01/12/17

Rezension Felix Stalder: Kultur, Digitalität & Entmündigung

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag (edition suhrkamp, Bd.2679), Berlin 2016, 283 S., 18,00 Euro, ISBN 978-3-518-12679-0.

Thomas Barth

Felix Stalder ist ein Schweizer Kulturphilosoph, der sich in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ mit der Ko-Evolution von digitalen Technologien, Gesellschaft und Kultur befasst. Er warnt darin unter Berufung auch auf Edward Snowden und Julian Assange vor einer schleichenden Entmündigung, die auf uferlose Überwachung und technokratische Massenmanipulation setzt.

Stalders interdisziplinärer Ansatz verbindet philosophisches Denken mit Soziologie, Medien- und Politikwissenschaft, um Digital- und Internetkultur zu analysieren und das utopische Potential digitaler Commons mit ihren Open-Source-Projekten zu beleuchten. Er blickt dabei auch auf dunkle Wurzeln und Gefahren der Digitalität, die er vor allem in Neoliberalismus, Profitorientierung und bei westlichen (!) Geheimdiensten lokalisiert; dies überrascht, denn sonst kreisen westliche Diskurse über Manipulationen im Internet eher um russische und chinesische Geheimdienste. Stalder warnt vor Gefahren von Algorithmisierung, Überwachung und massenmanipulativer Post-Demokratie, zieht jedoch letztlich ein optimistisches Fazit. Die Commons zeigen trotz heutiger Dominanz der Technokraten mit ihrer neoliberalen TINA-Ideologie („There is no alternative“, Thatcher/Merkel S.206) einen offenen „Raum der Zukunft“ (S.281).

Stalder entwirft ein facettenreiches Bild der digitalen Kultur, die geprägt sei von Fluidität, Vernetzung und stetigem Wandel, bei dem sich unser Verständnis von Raum, Zeit, Identität und Macht grundlegend veränderte. Er stellt die These auf, dass die Digitalität sich nicht in technologischer Innovationen erschöpft, sondern durch neue Formen der Selbstorganisation, des politischen Engagements und der kulturellen Produktion geprägt ist. Katalysator ist dabei das Internet als Medium mit spezifischen Formen des Austauschs. Drei zentrale Formen der Kultur der Digitalität sind die Referentialität (kulturelles Material wird ubiquitär zugänglich und fließt in eine explodierende Produktion von Kulturgütern), die Gemeinschaftlichkeit (kulturelle Ressourcen werden geteilt und Bedeutungen durch stetige Kommunikation stabilisiert) und die Algorithmizität (die Informationsflut wird digital geordnet, aber ebenso werden Gesellschaft und Politik technokratisch entpolitisiert).

Kooperation und der Begriff der Digitalität

Zentrales Anliegen Stalders sind Potenziale der Digitalität für eine demokratische und partizipative Gesellschaft. Er plädiert dafür, bestehende Hierarchien aufzubrechen und neue Formen der Kooperation zu ermöglichen -vor allem in digitalen Commons, deren Wurzeln er in der Open Source und Open Software-Bewegung schon der frühen Internet Communities sieht, etwa den Debian-, GNU- und Linux-Projekten. Darin zeige sich eine digital möglich gewordene Neuverhandlung von gesellschaftlichen Werten und Normen im digitalen Zeitalter: Anstelle staatlicher Hierarchien und Profitorientierung der Konzerne trete die freie Kommunikation der Netze, die auf Meritokratie und Freiwilligkeit basiere. Das Linux-Betriebssystem Ubuntu zeigt in seinem Namen nicht zufällig eine interkulturelle Referenz auf den vielschichtigen Begriff der Bantusprache, der Menschenwürde und vernetzte Gemeinschaftlichkeit verbindet (vgl. Afrotopia von Felwine Sarr).

Stalder definiert den Begriff der Digitalität als eine kulturelle Struktur, die sich durch die Veränderung von Wissen, Macht und Kommunikation in der digitalen Ära auszeichne. Digitale Technologien haben zwar einen tiefgreifenden Einfluss auf verschiedene Aspekte unseres Lebens, vom individuellen Verhalten über soziale Interaktionen bis hin zur politischen Organisation.

Laut Stalder ist Digitalität jedoch keineswegs nur eine technologische Entwicklung, sondern vielmehr eine komplexe kulturelle Dynamik, die unsere Vorstellungen von Wahrheit, Realität und Identität in Frage stellt. Er reklamiert eine „im weitesten Sinne poststrukturalistische Perspektive“, Kultur sei heterogen, hybrid und „von konkurrierenden Machtansprüchen und Machtdispositiven durchzogen“, von „Begehren, Wünschen und Zwängen“ getrieben, Kultur mobilisiere diverse Ressourcen in der Konstituierung von Bedeutung (S.17).

„’Digitalität‘ bezeichnet damit jenes Set von Relationen, das heute auf Basis der Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter sowie der Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird.“ (S.18)

Damit solle jedoch nicht Digitaltechnik ins Zentrum gerückt oder Digitales von Analogem abgegrenzt werden. Analoges würde nicht verschwinden, sondern „neu- und teilweise sogar aufgewertet“. „Digitalität“ verweise vielmehr auf historisch neue Möglichkeiten der Konstitution und Verknüpfung von Akteuren (menschlichen wie nichtmenschlichen):

„Der Begriff ist mithin nicht auf digitale Medien begrenzt, sondern taucht als relationales Muster überall auf und verändert den Raum der Möglichkeiten vieler Materialien und Akteure.“ (S.18)

Stalder knüpft an den Begriff des „Post-Digitalen“ von Florian Cramer an, der damit Praktiken bezeichnet, die sich zwar in Digitalmedien entwickelten, deren offene Interaktionsform sich jedoch immer weiter verbreite. Stalders Begriff der Digitalität vermeide jedoch das missverständliche Präfix „Post-“, das fälschlich so gelesen werden könne, dass „etwas vorbei sei“, und löse sich zugleich von Cramers technikfixiertem Kontext der Medienkunst. Stalder nimmt in diesem Sinne die ganze Gesellschaft in den Blick, denn „…die Präsenz der Digitalität jenseits der digitalen Medien, verleiht der Kultur der Digitalität ihre Dominanz.“ (S.20)

Nicht technologische Entwicklungen allein hätten der Digitalität den Weg gebahnt, sondern auch Politik, Kultur und Ökonomie. Wichtig erscheinen Stalder insbesondere der Aufstieg der Wissensökonomie und der Kritik an Heteronormativität und Postkolonialismus. Die Wissensökonomie habe seit den 1960ern explizit den wachsenden Informations- und Wissensbedarf von Behörden und Konzernen in westlichen Konsumgesellschaften thematisiert. Dazu gehöre die Massenmanipulation durch immer ausgefeiltere Werbung, Propaganda und PR, die der Freud-Neffe Edward Bernays maßgeblich entwickelte:

„Kommunikation wurde zu einem strategischen Feld für unternehmerische und politische Auseinandersetzungen und die Massenmedien zum Ort der Handlung… Eine Medienindustrie im modernen Sinne entstand, die mit dem rasch wachsenden Markt für Werbung expandierte.“ (S.29f.)

