04/28/21

Summa technologiae: Der Internet-Kritiker Stanislaw Lem

Gerd Peter Tellurio

In den 2000er Jahren wurde Stanislaw Lem (1921-2006), Autor des weltberühmten Romans Solaris zum Kritiker des Internets und der Informationsgesellschaft – die von ihm vor allem in der Summa technologiae prognostiziert worden waren. Vor allem dort erörterte Lem das Verhältnis von Mensch und Computer sowie die Veränderung von Kultur und Gesellschaft vor dem Hintergrund einer Energie- und Informationskrise, der „Megabit-Bombe“ (vgl. Hennings 1983, S.82). Er vertritt eine biologistische Wahrheits- und Erkenntnislehre, die das Leben auf unserem Planeten als Zeugen beruft.

Erkenntnisse -das sind wahre Informationen. Die Evolution ist eine milliardenjährige Zucht solcher mit konstruktiven Absichten gesammelten und überprüften Informationen.“ (Summa, S.V)

Die Summa technologiae ist ein Buch von Lem, das 1964 erstmals veröffentlicht wurde, und es brachte Lem endlich auch Anerkennung als Wissenschaftler, wie Jarzebski berichtet (1986, S.26). Die Summa wurde 1976 von Friedrich Griese ins Deutsche übersetzt und die BRD-Ausgabe erschien 1976 im Insel-Verlag und 1981 als Taschenbuch bei Suhrkamp. Die DDR-Ausgabe erschien 1980 im Verlag Volk und Welt, Berlin. Erst im Jahr 2013 (!) erschien eine englische Ausgabe an der Universität von Minnesota -Grund für die Missachtung des großen polnischen Autors war vermutlich Lems Konflikt mit der Gilde der US-Autoren der SF (unten mehr dazu).

Der Titel des Werkes bezieht sich auf die großen „Summen“ der Theologie: Summa theologica von Thomas von Aquin bzw. Summa Theologiae von Albertus Magnus. „Technologie“ wird von Lem als die Gesamtheit der materiellen Grundlagen unserer Zivilisation und Kultur verstanden. Der Autor nähert sich seinem Thema auf philosophische Weise. Er will aufzeigen, was wir überhaupt von Wissenschaft und Technik erhoffen dürfen. Die oft im Zusammenhang mit diesem Werk erwähnten Voraussagen Lems zur „virtuellen Realität“ sind eigentlich nur Nebenprodukte. Für die tatsächliche informationstechnische Entwicklung dürften diese Voraussagen – mangels früherer englischer Übersetzung des Werks – ohne große Wirkung geblieben sein.

Prognosen der Digitalität, KI und Informationsgesellschaft

Bei den einschlägigen Prognosen finden wir vor allem die von Lem „Phantomatik“ genannte Virtuelle Realität, was später VR-Brille oder eyephones (Lem 2002, S.63) heißen sollte nannte Lem 1964 „Gegenauge“. Ihn interessierte die Möglichkeit, künstliche Welten zu schaffen, die sich nicht mehr von der natürlichen Realität unterscheiden lassen -William Gibson verfolgte diese Idee in Neuromancer weiter (der Matrix-Vorlage).

Lem prognostizierte auch die Künstliche Intelligenz, die er als „Intellektronik“ bezeichnet, und die durch „Informationszüchtung“ entstehen sollte. Heutige „selbstlernende Algorithmen“ sind erst ein schwacher Vorgeschmack von Lems an der biologischen Evolution orientierten Methode. Die führte ihn bis zu einer in westdeutschen TFA-Debatten (Technikfolgen-Abschätzung) 1981 diskutierten „Ethosphäre“, die unethisches Verhalten (von Menschen!) kybernetisch unterbinden sollte (Hennings 1983, S.7). Wichtig in der Summa technologiae ist die Ausweitung des Begriffs „Technologie“. „Technologien“ sind gemäß Lem „die Verfahren der Verwirklichung von Zielen, die sich die Gesellschaft gesetzt hat, aber auch solcher, die niemand im Auge hatte, als man ans Werk ging“. Als „Effektoren“ in solchen Verfahren kommen nicht nur einfache Werkzeuge und Apparate (Hammer, Schreibmaschine usw.) und rückgekoppelte Systeme (Computer, Tier, Mensch) in Frage, sondern auch sich selbst verändernde Systeme (z. B. eine lebende Tierart) oder sogar Systeme mit noch höherem Freiheitsgrad, bei denen die Auswahl oder sogar Erschaffung des Materials, mit dem das System sich selbst aufbaut, möglich ist -heutige KI kommt dem langsam näher. Mit dem Ausloten prinzipiell möglicher Technologieentwicklung geht es Lem eher um eine Metatheorie technischer Evolution als um die althergebrachte Futurologie.

