilt, den tiefgreifenden Humanismus der afrikanischen Kulturen zutage zu fördern und zu erneuern. Die Revolution, die es auf den Weg zu bringen gilt, ist eine spirituelle. Und es scheint uns, dass die Zukunft der Menschheit von ihr abhängt. Am Tag der Revolution wird Afrika, wie zur Zeit der ersten Morgenanbrüche, wieder das spirituelle Zentrum der Welt sein.“ (S.156)

Die Afrotopia-Buchbesprechung im staatsnahen Deutschlandfunk meinte offenbar der deutschen Öffentlichkeit in seinem Zitat genau dieser Passage weder die afrikanischen Worte zumuten zu können, noch den auf „den Tag der Revolution“ verweisenden Schlusssatz. Besser lässt sich die Notwendigkeit der deutschen Fassung von Felwine Sarrs Manifest wohl nicht dokumentieren als mit dieser eurozentrischen Verkürzung, die fremde Sichtweisen noch dort zum Verstummen bringen will, wo sie ihnen vermeintlich lobend das Wort erteilt.

Der Autor: Felwine Sarr wurde 1972 in Niodior im Senegal geboren. Er ist Schriftsteller, Musiker und lehrt als Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Gaston Berger Universitat in Saint-Louis, Senegal. Im März 2018 wurde er gemeinsam mit Benedicte Savoy von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beauftragt, die Rückgabe von französischer Raubkunst nach Afrika vorzubereiten. Felwine Sarr gilt als einer der meistdiskutierten Denker Afrikas. Zusammen mit Bénédicte Savoy wurde Felwine Sarr vom Time Magazin zu den 100 einflussreichsten Menschen 2021 gewählt. Bénédicte Savoy, 1972 in Paris geboren, lehrt Kunstgeschichte an der TU Berlin. Ihre Forschungsinteressen sind Kunst und Kulturtransfer in Europa, Museumsgeschichte sowie Kunstraub und Beutekunst. 2016 erhielt sie den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Das Buch von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy: „Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“ stellt die Kolonialisten zur Rede. Der von Präsident Macron beauftragte Bericht zur Rückgabe des in französischen Museen befindlichen afrikanischen Kulturerbes lag im November 2018 vor. Er löste eine bis heute anhaltende Debatte aus, die über Frankreichs Grenzen hinausging. Sarr und Savoy zeigen, dass ein großer Teil der afrikanischen Sammlungen in den ethnologischen Museen Europas gewaltsam im Zuge des Kolonialismus oder durch die Übervorteilung der Einheimischen geraubt wurde. Bis heute befinden sich ca. 90 Prozent des afrikanischen Kulturerbes außerhalb des Kontinents. Nötig ist eine radikale Revision der bisherigen Sammlungspraxis, die auch deutsche Museen und nicht zuletzt das geplante Humboldt Forum berührt. Die Debatte über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes sollte einen neuen gleichberechtigten Dialog zwischen Afrika und Europa eröffnen. Doch es kam anders: Der französische Präsident wollte seinen Rat, wie er mit kolonialer Raubkunst umgehen solle – und schlug ihn in den Wind, so Felwine Sarr am 29.7.2019 in der „ZEIT“ über die Arroganz der Europäer und die große Chance der Restitutionsdebatte.

Das französische Original wurde erstmals im Jahr 2016 veröffentlicht, die deutsche Übersetzung folgte 2019 im Verlag Matthes & Seitz und seit 2020 liegt bei der staatlichen Bundeszentrale für Politische Bildung eine billige Ausgabe vor. Dieser Buchbesprechung lag die erste deutsche Übersetzung vom Verlag Matthes & Seitz zugrunde, der auch den Bericht an den Präsidenten der französischen Republik, Emmanuel Macron, übersetzte:

Sarr, Felwine: Afrotopia, Berlin 2019, Matthes & Seitz, 175 Seiten, 20,00 Euro, ISBN: 978-3-95757-677-4, 2020 erschien die druckgleiche, im Rahmen des Förderprogramms des Institute fancais herausgegebene BPB-Ausgabe mit dem Hinweis: „Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.“

Sarr, Felwine und Bénédicte Savoy: Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin 2019, Matthes & Seitz Berlin, 18,00 Euro, ISBN: 978-3-95757-763-4

01/8/19

Bio-Cyperpunk: Peter Watts‘ Mahlstrom

Peter Watts: Mahlstrom, München 2009, W. Heyne, 511 S., 9,99 Euro. (or. Maelstrom)

Der Cyberspace heißt „Mahlstrom“ und ist bevölkert von digitalen Lebensformen. Nur privilegierten Firmen ist noch zuverlässige Datenverarbeitung möglich -in einer mühsam mit Firewalls verteidigten „Zuflucht“. Teil 2 der Rifters-Trilogie