Man sprach in den 1980ern und 90ern von „Informations-“ und später „Netzwerkgesellschaften“, in denen -neben der Digitalisierung- eine Flexibilisierung der Arbeit mit neoliberalem Abbau der Sozialstaaten einherging. Der Freiheitsbegriff wurde dabei von neoliberaler Politik und den seit den 1960ern wachsenden „Neuen Sozialen Bewegungen“ konträr definiert: Neoliberal als Freiheit der Märkte, sozial als persönliche Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen (S.33). Exemplarisch für Letzteres behandelt Stalder die Schwulenbewegung in Westdeutschland, Rosa von Praunheim, den Bonner Tuntenstreit 1974, die Aids-Krise ab 1983. Diversität und Hybridisierung der Kultur der Digitalität wurzele in emanzipativen Bewegungen, deren Erfolg sich spätestens 2014 beim European Song Contest in der breiten Öffentlichkeit manifestierte -mit der Stalder seine Abhandlung eingeleitet hatte: „Conchita Wurst, die glamouröse Diva mit Bart, war die Gewinnerin“ (S.7), sie habe komplexe Geschlechterkonstruktionen „zumindest ansatzweise mainstreamfähig“ gemacht (S.48):

„Conchita Wurst, die bärtige Diva, ist nicht zwischen widerstreitenden Polen zerrissen. Sie repräsentiert vielmehr eine gelungene Synthese, etwas Neues, in sich Stimmiges, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass die Elemente der alten Ordnung (Mann/Frau) sichtbar sind und zugleich transzendiert werden.“ (S.99)

Schattenseiten: Algorithmizität und Post-Demokratie

Die Digitalität ermöglicht laut Stalder neben hybrider Diversität auch neue Formen der Partizipation und Vernetzung, die zur Demokratisierung von Wissen und Kommunikation führen können. Gleichzeitig birgt Digitalität aber auch Risiken, wie die Manipulation durch Algorithmen, Filterblasen und Desinformation. Zugleich seien Algorithmen jedoch prinzipiell unabdingbar, um in einer diversen und hybriden Explosion der Kultur mit ihrer wachsenden Unordnung orientiert zu bleiben. Ohne Suchmaschinen etwa könne heute kein Archiv mehr die digitalen Datenmassen, Texte und Kulturprodukte bewältigen.

Algorithmen automatisieren Kulturtechniken wie die Inhaltsanalyse von Bildern oder das Schreiben von Texten: Der Chef der Firma „Narrative Science“, die automatisierte Sport- und Finanzberichterstattung anbietet, habe 2012 für die nächsten Dekaden eine Ersetzung von neunzig Prozent der Journalisten durch Computer angekündigt. Bedenklich sei, „dass sich auch die CIA für Narrative Science interessiert und über ihre Beteiligungsgesellschaft In-Q-Tel in das Unternehmen investiert hat, ist ein Hinweis darauf, dass bereits heute Anwendungen jenseits des Journalismus entwickelt werden. Zu Propagandazwecken lassen sich mit Algorithmen beispielsweise problemlos massenhaft Einträge in Onlineforen und den sozialen Massenmedien erstellen.“ (S.175)

Dynamische Algorithmen können sich sogar halbautomatisch-eigenständig weiterentwickeln: 2012 habe Google mit solchen „deep learning“-Verfahren die „Gesichtserkennung in unstrukturierten Bildern“ um siebzig Prozent verbessert (S.180). In ausufernder Überwachung greife heute ein „Daten-Behaviorismus“ nach unserer Privatheit, in einem „Revival eines nach wie vor mechanistischen, reduktionistischen und autoritären Ansatzes“. Diese Haltung ungehemmter Kontrolle unseres Verhaltens finde sich bei jenen, die über umfassende Beobachtungsmöglichkeiten verfügen, „dazu gehören neben Facebook und Google auch die Geheimdienste westlicher Länder“ (S.201). Dabei ginge es neben der gern genannten „Serviceverbesserung“ aber auch um soziale Normierung sowie „Profit- oder Überwachungsoptimierung“ (S.202). Anders als viele deutsche Medienwissenschaftler, die an dieser Stelle der Analyse krampfhaft mit den Fingern auf „russische Trolle“ und den chinesischen Überwachungsstaat zeigen, beweist der Schweizer Felix Stalder Rückgrat und kritisiert die eigenen, die westlichen Machteliten (was besagte Kollegen wohl eher nicht aufgreifen dürften).

Assange, Snowden und Entmündigung im libertären Paternalismus

2013 habe, so Stalder, Edward Snowden die „flächendeckende Überwachung des Internets durch staatliche Geheimdienste“ enthüllt (S.233). Felix Stalder zitiert den Wikileaks-Gründer Julian Assange und resümiert: „Die Grenzen zwischen postdemokratischen Massenmedien und staatlichen Nachrichtendiensten sind fließend. Wie inzwischen bekannt ist, bestehen zwischen beiden Bereichen personelle Kontinuitäten und inhaltliche Gemeinsamkeiten.“ (S.234) Die USA hätten seit 2011 z.B. „ein eigenes Programm zu sozialen Massenmedien mit dem Namen ‚Social Media in Strategic Communication‘. (…) seit 2009 vernetzt die Europäische Union im Rahmen des INDECT-Programms Universitäten und Sicherheitsorgane mit dem Ziel ‚Lösungen und Werkzeuge der automatisierten Gefahrenentdeckung zu entwickeln’… Überspitzt könnte man sagen, dass die Missachtung der Grundrechte mit der Qualität der so geschaffenen Dienstleistung ‚Sicherheit‘ legitimiert wird.“ (S.235f.)

Leider sei die Gegenwehr gegen eine in westlichen Gesellschaften so geschaffene soziale Atmosphäre der Angst gering geblieben. Hinter Überwachung und Massenmanipulation stehe in den heutigen Postdemokratien, die demokratische Politik durch technokratisches Gouvernance ersetzen, eine neoliberale Anti-Aufklärung. Obsolet sei heute für die Machteliten „…die aus der Zeit der Aufklärung stammende Annahme, der Mensch könne sich durch den Einsatz seiner Vernunft und die Ausbildung seiner moralischen Fähigkeiten verbessern und sich aus seiner Unmündigkeit durch Bildung und Reflexion selbst befreien.“ (S.227) Eine kybernetische Sicht sehe den Menschen als dressierbare Versuchsratte, die mit subtilen „Nudges“ (Schubsern) zu steuern sei, so Richard Thaler und Cass Sunstein.

