05/24/24

Theorien des digitalen Kapitalismus

Carstensen/Schaupp/Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus: Arbeit, Ökonomie, Politik, Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2023, 533 Seiten, 28,00 Euro (Leseprobe/Inhaltsverzeichnis)

Thomas Barth

Wie kann kritische Sozialwissenschaft den digitalen Kapitalismus, heute theoretisch fassen? Wie kann sie die Frage beantworten, ob sich der Kapitalismus angesichts der gegenwärtigen Digitalisierung grundlegend verändert? Der vorliegende Band gibt einen Einblick in theoretische Analysen, Zeitdiagnosen und Debatten eines digitalen Kapitalismus. Er bespricht entlang der Felder Arbeit, Ökonomie, Politik, Kultur und Subjekt die Formen und Auswirkungen des digitalen Kapitalismus. Eine integrative Theorie des digitalen Kapitalismus scheine zwar unmöglich, gleichwohl wolle man „Verbindungen der disparaten Ansätze“ ausleuchten (Backcover). Der Begriff „Kapitalismus“ deutet es an: Die meisten Autor:innen des unübersichtlichen Sammelbandes beziehen sich theoretisch auf Karl Marx oder wenigstens auf freudomarxistische Theoretiker, etwa auf Adorno oder Habermas.

Das Taschenbuch mit einem Umfang von 533 Seiten gliedert sich in vier Kapitel mit insgesamt 25 Unterkapiteln nebst Einleitung. Die Kapitel heißen: 1. „Arbeit“, 2. „Ökonomie“, 3. „Politik und Öffentlichkeit“ sowie 4. „Kultur und Subjekte“. Die Zuordnung der Beiträge ist dabei nicht immer einsichtig, etwa wenn die sehr lesenswerten Texte von Marisol Sandoval zu digitalen Genossenschaften und Felix Stalder zu Commons und Commoning nicht unter Ökonomie, sondern im dritten bzw. vierten Kapitel landen.

Progressive Perspektive auf Digitalisierung

Eine progressive Perspektive wird markiert durch Berichte über Arbeitskämpfe gegen Digitalkonzerne, deren unethische Geschäftspolitik, feministische Beiträge zum Thema Care und Digitales sowie ökologische Kritik –bei Thomas Barth (nicht identisch mit dem Rezensenten), auf dessen Text „Nachhaltigkeit im digitalen Kapitalismus“ jedoch niemand weiter eingeht. Oft wird auch versucht, Kulturkritik am digitalen Kapitalismus zu üben, politisch die Sache der (digital) Arbeitenden gegen die Seite des (Dotcom-) Kapitals zu vertreten oder marxistische Begriffe auf die Thematik der Digitalisierung anzuwenden.

Der Marxismus wurde oft tot gesagt, erweist sich aber langlebiger als erwartet. Der renommierte Suhrkamp-Wissenschaftsverlag brachte im Herbst 2023 diesen Sammelband überwiegend marxistischer Theoretiker:innen zum „Digitalen Kapitalismus“ heraus. Deren Beiträge sind fast alle politisch links, feministisch, ökologisch, marxistisch. Aber sie dokumentieren auch eine offenbar langjährige hartnäckige Weigerung vieler Marxist:innen, sich mit politischen Debatten rund um Informationsgesellschaft, Netzwerkkultur, Web2.0 und zuletzt „Digitalisierung“ auseinanderzusetzen. Erst mit der Plattformkritik scheint hier eine Debatte eingesetzt zu haben, der aber marxistische Perspektiven punktuell durchaus nützlich sind.

So entmystifiziert und kritisiert etwa Jamie Woodcock Dotcom-Konzerne und setzt im Text „Plattformarbeit“ (S.85-101) bei Nick Srniceks „Typologie der Plattformen“ an. Plattformen profitieren von Netzwerkeffekten und ihrer Tendenz zu Monopolisierung und kämen dem nahe, was Marx einen „Kaufmannskapitalisten“ nannte, der billig kaufe und teuer verkaufe (S.90). Auf einem abstrakten Niveau werden hehre PR-Selbstdarstellungen von Woodcock auf ein simples Profitmodell zurecht gestutzt, das nur als Trittbrettfahrer des Neoliberalismus seine Erfolge feierte:. Die Zunahme der Plattformarbeit sei Teil des neoliberalen „Wandels von Arbeit, Gesellschaft und Staat“ (S.93) mit grassierender Aushöhlung von Arbeitsrechten, Prekarisierung und Abwälzung von Risiken auf die Arbeitenden. Dabei würde etwa bei Amazon Mechanical Turk menschliche Arbeitskraft als „billigere Form von Software“ ausgebeutet (S.97). „Plattformen haben sich bisher als Laboratorium für das Kapital erwiesen, könnten aber auch ein Testfeld für neue Formen des Widerstands und der Organisation von Arbeitnehmer:innen darstellen.“ (S.101)

In diesem Sinne betont etwa Simon Schaupp die Möglichkeiten von Betriebsräten, bei Digitalisierung in Unternehmen Datenschutzgesetze für die Verteidigung von Arbeitnehmerrechten zu nutzen (S.334ff.); Tanja Carstensen widmet sich dem digitalen Ringen um Handlungsfähigkeit in Kämpfen, die um gender, race, class und ability geführt werden (S.404) und kritisiert mit Nancy Fraser die idealisierte Vorstellung von Öffentlichkeit nach Habermas (S.412); das Autorentrio Nachtwey/Truffer/Seidl kritisiert den „solutionistischen Geist des Kapitalismus“, aber ohne den Transhumanismus beim Namen zu nennen (S.458ff.); Helen Hester blickt zurück auf die Geschichte des Cyberfeminismus, der Beziehung von Frau und Technik vom Flechten und Weben über die feminisierte Schreibmaschine bis zum Cyberpunk-Genre (S.424ff.), seltsamerweise ohne dabei Donna Haraway zu erwähnen, obwohl sie sich auf deren Konzept vom situierten Wissen beruft (S.434); Jodi Dean ruft zum Kampf gegen den digitalen Neofeudalismus auf, der Arbeitende zu rechtlosen Bauern in einem „Game-of-Throne-Machtkampf“ (S.439) degradiert, beruft sich dabei auch auf den sozialistischen Ökonomen Yanis Varoufakis, den griechischen Ex-Finanzminister, dessen Europa-Wahlkampf-Auftritt in Deutschland jüngst verboten wurde -was man als Zeichen feudaler Willkür sehen könnte. Aus dem Wimmelbild kritischer Ansätze wichtige Argumentationsfiguren und Diskursarenen herauszufiltern ist verständlicherweise schwierig. Eine kritische Rezension muss einige Defizite des Sammelbandes benennen.

Digitalisierung und Informatisierung

Die Einleitung klärt zunächst die Begriffe Digitalisierung und Informatisierung, wobei letzere die Vergegenständlichung geistiger, regulierend-orientierender Tätigkeiten meint. In Zeichen oder Information erlange dabei nur ein Teil menschlicher Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissens „eine eigenständige Gestalt“. Andere Kommunikationspartner:innen müssten die vergegenständlichten Informationen dann wieder in ihr Wissen und ihre Erfahrungen einbetten. Diese kooperative „Arbeit an den Zeichen“ (Fn1) bediene sich auch unterschiedlicher Informationstechniken. Informatisierung meine in einem zweiten Sinn die „Materialisierung des Informationsgebrauchs“ (Fn2) in Informationssystemen. Es ginge hier um den organisierten und vergegenständlichten Umgang mit Informationen. Digitalisierung sei demgegenüber die Formalisierung, Reduktion und Integration von Information die in virtuellen Modellen gipfle, welche Tätigkeiten, Arbeit und der Herstellung von Technik vorausgehe (S.10).

Gleich die erste Fußnote der Einleitung verweist auf einen posthum erschienenen Band mit Schriften von Arne Raeithel (1943-96) „Selbstorganisation, Kooperation, Zeichenprozess“ (1998), die zweite auf den Beitrag von Andreas Boes und Tobias Kämpf, „Informatisierung und Informationsraum: Eine Theorie der digitalen Transformation“ (S.141-161), so als hätten diese Raeithels für das Thema des Sammelbandes einschlägige Arbeiten weiterentwickelt. Leider nehmen Boes und Kaempf keinen Bezug auf Raeithel und auch sonst keiner der Beiträge -die drei weiteren Texte der Herausgeber:innen inbegriffen.

Boes und Kämpf blicken in ihrem Beitrag auf die Informatisierung als zentrales Element der Produktivkräfte, aus „historischer Perspektive“ sogar als „Teil der conditio humana“ sowie auf Information als soziale Kategorie (S.143). Wir werden sehen, dass Arne Raeithel in den 1980er und –90er Jahren die Ehre hatte, diese drei „konzeptionellen Säulen“ nicht nur als grundlegend vorauszuahnen, sondern zumindest teilweise auch bereits tiefer und detaillierter auszuarbeiten als Boes und Kämpf in ihrem Text erkennen lassen. Sie monieren am Stand der Forschung, dass wegen der Marx’schen Fokussierung auf industrielle Handarbeit die „Sphäre der Kopfarbeit“ vernachlässigt wurde. Ihr „Konzept der Informatisierung“ will „an dieser analytischen Leerstelle“ ansetzen, doch die vermeintliche Leerstelle hätte sich durch Lektüre von Raeithel mehr als schließen lassen. Ihr historischer Rückblick auf Zeichensysteme bis Buchdruck (S.150ff.) bleibt deutlich hinter Raeithels Geschichte der „symbolischen Herstellung sozialer Kohärenz“ zurück, der Vor- und Frühgeschichte bis Ethnologie aufbietet (Raeithel 1998, S.189-208) vgl. Raeithel 1996.