Rezension von Thomas Barth

Zeit: Irgendwann im nächsten Jahrhundert. Ort: Pazifik, Nordamerika. Autor: Peter Watts, Kanadier aus Toronto, arbeitete angeblich lange als „Unterwasserbiologe“. Ärgerlich: Der Klappentext plaudert ein Geheimnis aus, das der Leser eigentlich auf den ersten 130 Seiten langsam lüften sollte (hier spoilerfrei): „Eines Tages wird in den Tiefen der Meere XXX entdeckt, die eine tödliche Bedrohung für das Leben auf der Erde bedeutet. Kurzerhand wird XXX durchgeführt, der XXX für immer vernichten soll –ohne die im Tiefseelabor tätigen Wissenschaftler vorzuwarnen. Doch eine der Forscherinnen überlebt die Explosion. Sie XXX. Und sie will Rache…“

Der Anfang kommt deshalb etwas langweilig rüber, doch erfreulicherweise wartet Peter Watts mit genug neuen Wendungen auf, um seinem Roman immer wieder neuen Drive zu geben –die Handlungsstränge sprießen aus dem Text wie Tentakeln einer Seeanemone. Und zum Glück hat der Klappentextschreiber einiges nicht ganz verstanden, z.B. handelt es sich nicht um ein XXX…

Freunde der schaurigen Anti-Utopie kommen auf jeden Fall auf ihre Kosten, insbesondere Hypochonder, denn Seuchen aller Art plagen den künftigen Planeten; die Nationalstaaten sind belanglos geworden, Quarantänegrenzen durchziehen Land und Megacities. Die Quebecer wird’s freuen: Nach Wasser- und Energiekriegen hat Französisch das Englische als dominante Weltsprache abgelöst, doch Computer-Simultanübersetzung erübrigt Sprachkenntnisse ohnehin. Cyberpunk-like rüsten sich die Menschen mit Bioimplantaten auf, besonders die Rifters, Tiefsee-Cyborgs wie die rachsüchtige Lenie Clark. Umweltflüchtlinge sperrt man in Massen-KZs an der Küste, der Erzähler schlüpft in die Haut einer KZ-Wächterin –künftig ein Heimarbeitsplatz zur Steuerung von „Mechfliegen“–, eines Partygirls, die dem totalitären Regime frech die Stirn bietet, dann kommt aber eine evolvierende KI-Einheit ins Spiel (Neuromancer als kybernetischer Entwicklungsroman).

Am Tag, nachdem Patricia Rowan die Welt gerettet hatte, kam ein Mann namens Elias Murphy zu ihr, um ihr erneut ein schlechtes Gewissen zu machen. Eigentlich war das gar nicht nötig. Die taktische Anzeige ihrer Kontaktlinsen konfrontierte sie ohnehin schon unablässig mit einer Flut von Tod und Zerstörung, mit Zahlen, die viel zu ungenau waren, um als Schätzwerte durchzugehen. Es waren erst sechzehn Stunden vergangen, und selbst die Hochrechnungen waren nichts als Mutmaßungen. Dennoch versuchten die Maschinen unbeirrt, das Geschehen in Zahlen zu fassen: so und so viele Millionen Menschenleben, so und so viele Billionen Dollar. Als ließe sich die Apokalypse irgendwie dadurch abwenden, dass man sie bezifferte.“ P.Wattson, Mahlstrom

Weitere Hauptfigur ist ein mächtiger „Gesetzesbrecher“, ein hirntechnisch manipulierter Bürokrat mit der Befugnis Quarantänegrenzen zu ziehen und Dekontaminationen einzuleiten, bis hin zu Massenverbrennungen mit Mann und Maus: „Als Achilles Desjardinds die Bühne betreten hatte, war Cyberspace ein von Wehmut erfülltes Fantasiewort gewesen, ähnlich wie Hobbit oder Biodiversität.“

Der Datenraum heißt nun „Mahlstrom“ und ist bevölkert von digitalen Lebensformen, die privilegierten Firmen nur in einer mühsam mit Firewalls verteidigten „Zuflucht“ zuverlässige Datenverarbeitung ermöglichen. Nicht mal in seinen Cybersexfantasien ist Desjardins sicher vor Eindringlingen. Dank der ihm eingepflanzten Handlungsblockade, genannt „das Schuldgefühl“, ist Achilles zudem unfähig unmoralisch zu handeln, also gegen die Interessen seiner Arbeitgeber: Private Multis, Industriemafia und Konsorten beherrschen die Welt. Der fulminante Roman liefert nebenher Einblicke in die perverse Gedankenwelt einer biologistischen Philosophie des Freiheit-oder-Determinismus-Problems.

04/28/16

Der Schamane und die Schlange

Filmkritik von Thomas Barth

Der Film verbindet Humor mit knallharter Kritik am Kautschuk-Kolonialismus zu einem visionären Trip in versunkene Kulturen des Amazonas: Kolumbiens künftiger Kinoklassiker.