Die beiden Neobehavioristen bezeichnen ihr System als „libertären Paternalismus“, der eine „freiheitliche Bevormundung“ anstrebe, was bei den Regierungschefs in Washington und London, Obama und Cameron, so viel Anklang fand, dass sie Thaler und Sunstein in ihre Teams holten (S.228f.). Besonders in den sozialen Massenmedien (also den „sozialen Medien“, Stalder benutzt diesen gängigen Begriff jedoch nicht), ließe sich die mediale Umgebung via Nudging manipulieren. Dies geschehe vor allem im Dienste einer Gruppe, die Stalder als „den inneren Kern des postdemokratischen Systems“ bezeichnet, „bestehend aus den Spitzen der Wirtschaft, der Politik und der Geheimdienste“ (S.230). Viele Mainstream-Konformisten dürften in dieser simplen und analytisch untadelig abgeleiteten politischen Erkenntnis bereits angebliche „Verschwörungstheorie“ oder sogar „-ideologie“ wittern. Denn medial und in der akademischen Forschung werden die von Stalder aufgezeigten Fakten und Zusammenhänge geradezu krampfhaft ignoriert. Es ist zu befürchten, dass genau diese krampfhafte Ignoranz künftig zumindest diese Teile von Stalders Buch betreffen wird. Machtstrukturen dieses Kalibers werden bislang selten öffentlich diskutiert und dies geschieht dann oft nur in künstlerisch verfremdeter Form, wie etwa bei Mark Lombardi.

Stalder ruft im Fazit dazu auf, die Dynamik der Digitalität kritisch zu reflektieren und sich aktiv mit den Auswirkungen digitaler Technologien auf unsere Gesellschaft auseinanderzusetzen. Indem wir die Chancen und Herausforderungen der Digitalität verstehen, können wir Freiheit und Autonomie im digitalen Raum bewahren und weiterentwickeln: Obwohl „die Postdemokratie das Politische selbst abschaffen und alles einer technokratischen Alternativlosigkeit unterordnen will“, beweise die Entwicklung der blühenden Commons das Gegenteil, meint Stalder und schließt sein Buch mit dem Verweis auf utopische Potentiale der Digitalität: „Diese Widersprüchlichkeit der Gegenwart öffnet den Raum der Zukunft.“ Ausbaufähig scheint an Stalders Argumentation die Subjektkonstitution im Netz, die mit der Konzentration auf Kommunizieren, Posten und Liken wohl noch nicht ausreichend erfasst ist, sowie deren Verknüpfung mit Foucaults Konzept des Panoptismus.

03/18/15

Mark Lombardi: Kunst & Konspiration

Thomas Barth

Es ist ein deutscher Dokumentarfilm von Mareike Wegener (Realfictionfilm) über Leben und Werk des unter mysteriösen Umständen verstorbenen Künstlers Mark Lombardi, der dubiose Transaktionen der Finanzindustrie zu Bildern verarbeitete: Kunst als konkrete Netzphilosophie, die Machtnetzwerke sichtbar macht.

Lombardis „Narrative Structures“ sind elegante Organi- und Soziogramme, Bleistift auf beigem Papier: Eine künstlerisch bemerkenswerte Serie von Zeichnungen, Diagramme mit visuellen Darstellungen, die Machtbeziehungen der globalen Wirtschaft und Politik darstellen. Jetzt läuft in deutschen Kinos der Film „Mark Lombardi: Kunst und Konspiration“ über Leben und Werk des Künstlers, der sich, laut offizieller Darstellung, am 22.März 2000 das Leben nahm.

In ihrer betont unaufgeregten Dokumentation porträtiert Wegner posthum einen bemerkenswerten Künstler, der fast investigativ-journalistische „Elitenforschung betrieb. Im Internet ein Phänomen, ist Lombardi in Deutschland über die engere Kunstszene hinaus noch weitgehend unbekannt. Wegener recherchierte und drehte für diesen Film monatelang in den USA. Visuell arbeitet sie mit Bildern, die man aus journalistischen Enthüllungsfilmen kennt, mit Aufnahmen imposanter Gebäudefassaden, Experten- und Zeugen-Interviews, Kamerafahrten hinab ins Archiv Lombardis. Doch statt den sonst auf Betrachter einprasselnden Fakten und atemlosen Reporterberichten begleitet die Aufnahmen oft Schweigen, die Gespräche und Kommentare sind ruhig, lassen Zeit zum Nachdenken. Ähnliche Eindrücke in einem vergleichbaren Kontext weckte bislang nur der Film von Gerhard Friedl: „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ Die bemerkenswerte Kameraführung ist Sophie Maintigneux zu verdanken, die schon mit Godard filmte.

In 1994 I began a series of drawings I refer to as „narrative structures.“ Most were executed in graphite or pen and ink on paper. Some are quite large, measuring up to 5×12 feet. I call them „narrative structures“ because each consists of a network of lines and notations that are meant to convey a story, typically a recent event of interest to me, like the collapse of a large international bank, trading company, or investment house. One of my goals is to explore the interaction of political, social, and economic forces in contemporary affairs. Mark Lombardi, The Recent Drawings: An Overview

Mark Lombardi begann 1995, zunächst wenig beachtet, in Houston seine Zeichnungen auszustellen. Erste größere Aufmerksamkeit weckte er im Rahmen einer Gruppenausstellung im Drawing Center, SoHo 1997. Er zog nach New York und hatte seine erste Einzelausstellung, “Silent Partners“, im Jahr 1999 in der Galerie Pierogi 2000, die heute noch seine Werke im Bestand führt, dann folgte “Vicious Circles“ in der Devon Golden Gallery in Chelsea. Es war ein kurzer, aber stetiger Anstieg der Aufmerksamkeit: Lombardis Arbeiten wurden inzwischen weltweit in zahlreichen Museen und Galerien ausgestellt.

Mark Lombardi: Der Künstler, der Elitenforschung betrieb

Dennoch ist Lombardi in Deutschland über die engere Kunstszene hinaus noch weitgehend unbekannt, wie der fast leere Kinosaal in Hamburg bezeugen konnte. Die meisten Besucher interessierten sich für die rein künstlerische Seite, begeisterten sich für die Kameraführung, Sophie Maintigneux zu verdanken, die schon mit Godard filmte. Interesse galt auch den Zeichnungen Lombardis, man bewundert die exakte Raumaufteilung, auch die akribische Ausführung der auf den ersten Blick wie florale Ornamente wirkenden, quadratmetergroßen Diagramme. Im Film wie im Netz sind die Bilder schwer darstellbar, es gibt zu viele Details, man verliert schnell den Überblick. Nur wenige Fragen bezogen sich auf die Inhalte hinter der Kunst, ein Besucher des Metropolis wies auf die Website They Rule hin, ein weiterer auf den deutschen Professor Hans-Jürgen Krysmanski (Wer die Fäden zieht), der sich soziologisch mit Power Structure Research befasst, jenem Gebiet, das am ehesten Lombardis Kunst in den Wissenschaften entspricht.

