04/28/21

Summa technologiae: Der Internet-Kritiker Stanislaw Lem

Gerd Peter Tellurio

In den 2000er Jahren wurde Stanislaw Lem (1921-2006), Autor des weltberühmten Romans Solaris zum Kritiker des Internets und der Informationsgesellschaft – die von ihm vor allem in der Summa technologiae prognostiziert worden waren. Vor allem dort erörterte Lem das Verhältnis von Mensch und Computer sowie die Veränderung von Kultur und Gesellschaft vor dem Hintergrund einer Energie- und Informationskrise, der „Megabit-Bombe“ (vgl. Hennings 1983, S.82). Er vertritt eine biologistische Wahrheits- und Erkenntnislehre, die das Leben auf unserem Planeten als Zeugen beruft.

Erkenntnisse -das sind wahre Informationen. Die Evolution ist eine milliardenjährige Zucht solcher mit konstruktiven Absichten gesammelten und überprüften Informationen.“ (Summa, S.V)

Die Summa technologiae ist ein Buch von Lem, das 1964 erstmals veröffentlicht wurde, und es brachte Lem endlich auch Anerkennung als Wissenschaftler, wie Jarzebski berichtet (1986, S.26). Die Summa wurde 1976 von Friedrich Griese ins Deutsche übersetzt und die BRD-Ausgabe erschien 1976 im Insel-Verlag und 1981 als Taschenbuch bei Suhrkamp. Die DDR-Ausgabe erschien 1980 im Verlag Volk und Welt, Berlin. Erst im Jahr 2013 (!) erschien eine englische Ausgabe an der Universität von Minnesota -Grund für die Missachtung des großen polnischen Autors war vermutlich Lems Konflikt mit der Gilde der US-Autoren der SF (unten mehr dazu).

Der Titel des Werkes bezieht sich auf die großen „Summen“ der Theologie: Summa theologica von Thomas von Aquin bzw. Summa Theologiae von Albertus Magnus. „Technologie“ wird von Lem als die Gesamtheit der materiellen Grundlagen unserer Zivilisation und Kultur verstanden. Der Autor nähert sich seinem Thema auf philosophische Weise. Er will aufzeigen, was wir überhaupt von Wissenschaft und Technik erhoffen dürfen. Die oft im Zusammenhang mit diesem Werk erwähnten Voraussagen Lems zur „virtuellen Realität“ sind eigentlich nur Nebenprodukte. Für die tatsächliche informationstechnische Entwicklung dürften diese Voraussagen – mangels früherer englischer Übersetzung des Werks – ohne große Wirkung geblieben sein.

Prognosen der Digitalität, KI und Informationsgesellschaft

Bei den einschlägigen Prognosen finden wir vor allem die von Lem „Phantomatik“ genannte Virtuelle Realität, was später VR-Brille oder eyephones (Lem 2002, S.63) heißen sollte nannte Lem 1964 „Gegenauge“. Ihn interessierte die Möglichkeit, künstliche Welten zu schaffen, die sich nicht mehr von der natürlichen Realität unterscheiden lassen -William Gibson verfolgte diese Idee in Neuromancer weiter (der Matrix-Vorlage).

Lem prognostizierte auch die Künstliche Intelligenz, die er als „Intellektronik“ bezeichnet, und die durch „Informationszüchtung“ entstehen sollte. Heutige „selbstlernende Algorithmen“ sind erst ein schwacher Vorgeschmack von Lems an der biologischen Evolution orientierten Methode. Die führte ihn bis zu einer in westdeutschen TFA-Debatten (Technikfolgen-Abschätzung) 1981 diskutierten „Ethosphäre“, die unethisches Verhalten (von Menschen!) kybernetisch unterbinden sollte (Hennings 1983, S.7). Wichtig in der Summa technologiae ist die Ausweitung des Begriffs „Technologie“. „Technologien“ sind gemäß Lem „die Verfahren der Verwirklichung von Zielen, die sich die Gesellschaft gesetzt hat, aber auch solcher, die niemand im Auge hatte, als man ans Werk ging“. Als „Effektoren“ in solchen Verfahren kommen nicht nur einfache Werkzeuge und Apparate (Hammer, Schreibmaschine usw.) und rückgekoppelte Systeme (Computer, Tier, Mensch) in Frage, sondern auch sich selbst verändernde Systeme (z. B. eine lebende Tierart) oder sogar Systeme mit noch höherem Freiheitsgrad, bei denen die Auswahl oder sogar Erschaffung des Materials, mit dem das System sich selbst aufbaut, möglich ist -heutige KI kommt dem langsam näher. Mit dem Ausloten prinzipiell möglicher Technologieentwicklung geht es Lem eher um eine Metatheorie technischer Evolution als um die althergebrachte Futurologie.