Die multimediale Welt des heutigen WWW konnte Raeithel noch nicht kennen, doch der von Boes und Kämpf als Fazit ihrer Analyse präsentierte, von „Bild, Ton, Zeichen usw.“ (S.154) erfüllte „Informationsraum“ überzeugt nicht wirklich: Er sei sozialer Handlungsraum, durchdringe die Gesellschaft, „eröffne das Potenzial für einen egalitären Modus der gesellschaftlichen Produktion von Wissen“ (S.158). Dies sind heute Gemeinplätze oder schon lange fragwürdig gewordene Hoffnungen der „Kalifornischen Ideologie“ des Slicon Valley (Barth 1999). Die Raummetapher für das Internet stammt aus den 80er-Jahren, der Cyberspace, den die Matrix-Filme auf die Leinwand brachten. Sie ist seit einer guten Dekade als ein Ordnungsmodell des Internets in den Medienwissenschaften kanonisiert –Raummodelle: Cyberspace, Portal, Plattform (Bleicher 2010, S.46 ff.); heute sind die Raummodelle nur noch eines von einem Dutzend Ordnungsmodelle, von „Dispositiv“ bis „Suchmaschinen“ (Bleicher 2022, S.109 ff.) –hier scheinen den Marxisten schlicht wichtige Basiskenntnisse aus der einschlägigen Nachbarwissenschaft zu fehlen. Das ist schlecht, wenn man ein nur interdisziplinär fassbares Thema bearbeiten will.

Arne Raeithel und Mark Poster als vergessene Klassiker

Thomas Barth (der Rezensent, nicht der Beiträger zum Suhrkamp-Band) zeichnete 1995 im Exkurs „Marxistische Ansätze zur Informationsgesellschaft“ die marxistische Begriffsentwicklung zur Informatisierung u.a. beim US-Marxisten Mark Poster und beim marxistischen Psychologen Arne Raeithel nach (Barth 1997, S.79ff.). Poster entwickelte aus dem Marx’schen Begriff der „Produktionsverhältnisse“ unter Bezug auf postmoderne Theorie (Baudrillard, Foucault) seinen auf die kommende Informationsgesellschaft zugeschnittenen Begriff der „Informationsverhältnisse“ -aber keiner der Suhrkamp-Beiträge bezieht sich auf Poster. Am weitesten ausgearbeitet war die marxistische Analyse der Digitalisierung, die man damals noch Informatisierung nannte, m.W. jedoch bei Arne Raeithel.

Raeithel analysierte soziale Kommunikation als Form gesellschaftlicher Arbeit, basierend auf einem vergegenständlichten Begriff von Sprechhandlungen bzw. generell von Information als Trägerin einer symbolisch geteilten Welt (Raeithel 1989). Dies greift der zweiten „Säule“ der Konzeption von Boes und Kämpf vor, Informatisierung als soziales Verhältnis und gesellschaftlichen Prozess zu verstehen, wobei Raeithel mit „Zur Naturgeschichte der Zeichenprozesse – Drei Stufen der Entwicklung von Kommunikation und Denken“ (Raeithel 1998, S.243-255) auch die dritte „Säule“, die historische Perspektive auf die informatorische conditio humana vorwegnahm. Dabei schloss Raeithel, der zu den sehr frühen Anwendern von Computer und Internet zählte und selbst programmieren konnte, ausdrücklich „rechnergestützte“ Arbeit, d.h. Arbeit im digitalen Bereich, ein (Raeithel 1992).

Raeithels Ansatz gründete auf der sowjetischen kulturhistorischen Schule von Leontjew und Wygotsky, die im Stalinismus marginalisiert wurde. Er formulierte einen Arbeitsbegriff aus, der kognitive Tätigkeit an symbolischen Gegenständen ins Visier nahm. Der so gezeichnete Arbeitsprozess zielt auf Veränderungen von Können, Begriffen und Werkzeugen, also auf die sich entwickelnde Reproduktion der inneren und äußeren Verhältnisse der Subjekte (Raeithel 1998, S.35). Raeithel ging damit bereits nicht nur über die theoretische Analyse von Boes und Kaempf hinaus, sondern bewegte sich in Bereichen, die der vorliegende Sammelband eher defizitär im Kapitel „Kultur und Subjekte“ behandelt.

Regulierung digitaler Plattformen

Ulrich Dolata und Jan-Felix Schrape entwerfen in ihrem Beitrag „Politische Ökonomie und Regulierung digitaler Plattformen“ ein –zumindest für diesen Sammelband- überraschend unkritisches, teils fast affirmatives Bild der Plattformkonzerne. Aus Sicht der Organisations- und Innovationssoziologie verteidigen sie zunächst die US-Technologiekonzerne Amazon, Apple, Alphabet/Google und Meta/Facebook gegen die Vorhaltung, dort würde in einem „asset-light-Geschäftsmodell“ weitgehendes Outsourcing betrieben (S.346). Unklar bleibt dabei, warum sie Microsoft ausnehmen. Ihre analytische Teilung von „Plattformunternehmen als organisatorischer Kern“ und der „Plattform als sozialer Handlungsraum“ scheint die Unabhängigkeit besagter „Handlungsräume“ von den Konzernen zu betonen. Das spielt deren Management in die Hände, das die Freiheit ihrer Nutzer gegenüber eigener manipulativer Eingriffe herausstellt. Dolata und Schrape erwähnen zwar das Machtgefälle zwischen Nutzer:innen und Konzernen, haben aber wenig Einwände gegen konzernseitige „lückenlose Beobachtung“ des Nutzerverhaltens, dessen Daten „zunächst als Rohmaterial anfallen“ (S.349).

Sie kritisieren den Ansatz von Shoshana Zuboff, weil deren „Überwachungskapitalismus“ bei der Entstehung dieser Daten fälschlich von „unbezahlter digitaler Arbeit“ der Nutzer ausgehe, obwohl es doch „viel trivialer“ um die „bereitwillige Offenlegung… alltäglichen Verhaltens“ ginge. Was den Nutzer:innen, die ihre „Datenspuren oft achtlos und im Vorbeigehen liefern“, entzogen wird seien wertlose Rohstoffe. Diese werden erst von den Konzernen durch „Aufbereitungs- und Veredelungsleistungen“ zur Ware erhoben. Die Konzerne erwerben damit offenbar nicht nur das ökonomische, sondern auch noch das moralische Recht, private Kommunikation als „handelbare Datensätze und personalisierte Werbemöglichkeiten“ zu Geld zu machen (S.358). Die Fixierung auf marxsche Wertlehre verstellt hier womöglich den Blick auf die Manipulation der Nutzer:innen, deren Daten nicht „achtlos im Vorbeigehen“, sondern in vorsätzlich süchtig machenden Strukturen produziert werden.

Beim Thema Regulierung sehen Dolata und Schrape die Plattformen unter „intensiver Beobachtung“ einer „politischen Öffentlichkeit“. Zivilgesellschaft und Journalisten hätten „Desinformationsdynamiken“ und „Verletzungen der Privatsphäre“ aufgedeckt –nebenbei bemerkt: in jenen Konzernaktivitäten, die Dolata und Schrape als „Veredelungsleistungen“ bezeichneten. Doch die Plattformkonzerne hätten auf die Kritik „durchaus reagiert –etwa mit Transparenzinitiativen sowie Versuchen einer institutionalisierten Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in ihre eigenen Regulierungsstrukturen“. (S.360) Beispiele nennen die Autoren nicht, daher kommt die Frage nicht auf, ob es sich dabei nur um die üblichen PR-Spektakel gehandelt haben könnte.

Felix Stalder: Plattform-Demokratie-Spektakel

Facebook wurde nach diversen Skandalen in den USA besonders das Ziel von öffentlicher Kritik. Senatsanhörungen brachten Konzernchef Zuckerberg persönlich ins Schwitzen (was sogar wörtlich stimmte: man konnte in der TV-Übertragung sehen, wie der CEO mit Schweißtropfen auf der Stirn sein Sakko ablegen musste). Dennoch bewertete Felix Stalder 2016 Facebooks Reformen der „eigenen Regelungsstruktur“ kritisch.

Facebook habe sich zwar 2009 selbst auferlegt, Änderungen der Geschäftsordnung einer Abstimmung vorzulegen, sobald 7000 Kommentare dazu abgegeben würden; doch das Quorum von 30 Prozent der User:innen wäre bis zur Abschaffung der Regel 2012 nie erreicht worden, auch weil die Konzern-Demokratie dazu neigte die Wahlurnen zu verstecken. Überhaupt hätten Anbieter wie Facebook sich bemüht „mit jeder Neuerung das Machtgefälle zwischen Nutzern und Betreibern“ zu verschärfen (Stalder 2016, S.217). Kannten Dolata und Schrape das Buch ihres Kollegen Stalder nicht?

Felix Stalder lieferte auch einen äußerst lesenswerten Beitrag zum hier besprochenen Suhrkamp-Band, der sein recht bekanntes Werk „Kultur der Digitalität“ von 2016 selbstkritisch hinterfragt. Stalders 2016 noch große Begeisterung für die digitale Allmende („Commons“) der Open-Source-Bewegung wurde inzwischen gedämpft. Der Neoliberalismus instrumentalisiere zunehmend Commons als Trostpflaster für soziale Raubzüge, etwa wenn mittels Crowdsourcing bezahlte Arbeit durch schlechtbezahlte Arbeit ersetzt würde.