Elitenforschung, Power Structure Research, wird nicht nur von professionellen Sozialwissenschaftlern getrieben, sondern auch von Journalisten, watchdog groups, politischen Parteien, Aktivisten in sozialen Bewegungen, Gewerkschaftern, Nerds und sogar von Künstlern. Der amerikanische Maler Mark Lombardi (1951-2000) nahm seinerzeit politische und Finanz-Skandale zum Anlass, großformatige Diagramme der beteiligten Personen und Personengruppen anzufertigen, die einerseits auf dem Kunstmarkt reüssierten, andererseits aber schmutzige Deals und kriminelle Aktivitäten der oberen Zehntausend festhielten. Lombardi hatte sich eine private Datenbank mit über 12 000 Karteikarten angelegt. Seine Kunst überschritt ständig die Grenze zum investigativen Journalismus und zum Verschwörungsdenken, so dass sich vor seinem mysterösen Tod – er wurde erhängt in seinem Atelier aufgefunden – auch das FBI für seine Diagramme zu interessieren begann. Für mich ist Lombardi ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Power Structure Research auch Graswurzelforschung sein kann.

Wer war der Mensch hinter den seltsamen Zeichnungen? An Spekulationen über den offiziell als Selbstmord deklarierten Tod Lombardis beteiligt sich Mareike Wegener bewusst nicht. Nur wenige von ihr Interviewte deuten ihr Unverständnis an, allein den Eltern wird mehr Raum gegeben, Zweifel an der Suizidtheorie der Polizei zu äußern. Die Dokumentation bleibt auch hier sachlich und nüchtern, verzichtet auf jede reißerische Darstellung. Intensive Einstellungen fangen dennoch Resignation und Trauer ein. Auch weitere Verwandte und Freunde werden im Film zurückhaltend befragt, erzählen von abgehörten Telefonaten, späteren Interventionen des Heimatschutzministeriums und einer FBI-Beamtin, die nach den 9/11-Anschlägen eine Zeichnung beschlagnahmen ließ. Letztlich teilt der Betrachter des Films die Ratlosigkeit der Interviewten.

Kann Lombardis Biographie Antworten geben? Sie wurde bereits in der Vergangenheit Ziel von Spekulationen. Nach seinem Tod im Jahr 2000 brachte die New York Times ein kurzes Porträt über „den Künstler, der sich von Skandalen inspirieren ließ“. Mark Lombardi wurde 1951 in Syrakus geboren, wo er studierte und eine Bachelor-Prüfung in Kunstgeschichte an der Syracuse University ablegte. Nach seinem College-Abschluss zog er nach Houston, wo er kurz die Stelle des stellvertretenden Kurators am Museum of Contemporary Art bekleidete. Dann betrieb Lombardi eine kleine Galerie, um sich nebenher der abstrakten Malerei zu widmen. Er begann mit seinen Zeichnungen 1993, inspiriert durch ein beim Telefonieren gekritzeltes Diagramm, ein befreundeter Banker hatte ihm über den Skandal der US-Sparkassenkrise berichtet.

Damals war es in Folge der ersten Deregulierungswelle im Finanzsektor durch Ronald Reagan zu Spekulationsblasen und betrügerischen Bankrotten gekommen: Ein kleiner Vorgeschmack auf die Dot-Com-Blase 2000 und die große Bankenkrise 2008, die uns heute als Staatsschuldenkrise weiter verfolgt. Soweit die NYT. In Wikipedia liest man eine andere Version: Es ging in dem Telefonat um den Iran-Contra-Skandal, genauer: um den Waffenhändler Adnan Khashoggi, dessen Beziehungen Lombardi in einem einfachen Baumdiagramm dargestellt habe. Beide Bezüge weisen auf das besondere Interesse Lombardis an mafiösen Strukturen der Finanzwelt hin.

In einem der wenigen von ihm überlieferten Texte: The ‚Offshore‘ Phenomenon: Dirty Banking in a Brave New World geht er den Schwarzgeldströmen nach, die Steuerhinterziehung, Drogen- und Waffenhandel sowie die Geheimdienste einbeziehen, fordert ein Verbot der Schattenökonomie, wie später die Globalisierungskritiker von Attac. Sein Text liest sich wie die sorgsam rekonstruierte Vorgeschichte der aktuellen Finanzkrise.

Lombardi: The „Offshore“ Phenomenon

Doch Lombardi war kein Aktivist, er verwandelte seine Erkenntnisse in Kunst, damit entkam er einer Subsummierung unter die Rubrik „Verschwörungstheorie“. Zweifellos kann man seine Werke einfach als Kunst genießen. Die Kunstkritikerin Frances Richard meint, dass Lombardi mit seinem Begriff „Narrative Strukturen“ stillschweigend zugab, seine kartographierte Konversation sei eine konstruierte Fantasie, eine abenteuerliche und vorsätzliche Verwechslung von quantitativer und qualitativer Analyse. Karten gehören für sie in den Bereich von Zahlen und Körperlichkeit (oder scheinen dorthin zu gehören), während das Gespräch ein durch und durch subjektiver, immaterieller Prozess ist.

Dennoch mutet es geradezu hellseherisch an, wie Lombardi die Themen vorauszusehen schien, die uns seitdem beschäftigen. Wie kam er zu seinen Ideen, wie zu den Informationen? Lombardi las täglich mehrere Zeitungen, viele Bücher und zog seine Information ausschließlich aus öffentlichen Quellen. Er erstellte ein Archiv mit über 12.000 Karteikarten voll Information über Verbindungen von Macht, Geld und Personen, mit nachvollziehbarer Quellendokumentation. In einem künstlerisch kreativen Akt schuf er dann ein Organigramm zu einer Thematik, die ästhetische Gestaltung mit präziser Tatsachendarstellung verband. Bislang wurden, soweit bekannt, die Archivdaten noch nicht weiter ausgewertet – soziologische Forscher zeigten ebenso Interesse wie das FBI.

Kassel stellte auch das Opus Magnum Lombardis aus: „BCCI-ICIC & FAB, 1972-91“, jenes Bild, das nach 9/11 2001 vom FBI konfisziert wurde. Wegener beschreibt in ihrem Film, wie dieses Bild im Jahr 2000 vor einer wichtigen Ausstellung New Yorker Museum PS 1 zerstört wurde – ein Defekt in der Sprinkleranlage des Ateliers. Lombardi arbeitete bis zur Erschöpfung an einer Restaurierung, aber schon drei Wochen später fand man ihn erhängt in seiner Wohnung. Ein Suizid scheint unverständlich, so kurz nach einem großen öffentlichen Durchbruch seiner Kunst. Das 3sat-Magazin Kulturzeit sagt über das Bild:

Die Bank of Credit and Commerce, kurz BCCI, stand in den 1980er Jahren im Zentrum eines riesigen Bankenskandals. BCCI war keine normale Bank, ihre Manager waren Geheimdienstleute. Ihr einziger Zweck: Gelder waschen, korrupte Politiker schmieren, Waffengelder schleusen.