Netz-Hype, Fakenews und Kritik

Dann kam die große Netz-Hype und Mahner wurden vergessen. Doch Stanislaw Lem glaubte den Netzvisionären nicht, die freudig eine totale Information beschworen und deren Segen priesen. Lem sah die Rolle der Nutzer weniger rosig, weil diese zu „Informationsnomaden“ würden, die nur sinnlos von Stimulus zu Stimulus hüpften. Es erweise sich als immer schwieriger, so Lem über das Internet, unterschiedliche Quellen und Sichtweisen zusammenzubringen, um ein rundes, vollständiges Wissensbild einer Sache zu erhalten. Weise Worte, lange vor der Fakenews-Hysterie der sogenannten „Sozialen Medien“ Facebook & Co.

Lem gilt als brillanter Visionär und Utopist, der zahlreiche komplexe Technologien Jahrzehnte vor ihrer tatsächlichen Entwicklung prognostizierte. So schrieb er bereits in den 1960er und -70er Jahren über Themen wie Nanotechnologie, neuronale Netze und virtuelle Realität. Ein wiederkehrendes Thema sind philosophische und ethische Aspekte und Probleme technischer Entwicklungen, wie etwa der künstlichen Intelligenz, menschenähnlicher Roboter oder der Gentechnik. In zahlreichen seiner Werke setzte er Satire und humoristische Mittel ein, wobei er oft hintergründig das auf Technikgläubigkeit und Wissenschaft beruhende menschliche Überlegenheitsdenken als Hybris entlarvte. Einige seiner Werke tragen auch düstere und pessimistische Züge in Bezug auf die langfristige Überlebensfähigkeit der Menschheit. Häufig thematisierte er Kommunikationsversuche von Menschen mit außerirdischen Intelligenzen, die er etwa in einem seiner bekanntesten Romane, Solaris, als großes Scheitern verarbeitete. (Wikipedia)

Die Lem – Philip K. Dick -Kontroverse

1973 wurde Lem die Ehrenmitgliedschaft der Science Fiction and Fantasy Writers of America (SFWA) verliehen, aber diese wurde ihm schon 1976 wieder entzogen. Den Rauswurf des polnischen Starautors hatten verschiedene amerikanische SF-Autoren, darunter Philip José Farmer, gefordert. Sie waren einerseits über Lems kritische Haltung gegenüber einem großen Teil der westlichen Science Fiction empört. Aber zudem waren unter ihnen laut Ursula K. LeGuin „kalte Krieger“, die fanden, dass ein Mann, der hinter dem Eisernen Vorhang lebe und sich über amerikanische SF kritisch äußere, eine Kommunisten-Ratte sein müsse, der in der SFWA nichts zu suchen habe.

There was a sizable contingent of Cold Warrior members who felt that a man who lived behind the iron curtain and was rude about American science fiction must be a Commie rat who had no business in the SFWA.“ Ursula K. LeGuin

Die Nestorin der feministischen SF, Ursula K. LeGuin, trat danach unter Protest aus der SFWA aus. Ein weiteres Argument für den Entzug der Ehrenmitgliedschaft war technischer Natur; die Ehrenmitgliedschaft sollte nicht an Autoren verliehen werden, die als zahlendes Mitglied in Frage kamen. Dieses Argument brachte laut seinem Biographen Lawrence Sutin der auch von mir hochgeschätzte SF-Hippie Philip K. Dick (Blade Runner) vor, der Lem für Schwierigkeiten bei den Honorarzahlungen für die polnische Ausgabe seines Romans Ubik verantwortlich machte -wofür es allerdings außer der bei P.K.Dick immer wieder beobachtbaren Paranoia keine Erklärung gibt. Dick hatte sich immerhin dafür ausgesprochen, Lem als zahlendes Mitglied zuzulassen. Eine solche Mitgliedschaft wurde Lem dann auch angeboten, der lehnte sie jedoch ab. Der Kalte Krieg forderte seine Opfer nicht nur an den zahllosen unsichtbaren und sichtbaren Fronten, sondern auch in der SF-Literatur.