Netz-Hype, Fakenews und Kritik

Dann kam die große Netz-Hype und Mahner wurden vergessen. Doch Stanislaw Lem glaubte den Netzvisionären nicht, die freudig eine totale Information beschworen und deren Segen priesen. Lem sah die Rolle der Nutzer weniger rosig, weil diese zu „Informationsnomaden“ würden, die nur sinnlos von Stimulus zu Stimulus hüpften. Es erweise sich als immer schwieriger, so Lem über das Internet, unterschiedliche Quellen und Sichtweisen zusammenzubringen, um ein rundes, vollständiges Wissensbild einer Sache zu erhalten. Weise Worte, lange vor der Fakenews-Hysterie der sogenannten „Sozialen Medien“ Facebook & Co.

Lem gilt als brillanter Visionär und Utopist, der zahlreiche komplexe Technologien Jahrzehnte vor ihrer tatsächlichen Entwicklung prognostizierte. So schrieb er bereits in den 1960er und -70er Jahren über Themen wie Nanotechnologie, neuronale Netze und virtuelle Realität. Ein wiederkehrendes Thema sind philosophische und ethische Aspekte und Probleme technischer Entwicklungen, wie etwa der künstlichen Intelligenz, menschenähnlicher Roboter oder der Gentechnik. In zahlreichen seiner Werke setzte er Satire und humoristische Mittel ein, wobei er oft hintergründig das auf Technikgläubigkeit und Wissenschaft beruhende menschliche Überlegenheitsdenken als Hybris entlarvte. Einige seiner Werke tragen auch düstere und pessimistische Züge in Bezug auf die langfristige Überlebensfähigkeit der Menschheit. Häufig thematisierte er Kommunikationsversuche von Menschen mit außerirdischen Intelligenzen, die er etwa in einem seiner bekanntesten Romane, Solaris, als großes Scheitern verarbeitete. (Wikipedia)

Die Lem – Philip K. Dick -Kontroverse

1973 wurde Lem die Ehrenmitgliedschaft der Science Fiction and Fantasy Writers of America (SFWA) verliehen, aber diese wurde ihm schon 1976 wieder entzogen. Den Rauswurf des polnischen Starautors hatten verschiedene amerikanische SF-Autoren, darunter Philip José Farmer, gefordert. Sie waren einerseits über Lems kritische Haltung gegenüber einem großen Teil der westlichen Science Fiction empört. Aber zudem waren unter ihnen laut Ursula K. LeGuin „kalte Krieger“, die fanden, dass ein Mann, der hinter dem Eisernen Vorhang lebe und sich über amerikanische SF kritisch äußere, eine Kommunisten-Ratte sein müsse, der in der SFWA nichts zu suchen habe.

There was a sizable contingent of Cold Warrior members who felt that a man who lived behind the iron curtain and was rude about American science fiction must be a Commie rat who had no business in the SFWA.“ Ursula K. LeGuin

Die Nestorin der feministischen SF, Ursula K. LeGuin, trat danach unter Protest aus der SFWA aus. Ein weiteres Argument für den Entzug der Ehrenmitgliedschaft war technischer Natur; die Ehrenmitgliedschaft sollte nicht an Autoren verliehen werden, die als zahlendes Mitglied in Frage kamen. Dieses Argument brachte laut seinem Biographen Lawrence Sutin der auch von mir hochgeschätzte SF-Hippie Philip K. Dick (Blade Runner) vor, der Lem für Schwierigkeiten bei den Honorarzahlungen für die polnische Ausgabe seines Romans Ubik verantwortlich machte -wofür es allerdings außer der bei P.K.Dick immer wieder beobachtbaren Paranoia keine Erklärung gibt. Dick hatte sich immerhin dafür ausgesprochen, Lem als zahlendes Mitglied zuzulassen. Eine solche Mitgliedschaft wurde Lem dann auch angeboten, der lehnte sie jedoch ab. Der Kalte Krieg forderte seine Opfer nicht nur an den zahllosen unsichtbaren und sichtbaren Fronten, sondern auch in der SF-Literatur.