Die Hauptfigur von El abrazo de la serpiente (eigentlich: Die Umarmung der Schlange) ist erstmals im kolumbianischen Kino ein Indigeno (Indio): Der nach Vernichtung seines Volkes durch „die Kolumbianer“ allein im Dschungel lebende Schamane Karamakate muss sich zweimal in seinem Leben mit sonderbaren Weißen herumschlagen. Den jungen Karamakate (Nilbio Torres) sucht der todkranke deutsche Ethnologe Theodor Koch-Grünberg (Jan Bijovet) auf, er will Heilung durch die geheimnisvolle Pflanze Yakruna.

Die heilige Blume Yakruna verheißt spirituelle Läuterung, verspricht aber auch besseres Kautschuk. 40 Jahre später findet der Botaniker Evans Schultes (Brionne Davis) den alten Schamanen (Antonio Bolívar); Evans sucht, geleitet von Grünbergs Reisebericht, die gleiche Pflanze. Beide Male lässt Karamakate sich widerwillig auf den Weißen ein, macht sich auf zwei abenteuerliche Reisen durch einen Dschungel, in dem einer faszinierenden Natur die Brutalität des Kolonialismus gegenübersteht.

Der Film des jungen Regie-Talents Ciro Guerra zieht den Zuschauer sofort in seinen Bann; faszinierende, fast mystische Naturaufnahmen saugen den Blick in die visionäre Welt des Karamakate, durch die der weiße Forscher als komische Figur in eine brutale Handlung stolpert. Für Zuschauer und Karamakate verschmelzen beide Weiße zu einer Person; raffiniert gesetzte Zeitsprünge lassen beide Handlungsstränge parallel auf ihr ebenso dramatisches wie inspirierendes Ende zutreiben. Bildgewaltig, humorvoll und bewegend greift der Film auf reale Ereignisse und historische Forscherpersönlichkeiten zurück.

Gebrochene Figuren und spirituelle Drogen

Die beiden Forscher werden als gebrochene Figuren vorgeführt, der eine ein Irrer, der andere ein Betrüger. Theo, den sein treuer Gehilfe Manduca (Miguel D. Ramos) halbtot zu Karamakate schleppt, hängt in wahnsinniger Hartnäckigkeit an seinem Gepäck. Als der Schamane dies unterwegs kritisiert, “Du bist verrückt”, antwortet der Deutsche mit seligem Lächeln: “Ich weiß.” Theo will durch die Yakruna lernen zu träumen und verspricht Karamakate, dass er ihn zu letzten Überlebenden seines Stammes führen kann.

Evans will zu Anfang die heilige Yakruna von Karamakate für “viel Geld” kaufen und zeigt ihm zwei Ein-Dollar-Noten, doch der winkt ab, Geld stinke und sei nur etwas für Ameisen. Beide Forscher werden dennoch auch sympathisch dargestellt, Evans gewinnt den Schamanen für sich: “Ich habe mein Leben den Pflanzen gewidmet”; da findet Karamakate: “Das ist das Vernünftigste, was ich je von einem Weißen gehört habe.” Letztlich wird auch Evans zu einem Bewahrer der indigenen Kultur, die der Kolonialismus gnadenlos zerstört.

Optische Brillanz, überzeugende Darsteller in einer klugen Handlung und Bilder, welche die Fantasie nicht mehr loslassen, machen den Film zu einer faszinierenden Reise in die Welt des Amazonas. Die Kamera taucht tief in eine symbolisch aufgeladene Natur: Die Pflanzen des Dschungels sind mystischer Palast, rettende Heilkräuter, spirituelle Drogen und heilige Blume Yakruna. Eine lebendgebärende Boa windet sich in Schleim und aufplatzenden Eihüllen mit ihrem Nachwuchs, scheint ihre Kinder zu fressen. Karamakate träumt von einer Boa, die Theo das Unheil bringen wird. Oder ist der Weiße selber die Schlange, also die Gefahr? Schmetterlinge umschwärmen den mit halluzinogenen Tränken erleuchteten Karamakate wie Elfen. Ein Jaguar mit glänzendem Pelz beschleicht die Expedition als Verkörperung des Todes, bereit sich sein Opfer zu holen.

Chorrera: etnocidio cauchero

Doch wer nur in Naturromantik schwelgen will, sitzt hier im falschen Film. Das Grauen des Kolonialismus fokussiert sich in Chorrera, einer “Gedenkstätte für die Opfer der Kautschuk-Völkermords” (Presseheft). Das ärmliche Anwesen Chorrera war christliches Missionszentrum und Kautschuk-Sammelstelle der Caucheros, der Kautschukbarone. Beide Handlungsstränge treffen hier auf höllische Zustände kolonialer Verbrechen: Der junge Karamakate trifft mit Theo und Manduca auf einen bewaffneten Mönch inmitten Dutzender Indigeno-Kinder. Es sind Waisen, die man im Namen Jesu nach Versklaven ihrer Eltern bzw. dem Abschlachten ihrer Stämme durch Caucheros “eingesammelt” hat. Nun werden die Kinder christianisiert, indem ihre Sprache und Kultur, angeblich nur “Dummheit und Kannibalismus”, aus ihnen heraus geprügelt wird.