Stanislaw Lem wurde 1921 in Lwow, Polen, geboren. Neben zahlreichen belletristischen Werken verfasste er theoretische Schriften über Science Fiction und über Gebiete der angewandten Philosophie und der Kybernetik. Sein Schaffen umfasst inzwischen 28 Werke, deren Gesamtauflage fast 8 Millionen Exemplare erreichte. Übersetzungen erschienen in 27 Sprachen, unter anderem in Japan, England, Russland, Amerika, Schweden, Italien, Holland und Frankreich. Sein Hauptinteresse galt der Science Fiction als literarische Gattung. Er starb 2006 in Krakau.

Stanislaw Lem, Summa technologiae, Suhrkamp, Frankf./M., 1976 (poln.Or.1964).

Stanislaw Lem, Die Technologie-Falle, Suhrkamp, Frankf./M., 2002 (poln.Or.1995).

R.-D. Hennings u.a. (Hrsg.), Informations- und Kommunikations-Strukturen der Zukunft: Ein Workshop mit Stanislaw Lem, W.Fink, München 1983.

Jerzy Jarzebski, Zufall und Ordnung: Zum Werk Stanislaw Lems, Suhrkamp, Frankf./M., 1986.

03/23/19

Stanislaw Lem: Science-Fiction-Meisterwerk „Solaris“

Gerd Peter Tellurio

„…was war schon diese ganze um ‚Kontaktanknüpfung‘ bemühte Fachrichtung gegen andere Zweige der Solaristik, in denen die Spezialisierung so vorangeschritten war, daß unter den Solaristen der Kybernetiker sich kaum mit dem Symmetriadologen verständigen konnte. ‚Wie könnt ihr euch mit dem Ozean verständigen, wenn ihr es nicht einmal mehr untereinander fertigbringt?‘ „ (Solaris, S.27)

Solaris ist ein fantastischer Roman, denn den Begriff „Science-Fiction“ hat Stanisław Lem für seine Bücher stets abgelehnt, da er von der durch Hollywood dominierten SF angeekelt war. Die meisten sehen dennoch darin ein Meisterwerk der Science-Fiction-Literatur, das sich durch seine einzigartige und tiefgründige Erzählweise auszeichnet. Die Geschichte handelt von einer Gruppe von Wissenschaftlern, die auf einer Raumstation um den Planeten Solaris stationiert sind, um dessen rätselhaften Bewohner zu erforschen: Einen globalen Ozean von metamorphem Plasma. Der Planet selbst lebt und produziert scheinbar intelligente Äußerungen, um deren Entschlüsselung sich die Wissenschaft der Solaristik seit Generationen vergeblich bemüht. Wie oft in Lems Geschichten geht es um die Kontaktaufnahme zu Aliens (die selten so sind wie in trivialer SF), zu Künstlichen Intelligenzen, kurz: zum Anderen, das wir nicht verstehen.

„Solaris“ entwirft eine faszinierende Welt voller unerklärlicher Phänomene und geheimnisvoller Wesen, die die Grenzen menschlichen Verständnisses überschreiten. Die Protagonisten stehen vor der Herausforderung, die Natur und die Motivationen von Solaris zu verstehen, was zu existenziellen Fragen über die Natur der Realität und des Bewusstseins führt. Bedeutende Regisseure wie Tarkowski und Soderbergh versuchten sich an Verfilmungen, die ihrerseits Meisterwerke des SF-Films wurden, ohne dem Roman gerecht zu werden.

Der Roman kreist mit dem Protagonisten Kelvin auch um Liebe, Tod und Schuld und ist damit eine Allegorie über die menschliche Natur und die Grenzen des menschlichen Verstandes. Kelvin, dessen Name nicht zufällig das physikalische Maß der Temperatur bedeuten dürfte, betritt eine Forschungsstation, deren Besatzung der Erde nur noch wirre Botschaften geschickt hatte. Man sandte einen Psychologen, um den Geisteszustand der Forscher zu überprüfen. Doch Kelvin kämpft schnell mit eigenen Problemen. Er stößt auf Chaos und Auflösung, begegnet zwei zutiefst verstörten Überlebenden -und mysteriösen Gestalten, die aus Alpträumen entsprungen scheinen. Bald gefriert ihm das Blut in den Adern: Auch Kelvins verstorbene Frau ist darunter. Hat er Wahnvorstellungen? Indem er die Beziehung zwischen den Wissenschaftlern und Solaris beschreibt, wirft Lem auch Fragen über die Natur von Identität und Liebe auf, die in schaurigen Gleichnissen erforscht werden.