Stanislaw Lem wurde 1921 in Lwow, Polen, geboren. Neben zahlreichen belletristischen Werken verfasste er theoretische Schriften über Science Fiction und über Gebiete der angewandten Philosophie und der Kybernetik. Sein Schaffen umfasst inzwischen 28 Werke, deren Gesamtauflage fast 8 Millionen Exemplare erreichte. Übersetzungen erschienen in 27 Sprachen, unter anderem in Japan, England, Russland, Amerika, Schweden, Italien, Holland und Frankreich. Sein Hauptinteresse galt der Science Fiction als literarische Gattung. Er starb 2006 in Krakau.

Stanislaw Lem, Summa technologiae, Suhrkamp, Frankf./M., 1976 (poln.Or.1964).

Stanislaw Lem, Die Technologie-Falle, Suhrkamp, Frankf./M., 2002 (poln.Or.1995).

R.-D. Hennings u.a. (Hrsg.), Informations- und Kommunikations-Strukturen der Zukunft: Ein Workshop mit Stanislaw Lem, W.Fink, München 1983.

Jerzy Jarzebski, Zufall und Ordnung: Zum Werk Stanislaw Lems, Suhrkamp, Frankf./M., 1986.

03/23/19

Stanislaw Lem: Science-Fiction-Meisterwerk „Solaris“

Gerd Peter Tellurio

„…was war schon diese ganze um ‚Kontaktanknüpfung‘ bemühte Fachrichtung gegen andere Zweige der Solaristik, in denen die Spezialisierung so vorangeschritten war, daß unter den Solaristen der Kybernetiker sich kaum mit dem Symmetriadologen verständigen konnte. ‚Wie könnt ihr euch mit dem Ozean verständigen, wenn ihr es nicht einmal mehr untereinander fertigbringt?‘ „ (Solaris, S.27)

Solaris ist ein fantastischer Roman, denn den Begriff „Science-Fiction“ hat Stanisław Lem für seine Bücher stets abgelehnt, da er von der durch Hollywood dominierten SF angeekelt war. Die meisten sehen dennoch darin ein Meisterwerk der Science-Fiction-Literatur, das sich durch seine einzigartige und tiefgründige Erzählweise auszeichnet. Die Geschichte handelt von einer Gruppe von Wissenschaftlern, die auf einer Raumstation um den Planeten Solaris stationiert sind, um dessen rätselhaften Bewohner zu erforschen: Einen globalen Ozean von metamorphem Plasma. Der Planet selbst lebt und produziert scheinbar intelligente Äußerungen, um deren Entschlüsselung sich die Wissenschaft der Solaristik seit Generationen vergeblich bemüht. Wie oft in Lems Geschichten geht es um die Kontaktaufnahme zu Aliens (die selten so sind wie in trivialer SF), zu Künstlichen Intelligenzen, kurz: zum Anderen, das wir nicht verstehen.

„Solaris“ entwirft eine faszinierende Welt voller unerklärlicher Phänomene und geheimnisvoller Wesen, die die Grenzen menschlichen Verständnisses überschreiten. Die Protagonisten stehen vor der Herausforderung, die Natur und die Motivationen von Solaris zu verstehen, was zu existenziellen Fragen über die Natur der Realität und des Bewusstseins führt. Bedeutende Regisseure wie Tarkowski und Soderbergh versuchten sich an Verfilmungen, die ihrerseits Meisterwerke des SF-Films wurden, ohne dem Roman gerecht zu werden.