Der Geist der freien Software mit Gnu-Public-Licence (GPL) würde von der Software-Industrie heute unterlaufen, indem ihre Dienstleistung über die Cloud angeboten würde –ohne den Quellcode der spezifisch angepassten GPL-Programme offenlegen zu müssen: Eine neue Form kapitalistischer Einhegung einer Allmende. Kombination mit firmeneigenem Code sei eine weitere Einhegung, etwa bei Googles dadurch nicht wirklich offenem Android-System. Kulturelles Commoning diene auf Plattformen der Kommerzialisierung von Nutzerdaten-Extraktion. Schlimmer noch:

„Aber die Einhegung findet nicht nur als Form des Datenextraktivismus statt, sondern auch durch vielfache Möglichkeiten des ‚nudging‘, das die aus Nutzer:innensicht nichtkommerzielle Tätigkeiten in für Plattformbetreiber kommerziell interessante Richtungen lenkt, mit allen problematischen Konsequenzen.“ Felix Stalder 2023, S.510

Kulturproduktion im Internet wird so hinter dem Rücken der User doch wieder für eine Kulturindustrie vereinnahmt. Da wir von der Frankfurter Schule gelernt haben, so Mark Poster 2003, wie verheerend sich die Kulturindustrie auf die Arbeiterklasse und andere demokratisierende Bewegungen auswirkt, sei es unsere Pflicht, die Möglichkeiten ihrer Technologie zu verstehen. Wir sollten lernen, wie sie bei der Konstruktion kultureller Formen eingesetzt werden können, die einer demokratischen Lebenswelt angemessener sind.

Habermas und Plattform-Kapitalismus

An den Adorno-Schüler Habermas knüpfen immerhin zwei Beiträge an: Nosthoff/Maschewski untersuchen mit einem brandneuen Habermas-Text „Plattformökonomische Öffentlichkeiten“, denen der Nestor der kommunikativen Vernunft „höchst ambivalente und möglicherweise disruptive Auswirkungen auf die politische Öffentlichkeit“ zuschrieb. Die Fragmentierung des Publikums in emotionalisierte Teilöffentlichkeiten, Fakenews, Donald Trump und Gereiztheit plagen uns: „Kommunikation und Kontrolle bilden so das dominante wie dialektische Signum der Social-Media-Plattformen: Wer die Strukturen der Kommunikation kontrolliert, definiert auch die Strukturen der öffentlichen Sphäre“ (S.371f.). Nicht, dass nicht schon vor dem Start des WWW, aus dem die Plattformen dann entsprangen, vor dem Zusammenfließen von panoptischer Kontrolle und Verhaltenssteuerung gewarnt worden wäre: Das von mir seit 1996 empfohlene Gegengift eines „Inversen Panoptismus“, einer Umkehrung der Kontrolltechnologie gegen die Machtzentren, scheint den akademischen Autoren wohl zu radikal (Barth 1996). Keiner wagt es auf den 533 Seiten, die hier profilierteste Anti-Plattform auch nur zu erwähnen –Wikileaks und ihren wegen „Geheimnisverrat“ seit fünf Jahren inhaftierten Gründer Julian Assange.

Der zweite Habermas-affine Text ist von Evan Fisher: „Algorithmen und das Selbst“ (S.514-532) und beschließt den Band. Er untersucht die Rolle des Wissens in der Ko-Konstituierung von Mensch und Maschine, wobei Plattformen als „epistemische Medien“ analysiert werden. Mit Friedrich Kittler sieht Fisher Medien als Kulturtechniken, die Wissen über das Selbst schaffen, und dem Selbst in der öffentlichen Sphäre Selbstreflexion erlauben, so Habermas. Dessen emanzipatorisches Erkenntnisinteresse leitet Fisher aus der Psychoanalyse her und verfolgt es bis in die heutige Medienwelt der Plattformen. Deren Algorithmen schaffen zwar Wissen über das Selbst, jedoch ohne Selbstreflexion wie die Psychoanalyse, die Habermas der kritischen Theorie zuordnet. So endet der Sammelband pessimistisch, wobei Fisher noch die Profit-Eigeninteressen der Plattformen unterschätzt und ihr User-Profiling als auf „quasi-freiwilliger“ Selbstbewertung sieht (S.528).

Andere Beiträge, wie jener von Felix Stalder belehren ihn jedoch eines Besseren und wenn alle versammelten Autoren den ganzen Band rezipieren und die Wissenslücken ihrer divergierenden Ansätze damit schließen würden, hätte die Debatte schon viel gewonnen. Es fehlten gleichwohl, wie in dieser Buchkritik ausgeführt, noch viele Erkenntnisse der Medienwissenschaft und aus den kritischen Diskursen der Netzkultur (-Wissenschaft). Etwa aus den Texten des -von keinem der Suhrkamp-Beiträge zitierten- Experten Geert Lovink, der es in den liberalen Niederlanden vom Aktivisten und Netzkritiker zum Professor für Kunst und Netzwerkkulturen brachte. Lovink sieht uns „In der Plattformfalle“ und plädiert seit Jahren für eine „Rückeroberung des Internets“, dabei warnt er spöttisch:

„Man sollte sich nicht in pedantischen Übungen verlieren, um akademische Territorien mit ihren Kanons und Methoden zu definieren und zu verteidigen… Wir sollten die momentane Leichtigkeit annehmen und uns über die Verwirrung unter jenen amüsieren, die versuchen, ‚Digitalisierung‘ zu kartieren.“ Lovink 2022, S.29

Nicht Marx, aber Marxisten ignorieren Technologie

Vor über 20 Jahren zeigte sich Mark Poster (1941-2012) erstaunt über das Ausmaß, in dem viele Marxisten dazu neigten, neue Technologien „fast vollständig zu ignorieren“. Diese nahmen an, dass der Kapitalismus den entstehenden Cyberspace, das Internet vollständig übernehmen würde. Poster fand das sehr überraschend, weil Marx doch stets darauf geachtet habe, die Art und Weise zu untersuchen, wie soziale Innovationen sowohl für bestehende Institutionen als auch in Richtung ihrer Infragestellung wirkten. Marx selber wäre sogar so weit gegangen, disruptiv-brutale Ereignisse wie die Zerstörung der indischen Baumwollindustrie durch britische Kolonialisten insofern zu begrüßen, als sie die historische Entwicklung zum Sozialismus fördern könnten. Das Misstrauen marxistischer Kritiker gegenüber dem Internet erschien Mark Poster daher übertrieben, besonders angesichts der Chancen progressiver Netzkultur in der Open-Source und Hacker-Szene. Sein Optimismus speiste sich aus dem, was damals als „Kalifornische Ideologie“ wegen Ignoranz gegenüber der sozialen Frage kritisiert und heute auch als Transhumanismus bezeichnet wird.

Es war die Zeit einer ersten Verbreitung von Unternehmens-Websites, gefolgt von Börsen-Hype und Dotcom-Crash 2001, als im Kampf um die Netzkultur noch vieles offen war. Für Marxisten war es damals jedoch schon offensichtlich, so Mark Poster, dass das Internet nur eine weitere Teufelei war, um die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer zu machen. Heute, nach der Durchsetzung des Plattform- oder Überwachungskapitalismus, müssen wir leider feststellen, dass die Pessimisten nicht völlig falsch lagen. Zwar hat sich die widerständige Netzkultur weiterhin gehalten, doch Dotcom-Konzerne stehen in der Öffentlichkeit und an den Börsen als Sieger da. Marxistische Kritik an der Plattform-Industrie leidet heute unter deren Ignoranz zwar nicht mehr gegenüber der Technologie selbst, aber gegenüber den sie betreffenden Diskursen. Technik- und Netzkritik, wie sie auf Netzphilosophie gepflegt wird, scheint in vielen Suhrkamp-Beiträgen leider eher unbekannt zu sein. Erst mit der Plattformkritik scheint hier eine Debatte eingesetzt zu haben, der aber marxistische Perspektiven punktuell durchaus nützlich sind.

Fazit

Leider kann der Sammelband trotz vieler herausragender Beiträge seine Versprechen nicht einlösen, vor allem nicht jenes, die „Verbindungen der disparaten Ansätze“ auszuleuchten. Schon die Gliederung in die Kapitel „Arbeit“, „Ökonomie“, „Politik und Öffentlichkeit“ sowie „Kultur und Subjekte“ überzeugte wohl nicht jeden. Abweichend davon benennen die Herausgeber:innen sie in den Titeln der Unterkapitel ihrer Einleitung „Produktivkraftentwicklung und Arbeit“, „Wertschöpfung und Ökonomie“, „Politische Regulation und Öffentlichkeit“ sowie „Kulturelle Regulation und Subjekte“. Zu Beginn der Einleitung findet sich zudem der noch weitgehender abweichende Vorschlag zur „Strukturierung des Feldes anhand der kapitalismustheoretischen Basiskategorien Produktivkraftentwicklung, Arbeit, Wertschöpfung, politische Regulation sowie Kultur und Subjekte“ (S.11).