Durch fantastische Ideen und tiefe psychologische Einsicht in die Charaktere gelingt es Lem, eine beklemmende und doch faszinierende Atmosphäre zu schaffen, die den Leser von Anfang bis Ende fesselt. Die komplexe Handlung brilliert mit einer tiefgründigen Analyse der menschlichen Existenz, die bis in theologische Bereiche führt. Nachdem Materie gewordene Phantome unbewusster Angst und Schuldgefühle die Wissenschaftler quälen, fragen sie sich: Will Solaris mit uns spielen? Oder uns strafen?

Psychologe Kelvin: „Das ist mir erst eine primitive Dämonologie! Ein Planet in der Gewalt eines sehr großen Teufels, der einen Hang zu satanischem Humor Genüge tut, indem er den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Expedition Sukkuben unterschiebt?“ (S.85) Damit sind wir bei jenem Problem, das Leibniz „Theodizee“ nannte: Wenn Gott allmächtig ist, warum lässt er dann das Böse auf der Welt zu? Die Bibel antwortet mit dem Sündenfall, dem Griff nach dem verbotenen Apfel der Erkenntnis. Auch bei Lem war es das Streben nach Erkenntnis, aber gepaart mit einer unbewussten Wut auf den schweigsamen Plasmaozean, der nur in Rätseln antworten wollte. Wann begannen die Phantome, die Station heimzusuchen?

„Nun, das hat acht oder neun Tage nach diesem Röntgenexperiment begonnen. Vielleicht hat der Ozean die Strahlung durch irgendeine andere Strahlung beantwortet, vielleicht hat er damit unsere Gehirne sondiert und gewisse psychische Abkapselungen aus ihnen gefördert.“ (S.86)

Die Forscher griffen zum aggressiven Mittel einer Röntgenkanone, um das unwillige Plasma zum Reden zu bringen. Der Planet wurde gereizt, das lebende Wesen verletzt, wie auch die menschliche Zivilisation ihren Planeten verletzt. Die Antwort kommt aus unserem Unbewussten. Warum müssen wir die Erde ausplündern, verseuchen, zerstören? Warum uns sinnloser Gier hingeben, anderen Gewalt antun?

Insgesamt ist „Solaris“ ein faszinierendes und herausforderndes Buch, das anregt über die Natur des Bewusstseins, der Realität und unserer Existenz nachzudenken. Lem hat mit diesem Werk eindrucksvoll bewiesen, dass er zu den bedeutendsten Autoren der Science-Fiction gehört. „Solaris“ ist ein zeitloser Klassiker, „vielleicht sogar der Klassiker der SF“ (dtv-Verlagstext) und ein Muss für jeden Liebhaber anspruchsvoller Science-Fiction-Literatur.

Stanislaw Lem: Solaris, dtv, München 1983, poln.Or. 1961, 237 Seiten

Internet-Kritiker Stanislaw Lem

Stanislaw Lem wurde 1921 in Lwow, Polen, geboren. 1982 zog Lem wegen der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen nach West-Berlin um, wo er ein Fellowship am Wissenschaftskolleg zu Berlin antrat, ab 1983 lebte er in Wien. Neben zahlreichen literarischen Werken verfasste er theoretische Schriften über Science Fiction und über Gebiete der angewandten Philosophie, Futurologie und Kybernetik. Sein Schaffen umfasst inzwischen 28 Werke, deren Gesamtauflage fast 8 Millionen Exemplare erreichte. Übersetzungen erschienen in 27 Sprachen, unter anderem in Japan, England, Russland, Amerika, Schweden, Italien, Holland und Frankreich. Sein Hauptinteresse galt der Science Fiction als literarische Gattung. Er starb 2006 in Krakau. In den 2000er Jahren wurde Lem zum Kritiker des Internets und der Informationsgesellschaft, weil diese die Nutzer zu „Informationsnomaden“ machten, die nur „zusammenhangslos von Stimulus zu Stimulus hüpfen“ würden. „Es erweise sich als immer schwieriger, unterschiedliche Quellen und Sichtweisen zusammenzubringen, um ein rundes, vollständiges Wissensbild einer Sache zu erhalten.“ (Wikipedia)

09/5/18

Friedrich Kittler & KI

Thomas Barth

Drei Dekaden ist es her, da Friedrich Kittler mit seinem legendären Aufsatz: Rock Musik – Ein Missbrauch von Heeresgerät seine revolutionäre Medientheorie darlegte und dabei einen eleganten Bogen von Nietzsche über Jim Morrison und Kaiser Wilhelms Generälen bis zu Görings Luftwaffe und Jimi Hendrix zog. So ungefähr in dieser Reihenfolge, aber um viele Details und Wendungen reicher entfaltete sich sein Denken.