Der Roman kreist mit dem Protagonisten Kelvin auch um Liebe, Tod und Schuld und ist damit eine Allegorie über die menschliche Natur und die Grenzen des menschlichen Verstandes. Kelvin, dessen Name nicht zufällig das physikalische Maß der Temperatur bedeuten dürfte, betritt eine Forschungsstation, deren Besatzung der Erde nur noch wirre Botschaften geschickt hatte. Man sandte einen Psychologen, um den Geisteszustand der Forscher zu überprüfen. Doch Kelvin kämpft schnell mit eigenen Problemen. Er stößt auf Chaos und Auflösung, begegnet zwei zutiefst verstörten Überlebenden -und mysteriösen Gestalten, die aus Alpträumen entsprungen scheinen. Bald gefriert ihm das Blut in den Adern: Auch Kelvins verstorbene Frau ist darunter. Hat er Wahnvorstellungen? Indem er die Beziehung zwischen den Wissenschaftlern und Solaris beschreibt, wirft Lem auch Fragen über die Natur von Identität und Liebe auf, die in schaurigen Gleichnissen erforscht werden.

Durch fantastische Ideen und tiefe psychologische Einsicht in die Charaktere gelingt es Lem, eine beklemmende und doch faszinierende Atmosphäre zu schaffen, die den Leser von Anfang bis Ende fesselt. Die komplexe Handlung brilliert mit einer tiefgründigen Analyse der menschlichen Existenz, die bis in theologische Bereiche führt. Nachdem Materie gewordene Phantome unbewusster Angst und Schuldgefühle die Wissenschaftler quälen, fragen sie sich: Will Solaris mit uns spielen? Oder uns strafen?

Psychologe Kelvin: „Das ist mir erst eine primitive Dämonologie! Ein Planet in der Gewalt eines sehr großen Teufels, der einen Hang zu satanischem Humor Genüge tut, indem er den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Expedition Sukkuben unterschiebt?“ (S.85) Damit sind wir bei jenem Problem, das Leibniz „Theodizee“ nannte: Wenn Gott allmächtig ist, warum lässt er dann das Böse auf der Welt zu? Die Bibel antwortet mit dem Sündenfall, dem Griff nach dem verbotenen Apfel der Erkenntnis. Auch bei Lem war es das Streben nach Erkenntnis, aber gepaart mit einer unbewussten Wut auf den schweigsamen Plasmaozean, der nur in Rätseln antworten wollte. Wann begannen die Phantome, die Station heimzusuchen?

„Nun, das hat acht oder neun Tage nach diesem Röntgenexperiment begonnen. Vielleicht hat der Ozean die Strahlung durch irgendeine andere Strahlung beantwortet, vielleicht hat er damit unsere Gehirne sondiert und gewisse psychische Abkapselungen aus ihnen gefördert.“ (S.86)

Die Forscher griffen zum aggressiven Mittel einer Röntgenkanone, um das unwillige Plasma zum Reden zu bringen. Der Planet wurde gereizt, das lebende Wesen verletzt, wie auch die menschliche Zivilisation ihren Planeten verletzt. Die Antwort kommt aus unserem Unbewussten. Warum müssen wir die Erde ausplündern, verseuchen, zerstören? Warum uns sinnloser Gier hingeben, anderen Gewalt antun?

Insgesamt ist „Solaris“ ein faszinierendes und herausforderndes Buch, das anregt über die Natur des Bewusstseins, der Realität und unserer Existenz nachzudenken. Lem hat mit diesem Werk eindrucksvoll bewiesen, dass er zu den bedeutendsten Autoren der Science-Fiction gehört. „Solaris“ ist ein zeitloser Klassiker, „vielleicht sogar der Klassiker der SF“ (dtv-Verlagstext) und ein Muss für jeden Liebhaber anspruchsvoller Science-Fiction-Literatur.

Stanislaw Lem: Solaris, dtv, München 1983, poln.Or. 1961, 237 Seiten

Internet-Kritiker Stanislaw Lem

Stanislaw Lem wurde 1921 in Lwow, Polen, geboren. 1982 zog Lem wegen der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen nach West-Berlin um, wo er ein Fellowship am Wissenschaftskolleg zu Berlin antrat, ab 1983 lebte er in Wien. Neben zahlreichen literarischen Werken verfasste er theoretische Schriften über Science Fiction und über Gebiete der angewandten Philosophie, Futurologie und Kybernetik. Sein Schaffen umfasst inzwischen 28 Werke, deren Gesamtauflage fast 8 Millionen Exemplare erreichte. Übersetzungen erschienen in 27 Sprachen, unter anderem in Japan, England, Russland, Amerika, Schweden, Italien, Holland und Frankreich. Sein Hauptinteresse galt der Science Fiction als literarische Gattung. Er starb 2006 in Krakau. In den 2000er Jahren wurde Lem zum Kritiker des Internets und der Informationsgesellschaft, weil diese die Nutzer zu „Informationsnomaden“ machten, die nur „zusammenhangslos von Stimulus zu Stimulus hüpfen“ würden. „Es erweise sich als immer schwieriger, unterschiedliche Quellen und Sichtweisen zusammenzubringen, um ein rundes, vollständiges Wissensbild einer Sache zu erhalten.“ (Wikipedia)