40 Jahre später findet der alte Karamakate mit dem Botaniker Evans in Chorrera eine Sekte vor, die sich um einen irren Messias schart, Reisende mordet und das “Schlechteste beider Welten” in sich vereint. Theos Assistent Manduca ist ein befreiter Kautschuk-Sklave mit furchtbaren Narben auf dem Rücken. Er bekommt einen Wutanfall, als sie im Wald auf einen Indigeno treffen, der offenbar durch Abschneiden des rechten Armes zum Kautschuk-Sammeln verdammt wurde. Wenn Theo durch den Belgier Bijovet verkörpert wird, weckt dies Erinnerungen an die Kongogräuel, jenen Kautschuk-Völkermord, durch den der Belgische König Leopold II zu sagenhaftem Reichtum kam. In Belgisch-Kongo wurde Hunderttausenden die rechte Hand abgeschnitten, viele Millionen starben. Ciro Guerra bietet jedoch keine billige Lösung an, etwa durch Besiegen des Caucheros in Indiana-Jones-Manier. Er zeigt Grausamkeit und Leiden in einer glaubwürdigen Handlung, die zum Nachdenken anregt.

Entlarvte Filmklischees

Ciro Guerra bricht nicht nur mit eingefahrenen Erzählstrukturen, Filmklischees und Sehgewohnheiten, er parodiert und entlarvt sie geradezu –von leichter Hand fast nebenbei. Er dreht einen Film über den Amazonas, man erwartet grünen Dschungel, bekommt aber einen Schwarzweißfilm. Das Format suggeriert zeitweise einen Dokumentarfilm nach dem Muster: Weißer Ethnologe zeigt uns exotische Indianer. Doch wenn dort vor gönnerhaft lächelnden Forschern die Eingeborenen tanzen würden, so sehen wir hier den Anthropologen Theo, wie er vor den johlenden und klatschenden Indigenos Volkstänze seiner deutschen Heimat zeigt.

Im Kanu diktiert Theo seinem treuen Gehilfen Manduca einen Brief an seine Frau im fernen Deutschland, die er womöglich nie mehr wiedersehen wird. An dieser Stelle würde in klassischer Hollywoodmanier die Gefühlsorgel aufgedreht, um dem Zuschauer qua Weichzeichner und Filmmusik die schmalzigen Gefühle zu geigen, die er oder sie haben soll. Zielzustand: Wahlweise in platt manipulierter Rührung versinken (Frauenfilm) oder sich (Actiongenre) in gerechter Mordlust auf den nächstbesten Feind stürzen zu wollen, der uns das Schnulzidyll versalzen hat. Nicht so bei Ciro Guerra, der Karamakate fragen lässt, was denn Manduca da für den Weißen mache. Manduca erläutert belustigt, dieser drücke seiner Frau seine Gefühle aus, was auch den Schamanen zu unbändigem Lachen reizt. “Und wenn du wieder in Deutschland bist, wirst du dann mir deine Gefühle ausdrücken?”, fragt der heitere Weise den erbosten Weißen.

Der Schamane ist dabei kein stereotyper “Weiser Medizinmann”, sondern schalkhaft und im Alter ratlos. Der alte Karamakate steht hilflos neben Evans vor einer mit Indigeno-Symbolen bemalten Felswand und kann nicht mehr erklären, was sie bedeuten. Sogar den Kokabrei Mambe muss Evans für die beiden zubereiten –der Schamane hat alles vergessen. (Das wäre etwa so, als würde man Albert Einstein vor einer Tafel mit seinen Formeln finden, doch er bekennt, nicht einmal mehr eine Tasse Kaffee kochen zu können.) Doch Karamakate findet im Lauf der Reise zu seinen Kenntnissen über halluzinogene Pflanzen zurück und weiß sie auch anzuwenden.

Der psychedelische Yakruna-Trip wird eindrucksvoll inszeniert: als einzige Farbsequenz in einem Schwarzweißfilm lässt er beim Zuschauer plötzlich die Neuronen der Sehrinde feuern, so dass die halluzinogene Wirkung fast nachempfunden werden kann. Anfangs womöglich noch leicht an die entsprechende Szene in “2001 –Odyssee im Weltall” angelehnt, entführt er uns rasch in mythische Bilderwelten der Indigenos. “El abrazo de la serpiente” ist sicherlich ein Film, den man mehrmals sehen sollte.