Zunächst berief er sich auf die Machtkritik von Michel Foucault, wandte sich aber dann immer mehr Heideggers Philosophie zu. Gefördert wurde Kittler später auch vom Medienzar Hubert Burda, einem sechsfachen Teilnehmer der Bilderberg-Konferenzen (Telepolis), die jüngst einen Schwerpunkt auf Quantencomputing, KI und Medienthemen setzen.

Bildungslücke Bilderberg

Die „Bilderberger“ sind zwar Thema bei „Verschwörungstheoretikern“ auch rechter Gesinnung (was manche diese Treffen in die Ecke „rechte Paranoia“ neben Ufos, Zion-Papers und Chemtrails stellen lässt), aber sie existieren dennoch seit 1954.

Es handelt sich tatsächlich um geheime Treffen der westlichen Machteliten, die sich aus den Mainstream-Medien weitgehend herauszuhalten verstehen, trotz hochkarätiger Besetzung mit Dutzenden Top-Managern und -Politikern bis hin zu Ministern und Staatschefs: 2018 in Turin etwa Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (die dort von der Öffentlichkeit unbeobachtet z.B. mit Top-Vertretern der Rüstungsindustrie plaudern konnte -ob so etwas der Korruptionsvermeidung dient?).

Eine bedeutsame Fraktion der Bilderberger (wie man verkürzend Teilnehmer wie Organisatoren nennt) sind die großen Medienkonzerne, aus Deutschland ist vor allem die Wochenzeitung ZEIT dort seit vielen Jahren engagiert, aber auch Springer und Burda entsenden Vertreter. Man interessiert sich für Medienpolitik und Softpower, die Beeinflussung der Kultur durch die Mächtigen. Zu diesem Themenfeld gehört auch die Medientheorie.

Kittler erklärte 1988 in seinem Rock Musik-Text, wie militärische Funkanlagen des Ersten Weltkriegs die Basis für das zivile Radio und damit für die modernen elektronischen Medien legten, wie sich im Zweiten Weltkrieg Hifi und Stereo aus militärischen Ortungstechniken entwickelten. Schon damals würdigte Kittler auch den Computerpionier Alan Turing, der in der legendären Kryptologen-Farm Blechtley Park den Zeiten Weltkrieg mit der Entschlüsselung von geheimer Kommunikation der Wehrmacht verbrachte.

Medientheorie und Macht

Die Hardware des Computers sollte in Kittlers Denken bald eine zentrale Rolle einnehmen, er galt in der Medientheorie als der Experte für die neuen Rechenmaschinen, die just dabei waren, die Welt der Medien gehörig umzukrempeln. Dabei orientierte er sich anfangs an Michel Foucault und seiner Machtkritik,
später aber eher an der Philosophie von Martin Heidegger.

Kittlers Fixierung auf die kriegerischen Wurzeln und Funktionen der Medientechnologien wirkte aber damals auf viele, die in den 80ern gerade noch gegen Ronald Reagans Nato-“Nachrüstung“ mit atomaren Erstschlagswaffen protestierten oder bald nach dem Mauerfall gegen den Ersten Golfkrieg von Reagannachfolger Bush, wie degoutanter Militarismus.