02/28/17

Nachruf: Armin Medosch

27.02.2017

Felix Stalder

Dieser Nachruf auf Armin Medosch wurde von Felix Stalder für Netzpolitik.org geschrieben.

Armin Medosch (*1962) ist gestorben. Wir haben einen der Pioniere der Netzkultur in Europa verloren, dessen Einfluss präsenter war als sein Name. Wie viele andere Akteure der ersten Stunden passte sein Wirken in keine Schublade. In den späten 1980er Jahren begann er als Medienkünstler in Graz und Wien. Damals, vor dem Internet, war Radio das zugänglichste und offenste Massenmedium, mit dem er im Rahmen des Projekts „Radio Subcom“ zu experimentieren begann, das im neu eingerichteten ORF Kunstradio ausgestrahlt wurde. Dem Radio als Medium, welches Experimente zulässt aber auch viele Menschen erreichen kann, blieb er als Journalist und Künstler bis zuletzt verbunden. Denn er hat Kunst nie als etwas Elitäres verstanden, sondern immer als etwas, das die zentralen Fragen der Gegenwart verhandeln und auch zu einer erweiterten Öffentlichkeit sprechen soll.

Die frühen 1990er Jahre in Europa waren eine Zeit des radikalen Umbruchs und der Utopien. Der Fall der Mauer, die Öffnung des Ostens und das langsame Aufkommen des Internets veränderten die Wahrnehmung von Raum, Zeit und Möglichkeiten tiefgreifend. Neue Geographien und neue Handlungsfelder taten sich auf. Der Markt war nirgends zu sehen, die spärlichen Konsumangebote (Shops im Osten, AOL, Compuserve online) waren nicht der Rede wert und wer was machen wollte, der musste (und konnte!) es selbst tun. Im digitalen Europa brach die Zeit der digitalen Städte (Amsterdam, Berlin, Wien etc) an, und mit ihnen die ersten Versuche, das Internet einer bewusst europäischen Perspektive zu entwerfen, weit weg von der „Frontier“ Mystik des US-Amerikanischen Cyberspace.

Eines der ungewöhnlichsten Projekte dieser Zeit, das alle diese Dinge und noch viel mehr miteinander verband, war das »stubnitz kunst.raum.schiff«. Das 80 Meter lange Schiff war Teil der Hochseefischfangflotte der DDR und hätte 1992 verschrottet werden sollen. Als Teil einer internationalen Künstlergruppe hatte Armin wesentlichen Anteil daran, dass das Schiff zu einem Produktions- und Präsentationsort für Kunst und Kultur umgebaut wurde. Ein schwimmendes Medienlabor und Ausstellungszentrum mit Satellitenverbindung für Fernsehen und Internet, Performanceräumen, mit einer zum Konferenzraum umgebauten Offiziersmesse. 1994 wurden die Häfen von Petersburg, Malmö, und Hamburg angefahren mit einem umfassenden Programm von Konferenzen, Seminaren, Ausstellungen, Workshops, Konzerten. Wie das Netzwerk Medienkunst schreibt: „Mit der Stubnitz verband sich die Vision von kulturellen Begegnungen in Europa, die nationale, territoriale Grenzen ignorieren können und die Offenheit und Freiheit der Meere zur Metapher erheben.“