Die historischen Personen

Die beiden von Ciro Guerra und seinem Drehbuch-Koautor Jaques Toulemonde vorgeführten weißen Forscher sind historische Personen. Deren Werk wird vom Film gewürdigt, besonders Theodor Koch-Grünberg (1872-1924), eigentlich Theodor Koch, der den Namen seines hessischen Geburtsortes wie damals nicht unüblich anfügte, und auch Theodor von Martius genannt wird. Koch-Grünbergs Aufzeichnungen sind heute das einzige, was von vielen Indigeno-Kulturen übrig blieb, er gilt auch als Pionier der anthropologischen Fotografie.

Sein im Film gezeigtes Buch über die Baniwa “Zwei Jahre unter den Indianern” erschien 1910 (also, anders als in der Filmhandlung, 14 Jahre bevor er in Brasilien an Malaria starb). Der Freiburger Professor erforschte die Flussläufe von Rio Xingu, Yapura, Rio Negro und Rio Branco, dokumentierte vor allem die Kultur der Pemón (Arekuna und Taulipang) im Dreiländereck von Venezuela, Brasilien und der Kooperativen Republik Guyana. Die Pemón genießen eine gewisse Bekanntheit, weil die Regierung von Venezuela in ihrem Namen das Berliner Kunstprojekt “Global Stone” seit 2013 auf Rückgabe eines 30 Tonnen schweren heiligen Steins verklagt.

Richard Evans Schultes (1915-2001), der Koch-Grünbergs Spuren folgte, gilt als Klassiker der Ethnobotanik mit speziellem Interesse an halluzinogenen Pflanzen –er publizierte 1980 zusammen mit dem LSD-Entdecker Albert Hofmann. Der Havard-Botaniker Schultes forschte hauptsächlich in Kolumbiens Amazonasregion und soll die unwahrscheinliche Zahl von 24.000 Pflanzenarten klassifiziert haben, darunter 2000, die von indigenen Kulturen als Heilpflanzen genutzt wurden; gut 120 Arten tragen seinen Namen. Ab den 60er-Jahren setzte er sich für den Erhalt von Indigeno-Kulturen und Regenwald ein und klärte seine Studenten in Havard darüber auf, dass dort im letzten Jahrhundert schon über 90 indigene Kulturen vernichtet wurden; 1986 errichtete Kolumbien ein Naturschutzgebiet etwa von der Größe des Libanon als “Sector Schultes”, so sein Nachruf in der NYT.

Filmkritik erschien auch auf Telepolis

Literatur, Quellenangaben

Evans Schultes, Richard u. Albert Hofmann: The Botany and Chemistry of Hallucinogens, 2nd ed. Springfield 1980.

Koch Grünberg, Theodor: Zwei Jahre unter den Indianern: Reisen in Nordwest-Brasilien, 1903–1905. 2 Bände. Ernst Wasmuth, Berlin 1909/1910.

Filmtitel: Der Schamane und die Schlange, Originaltitel: El Abrazo de la Serpiente; (Argentinien, Kolumbien, Venezuela 2015); Laufzeit: 125 Minuten; Kinostart in Deutschland: 21.04.2016; Regie: Ciro Guerra: Drehbuch: Ciro Guerra, Jacques Toulemonde Vidal; Darsteller: Nilbio Torres, Antonio Bolivar, Brionne Davis, Jan Bijvoet, Miguel Dionisios Ramos, Nicolás Cancino, Yauenkü Migue; Produktion: Cristina Gallego, Raúl Bravo, Marcelo Cespedes, Horacio Mentasti; Festivals: Cannes 2015, lief auf der Berlinale im Sonderprogramm NATIVe für indigenes Kino, 2016 Oscar-Nominierung als bester fremdsprachiger Film.

09/13/15

I WANT TO SEE THE MANAGER

Filmkritik von Thomas Barth

Sieben skurrile Episoden zwischen Auslandsreport und cineastischem Augenschmaus stellen westliche Dekadenz dem Optimismus Asiens und Lateinamerikas gegenüber. Einfache Menschen reden von ihrer Not und ihren Träumen in der heutigen Globalisierung, samt Dreck, Ausbeutung und Konsumrausch.

Vor 30 Jahren lieferte der experimentelle Dokumentarfilm KOYAANISQATSI (USA 1983) der entstehenden Öko-Bewegung ihren Alptraum im Kino: Berauschende Naturbilder, in die wie ein Bulldozer die Technik einbricht, die Menschen nur noch ein Bienenschwarm in der Shopping Mall. Der Film kam mit einem einzigen Wort aus: „ Koyaanisqatsi“, was in einer Sprache der Native Americans soviel heißt wie „Leben im Ungleichgewicht“. I WANT TO SEE THE MANAGER (D/I 2015) braucht eine Menge mehr Worte, verfolgt aber ein ähnliches Ziel: Er versucht das Unbehagen der heutigen Westeuropäer in ihrer Kultur auf den cineastischen Punkt zu bringen.