Lombardis Werk nahm künstlerisch Erkenntnisse auch der Ökonomen vorweg, so wirkt zumindest ein Blick auf sein Bild World Finance Corporation and Associates, ca. 1970-84, vergleicht man es mit Ergebnissen der ETH Zürich zur Vernetzung der 147 mächtigsten Großkonzerne der Welt (meist Banken), deren Studie „The network of global corporate control“auch Korruptionsforscher wie Werner Rügemer inspirierte (Die Macht der Rating-Agenturen).

Lombardi las Bücher über Korruption, politische Verbrechen und Geldwäsche, verfolgte die dubiosen Transaktionen der Finanzindustrie – zweifellos ungewöhnlich für einen Künstler. Ob seine Zeichnungen uns je als Tapetenmuster begegnen werden, wie Motive van Goghs? Ihre Ästhetik würde dies rechtfertigen, ihr zeitkritischer Inhalt ebenso und vermutlich wäre es auch im Sinne ihres Schöpfers. Der Kunsthistoriker Robert Hobbs glaubt in Wegeners Film, die Motivation Lombardis zu kennen: Er wollte die Menschen anstiften, die Welt zu verändern.

12/5/14

Uralte Stereotype: Hacker, Nerds, Computerfreaks

Thomas Barth

Als im Wahlkampf 2012 SPIEGEL-Schreiber Mathias Matussek mit seinem Pamphlet „Das maschinenhafte Menschenbild der Piraten“ gegen die neue Netzpartei trommeln wollte, ahnte er wohl nicht, dass er sich damit in eine lange Tradition stellte: Das Stigmatisieren der Netzkultur. Er stellte sich damit gegen neue Ansätze zur Vermeidung einer drohenden totalen Überwachung, welche mit ausuferndem Lobbyismus und Korruption in Medien und Politik einhergeht.

Matussek bediente sich im Dienste Bertelsmanns für den „Spiegel“ eines der ältesten Stereotype gegen Computernutzer –wenn auch nur unbewusst bzw. nach Hörensagen, wie man angesichts seiner eher mäßigen Kenntnisse der Netzkultur wohl vermuten muss.

Der „Maschinelle Charakter“

1987 galt die Studie „Der maschinelle Charakter“ (in Anlehnung an Adornos „Studie zum Autoritären Charakter“) der führenden akademischen Experten Pflüger & Schurz als Stand der Forschung; darin wurde allen Ernstes behauptet, „übermäßige“ Computernutzung führe zu einem totalitären „Schwarz-Weiß-Denken“, quasi durch psychische Infektion mit der binären Null-Eins-Logik der neuen digitalen Medien. In meiner Diplomarbeit konnte ich 1990 signifikant nachweisen, dass die zugrunde gelegten Daten dürftig und zudem falsch interpretiert waren sowie dass Forschungsdesign und Theoriebasis desolat waren.

Warum das Inverse Panoptikum der Hackerkultur nicht verstanden wurde

1997 konnte ich in einer weiteren Studie aufzeigen, wie der „Maschinelle Charakter“ sich als Standardisierung und Normierung von Vorurteilen in eine Stigmatisierungs-Kampagne gegen die damals noch kleine Computer- und Netzkultur einfügte. An diese Stigmatisierung knüpfte 25 Jahre später Matusseks „Spiegel“-Pamphlet an. Der Netzbewohner, Hacker bzw. „Computerfreak“ war schon damals zur Projektionsfläche von Ängsten und Wünschen bezüglich der heranrollenden digitalen Medienkultur geworden, deshalb wurde er pathologisiert und kriminalisiert. Außerdem tobten bereits erste politische Kämpfe um den künftigen Cyberspace der Netze, für die ich damals zwei Hauptfelder prognostizierte:

  1. Strafrecht und Überwachungsstaat, der sich im Internet gegen Hacker richten würde, die nach Transparenz von Daten der Mächtigen strebten, frühe Vorläufer von Anonymous und WikiLeaks;
  2. Die ökonomische Erdrosselung der Netzkultur durch das Copyright, wenn der digitalen Kommunikation die Besitzmetaphorik der Warenwelt übergestülpt würde.

Als Lösungsansatz unterbreitete ich 1997 das Utopiemodell des „inversen Panoptikums“, das den Panoptismus moderner Gesellschaften (Foucault) vom Kopf auf die Füße stellt: Anstatt einer immer weiter ausgebauten Überwachung der vielen Machtlosen durch wenige Mächtige sollte umgekehrt die Transparenz der Mächtigen und der Datenschutz für die vielen zur Norm werden. Meine Studie „Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft: Systemtheorie, Foucault und die Computerfreaks als Gegenmacht zum Panoptismus der Computer- und Multimedia-Kultur“ steht inzwischen in vielen Informatik-Fachbibliotheken, die Debatte des Panoptismus-Begriffes findet sich in vielen Beiträgen wieder. Im „Spiegel“ und anderen Mainstream-Medien weigert man sich aber verbissen, die neuen Wertvorstellungen der Netzkultur zur Kenntnis zu nehmen. So wird dort immer wieder der angebliche Widerspruch bei Netzaktivisten und Piraten gegeißelt, sie seien für Transparenz, aber wollen zugleich Anonymität im Netz.

„Spiegel“ geißelte „Traum totaler Herrschaftsfreiheit“

Mit dem im „Spiegel“ gegeißelten „Traum totaler Herrschaftsfreiheit“ hat das natürlich nichts zu tun. Das „inverse Panoptikum“ stellt lediglich ein Leitbild zur Vermeidung einer drohenden totalen Überwachung dar, die zudem mit ausuferndem Lobbyismus und Korruption in Medien und Politik einhergeht. Digitale Technologie konzentriert immer mehr Macht bei wenigen Überwachern: Macht durch Kontrolle über die Daten der Einzelnen und Macht über den Zugang der Einzelnen zu den Medien. In einer Demokratie können die vielen Machtlosen sich jedoch gegen die zunehmende Drangsalierung wehren. Die Dunkelmänner der Datenwelt haben das natürlich auch begriffen und schreien allerorten selbst laut nach Transparenz, meinen damit aber Kontrolle über Netznutzer, Kunden, Arbeitende.