Die nicht immer einsichtige Zuordnung der Beiträge zu diesen Kapiteln bzw. Kategorien sowie insbesondere das Fehlen editorischer Orientierungshilfen machen den Sammelband äußerst unübersichtlich. Am Ende des Buches findet sich lediglich eine Liste mit Textnachweisen für die sieben Beiträge, die keine Originalbeiträge sind. Es fehlen biographische Angaben zu den Autor:innen, Literaturlisten zu den Beiträgen, ein Schlagwort- oder wenigstens Namensregister. Es fehlt mithin alles, was der Leser gebraucht hätte, um wirklich Verbindungen der disparaten Ansätze ausleuchten zu können. Einen Überblick über die verwendete Literatur gewinnt man nur mühselig aus den weit über tausend Fußnoten. Bezugnahmen der Beiträge oder Autor:innen aufeinander sind seltene Ausnahmen, bleiben fast immer beim bloßen Namedropping -selbst bei der in den Leitmedien herumgereichten und daher schwer ignorierbaren Shoshana Zuboff. Die renommierte Havard-Professorin gehört mit ihrer Kritik des „Überwachungskapitalismus“ zu den am häufigsten zitierten Autor:innen im Sammelband, leider fast immer nur als inhaltsleerer Verweis auf das Problem der Überwachung (das damit oft als abgehandelt betrachtet wird). Eine lebendige Diskussionskultur, Diskurse und Debatten, für die es allein schon innerhalb der marxistischen Digitalisierungsforschung genügend Themenfelder gäbe, sucht man bislang offenbar weitgehend vergeblich.

Herausgeber:innen und Autor:innen des Sammelbandes

Die drei Herausgeber:innen, die selbst Beiträge liefern und gemeinsam die Einleitung verfassten, sind: Tanja Carstensen, Privatdozentin für Soziologie der LMU München und Koordinatorin des Forschungsverbunds Sorgetransformationen an der Universität Hamburg, Simon Schaupp, Gastprofessor am Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft am KIT in Karlsruhe und Oberassistent für Soziologie der Universität Basel, Sebastian Sevignani, Akademischer Rat für Soziologie der Schiller-Universität Jena. Weitere Beiträger:innen sind: Thomas Barth (mit dem Rezensenten weder identisch noch verwandt noch bekannt), Kean Birch, Andreas Boes, Florian Butollo, D. T. Cochrane, Jodi Dean, Ulrich Dolata, Emma Dowling, Marlen van den Ecker, Eran Fisher, Christian Fuchs, Helen Hester, Ursula Huws, Kylie Jarrett, Tobias Kämpf, Felix Maschewski, Oliver Nachtwey, Anna-Verena Nosthoff, Tilman Reitz, Sarah T. Roberts, Marisol Sandoval, Stefan Schmalz, Jan-Felix Schrape, Timo Seidl, Nick Srnicek, Philipp Staab, Felix Stalder, Johannes Truffer, Judy Wajcman, Jamie Woodcock.

Literatur

Barth, Thomas, Das inverse Panoptikum: Ein postmoderner Ansatz für die politische Informationsstruktur des Cyberspace, zuerst in: Informatik Forum, Nr.2 1996, S.68-71.

Barth, Thomas: Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft, Centaurus, Pfaffenweiler 1997.

Barth, Thomas: Die “Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace” und der Panoptismus der globalen Netze, in: Medienwissenschaft, Nr.4, 1999, S.402-407.

Bleicher, Joan Kristin: Internet, UVK (UTB), Konstanz 2010.

Bleicher, Joan Kristin: Grundwissen Internet, UVK (UTB), Konstanz 2022.

Carstensen, Tanja, Simon Schaupp und Sebastian Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus: Arbeit, Ökonomie, Politik, Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2023.

Poster, Mark: The Mode of Information: Poststructuralism and Social Context, Polity Press, Cambridge 1990.

Poster, Mark: The Second Media Age, Polity Press, Cambridge 1995.

Raeithel, Arne: Kommunikation als gegenständliche Tätigkeit, in: Knobloch, C. (Hg.): Kommunikation und Kognition, Nodus, Münster 1989, S.29-70.

Raeithel, Arne: Ein kulturhistorischer Blick auf rechnergestützte Arbeit, in: Wolfgang Coy et al. (Hg.): Sichtweisen der Informatik, vieweg, Wiesbaden 1992, S.125-139.

Raeithel, Arne: Selbstorganisation, Kooperation, Zeichenprozess: Arbeiten zu einer kulturwissenschaftlichen, anwendungsbezogenen Psychologie, Westdt.Vlg., Wiesbaden 1998.

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität, Suhrkamp, Berlin 2016.

Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus, Frankfurt/M. 2018.

-Siehe auch die etwas reißerische Polemik (der Kampf um Aufmerksamkeit ist hart) des Rezensenten auf Telepolis: Warum Marxisten die Digitalisierung nicht verstehen

03/14/24

Rezension Märzendorfer/Glasmeier: Eine Klavierzerlegung

Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier: smashed to pieces… Eine Klavierzerlegung / A Piano Dismantling, hg. v. Carsten Seiffarth, Textem Verlag, Hamburg 2023

Thomas Barth

Kunst und Philosophie suchen oft jenseits der Alltagswelt nach Erkenntnis: Wie Netzphilosoph Felix Stalder und Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein mit einer Performance zusammenhängen und was das mit Millenials, Snowflakes, Digital Natives und „Mr.Robot“ zu tun hat.

Der originelle Aktionskunstband funktioniert als Daumenkino im DIN-A-5-Format, das auf den rechten Seiten die De- bzw. umgekehrt Remontage des zerlegten Klaviers illustriert: Eine Performance von Claudia Märzendorfer. Die Bühne wird dabei statisch von oben aufgenommen, so dass man jeweils bis zu fünf Personen kommen, gehen und agieren sieht. Die ca. 75 Fotos zeigen die systematische Zerlegung des Instruments, bei der nur selten Schusswaffen, meist aber handelsübliche Werkzeuge, Schraubendreher, Zangen zum Einsatz kommen. Linker Hand finden sich begleitende und kommentierende Texte, insbesondere ein langer Essay von Michael Glasmeier, der den kunstgeschichtlichen Rahmen aufspannt –auch in englischer Übersetzung: „Das Buch markiert den Versuch, Kunstwerk und Bilddenken, Filmzeit und Lesezeit, Gegenwart und Geistesgeschichte in unmittelbaren Nachbarschaften reflektieren zu können.“ Prof. Glasmeier ist Kunsthistoriker, Lyriker und Ausstellungsmacher und befasst sich mit bildender Kunst, Musik, Sprache, Film, Fotografie sowie Komik, Subversion und Politik.

Neben der Bühne mit Motorroller und Klavier befindet sich, wie eingangs weitere Aufnahmen zeigen, eine seltsame Schreibmaschine auf einem Stapel Papier: Eine aus Tinten-Eis geformte Attrappe der vom Komponisten Arnold Schönberg erfundenen, aber nie gebauten „Notenschreibmaschine“, die langsam schmilzt und sich in die unter ihr aufgestapelten Notenblätter ergießt. Man ahnt: Es geht um Zeit, Musik, Mechanik und das Ringen des Menschen um Bedeutung in einer von Kultur überfluteten Welt.

In ihrem Videofilm smashed to pieces … (2018) zeigt die Wiener Künstlerin Claudia Märzendorfer die Zerlegung eines Klaviers in einem konzentrierten Live-Act, an dem acht Personen, Werkzeuge, ein Gewehr und ein Motorrad beteiligt sind. Im Gegensatz zu den zahlreichen Klavierzerstörungen – ein seit dem 19. Jahrhundert spezielles Sujet von Comedy bis zur Wiener Gruppe oder Fluxus – führt bei Märzendorfer der destruktive Akt zu stets neuen starken und überraschenden Bildfindungen und Tableaus.“ (Verlagstext)

Welt und Hand: Das Manual digitalisiert Sinnliches

Die Computertastatur, das magische Keyboard der Hacker, hat klangvolle Vorfahren in der Ahnenreihe der Tasteninstrumente. Orgel, Cembalo, das moderne Klavier digitalisierten Musik schon lange bevor Charles Babbage die erste Rechenmaschine montierte. Digitalisiert im weiten Sinne sind nach Felix Stalder Informationen, wenn sie mittels eines Systems diskreter Zeichen gespeichert werden (Stalder 2016, S.100): Bunte Scherben im Mosaik, Schriftzeichen oder eben Noten. Ab 1709, als der florentiner Instrumentenbauer Bartolomeo Cristofori (1655-1731) das Klavier erfand, werden den zarten Saiten der Muse die Noten virtuos eingehämmert. Als großbürgerliches Kulturmöbelstück, Prestige- und Kultobjekt besonders in Wien steht es, so meint Glasmeier, wie kein anderes Instrument für die KuK-Bourgeoisie und führt als Beleg Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin an. Deren Protagonistin rüttelte bekanntlich relativ vergeblich an den gesellschaftlichen Gitterstäben im bourgeoisen „Gefängnis ihres alternden Körpers“ -dem biopolitischen Dispositiv, dem das musisch-mechanische Dispositiv des Klavierkorpus zugeordnet ist (zit.n. Creutzburg S.37).