Das ist schwieriger, denn während sich Atomgegner und Naturschützer der 1980er-Jahre mit der romantisierten „Weisheit der Indianer“ identifizieren konnten, fehlt heutiger Globalisierungskritik solch ein Mythos. Regisseur Hannes Lang spürt unserem Unbehagen mit globaler Ausbeutung nach, mit Konsumzwang, Naturzerstörung und deren Export in alle Welt, aber auch Ängsten vor Abstieg, Verfall und Tod in einer künftig von anderen Ländern dominierten Welt. Er greift dabei zu ästhetisierenden Bildern von Slums, Rohstoffabbau, zersiedelten Stadtlandschaften, und kombiniert sie mit sozialkritischer Reportage und skurrilem Vortrag in globaler Ökonomie.

„Angesichts der fortschreitenden Umstrukturierung innerhalb des globalen Machtgefälles spürt I WANT TO SEE THE MANAGER dem fragilen Bündnis zwischen wirtschaftlichem Ab- und Aufstieg nach. In sieben Episoden, die in Indien, Bolivien, China, USA, Italien, Thailand und Venezuela angesiedelt sind, enthält jeder Ort Fragmente eines anderen und zeugt jede Episode von den Hoffnungen und Bedürfnissen ihrer Protagonisten. In der Gegenüberstellung der lokalen Erfahrung der Menschen mit der Wirklichkeit einer globalen Weltwirtschaft hinterfragt I WANT TO SEE THE MANAGER unser Verständnis von Aufschwung und Zerfall.“ Quelle: Presseinformation

Den Anfang macht Bombay, ein vermüllter Hinterhof in den Slums, eine zerfallende Mauer, der die Kamera langsam folgt, bis auf ihr ein schmutziger Schuh ins Bild kommt. Dann ganz langsam ein Zweiter, man erkennt Hosenbeine, die Kamera gleitet an ihnen aufwärts. Ein Vortrag setzt ein, Englisch mit indischem Akzent. Jemand erklärt die globale Ökonomie, in der China und Indien bald schon mit Wachstumsraten über sieben Prozent die alten Westmächte mit ihren knapp zwei Prozent überholen werden. Es redet der Torso eines indischen Managers, erst zum Schluss kommt der sprechende Kopf ins Bild, hinter ihm ragen über die erbärmlichen Slum-Behausungen glänzende Bauten empor, das neue Indien.

Die Schnitte zwischen den Episoden sind manchmal hart, manchmal unmerklich. Übergangslos fallen wir aus Indien in eine Ödnis: Bolivien, ein riesiger Salzsee. Arbeiter tauchen auf wie Ameisen, entrollen gewaltige schwarze Folien. Einer erklärt, dass Lithium die große Hoffnung auf Wohlstand sei. Arbeiter sitzen nach Feierabend in einem Kuppelzelt vor dem Fernseher, trinken Bier. Kinder wandern bei Sonnenaufgang zu einem Haufen grober Felsblöcke, der sich als Stall entpuppt, holen Schafe heraus. Eine Indiofrau wäscht in einem Graben, erzählt von der Mühsal ihres Lebens und ihrem Vertrauen in Gott. China. Eine Lotterie um die staatliche Erlaubnis, ein Auto kaufen zu dürfen. Ein Manager erklärt, bei ungebremsten Wachstum der Autodichte würde sich bald der Verkehr stauen. Man sieht Automassen parken, fahren, in Verkaufshallen. Eine Verkäuferschulung. Ein Paar erzählt, wie komfortabel sie heute in einem Hochhaus wohnen und das bald alles noch viel besser sein wird.

USA. Ein düsteres Gewirr von Autobahnbrücken, ein muffiges Gebäude mit merkwürdigen Tanks. Ein Angestellter erklärt, wie hier Leichen in Kühltanks konserviert werden, zum Wiederauferstehen in besseren Zeiten und das Transhumanismus sicher von Gott erlaubt sei, sonst hätte er uns die ganze Technik doch nicht entwickeln lassen. Italien. Der Vesuv, Ruinen von Pompeji, Touristenmassen wälzen sich vorbei. Ein Mann im Kettenhemd mit golden glänzendem Römerhelm, preist sich erfolglos an: „Make a Foto with a Gladiator“, alle gehen vorbei, schließlich beißt doch ein Paar an, gibt aber nur einen Euro. Thailand. Thaifrauen pflegen greise westliche Rentner, eine erzählt weinend von ihren Ängsten, was aus ihr wird, wenn er stirbt. Caracas. Ein gigantischer Rohbau hat sich in einen senkrechten Slum verwandelt. Bewohner erzählen, wie sie den Bau in Besitz nahmen, versuchten sich Strom und Wasser zu organisieren, wie sie rätseln, was für ein Gebäude dies wohl einmal hätte werden sollen.