Als Gegenmächte stehen der Netzkultur damit vor allem die Geheimdienste und die großen Medienkonzerne, sprich: die Verwerter, gegenüber. Der größte Verwerter in Europa heißt Bertelsmann, der Kampf um alte Pfründe, z.B. des Copyright auch in der neuen Netzkultur, steht für diese Machtgruppen an erster Stelle. Wer etwas Neues will, wird von diesen Machtgruppen angefeindet, schlechtgeredet, später vielleicht korrumpiert, infiltriert und gekauft. So ging es der SPD, als Medienkanzler (!) Schröder für seine „Agenda 2010“ sein Hartz IV-Konzept von der Bertelsmann-Stiftung schreiben, durch McKinsey (damals Bertelsmanns Unternehmensberater) umsetzen und von Bertelsmann-Medien beklatschen ließ. So ging es den Grünen, als sie sich die Bildungspolitik der Bertelsmann-Stiftung aufschwatzen ließen, das „Leuchtturm“-Gefasel, Privatisierung und Studiengebühren. Als Grüne nach jahrzehntelangem Kampf endlich auf EU-Ebene ein Chemikaliengesetz mit formulieren durften, hatten sie sich von neoliberalen Ideologen schon so sehr einlullen lassen, dass sie sich einen Chemielobbyisten unterschieben ließen, der dem Gesetz die Zähne zog. Auch bei den Grünen begann es mit einer medialen Mischung aus Lobhudelei und Verteufelung; Lobhudelei, denn ihre Anhänger sollten ja letztlich an der Nase im Kreis herum geführt werden; Verteufelung für jene, die das nicht mit sich machen lassen wollten.

Piraten als Nerds?

Die Piraten wurden in den Mainstream-Medien aus politischem Kalkül unter dem Stereotyp der Hacker-, Nerd- und Netzkultur stigmatisiert. Der größte Skandal scheint den sie anfeindenden Gegner aber zu sein, dass hier „computeraffine“ Menschen tatsächlich politisch sind. Sie sind eben nicht unpolitische Fachidioten wie die Nerds aus der US-Soap „The Big-Bang-Theory“. Verschiedenste Label werden ihnen aufgedrückt, was im Grunde jedoch nur eines zeigt: Sie dienen als Projektionsfläche für Hoffnungen und Ängste. Vor allem wohl der Hoffnung, sie mögen bei aller Computerkompetenz doch so dumm sein, dass sie wie geschmiert von der korrupten Mainstream-Medienwelt und -Politik assimiliert werden können.

Mathias Matussek hat mit seinem Pamphlet damals wohl den bislang aggressivsten Beitrag zur Medienkampagne gegen die Piraten geleistet und vielleicht sogar maßgeblich zu ihrem Abstieg nebst Selbstzerlegung beigetragen. Ihr Anliegen hat dies keinesfalls verdient, ihre (Netz-) Politik nur teilweise.

Zuerst erschienen bei InversePanopticon

08/15/13

Medien-Mainstream & Netzkultur: Wikileaks – Edward Snowden

Thomas Barth

Die Netzkultur steht den Mainstreammedien heute kritisch gegenüber, von deren Aufmerksamkeit sie gleichwohl abhängig ist. Denn die klassischen Leitmedien Presse und Fernsehen machen immer noch den Kern der Öffentlichkeit aus, in welcher die politischen Debatten sich in gesellschaftliche Veränderungen umsetzen lassen – auch wenn jüngere Generationen ihnen ihrerseits zunehmend die Aufmerksamkeit entziehen. Kein Wunder, hatte doch die Medien-Industrie in Anti-Raubkopierer-Kampagnen ihre Verbraucher lange genug zu Verbrechern erklärt, statt vernünftige und faire Verfahren zu entwickeln.

WikiLeaks hatte erfolgreich den Bogen zurück zum Mainstream geschlagen, nicht zur ungetrübten Freude aller etablierten Meinungsmacher. Und wurde in Gestalt von Juian Assange dämonisiert. Mit Edward Snowden und The Intercept von Glenn Greenwald schlägt die Netzkultur jetzt zurück, bietet weniger Angriffsfläche für Personalisierung und macht es schwerer, die Inhalte zu verschweigen. Das Image der Medien leidet unter ihrer immer unkritischer werdenden Haltung gegenüber den Machthabern im eigenen Land bzw. Machtblock. Einzelne, die diese blinden Flecken aufzeigen wollten, gab es schon immer. Oft nahmen sie, von den Medien wenig beachtet, ein schlimmes Ende, wie etwa der Künstler Mark Lombardi, der westlichen Oligarchen und ihren Machtstrukturen nachging. Jeder, der mit westlichen konkurrierende Machteliten angreift, ist sich dagegen der medialen Aufmerksamkeit gewiss. Aber diese Einseitigkeit genügt offenbar nicht, unsere Journalisten verstehen sich immer öfter auch als Wadenbeißer im Dienste westlicher Herrschaftseliten, die über deren Kritiker hemmungslos herfallen.

Wie WikiLeaks zum Flop erklärt wurde

WikiLeaks gilt den Mainstream-Medien seit der ungefilterten Veröffentlichung tausender Cables als gescheitert. Doch es gibt zahlreiche offene Fragen. Etablierte Medien folgen einer vereinfachenden Erzählung, personifizieren komplexe Probleme, führen Standards an, die sie selbst kaum einhalten und brachten sich selbst gegen WikiLeaks in Stellung -selbst dann, wenn sie zuvor massiv von den Enthüllungen der Plattform profitiert hatten.

Today, 15 September 2014, WikiLeaks releases previously unseen copies of weaponised German surveillance malware used by intelligence agencies around the world to spy on journalists, political dissidents and others. Interaktion von Netzplattform und Medien bleibt problematisch

WikiLeaks ist aus der Hacker-Subkultur hervorgegangen und noch immer darin tief verwurzelt. Seit den Anfängen des Internet traten Hacker ein für freien Informationszugang aller bei vollem Schutz der Privatsphäre. Ihre natürlichen Widersacher waren die Geheimdienste, deren Job im Großen und Ganzen die umgekehrte Ausrichtung hatte. WikiLeaks bezeichnet sich in dieser Tradition auch als „Counter-Intelligence“ und „First Intelligence Agency of the People“ – als erster Geheimdienst des Volkes.

Die technologische Avantgarde der Hacker, deren ehedem esoterische Praxis der Online-Kommunikation heute die breite Masse zumindest der jüngeren Generationen erreicht hat, wurde von Anbeginn misstrauisch von den etablierten Medien beäugt. Heute ist sie selbstbewusst zur „Netzkultur“ gereift und ihr stehen neben staatlichen Institutionen auch die Medienkonzerne gegenüber, die von den neuen „Netzbürgern“ oft als „gnadenlose, gierige Content-Verwerter“ gesehen werden.