In Jelineks Roman wird das strenge Regime einer auf Status und Konkurrenz angelegten Klavierausbildung drastisch beschrieben. Die Versuche der Protagonistin, sich von der dominanten Mutter zu befreien und ihre erotischen Fantasien auszuleben, bleiben im zähen Normengefüge einer verkrusteten Gesellschaft stecken. Die masochistischen Neigungen der Klavierspielerin werden von Jelinek mit der Strenge der Musikausbildung durch ihre Mutter in Verbindung gebracht und lesen sich wie ein früher Beitrag zur Erziehungsdebatte, die später das Buch Battle Hymn of the Tiger Mother (2011) der US-chinesischen Autorin Amy Chua auslösen sollte. Gerade die autoritäre Erziehung zur klassischen Musik (Klavier und Geige) habe der Tiger-Mutter ermöglicht, so Chua, ihren beiden Töchtern Leistungswillen einzupauken.

Chua lieferte der neoreaktionären NRx-Bewegung in den USA Munition für den Kulturkampf gegen die angeblich übermäßig verhätschelte „Generation Snowflake“ der Millenials, auch Gen Y oder Digital Natives genannt. Deren von der 68er-Bewegungen geprägte Hippie-Eltern hätten ihren Nachwuchs in Watte gepackt und ihm ständig dessen Einmaligkeit (wie eine Schneeflocke) trotz tatsächlicher Mittelmäßigkeit versichert. Die neoreaktionäre Alt-Right-Bewegung beruft sich auf Film und Buch „Fight Club“, wo so benannte Snowflakes brutal zu Kämpfern umerzogen werden. A.N.Smith sieht als Reaktion der Kabelsender auf Annahmen über die Persönlichkeiten, Vorlieben und Verhaltensweisen von Millenials bzw. Snowflakes die TV-Serie „Mr.Robot“. Bei Mr.Robot steht ein Digital Native als Hacker im Mittelpunkt, der sich -was als Antwort auf „Fight Club“ gelesen werden kann- trotz psychischer Probleme und Sensibilität zu wehren versteht. Im deutschen Kino setzte sich Oskar Roehlers Film Tod den Hippies! Es lebe der Punk! mit der Problematik auseinander.

Im deutschen Diskurs wurde Chua unter dem Topos einer „Rückkehr des Rohrstocks„, d.h. von Zucht und Ordnung in der Erziehung diskutiert und fand konservative wie leistungsorientierte Anhänger (Springer-Zeitung „Die Welt„). Wenn sich in Märzendorfers Performance aggressive Impulse gegen das Klavier richten, erfüllen sie den Wunsch nach biopolitischer Rebellion und stehen überdies in langer künstlerischer Tradition. Das Backcover zitiert Emerson zweisprachig nach Musil:

Ralph Waldo Emerson 1857

»Die Dinge, die durch den Dunst von gestern
so gewaltig erschienen – Eigentum, Klima,
Erziehung, persönliche Schönheit und anderes
mehr, haben ihre Verhältnisse merkwürdig
verändert. Alles, was wir für fest hielten,
schwankt u. klappert …«

“The facts which loomed so large in the fogs of
yesterday,—property, climate, breeding, personal
beauty, and the like, have strangely changed their
proportions. All that we reckoned settled shakes
and rattles …”

Ralph Waldo Emerson (zitiert von / quoted by Robert Musil)

Im April 1959 hätten, so Glasmeier, die skandalisierten Künstler der Wiener Gruppe daher durch Fechtmasken geschützt (und, wie der Rezensent anmerken möchte, als Burschenschaftler maskiert) mit Beilen ein Instrument zerlegt. Friedrich Achleitner fuhr dazu mit einem Motorroller auf die Bühne, was 2018 von der destruierenden Claudia Märzendorfer referenziert wurde: Die Wiener Künstlerin Nicole Six durfte bei dieser Klavierzertrümmerung auf der Vespa vorfahren und zückte, weil Künstler sich gerne gegenseitig übertreffen, ein Gewehr, um mit zwei Schüssen ins geöffnete Piano den Reigen der Gewalt zu eröffnen. Danach erfolgt die systematische Demontage, einer Vivisektion am Instrument gleich -womit die Performance gleich noch symbolisch das beliebteste Mediengenre nachstellt: Den Fernseh-Krimi: Ein Schuss, ein Schrei und alles Weitere nach der Obduktion, bis das Kleinbürgertum vor der Mattscheibe am Ende den Übeltäter in Handschellen vom Polizisten abgeführt sieht und mit zwei Lektionen in den süßen Schlaf sinken kann: Fürchte deinen Nächsten, er könnte ein Mörder sein, und nur die Staatsgewalt steht zwischen dir und dem Chaos. Chaos verbreiten gerne Künstler als Bürgerschreck, wie z.B. auch Fluxus. Fluxus, die Künstlergruppe, der auch Nam June Paik angehörte (der bei Netzphilosoph Felix Stalder als Nestor elektronischer Medienkunst herbei zitiert wird), sprach einst vom Kampf gegen die Bürgermusik.

Lustvolle Zerstörungsorgien treffen schon seit Stummfilmzeiten gerne das Klavier, Resonanzmöbel und absoluter Klangkörper. Neben seiner pompösen Bürgerlichkeit wäre so das Instrument für anarchische Zweckentfremdung prädestiniert „…zumal die immense Spannung, die vor allem beim Flügel auf die Saiten ausgeübt wird, es trotz seiner eher behäbigen Erscheinung ständig im übernervösen Zustand kurz vor dem Zerspringen hält.“ (S.42) Futuristen, Dadaisten und kreative Musiker wie John Cage hätten sich daran ausgetobt.

Und der destruierte Mechanismus der kulturgeschwängerten Bourgeoisie lässt sich im mechanischen Remix sogar wie ein sphärisches Netz verspinnen: US-Künstler Terry Fox löste in den 1970er- und 80er-Jahren Klaviersaiten aus dem Korpus, um damit sein Atelier, Museen und Kirchen zu bespannen, bespielen und zur Resonanz zu bringen. Seine gesponnene Sphärenmusik erinnert an andere, intellektuell-paranoide Netze, die der Konspirationskünstler Mark Lombardi mit Tinte auf Papier zeichnete: Organigramme von Politik, Geheimdiensten und Finanzwelt, deren düstere Partitur unsere Netzgesellschaften mit ihren Netzen der Macht erfüllt (wie wiederum Netzphilosoph Felix Stalder darlegt).

Die Künstlerin arbeitet „mit Installationen, Film als Skulptur, Fotografie, Zeichnung, Klang und Text. Ihre Arbeiten verfolgen eine konzeptuelle Strenge und werden häufig in Schwarz und Weiß ausgeführt. Märzendorfer arbeitet mit analogen Techniken im Digitalzeitalter, beschäftigt sich mit Archiven und macht ortsspezifische Installationen.“ (Wikipedia)

Märzendorfers Aktionen schaffen dagegen ihre eigene Welt und Glasmeiers Kommentar spannt den Bogen über Johann Sebastian Bach, Kaiser Franz Josef, und Samuel Beckett bis zum Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, den er zitiert: „Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.“ (S.94)

Die feinen Mechanismen von Märzendorfers dekonstruiertem Klavier blieben in diesem Sinne „allein als Metaphern einer schöpferischen Taktilität präsent, die nunmehr auch ohne den Umweg über die schon von Shakespear erotisierten Tastatur an die Plastizität des Korpus selbst delegiert ist: …Es ist eine Tastatur, ohne die gerade in diesen Hochzeiten der Digitalisierung… überhaupt nichts läuft… (S.30)

How oft when thou, my music, music play‘st
Upon that blessed wood whose motion sounds
With thy sweet fingers when thou gently sway’st
The wiry concord that mine ear confounds…
William Shakespear, 128.Sonett

Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier: smashed to pieces… Eine Klavierzerlegung / A Piano Dismantling, hg. v. Carsten Seiffarth, Campo Bd.5, Textem Verlag, Hamburg 2023, 176 S., 18,00 Euro, ISBN: 978-386485-295-4 (siehe auch gekürzte Rezension auf socialnet)

Creutzburg, Astrid: Gewalt und Macht: Hierarchiestrukturen in den Romanen Elfriede Jelineks, unveröffentlichte Magisterarbeit, Hamburg 1992

Anthony N. Smith: Pursuing „Generation Snowflake“: Mr. Robot and the USA Network’s Mission for Millennials. In: Television & New Media, 24. Juli 2018 abstract

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016

02/26/24

Rezension – Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet

Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet. Perspektiven der Medien- und Kommunikationswissenschaft, München 2022

Rezensiert von Thomas Barth

Für jüngere Generationen hat es das Fernsehen als dominierendes Leitmedium längst abgelöst: Das Internet ist als digitale Parallelwelt aus dem Alltag vieler Menschen nicht mehr wegzudenken. Bleicher legt den Fokus auf medienhistorische und ästhetische Aspekte der Angebotsstrukturen des Internets und macht damit plastisch, wie das Netz seine Sogwirkung auf die Nutzer stetig erhöhte. Sie scheut dabei auch vor politisch heiklen Aspekten wie der staatlichen Unterdrückung der Whistleblower-Plattform Wikileaks und der juristischen Verfolgung ihres Gründers Julian Assange nicht zurück, bleibt gerade dort aber lückenhaft.

Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher lehrt am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg. 2009 veröffentlichte sie mit „Poetik des Internets: Geschichte, Angebote und Ästhetik“ eine der ersten geisteswissenschaftlichen Gesamtdarstellungen der Netzmedien, 2010 folgte die Kurzfassung „Internet“, die ihre „Poetik“ straffte und systematisierte. Mit dem vorliegenden Band folgt eine stark erweiterte und aktualisierte Fassung. Ein Vorwort, zwölf Kapitel mit je eigenen Literaturlisten und ein Fazit geben eine umfassende Übersicht. Die Orientierung erleichtern ein Register sowie eine vorangestellte „Zeittafel zu Meilensteinen der Entwicklung des Internets“: Von Vannevar Bush’s Memex-Modell 1945, dem ArpaNet 1969 und TCP/IP 1978, über den Start des WWW 1991 und das Vorgehen von Behörden gegen Wikileaks 2010 bis zur Google-KI AlphaGo und TikTok 2016 sowie der Umstellung der Newsfeeds von Facebook auf die Bevorzugung von Beiträgen der Nutzer 2018. Kapitel 1 „Was Sie vorher wissen sollten“ verweist kurz auf die rasante Dynamik der Internetentwicklung, die viele Details schnell überholen und stetig weitere Forschung erfordern wird, sowie auf die brisanten politischen Dimensionen und wachsende Kritik an netzbezogenen Entwicklungen, die sich etwa bei Shoshana Zuboff und ihrer Streitschrift gegen den „Überwachungskapitalismus“ (2018) zeigen.

Kapitel 2 „Einführung in Theorien, Forschungsschwerpunkte und Methoden“ widmet Zuboff gleich den (nach dem basalen Technikbegriff) zweiten der didaktisch knappen „Gut zu wissen“-Kästen, die im Buch Wichtiges einprägsam markieren (S.21). Nach Prosumer-Kultur, Medialität und Privatheit zeigt das Kapitel Bezüge der Netzkultur zum Posthumanismus und betont Donna Haraways „Cyborg Manifesto“, das 1985 die Hybridisierung von Mensch und Maschinenwelten vorwegnahm (S.26). Über Baudrillards „Simulakrum“ (Blendwerk) -Kritik bis zu Politik-, Wirkungs- und Nutzungstheorien führt Bleicher in ihre Darstellung ein.

Kapitel 3 „Internet: Infrastruktur, Lebenswelt und Medium“ zeigt das Internet als Lebenswelt und Kulturraum, als Medium mit neuen Sozialen Medien, warnt vor dem Wegfall der bisherigen „Gatekeeper“-Funktion der Leitmedien, die der Verbreitung von Fake News den Boden bereite (S.44). Kapitel 4 „Technische, ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen“ beginnt bei den Netzwerkstrukturen des Internets vom Darknet über Onlinemonopole etwa von Alphabet (Google), Meta (Facebook) und Amazon (S.53). Unter Verweis auf Zuboff kritisiert Bleicher deren Geschäftsmodell des Datenhandels bis hin zum Verkauf von Facebook-Daten an die Skandalfirma Cambridge Analytica (S.58). Sie verweist auf Regulierungsbestrebungen sowie die „Amateur:innenkultur als Gegenbewegung zur Ökonomisierung“ (S.61).

Im Kapitel 5 „Historische Entwicklung des Internets“ finden wir eine (zumindest in der deutschen Medienwissenschaft) selten kritische Darstellung der Sozialen Medien, in der die öffentlich nahezu tabuisierte Whistleblower-Plattform Wikileaks gewürdigt wird:

„2006 erfolgte die Gründung der Enthüllungsplattform Wikileaks mit dem Ziel der Veröffentlichung von Dokumenten, die der staatlichen Geheimhaltung unterliegen. Diese Dokumente und Videos verdeutlichten den Machtmissbrauch und die Verletzung von Menschenrechten. Aufgrund von Regulierungen ist seit 2010 ein Datentransfer zu Wikileaks nicht mehr möglich. Der Mitbegründer Julian Assange wurde juristisch verfolgt und flüchtete in eine Botschaft, in der er 2019 festgenommen wurde und noch Anfang 2022 in der Abschiebehaft auf seine Auslieferung wartete.“ (S.79) (Hier ist die Autorin offenbar leitmedialer Falschdarstellung aufgesessen: Wikileaks war auch nach den US-Angriffen 2010, die es kurzfristig lahmlegten, weiterhin aktiv. Zahlreiche weitere Enthüllungen wurden jedoch medial totgeschwiegen, unten mehr dazu).

Kapitel 6 zeigt „Ästhetik und Design des Internets“ Einflüsse von Medienkunst, Netzkunst und digitaler Bildästhetik, Webdesign, Seitenstruktur bis hin zu eingebundener Bewegtbildästhetik und Sound. Über Meme und Selfieästhetik, Mashup, Podcast und Online-Werbung zeigt Bleicher traditionelle Medieneinflüsse sowie neue Qualitäten der Netzmedien auf.

Ordnungsmodelle des Internets

Kapitel 7 „Ordnungsmodelle des Internets“ versucht das Kaleidoskop der Netzkultur zu systematisieren, wobei die technische Basis, Unternehmensstrukturen, Sortierungsprinzipien der Inhalte (Flow, Stream, Raster, Raum) sowie Navigations- und Distributionsmodelle dafür Ansatzpunkte liefern. Beginnend mit dem „Dispositiv Internet“, mit dem Knut Hickethier 1995 an Michel Foucaults Diskurstheorie anknüpfend die Angebotsstrukturen analysierte (S.110), über Hypertext und Hypermedia, die Distributionsmodelle der Plattformen bis zu den bedeutsamen Raummodellen.

Diese begannen mit dem Begriff des „Cyberspace“ aus William Gibsons SF-Roman „Neuromancer (1984), der eine „virtuelle Gegenwelt“ bezeichnete (S.119), die sich in von Avataren bevölkerten Online-Welten wie Second Life und den Kultur- und Spielräumen Sozialer Medien manifestiert.

Navigations- und Orientierungsangebote liefern Suchmaschinen, Spider, Crawler und Robots (Programme, die im Netz Inhalte, Quellen und Links erkennen und indizieren, S.126).

Die Kapitel 8-11 zeigen Angebotsschwerpunkte des Internet wie Information, Dokumentation, Wissen, Unterhaltung (Musikvideos, Comedy, Spiele, Sport, Pornografie), Kultur („Grenzgänge zwischen Fakten, Fiktion, Literatur, Theater, Kunst“) sowie den Angebotsschwerpunkt Werbung, PR, politische Kommunikation, Influencer:innen-Marketing. Dort warnt ein „Gut zu wissen“-Kasten vor Cookies und ihrem uns ausspionierenden Profiling: „Sie durchsuchen Festplatten der Nutzer:innen nach relevanten Daten über Interessen und Konsumverhalten. Auch Posts in sozialen Medien liefern Verhaltensdaten, die an werbetreibende Unternehmen verkauft werden (vgl. Zuboff).“ (S.175)

Kapitel 12 erörtert abschließend die „Nutzungs- und Wirkungspotenziale des Internets“ ausgehend von neuen Potentialen zur Nutzerpartizipation durch individuelle Medienproduktion im Internet. Die virtuelle Identitätskonstruktion im Netz erlaubt veränderliche Selbstkonzepte und als „posthumane Akteur:innen agieren und kommunizieren Bots, Trolle und Influencer:innen-Avatare“ (S.188). Ist das Internet der Öffentlichkeitsraum der digitalen Gesellschaft? Wenn ja, dann kein ungefährlicher: „Gezielte Desinformation etwa in Form von Fake News oder Verschwörungsmythen gilt als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Demokratie… Propagandistische, antidemokratische Bewegungen versuchen in sozialen Medien und Messengerdiensten wie Telegram durch gezielte Fake News (wie etwa kriminelle Aktivitäten von Flüchtlingen) die Demokratiefeindlichkeit der Bevölkerung zu fördern.“ (S.189) Auf der anderen Seite gibt es Ansätze zu E-Democracy und die „Weisheit der Masse“, die sich etwa bei Wikipedia entfaltet und im Sinne einer Informationsgesellschaft „den fast unbegrenzten Zugang ihrer Mitglieder zu Informations- und Wissensbeständen aller Art“ verspricht (S.194). Unter „Probleme der Globalisierung“ zeigt Bleicher die digitale Spaltung, die sozial benachteiligte Menschen, Länder und ganze Kontinente aus der Wissenskultur ausgrenzt; bezüglich der „Konflikt- und Problempotenziale des Internets“ warnt sie vor Wirklichkeitsverlust, Suchtverhalten, Manipulation, Urheberrechtsverletzungen, Datenhandel, Hass- und Onlinekriminalität. Sie beschreibt die politischen Probleme der Regulierung und verweist auf die Macht der digitalen Großunternehmen, Google lehne eine Regulierung etwa ab, neoliberale Politik habe deren Machtzuwachs gefördert: „Deregulierungen ermöglichten u.a. in Großbritannien und den USA die Ausweitung des digitalen Kapitalismus bei gleichzeitig wachsender sozialer Ungleichheit. Ideologien wie der Neoliberalismus erklären diese Ungleichheit durch individuelle anstelle von gesellschaftlicher Verantwortung.“ (S.199) Ökonomismus und eingeschränkte Regulierung zeitige nicht zuletzt auch Onlinekriminalität, was große Herausforderungen an die Medienethik bringe. Denn das Internet erweise sich als Katalysator gesellschaftlicher und kultureller Dynamik in der immer mehr dominierenden Digitalisierung unseres Lebens (S.205).