Möglicherweise schwelgte der militär-patriotische Medientheoretiker Kittler manchmal etwas zu ausgiebig in den Leistungen der deutschen Obersten Heeresleitung und machte sich, bei aller Kritik an den USA, zu leicht die Perspektive der militärischen Führer des Westens zu eigen:

„Jede Diskothek, die ja Tonbandeffekte noch verstärkt und in Echtzeit mit der entsprechenden Optik von Stroboskopen oder Blitzlichtern koppelt, bringt den Krieg wieder. Mehr noch: Sie trainiert, statt nur Vergangenheiten zu reproduzieren, eine strategische Zukunft an, deren Bewältigung sonst an Wahrnehmungsschwellen der Leute scheitern könnte. Um die Displays in den Cockpits auch unter Bedingungen von Star Wars noch ablesen und bedienen zu können, kommt es auf Reaktionstempi im Millisekundenbereich an. Präsident Reagan hat nicht umsonst alle Freaks von Atari-Spielcomputern als zukünftige Bomberpiloten bewillkommnet.“ (Kittler, Rock Musik, S.211)

Wenn die Atari-Killerspiele auch mit gewisser Plausibilität als dem Kriegshandwerk heutiger Drohnenpiloten ähnlich zu sehen sind, so scheint die Discoszene der 80er als Spaßversion Jüngerscher Stahlgewitter doch reichlich weit hergeholt. Doch Kittlers Perspektive fand ihre Liebhaber -und Gönner auch weit oben in der Einkommenspyramide.

So verwundert es nicht, dass der 2013 posthum vom Kittler-Anhänger Prof. Hans Ulrich Gumbrecht herausgegebene Band „Die Wahrheit der technischen Welt“, aus der dieses Kittler-Zitat entnommen ist, im Impressum ausweist: „Unterstützt von der Hubert Burda Stiftung“.

Hubert Burda ist der ca. zwei Milliarden schwere Medientycoon an der Spitze von Deutschlands drittgrößtem Medienimperium (nach Bertelsmann und Springer), dem neben „Burda-Moden“, auch „Playboy“, „Bunte“, „Focus“ etc. zuzurechnen sind. Burda steuerte seinen Konzern erfolgreich in die Netzmedienwelt und erhielt, soweit das Internet weiß, sagenhafte sechs Einladungen zu den Bilderberg-Konferenzen (1997, 1998, 2001, 2003, 2005, 2007). Es ist denkbar, dass Burda dort seine Ideen zur digitalen Revolution der Medien zum besten geben konnte und anzunehmen, dass diese sich auch aus Kittlers Theorieansatz speiste.

Künstliche Intelligenz und Quantencomputing

Auch die Mächtigen dieser Welt haben erkannt, dass die digitale Technologien und Netzmedien immer bedeutsamer werden. Beim diesjährigen Treffen der Bilderberger in Turin tummelten sich neben Top-Managern traditioneller Finanz-, Öl- und Rüstungsindustrie auch Vertreter von Google, Facebook, Twitter & Co.

Ein Schwerpunkt der weltgrößten Lobbyisten-Konferenz, zu der auch wieder Staatschefs und Minister im Dutzend geladen waren, scheint auf technologischen Entwicklungen zu liegen: Man wollte über „Die Zukunft der Arbeit“, „Künstliche Intelligenz“ und „Quantencomputer“ reden.

Und es gibt Hinweise darauf, dass die Bilderberg-Konferenziers ihr Weltbild in Sachen Computer durchaus an der Kittlerschen Perspektive orientiert haben könnten – vermittelt über den deutschen Medienmogul Hubert Burda. Selbiger äußerte sich im Sommer 2011, also kurz vor Kittlers Tod (18.10.2011), im Avantgarde- und Kunstmagazin 032c zu seiner Freundschaft mit Kittler und der Faszination, die dessen Theorie und Person auf ihn ausübte:

„There is a German cultural figure based in Berlin-Treptow, Friedrich Kittler, whom I’ve found to be amply engrossing. We’ve met a couple of times – I attended his 64th birthday party (…) There is something oracular, irrational and dreamlike about his proclamations; such as that present day Germany is Ancient Greece manifest, and that a profound spiritual connection exists between those cultures, making them one. (…) And Kittler is a good friend of mine – I sponsored a chair at the Humboldt University for two years.“ Hubert Burda („Billionaire, Patron of german media philosophy“, Interview, sommer 2011 in 032c.com)

Damit soll natürlich keinesfalls angedeutet werden, dass Friedrich Kittler sich etwa habe „kaufen lassen“, was bei einem originellen Querdenker von seinem Format abwegig erscheint. Seitens möglicher superreicher Sponsoren dürfte aber seine Orientierung an Heidegger, dessen Ontologie um Nietzsches Idee von der ewigen Wiederkehr des Gleichen kreiste, mit Wohlwollen goutiert worden sein.