Aber Kunstraumschiffe leben nicht lange. Wieder an Land übernahm er die Leitung des neugegründeten Medienlabors in München. Daraus entstand das Projekt Telepolis, eine Ausstellung zur „interaktiven“ (heute würde man sagen „smarten“) Stadt, die in Luxemburg, der Kulturhauptstadt 1995, stattfand. Aus diesem Projekt ging das Online-Magazin Telepolis hervor, welches er gemeinsam mit Florian Rötzer gründete und als dessen Redakteur er von 1996 – 2002 arbeitete. Auch das war echte Pionierarbeit. 1996 nutzten gerade mal 3% der Deutschen das Internet, es gab keine Blogs, sozialen Medien oder ähnliches. Telepolis war eines der ersten, wenn nicht das allererste, reine online Medium eines großen deutschen Verlags, Heise. Unter der fähigen Leitung der Redaktion kam rasch ein großes Netz an freien AutorInnen zusammen, die sich aus etablierten Namen, wie etwa Stanislav Lem wie auch – vor allem durch Armin vermittelt — vielen jungen Autoren, die das Internet aus eigener Anschauung kannten. Mir persönlich, damals Student in Kanada, gab er erste Gelegenheiten zu publizieren.

In den ersten Jahren des Bestehens wurde Telepolis zum zentralen Medium eines experimentellen, politischen und weitblickenden Netzdiskurs und schlug wichtige Brücken zwischen der Netzkultur im engeren Sinn und einer größeren Öffentlichkeit. Von dieser Leistung profitiert der Netzdiskurs in Deutschland bis heute. Während sich das Internet langsam zu etablieren begann, blieb Armin fokussiert auf das Neue und das Experimentelle. Davon zeugen nicht zuletzt zwei Bücher die er im Heise-Verlag publizierte: Netzpiraten. Die Kultur des elektronischen Verbrechens (2001) (gemeinsam mit Janko Röttgers) und Freie Netze (2003).

Wie vieles was Armin tat, waren die Themen dieser Bücher ihrer Zeit voraus. Nicht nur im deutschsprachigen Kontext. Nach Jahren des Journalismus zog es ihn wieder stärker in die Kunst, die er aber nie als Alternative zum gesellschaftlichen Engagement verstand, sondern immer als eine andere Form davon. Die Spartentrennungen, die heute wieder so stark gemacht werden, zwischen Technologie und Politik, Kunst und Theorie haben ihn nie interessiert. Mit der ihm eigenen Vehemenz hat er eine Position vertreten, die diese Ebenen gleichzeitig artikulierte und entsprechend auch immer wieder unbequem aneckte.

In den Jahren nach Telepolis folgten einen Vielzahl von kuratorischen Ausstellungsprojekten, etwa mit dem Medienkunstzentrum RIXC in Riga, die theoretisch immer anspruchsvoller wurden. Daraus ergab ein verstärktes Interesse am Zusammenhang zwischen großen gesellschaftlichen Transformationen und den spezifischen Möglichkeiten der Kunst und Kultur, darauf einzuwirken, beziehungsweise diese ins Bewusstsein zu bringen. Wissenschaftlich fundiert wurde das Ganze während eines Ph.D. (Goldsmith, London) und mündete in das Buch New Tendencies: Art at the Threshold of the Information Revolution (1961-1978) (MIT Press, 2016), das die überraschenden Anfänge der Medienkunst als Reflexion des Endes der Industriegesellschaft nachzeichnet.

Einigen dürften während der Transmediale im Januar auf Armins Krankheit aufmerksam geworden sein. Dort konnte er sein sein letztes großes Projekt Technopolitics, bei dem wir auch wieder intensiv zusammengearbeitet haben, schon nicht mehr persönlich präsentieren, sondern nur noch via Stream im Krankenbett verfolgen. Technopolitics – wie alle seine Projekte – war kollaborativ, transdisziplinär angelegt, als Versuch, der Orientierungslosigkeit der Gegenwart, eine vertiefte Beschäftigung mit historischen Prozesse und der persönlichen Verstricktheit darin entgegen zusetzen.

Mit Armin Medosch verlieren wir einen Pioneer der Netzkultur, der sich nie um disziplinäre, institutionelle und soziale Grenzen scherte. In einer Zeit, in der sich Welten auseinander bewegen, in der die Tendenz sich vor der chaotischen Welt in die eigene Nische zurück zu ziehen, immer stärker wird, sollte uns dies Ansporn sein, Brücken zu bauen, offen zu denken, das Neue mit Lust und Kritik zu fördern und radikal zu handeln.

(Reblogged von https://netzpolitik.org/2017/nachruf-armin-medosch/)