Kein Wunder, hat doch die Medien-Industrie in Anti-Raubkopierer-Kampagnen ihre Verbraucher so lange zu Verbrechern erklärt, bis sogar eine Piratenpartei in die politischen Arena stieg. Dabei sehen sich die Medien-Konzerne oft sogar als Säule der Demokratie und Pressefreiheit, vertreten aber zunehmend eigene Unternehmensinteressen. Der Antagonismus von Netzkultur und Medienindustrie schwingt unterschwellig mit, wenn etablierte Journalisten über Hackerprojekte berichten – besonders vielleicht, wenn diese – wie WikiLeaks – mit neuen Publikationsformen in die zentrale Sphäre des Nachrichtengeschäfts eindringen.

“Cablegate” und die mediale Schuldfrage

Am 1.9.2011 machte WikiLeaks, die Whistleblower-Plattform des weltberühmten Hackers Julian Assange, negative Schlagzeilen: Durch eine Sicherheitspanne wurden rund 250.000 US-Diplomaten-Depeschen aus dem WikiLeaks-Datenbestand im Internet zugänglich. Diese Depeschen sind, anders als bei vorherigen Depeschen-Publikationen, nicht redaktionell bearbeitet. Somit enthüllen sie womöglich unabsichtlich Namen von Informanten der US-Auslandsvertretungen. Die Aufregung in den Medien war groß und der Ruf von WikiLeaks, durch einen mysteriösen „Sex-Skandal“ um Assange bereits angeschlagen, drohte nachhaltig beschädigt zu werden. (Nachtrag 2022: Nils Melzer „Der Fall Assange“ stellte klar: Die Verleumdungen von Julian Assange mit einem angeblichen „Vergewaltigungsverdacht“ basierten auf einer geheimdienst-gesteuerten Justizintrige in Schweden.) Vielleicht sollten sogar Internet-Enthüllungsplattformen, die bereits als neue, den herkömmlichen Journalismus ergänzende Form der öffentlichen Aufklärung gesehen wurden, generell in Frage gestellt werden. Die Snowden-Enthüllungen und The Intercept konnten dieses mögliche Ziel jedoch unterlaufen, obgleich sie heute von den Medien tendenziell totgeschwiegen werden.

Die von Journalisten gegen die Whistleblower-Plattform und speziell Assange vorgetragenen Vorwürfe lauteten damals, WikiLeaks würde den Informantenschutz und die journalistische Ethik bzw. Sorgfalt vernachlässigen. Beide Vorwürfe erweisen sich jedoch bei genauerer Betrachtung als zumindest fragwürdig.

Was war geschehen? Bei der Weitergabe der Botschafts-Depeschen hatte WikiLeaks zunächst ein verschlüsseltes Datenpaket gepackt und dieses im Internet in Umlauf gebracht. Ziel war, die Daten auf zahlreichen verteilten Rechnern vor dem physischen Zugriff von Polizei, Militär und Geheimdiensten in Sicherheit zu bringen. Die spätere Jagd auf Assange mittels eines unter zweifelhaften Umständen zustande gekommenen Haftbefehls von Interpol zeigt, dass diese Befürchtungen nicht unbegründet waren.

Die so verschlüsselten Daten gelangten in die Hände der drei ausgewählten Presseredaktionen von „Spiegel“, New York Times und Guardian. Später übergab dann Assange den Redakteuren das geheime Passwort, so dass diese die Pakete öffnen und auswerten konnten. Soweit so gut. Doch zwei Journalisten vom Guardian publizierten 2011 auch ein Buch über die WikiLeaks-Geschichte und gaben dabei (versehentlich?) das Passwort bekannt. Sie hätten geglaubt, so später der Guardian, das Passwort sei nur zeitlich befristet gültig gewesen. Jeder Leser des Buches hatte nun die Möglichkeit, die zirkulierenden Datenpakete zu entschlüsseln und Identitäten von US-Informanten zu enthüllen.

Bei der Berichterstattung über den Vorfall ging im Folgenden vieles durcheinander. Die Tagesschau vom 1.9.2011 befragte in ihrem längeren Bericht einen ARD-Internetexperten, der kritisierte, eine Whistleblower-Plattform solle doch in der Lage sein, ihre Informanten zu schützen. In dieser ARD-Darstellung wurden also die hier betroffenen Informanten mit Whistleblowern durcheinander gebracht. Doch es geht in den Depeschen nicht um Enthüller, die öffentliche Aufklärung im Sinn haben, sondern um Zuträger der US-Administration, wie den FDP-Funktionär Metzner, der Interna aus den schwarzgelben Koalitionsverhandlungen verriet. Der Adressat für das Einklagen von Informantenschutz muss hier also nicht WikiLeaks, sondern die US-Administration sein. Es ist nebenbei bemerkt dieselbe US-Administration, die Assange zum Staatsfeind erklärte, ihm vermutlich die Konten sperren ließ, mutmaßlich seine Strafverfolgung wegen fadenscheiniger Vergewaltigungsanklagen und seine Auslieferung an die USA betrieb.

Und Bradley Manning?

Gleichwohl könnten die Depeschen fatale Folgen für Informanten haben, denn manche Zuträger der US-Botschaften müssen wohl mit bedrohlichen Konsequenzen rechnen –„in totalitären Ländern“, wie besorgte Kommentatoren der WikiLeaks-Datenpanne gern hinzufügten. Kaum einer erwähnte dabei jedoch einen Informanten von WikiLeaks selbst, der schon seit Mai 2010 leidet: Bradley Manning, der US-Soldat, der teilweise unter „harten“ Haftbedingungen in US-Militärgefängnissen gehalten wurde (Menschenrechts-Organisationen sprachen von Folter), um ein Geständnis und eine Aussage gegen Assange zu erzwingen.

Die Manning zugeschriebenen Enthüllungen brachten Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen seitens der US-Truppen ans Licht. Sie zeigten den Krieg in Irak und Afghanistan, der uns oft als hehre Friedensmission mit chirurgisch präzisen Schlägen präsentiert wurde, in seiner ganzen Breite und Grausamkeit. Hinter der offiziellen Version von Wiederaufbau und Krieg gegen den Terror erkannten manche in den WikiLeaks-Dokumenten einen zweiten Krieg: Die Strategie, innerafghanische Kontrahenten im Sinne von „teile und herrsche“ gegeneinander auszuspielen; etwa die entgegen der offiziellen Entwaffnungspolitik zugelassene Aufrüstung von Usbekenführer Dostum, der 2006 mit Warlords der Nordallianz einen Putsch gegen Karsai plante. Dies konnte zwar der US-Führung nicht gefallen, rechtfertigt aber nicht die unmenschliche Behandlung eines mutmaßlichen Whistleblowers. Ob mit Bradley Manning nicht einfach ein unbequemer junger Soldat zum Sündenbock gemacht wurde, um Enthüller von US-Geheimnissen generell einzuschüchtern, weiß bis heute niemand.