Analyse ist nicht die Stärke dieses Films. Der Titel geht auf den Witz von William S.Burroughs zurück, wenn ein Außerirdischer landen und sehen würde, wie es auf der Erde zugeht, würde er wohl sagen: „Ich will sofort den Geschäftsführer sprechen!“ Doch die Beschwerdeabteilung der Menschheitsgeschichte nimmt keine Reklamationen mehr an und unsere Existenz ist vom Umtausch ausgeschlossen. So bleibt den einen nur die Hoffnung auf Wachstum, andere kämpfen mit den Problemen steigenden Wohlstands. Dekadente Transhumanisten sehen sich schon als unsterbliche Halbgötter, lassen ihre Leichen kopfunter in Kryotanks hängen, während Europa sich müht, aus dem Ruhm vergangener Zeiten noch ein paar Euros zu wringen und seine Alten nach Thailand abschiebt.

„Seitdem die Menschheit das Konzept des Eigentums kennt, ist sie gespalten in jene, die haben, und jene, die nicht haben. Über lange Zeit hinweg manifestierte sich dieses Prinzip in der Unterscheidung zwischen ‚Industriestaaten‘ und ‚Entwicklungsländern‘ und nie hätte man geglaubt, dass dieses vermeintliche Gleichgewicht auszuhebeln wäre. Nun jedoch ist die Ordnung ins Wanken geraten… Gerade noch hatten wir Vollbeschäftigung, Wachstum und Wirtschaftswunder – Jetzt stehen wir mit dem Rücken zur Wand. Wie konnte das passieren? …Wir brauchen keine Geschichtsbücher zu wälzen, denn wir können zur gleichen Zeit Entwicklungsstufen ein und desselben Systems an verschiedenen Orten dieser Welt beobachten.“ Quelle: Presseinformation

So erklären Autoren und Filmvertrieb ihre Motivation. Nicht sehr befriedigend, aber tiefer darf Kritik an der westlich dominierten Globalisierung wohl nicht dringen, wenn sie auf staatliche Filmförderung hoffen will. Hannes Lang schrieb das Buch zum Film zusammen mit Mareike Wegener, die in einem eigenen Dokumentarfilm zeigte, wie Kunst doch etwas mehr über die heutigen Machtstrukturen aussagen kann: Mark Lombardi zeigte in seinen Zeichnungen an Organigrammen der globalen Finanzwelt etwas deutlicher, wie die Sache mit dem „haben und nicht haben“ funktioniert.

I WANT TO SEE THE MANAGER zeigt wohl keine „Entwicklungsstufen“, sondern eher diffuse Abstiegsängste -und dass es vielleicht manchmal doch ganz gut wäre, ein paar Geschichtsbücher zu wälzen. Der Film steht am Ende vor seinen herausgegriffenen Facetten der Globalisierung wie die Bewohner des „Turm des David“ in Caracas vor ihrem Rohbau: Sie wissen nicht woher er kommt, er ihn baute und warum. Aber sie haben sich irgendwie in ihm eingerichtet.

12/14/14

Zerstörerischer Staudamm: Belo Monte am Rio Xingu

Thomas Barth

Brasilien bleibt auch unter der Präsidentin Dilma Rousseff bei einem problematischen Großprojekt: Das Wasserkraftwerk Belo Monte ist das drittgrößte weltweit – nach dem Drei-Schluchten-Staudamm in China und dem binationalen Itaipu-Werk an der Grenze Brasiliens zu Paraguay.  Der Dokumentarfilm „Count-Down am Xingu II“ zeigt den Abwehrkampf gegen ein nur Wirtschaftsinteressen dienendes Bauprojekt. Keßler bereiste dafür Brasilien und führte zahlreiche Interviews, dokumentiert in eindringlichen Bildern Naturzerstörung und Widerstand.

Am Rio Xingu (sprich: Tschingu), einem großen Nebenfluss des Amazonas, wird seit den 1980ern, der Zeit der Militärdiktatur, gegen eine Kultur- und Naturvernichtung gigantischen Ausmaßes gekämpft. In Gefahr sind einzigartige indigene Völker (bis zu 50.000 Menschen) und ein unvergleichliches Biotop, denn Amazonien beherbergt bis zu einem Drittel der Tier- und Pflanzenarten weltweit.

Brasilien verfolgt weiter die Strategie, den massiven Ausbau der Wasserkraft zu einem Motor der Industrialisierung zu machen. Doch Kritiker weisen darauf hin, dass die Menschenrechte der Indigenen verletzt werden, dass womöglich ein Ethnozid durch Krankheiten und Abschiebung in Slums droht, dass Naturschätze unwiederbringlich vernichtet werden.