Diskussion

Joan Kristin Bleicher scheut wie schon in ihrer „Poetik des Internets“ nicht die Hybris, ein in rasanter Entwicklung prosperierendes Medienfeld in seiner Gesamtheit zu analysieren und übergeht auch kritische Themen nicht völlig. Eine breite Quellenrezeption geht zuweilen mit mangelnder Rezeptionstiefe einher, so scheint Bleichers Darstellung von Felix Stalders Theorie einer Kultur der Digitalität unzulässig verkürzend: Stalders Theorie sehe diese Kultur „auf Grundlage einer einheitlichen digitalen Speicherung“ (S.23). Stalder verwahrte sich jedoch in seinem Buch gerade gegen eine Fixierung der Perspektive auf die (digitalen) Technologien und Medien (siehe Rezension von T.Barth). Stalders Prinzip der Referenzialität, ein Kern der Kultur der Digitalität, mit Mashup und Remix als ästhetische Prinzipien, scheint Bleicher so sehr überzeugt zu haben, dass sie es gleich mit zwei „Gut zu wissen“-Textboxen zu „Mashup-Ästhetik“ würdigt (S.94, 104), aber ohne Referenz auf Stalder. Bleicher selbst zeigt Mashup virtuos auf Textebene durch Remix von Textschnipseln aus ihren beiden vorgängigen Internet-Monografien im vorliegenden Band. Der Hinweis etwa auf Donna Haraway „Die Neuerfindung der Natur“ fand sich in der „Poetik des Internets“ (Bleicher 2009) auf S.174 im Kapitel „Wirkungspotentiale“ unter Wissensgesellschaft; in „Internet“ (Bleicher 2010) taucht Haraway bereits im Eingangskapitel „Rahmenbedingungen und Funktionsweisen“ auf (S.10); in „Grundwissen Internet“ 2022 bringt es Haraway sogar auf eine „Gut zu wissen“-Box zu ihrem Cyborg-Manifesto im Kapitel „Theorien, Forschungsschwerpunkte und Methoden“ unter Posthumanismus (S.26) sowie auf eine Erwähnung im Kapitel „Infrastruktur, Lebenswelt und Medium“ unter Medientheorie (S.47). Besser lässt sich die von ihr beschriebene Mashup-Kombination von „Material zu neuen Bedeutungseinheiten“ (S.104) kaum demonstrieren.

Leider bleibt politisch Brisantes an wichtigen Punkten eher weichgezeichnet (vor allem verglichen mit Stalder), das Stichwort „Datenschutz“ fehlt im Register ebenso wie „Privatheit“ und „Propaganda“. Bleichers Darstellung von Wikileaks erweckt sogar den falschen Eindruck, die Plattform wäre 2010 „aufgrund von Regulierungen“ stillgelegt worden (S.79). Damals gab es Angriffe durch Geheimdienste auf Wikileaks, die aber nur zu zeitweise eingeschränkter Aktivität führten (vgl. Rueger 2011). In den Leitmedien wurden allerdings den medial gehypten Irak- und Afghanistan-Leaks folgende Enthüllungen verschwiegen. Auch die mediale Denunzierung von Assange lässt Bleicher aus, obgleich sie nach der Untersuchung von Nils Melzer (2021) als konstruierte Hetzkampagne gelten können: Der diffamierende „Vergewaltigungsverdacht“ gegen Assange erwies sich dem UNO-Experten Melzer nach als Justizintrige. Unscharf blieb auch der Cambrigde Analytica-Skandal: Bleicher erwähnt nicht, dass Donald Trump den Internet-Manipulationen zumindest teilweise seinen Wahlsieg 2016 verdanken dürfte. Auch Bleichers Verweise auf Zuboffs Überwachungskapitalismus sind ausbaufähig, dort liegt das Potential einer völlig neuen Palette von Ordnungsmodellen des Internets, die auf diverse und stetig wachsende Kontrollmöglichkeiten reflektieren.

Fazit

Das systematisch und didaktisch durchdachte Buch stellt zentrale Aspekte der Medialität des Internets umfassend dar. Im Fokus stehen Rahmenbedingungen, historische Entwicklung und Angebotsschwerpunkte, beleuchtet werden theoretische Fragen, Ästhetik, Nutzungs- und Wirkungspotenziale des Internets sowie Regulierungsansätze. Mit seinem einführenden Charakter richtet sich das Buch primär an Studierende der Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaften, aber auch an Interessierte anderer Fachrichtungen.

Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet. Perspektiven der Medien- und Kommunikationswissenschaft, utb, UVK Verlag, München 2022, 230 S., 26,90 Euro. ISBN: 9783825259099

Nils Melzer: Der Fall Assange. Geschichte einer Verfolgung, München 2021.

Gerd Rueger: Julian Assange -Die Zerstörung von Wikileaks, Hamburg 2011.

Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwchungskapitalismus, Frankfurt/NY 2018.

09/1/22
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Transhumanismus, Triefnase & Digitalisierung

Thomas Barth

Transhumanistische Aktivisten und Philosophen schwelgen in Visionen einer digitalen Zukunft. Das Paradies soll uns spätestens nach dem Upload in die Virtual Reality einer bewohnbaren Cloud erwarten, wenn unser Geist sich digitalisiert selbst simulierend im Himmelreich der Matrix wiederfindet. Doch hienieden warten einstweilen noch ein paar Hindernisse, besonders hierzulande, wo selbst das stinknormale Internet dem 16 bleierne Jahre währenden Merkel-Staat als „Neuland“ galt.

Das irdische Elend der Digitalisierung wie auch die Schwächen des cishumanen Mängelwesens Mensch zeigten sich am 4. Oktober 2019 im Tagungszentrum der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Die Kirche wollte den Transhumanismus erörtern und hatte neben dem Theologen Hoff dafür den Religionsphilosophen Professor Göcke und den „bekanntesten deutschsprachigen Transhumanisten“ Professor Sorgner eingeladen. Pech war, Sorgner kam stark vergrippt, Göcke stark verspätet, weil mit der offenbar fehldigitalisierten Deutschen Bahn.

Was ist der Mensch?

Was ist der Mensch? Was soll er glauben, worauf soll er hoffen? Diese Fragen bewegen Denker und Philosophen, Theologen wie Transhumanisten: „Der Transhumanismus geht davon aus, dass sich der Mensch als ein Produkt der biologischen Evolution auch selbstständig technisch bis hin zu einem neuen Mensch-Maschine-Wesen oder einer Cyberspace-Entität weiterentwickeln kann und sollte.

Der durchaus transhuman geneigte Göcke beginnt so die Einleitung zu seinem Buch „Designobjekt Mensch: Die Agenda des Transhumanismus auf dem Prüfstand“. Da kommt digitale Technologie wie gerufen, etwa als Hirn-Chip, als Big-Gene-Data, KI oder in fernerer Zukunft als virtueller Lebensraum ganz entkörperlichter Menschen (brain uploading). Bedeutsamer Zankapfel der Digitalisierung ist der Datenschutz, der nach Meinung Prof.Sorgners leider auch transhumanem Streben nach kybernetischer wie genetischer Verbesserung des Menschen im Weg steht.

Big-Data-Firmen lieben die Transhumanisten, wie etwa die Super-KI-Forscher des Machine Intelligence Research Institute , mehr als Datenschützer. Google etwa hat mit Ray Kurzweil einen prominenten Transhumanisten zum Forschungsdirektor gemacht, Tesla-Milliardär Elon Musk will mit seiner neuen Firma Neuralink Hirnimplantate entwickeln. Bei Facebook treibt Mark Zuckerberg persönlich transhumane Projekte voran, etwa die Worterkennung per Hirnscan. Das dabei angestrebte Brain-Diktaphon würde nebenbei dem maschinellen Gedankenlesen etwas näher kommen, das der NSA bei ihrer Totalüberwachung noch schmerzlich fehlt. Auch deutsche Transhumane scheinen Belangen der IT-Wirtschaft nicht abgeneigt, wie die Diözese Rottenburg auf oben erwähnter Tagung feststellen konnte.

Prof. Sorgner ließ es sich dort nicht nehmen, die Debatte mit einem Bonmot der IT-Industrie zu bereichern: „Daten sind das neue Öl!“ Unter dieser Parole hatte die Industrielobby bekanntlich versucht, die neue EU-Datenschutzverordnung zu torpedieren, wie eine Polit-Dokumentation zeigte. Aus Angst davor, die EU könnte von China digital abgehängt werden, tritt Sorgner dafür ein, ein europäisches Social-Credit-System nach chinesischem Vorbild einzuführen, inklusive einer personalisierten Dauerüberwachung der kompletten EU-Bevölkerung:

Warum es für uns keine realistische Position ist, die Datenerfassung zu unterlassen: Der zentrale politische Grund für eine umfassende Datensammlung ist, dass wir in einer globalisierten Welt leben und das Daten das ‚Neue Öl‘ sind, wie viele Experten betonen: Öl bedeutet Macht und finanzielles Florieren. Angesichts dieser Erkenntnis ist es keine realistische Option, keine personalisierten Daten zu sammeln… In China wird ab 2020 ein Sozialkreditsystem flächendeckend angewendet werden. Die Menge an digitalen Daten, die auf diese Weise erhoben wird, ist kaum zu unterschätzen. Je mehr digitale Daten verfügbar sind, desto mehr Macht und Geld kann realisiert werden. Europa dagegen hat Datenschutzbestimmungen institutionalisiert, die einer hilfreichen Erfassung digitaler Daten entgegenstehen.“ Prof. Stefan Lorenz Sorgner 

Damit wäre Sorgner wohl ein transhumaner Extremist, sogar aus Sicht der 2015 gegründeten Transhumanistischen Partei Deutschlands (TPD). Die pocht in den Leitlinien ihres Parteiprogramms Version 2.0 gleich an erster Stelle auf die Grundrechte der Menschenwürde und der informationellen Selbstbestimmung. Sorgner übergeht dagegen in seinem Redebeitrag den möglichen Einwand, dass blinde Gier nach Macht und Geld geradewegs in einen digitalen Totalitarismus führen könnte. Auch an seinem Buch mit dem reißerischen Titel „Transhumanismus: ‚Die gefährlichste Idee der Welt‘!?“ (2016), fällt auf, dass kaum Bedenken, Zweifel oder Kritik an Technologien vorkommen. Dabei haben insbesondere Eingriffe in das menschliche Gehirn eine dunkle Geschichte -man denke an Militär- und Geheimdienst-Projekte wie das Zimbardo-Experiment, LSD-Forschung, Gehirnwäsche oder MKUltra. Der Transhumanismus muss sich außerdem angesichts lobbyistischer Verfilzungen und enormer Geldsummen, die auf dem Spiel stehen, auch fragen, wer und warum ihn finanziert.