Die Darstellung von Leistungen von WikiLeaks und Assange erscheint in den Medien oft personalisiert und wenig auf politische Hintergründe ausgerichtet, so in den auf Bestsellerlisten gehandelten Büchern „Staatsfeind WikiLeaks“ und „Inside WikiLeaks“. Doch auch wo fundiertere Analysen vorgenommen werden, bleibt eine voreingenommene Haltung des etablierten Journalismus spürbar. So wird in einer Studie zum Krisenjournalismus das berühmte Video, mit dem sich WikiLeaks überhaupt erst einen Platz in den Hauptnachrichten erkämpfte, recht einsilbig beschrieben: „…ein WikiLeaks-Video, das den Angriff auf eine Gruppe von Menschen in Bagdad aus der Cockpit-Perspektive eines Kampfhelikopters zeigt. Bei dem Angriff kamen auch zwei Reuters-Journalisten ums Leben.“

Sogar den mit Bedacht von Assange gewählten Titel des Videos verschwiegen die Autoren: „Collateral Murder“, obwohl sie wenige Seiten zuvor noch von der Krisenberichterstattung gefordert hatten, „Euphemistische Wendungen wie… ‚Kollateralschäden‘… sollten durchschaut und vermieden werden.“ Assange & Co. hatten den Euphemismus nicht nur vermieden, sondern durchschaut und in seinem Zynismus entlarvt, aber dies wollten der Journalismus-Professor und sein Co-Autor wohl bei den Medien-Außenseitern von WikiLeaks nicht sehen. „Collateral Murder“ wurde gesendet und schnell vergessen, ebenso wie der Leidensweg des mutmaßlichen WikiLeaks-Informanten Bradley Manning.

Wichtiger als das reale Opfer Manning, schienen den Medien in Deutschland heute offenbar die infolge der Datenpanne möglichen Opfer der Publikation von US-Depeschen zu sein. Tatsächlich könnte man hier die Vernachlässigung journalistischer Ethik und Sorgfaltspflicht anführen. Aber gegen wen? Das Gros der Medien richtet seine Anklagen gegen Assange, etwa die Tagesschau vom 1.9.2011. Sie berichtete zwar, „WikiLeaks beschuldigte einen Journalisten der britischen Zeitung Guardian“, das Passwort publiziert zu haben, ließ aber im restlichen Beitrag keinen Zweifel daran, dass man die Schuld für die Panne bei der Internet-Plattform zu suchen habe. Fazit: WikiLeaks sitzt auf der Anklagebank und beschuldigt, womöglich nur um sich selbst zu entlasten, den Guardian. Diesem Muster folgen die meisten Berichte, aber ist das wirklich eine faire Bewertung?

Wer Standards verlangt, sollte sie selbst einhalten

Journalisten forderten von WikiLeaks seit deren Erscheinen in der Öffentlichkeit Verantwortung, Ethik und journalistische Standards ein, die man übrigens in der breiten Masse des Boulevard-Journalismus vergeblich sucht. Aber was ist mit den Qualitäts-Journalisten des britischen Traditionsblattes Guardian? Sollte eine naheliegende Frage nicht lauten: Welcher Teufel hat die Buchautoren geritten, ausgerechnet das echte Passwort in ihrer Reportage zu publizieren? Ein fanatisches Streben nach Authentizität um jeden Preis? Pure Trägheit, sich eine vergleichbare Phrase auszudenken? Für den Leser hätte ein Ersatzwort das Buch sicher nicht schlechter gemacht, für US-Informanten kann diese Unachtsamkeit der Autoren jedoch fatale Folgen haben.

Der Guardian hätte es wissen müssen

Die Guardian-Schreiber hätten wissen müssen, dass die verschlüsselte Datei mit den Depeschen überall im Netz zirkuliert, und dass sie mit diesem Passwort jeder würde öffnen können. Wäre es nicht ihre journalistische Sorgfaltspflicht gewesen, die Ungefährlichkeit ihrer „Enthüllung“ mit Assange abzuklären? Stattdessen konstruieren jetzt die medialen Ankläger eine kryptologische Bringschuld von Assange, auch in der Zusammenarbeit mit der bei diesem Projekt engstens verbündeten Presse jederzeit höchstes Misstrauen einkalkulieren zu müssen.

Assange hätte die zirkulierenden Sicherungskopien mit anderen Passwörtern verschlüsseln, die Passwörter mit einer Zeitbegrenzung versehen müssen usw. lauten die im Nachhinein besserwisserisch erhobenen Forderungen. Aber hätten nicht auch die seriösen Qualitäts-Journalisten und Buchautoren des Guardian einkalkulieren müssen, dass dem um den Globus gehetzten Assange und seiner zusammengewürfelten Hackergruppe Fehler unterlaufen könnten?

Netzkultur, Whistleblower und „einsame Helden“

Bei aller Hochachtung vor den Leistungen von Julian Assange – der Hacker-Subkultur scheinen die Gefahren bewusst zu sein, die mit seiner Person und auch mit der Fixierung auf einen „einsamen Helden“ verbunden sind.  Edward Snowden hat aus der sorgfältigen Beobachtung der medialen Verarbeitung des Falles Assange gelernt und sich bewusst selbst im Hintergrund gehalten. Die Ergebnisse dieses Ansatzes geben ihm Recht: Es fiel den Medien schwerer, durch Personalisierung von den aufgedeckten Problemen abzulenken. Man diskutiert überwiegend bis heute den NSA-Skandal und nicht den Fall Snowden, dem -anders als bei Assange- auch nicht derart massive Angriffe gelten.

Die Verantwortung wird von der Netzkultur aber vor allem von der Presse eingefordert. Deren zunehmendes Einknicken vor den Interessen herrschender ökonomischer und Machteliten wird von Netizens und Hackern als Hauptargument für die Notwendigkeit von Plattformen wie WikiLeaks und The Intercept angeführt.

So steht die Netzkultur den Mainstreammedien kritisch gegenüber, von deren Aufmerksamkeit sie gleichwohl abhängig ist. Denn die klassischen Leitmedien Presse und Fernsehen machen immer noch den Kern der Öffentlichkeit aus, in welcher die politischen Debatten sich in gesellschaftliche Veränderungen umsetzen lassen – auch wenn jüngere Generationen ihnen ihrerseits zunehmend die Aufmerksamkeit entziehen. WikiLeaks hat erfolgreich den Bogen zurück zum Mainstream geschlagen, nicht zur ungetrübten Freude aller etablierten Meinungsmacher. Die Netzkultur hat mit Snowden und WikiLeaks wichtige Schritte hin zu einem Inversen Panoptikum unternommen, das die Blickrichtung im globalen Überwachungsnetz umdreht: Wir alle werden von Geheimdiensten und Unternehmen beobachtet, aber wir beobachten zunehmend ebenfalls -die Machthaber im Zentrum der panoptischen Anlage.