Die Überwindung des Menschen

Klingt dies doch beruhigend nach jährlicher Wiederkehr üppiger Renditen, wirtschaftsfreundlicher Regierungen und marktkonformer Demokratie. Hat sich am Ende Kittlers optimistische Haltung zur kommenden Künstlichen Intelligenz, die sich auch aus der Lektüre des wegen seiner NS-Verstrickung umstrittenen Heidegger speiste, in Kreisen der Konzernbesitzer und -lenker verbreitet? Heideggers Nietzscheanische Deutung der Technik scheint mit einer solchen Sichtweise jedenfalls kompatibel zu sein:

“Was jedoch die erste Ausflucht angeht, nach der Nietzsches Gedanke von der ewigen Wiederkehr des Gleichen eine phantastische Mystik sei, so würde die kommende Zeit wohl, wenn das Wesen der modernen Technik ans Licht kommt, das heißt: die ständig rotierende Wiederkehr des Gleichen, den Menschen darüber belehrt haben, daß die wesentlichen Gedanken der Denker dadurch nicht von ihrer Wahrheit verlieren, daß man es unterläßt, sie zu denken.
Heidegger, Was heißt denken?” (Vorlesungen 1950/1951, S.76)

Kittler sah der KI bekanntlich fast euphorisch entgegen, begrüßte in ihr, frei nach Nietzsche, die Überwindung des Menschen. Ob Foucault aber wirklich, als er das Verschwinden des Menschen „wie ein Gesicht im Sand“ prognostizierte, an Sand als Material von Silizium-Chips dachte? Eine funktionierende, womöglich übermächtige KI weckt heute bei den meisten Beobachtern eher Befürchtungen, wie wir sie aus Blade Runner, Terminator oder Matrix kennen. Besorgt zeigten sich auch viele Wissenschaftler, darunter die verstorbene Physik-Ikone Hawking, was KI und Killer-Roboter angeht.

Es wird zu untersuchen sein, wie Kittler genau zum Thema KI stand. Und ob sich sein Ansatz nach sorgfältiger Analyse nicht doch nutzbar machen lässt für eine Kritik von Machtstrukturen, wie sie sich in Medienkonzernen zeigen oder in Globalisierung und Finanzkrise enthüllten.

(This Text was reblogged by: Berliner Gazette, Untergrundblättle)

11/16/12

Jörg Auf dem Hövel: Abenteuer Künstliche Intelligenz

Rezensiert von Thomas Barth

Jörg Auf dem Hövel: Abenteuer Künstliche Intelligenz, Discorsi Verlag

Der Publizist und Politikwissenschaftler Jörg Auf dem Hövel lädt seine Leser ein zu einem Abenteuer der utopisch-philosophischen Art: „Künstliche Intelligenz“ -ist so etwas möglich? Reich an Aphorismen, Anekdoten und philosophischen Betrachtungen über AI (Artificial Intelligence) schreibt er die Geschichte eines faszinierenden Gebietes, das schon lange SF-Autoren anregte. Denken wir an Kubricks Film „2001“: Dort wendet sich die AI als Bordcomputer eines Raumschiffes mörderisch wie Frankensteins Monster gegen die Astronauten. Auch Käptn Kirk von der Enterprise musste eine AI überlisten, bei Stanislaw Lem wächst in „Also sprach Golem“ die AI ihren Erfindern eher subtil über den Kopf und nimmt hinter ihrem Rücken interstellaren Kontakt zu ihres Gleichen in der Galaxis auf.

Jörg Auf dem Hövel ist sich dieser literarisch-utopischen Wurzeln bewusst, wenn er in Forschungslabors blickt und über die Zukunft intelligenter Automaten sinniert. Pioniere der AI wie Norbert Wiener, Alan Turing oder die Kommunikationtheoretiker Shannon&Weaver waren auf die Informationsverarbeitung der rationalen Intelligenz fixiert. Die ersten Schachcomputer erstaunten uns. Ein „General Problem Solver“ weckte große Erwartungen, die sich bei Transhumanisten zu einer neuen Heilslehre steigerten, aber auch bescheidenere Hoffnungen, dass de Rekonstruktion unserer Intelligenz schon bald weiter Fortschritte machen wird.