Im letzten Jahr konnten Kläger das Bauprojekt trotz Genehmigung durch die brasilianische Umweltbehörde stoppen, doch nur für drei Monate. Bundesrichter Carlos Eduardo Castro Martins sah keine juristischen Gründe, die Arbeiten am drittgrößten Wasserkraftwerk der Welt im Bundesstaat Para weiter zu verzögern. Blockaden der “Transamazonica”-Überlandstraße wurden von der Polizei geräumt – trotz anhaltender Proteste auch von prominenten Künstlern wie Regisseur James Cameron, Rocksänger Sting und Alien-Jägerin Sigourney Weaver.

Countdown am Xingu

Der Dokumentarfilm von Martin Keßler „Count-Down am Xingu II“ (61 min) dokumentiert in eindringlichen Bildern Naturzerstörung und Widerstand. Die Kamera geht nahe an die Menschen heran, fängt ihre Emotionen ein, zeigt die indigene Kultur der Arara, einem Fischervolk am Xingu, ohne sich in farbiger Folklore zu ergehen. Vielmehr beherrschen Bilder vom Widerstand den Film: Demonstrationen, Aktionen gegen die Bulldozer des Energiekonsortiums, politische Debatten. Keßler bereiste Brasilien und führte zahlreiche Interviews, um in Europa auf die scheinbar gute Sache Wasserkraft, die aber hier zerstörerisch auf Mensch und Natur wirkt, hinzuweisen.

Zu Wort kommt im Film vor allem der Bischof von Altamira, Dom Erwin Kräutler. Er leistet vor Ort Widerstand und erhielt 2009 den alternativen Nobelpreis für seinen Einsatz im Dienste der Indigenen und der Natur Brasilien. Kräutler hält derzeit Vorträge in seiner Heimat Vorarlberg (Österreich) und beklagt im Film die Wortbrüchigkeit der Betreiberfirma Norte Energia beziehungsweise des Konzerns Eletronorte/Eletrobras. Die Wirtschaftsbosse beschweren sich ihrerseits über die Aggressivität der Indigenen. Gleichzeitig weisen sie auf ihren Respekt für indigene Gemeinschaften hin.

Bischof Kräutler hält dagegen, dass es Norte Energia gelungen sei, die Opfer der Umsiedlungen zu entzweien, indem einige mit (relativ bescheidenen) Abfindungen und fragwürdigen Versprechungen geködert wurden. Regierung und Konzerne verschanzten sich hinter einer Mauer des Schweigens und der Desinformation.

Menschenrechte vs. “full aluminium body”

Kräutlers Einsatz ist es vermutlich zu verdanken, dass der europäische Widerstand gegen Belo Monte bislang hauptsächlich in Österreich stattfindet. Aber das soll sich nun ändern. Denn es sind auch maßgeblich Firmen aus Deutschland mit ihren Interessen vertreten: Siemens, Voith Hydro und Mercedes werden im Dokumentarfilm genannt.

Die Lügen der Regierung werden angeklagt, das Kraftwerk wäre nötig für Elektrizität, die das brasilianische Volk dringend brauche – in Wahrheit würde mit dem billigen Strom Aluminium hergestellt. Ein Werbespot von Mercedes verdeutlicht, worum es wirklich gehen könnte: Schnellere Luxuskarossen dank „full aluminium body“. Die Aussage ist klar: Menschenrechte und Naturschätze stehen hier gegen den Komfort von ein paar Privilegierten.

Vom Krieg der Wirtschaft

In Keßlers Doku kommen viele Aktivisten und Indigene zu Wort, die sich nicht mit Abfindungen begnügen wollen, wie die junge Sheila Juruna Machado, die vor allem ihrer Enttäuschung über die Justiz Luft macht. Sie glaube nicht mehr an die Gerechtigkeit in Brasilien. Im Interview mit dem etwas betreten wirkenden Staatsanwalt von Altamira, Claudio Terrdo Anaral, wird die einseitige Rechtsprechung deutlich.

Auch Bischof Kräutler beklagt Gefälligkeitsurteile zugunsten der Wirtschaftsinteressen, Prozessverschleppung und Rechtsbeugung zur zügigen Fortführung des Bauprojekts. Gezeigt werden Bäuerinnen, Fischer, Bootsbauer, Dorfbewohner vor der Kulisse ihrer zerstörten Häuser. Dem Argument, es würden bei diesen gewaltigen Erdarbeiten, die jene beim Bau des Panamakanals übersteigen, 100.000 Arbeitsplätze geschaffen, begegnet der Film mit der Dokumentation schlechter Arbeitsbedingungen.

Unter dem Strich handelt es sich um ein von der Regierung in Brasilien geduldetes und gefördertes Wirtschaftsverbrechen. Der auch vom Verein „Business Crime Control“ (einer nicht-unternehmensnahen Alternative zu „Transparency International“) geförderte Film schließt mit dem Statement, der Filmemacher fühle sich im Nachhinein wie ein Kriegsberichterstatter – eines Krieges der Wirtschaft gegen die Umwelt und die Menschen. (zuerst erschienen bei Berliner Gazette)