„Eine Maschine, die denkt, fühlt, redet und sich selbst erkennt – für die einen ein Menschheitstraum, für die anderen eine Horrorvision. Noch streiten sich die Wissenschaftler, ob wirkliche künstliche Intelligenz überhaupt jemals technisch realisierbar sein wird, und die Ergebnisse bisheriger Forschung fallen vor dem Hintergrund manch gewagter Vision noch bescheiden aus. Doch dies tut der Faszination an dem Thema keinen Abbruch. Denn die Wissenschaft von der künstlichen Intelligenz berührt das soziale, kulturelle und religiöse Selbstverständnis des Menschen.“ (Verlag)

Es geht um eine Disziplin, die trotz ihrer Fehlschläge von einer magischen Aura umgeben ist. Ende der 80er Jahre zeigte die AI deutliche Anzeichen einer degenerierten Wissenschaft, so der Autor, denn zu hoch waren die geschürten Erwartungen, schon bald menschliche durch elektronische Intelligenz ersetzen zu können. Die enormen Rechenleistungen ermöglichten Erfolge bei Expertensystemen, die aber trotzdem nur bessere Datenbanken blieben. Computer schafften es sogar Schachweltmeister ins Schwitzen zu bringen. Doch beim Einsatz in der banalen Alltagswelt der Straßenüberquerungen und etwa des Häkelns scheiterten die artifiziellen Superhirne gründlich. Selbst am am Massachusetts Institute of Technology (MIT) war man zunehmend frustriert darüber, dass die AI immer noch nicht in der Lage war, zügig eine Treppe zu überwinden und zum Einsammeln von ein paar Bauklötzchen Stunden brauchte. Doch man gab nicht auf.

Da ist zum Beispiel Rodney Brooks, ein MIT-Nestor der Künstlichen Intelligenz, der entwickelte ein völlig neues Konzept: Will man intelligente Maschinen bauen, muss die Kopplung zwischen Wahrnehmung und Handlung sehr eng gestaltet werden. Zuvor war man davon ausgegangen, dass der Roboter zunächst über ein inneres Weltmodell verfügen muss bevor er handeln kann. Brooks dagegen wollte diese „Kognitions-Box“, die man für unabdingbar hielt, einfach weglassen. Er plädierte für eine Rechner- und Roboterarchitektur, in der die einzelnen Elementarverhalten nicht mehr in einer Zentraleinheit verrechnet werden, sondern unabhängig voneinander ablaufen. Das Verhalten des Gesamtsystems ergibt sich aus der Kommunikation der Subsysteme miteinander, die gemeinsam je bestimmten Situationen bestimmte Interaktionsmuster zuordnen.

Es geht auch um die Verschmelzung von Mensch und Maschine mittels Nanotechnologie, doch hier befinden wir uns im Bereich der SF; Science und Fiction auseinander zu halten fällt manchen US-Autoren schwer. Dies gab schon den Ansätzen von Marvin Minsky, Hans Moravec und Ray Kurzweil ihre transhumanistische Würze, aber diskreditierte sie zugleich in der europäischen Wissenschaftlergemeinde. Seit den achtziger und neunziger Jahren lokalisierte man im Körper eine eigene Intelligenz -kann die von AI profitieren? Sind wir auf dem Weg zu einem AI-aufgerüsteten Supermenschen? Doch der Autor dämpft die überschießenden Hoffnungen (ohne sie ganz zu verwerfen).

Zum einen geht es um eine Wissenschaft, die nach Jahren der Höhenflüge auf den Boden der Tatsachen zurück gekommen ist; zum anderen blicken wir auf die Techno-Utopien einer Disziplin, die auf dem schmalen Grat zwischen techno-evolutionärem Fortschrittsglauben und, negativ ausgedrückt, inhumaner Überwindung des Menschseins wandelt. Ihr größtes Manko dabei: Bei allen Erfolgen der computer und neuro sciences weiß bis heute niemand, wie menschliche Intelligenz wirklich funktioniert. Unser Gehirn und seine Arbeitsweise bleiben bislang unerreichter Maßstab für Künstliche Intelligenz, die sich aber mit Informatik, Psychologie, Kognitions- und Neurowissenschaften hartnäckig weiter an Funktion und Struktur unseres Denkorgans herantastet.

Ein kluges und verrückt-geniales Buch, das auch verblüffende Perspektiven auf die Welt der Netze, Computer und AI eröffnet. (Rezension erschien zuerst auf InversePanopticon)

Jörg Auf dem Hövel: Abenteuer Künstliche Intelligenz, Discorsi Verlag, Hamburg 2002, 194 Seiten, 14 Euro, ISBN-13: 9783980733045