Thomas Hobbes und Bioshock

Hinter Sorgners transhumanem Bejahen des technischen Fortschritts, das geradezu von einer Euphorie in die nächste taumelt, verbirgt sich jedoch ein zutiefst pessimistisches Menschenbild: Der „Mensch als des Menschen Wolf“ des Frühaufklärers Thomas Hobbes, wie man es im „Bioshock“-Computerspiel in einer transhumanen Welt der Gen-Mutanten nachspielen kann. Dort werden individuell gestaltete Menschen zu einander bekriegenden Monstren in einer Gesellschaft, die nach den darwinistisch-libertären Grundsätzen von Ayn Rand konzipiert ist (so Weber in Weber/Zoglauer 2015 S.55,69).

Als Begründer der modernen politischen Philosophie empfahl Hobbes zur Überwindung der angeblich menschlichen Gewaltnatur den frühtotalitären Absolutismus eines staatlichen Leviathans. Angesichts einer Welt voller psychopathischer Wolfsmenschen ist eine an Ethik orientierte Lebenshaltung natürlich nicht ratsam, meint offenbar Sorgner, wenn er sagt:

Moralischer zu sein hingegen, ist ggf. nicht der zentrale Wunsch vieler Menschen. Überspitzt formuliert liegt dies meiner Meinung nach darin begründet, dass Moralität in der Regel im Interesse der nicht-moralischen Menschen ist und moralische Menschen eher ausgenutzt, ausgebeutet und unterdrückt werden.“ Sorgner 2016, S.62

Kritisch sieht Sorgner daher eine von manchen Transhumanisten geforderte gesetzliche Verpflichtung zum „moralischen Enhancement“ (und das ist fast die einzige Technikkritik im ganzen Buch). Dabei ist hier nicht ethische Bildung und Erziehung gemeint, sondern Moral etwa per Hirnimplantat oder Einflößung von Drogen, die analog zur Impfpflicht verordnet werden könnte. Das lehnt Sorgner ab. Aber nicht, weil ein Herumpfuschen an den höchsten Funktionen des menschlichen Gehirns unsere Gesundheit, Freiheit und Würde beeinträchtigen könnte, sondern -ganz im Sinne eines Bioshock-Rechtslibertarismus nach Ayn Rand- wegen des „globalen Wettbewerbs“:

Eine solche Regelung mag zwar praktisch nicht ausgeschlossen sein, jedoch erscheint sie mir in keinem Fall im politischen Interesse des betroffenen Landes zu sein, da ein Land mit einer besonders moralischen Bevölkerung im Kontext des globalen Wettbewerbs sicherlich nicht lange bestehen kann.“ Sorgner 2016, S.63

Janina Loh, die Sorgners „Metahumanismus“ in ihrem Buch „Trans- und Posthumanismus zur Einführung“ in einem kurzen Kapitel analysiert, mag diesen letztlich nicht als eigenständigen Ansatz anerkennen (Loh 2018, S.175). Auch Sorgners duales Theoriesystem von Kohlenstoff- bzw. Siliziumbasiertem Transhumanismus (womit er Bio- von Digitaltechnik trennt) lehnt Loh als zu schematisch und daher nur bedingt brauchbar ab (S.78).Aber Loh schreibt Sorgner auch zu, die von Transhumanisten prognostizierte Unsterblichkeit nur als „rhetorisches Mittel“ zu sehen (S.173), hat dabei jedoch evtl. überlesen, dass Sorgner Unsterblichkeit zwar für unmöglich erklärte, aber nur wegen eines in Milliarden Jahren drohenden kosmologischen Kollaps des Universums (Sorgner 2016 S.11, 2018 S.157).

Bis dahin könnte Sorgners extrem langlebiger (wenn auch im haarspalterisch-philosophischen Sinne nicht völlig unsterblicher) Transhumaner noch eine ganze Menge Neutrinos die Galaxis runterfließen sehen -und evtl. auch eine Revision der schließlich nur auf läppischen 200 Jahren Forschung basierenden Big-Bang-Theorie. Der Kritik am transhumanen Unsterblichkeitsstreben entgeht Sorgner mit seiner kosmologischen Scholastik aber nicht, der Frage nach sozialer Verantwortung hier und heute ebenso wenig.

Unsoziale Weapons of Math Destruction

Die Mathematikerin Cathy O‘Neil, die wirklich etwas von der Technik und dem Code dahinter versteht, fordert etwas mehr „moralisches Vorstellungsvermögen“, denn „Big Data-Prozesse kodifizieren die Vergangenheit und können nicht die Zukunft erfinden“ (S.276). Cathy O‘Neil spricht von Weapons of Math Destruction, also Mathe-Vernichtungswaffen (analog zu Massenvernichtungswaffen), warnt mit Blick auf Google, Amazon und Facebook davor, dass „Daten privatisiert und privat genutzt werden, um Profite zu erzeugen und Macht zu gewinnen“. Man müsse die Digitalisierung und ihre Algorithmen bändigen, indem man sie öffentlicher Aufsicht und die sie betreibenden Firmen mit „verpflichtenden Standards der Rechenschaftslegung“ staatlicher Regulierung unterwirft (S.308). Sie weist darauf hin, dass der Trump-Nestor „Steve Bannon, selbst während er gezielt daran arbeitet, das öffentliche Vertrauen in Wissenschaft zu untergraben, im Verwaltungsrat von Cambridge Analytica sitzt -einer politischen Datenfirma, die behauptet, sie habe Trump zum Wahlsieg verholfen…“ (S.313).

Heiße PR-Luft einer schmuddeligen Dotcom-Firma? Oder die üblichen Wahlmanipulationen im digitalen Kapitalismus, nur leider diesmal aufgeflogen? Manche KI-Kritiker sehen etwa in „lernfähigen neuronalen Netzen“, die aktuell als KI gepriesen werden, eine aufgeblasene Hype. Diese „KI“ wären eher „spreadsheets on steroids“ -Tabellenkalkulation auf Steroiden. So zitiert Schnetker in seiner Kritik der „Transhumanistischen Mythologie“, den DARPA-KI-Experten John Launchbury (Schnetker S.75). Cathy O‘Neil kritisiert die unsozialen Folgen des Einsatzes solcher „KI“ als klassistisch, rassistisch und sexistisch:

„Sie versprechen Effizienz und Gerechtigkeit, manipulieren dabei jedoch die höhere Bildung, verursachen zusätzliche Schulden, fördern massenhaft Gefängnisstrafen, prügeln bei jeder Gelegenheit auf die Armen ein und untergraben die Demokratie.“ (O‘Neil S.270)

Literatur

Göcke, B.P.: Designobjekt Mensch?! Ein Diskursbeitrag über Probleme und Chancen transhumanistischer Menschenoptimierung.“ In: Benedikt Paul Göcke/ Frank Meier-Hamidi (Hg.): Designobjekt Mensch. Der Transhumanismus auf dem Prüfstand. Freiburg i.Br.: Herder 2018, 117-152

Loh, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, Hamburg: Junius 2018

Loh, Janina: Transhumanismus: Den Menschen weiterentwickeln, um ihn besser kontrollieren zu können, Berliner Gazette 15.8.2017

O‘Neil, Cathy: Angriff der Algorithmen, München: Hanser 2017

Schnetker, M.F.J.: Transhumanistische Mythologie: Rechte Utopien einer technologischen Erlösung, Münster: Unrast 2019

Sorgner, S.L.: Transhumanismus: ‚Die gefährlichste Idee der Welt‘!?, Herder: Freiburg 2016

Sorgner, S.L.: Was wollen Transhumanisten? In: Göcke/ Meier-Hamidi (2018) 153-180

Weber, K. u. T. Zoglauer: Verbesserte Menschen: Ethische und technikwissenschaftliche Überlegungen, München: K.Alber 2015

11/16/12

Jörg Auf dem Hövel: Abenteuer Künstliche Intelligenz

Rezensiert von Thomas Barth

Jörg Auf dem Hövel: Abenteuer Künstliche Intelligenz, Discorsi Verlag

Der Publizist und Politikwissenschaftler Jörg Auf dem Hövel lädt seine Leser ein zu einem Abenteuer der utopisch-philosophischen Art: „Künstliche Intelligenz“ -ist so etwas möglich? Reich an Aphorismen, Anekdoten und philosophischen Betrachtungen über AI (Artificial Intelligence) schreibt er die Geschichte eines faszinierenden Gebietes, das schon lange SF-Autoren anregte. Denken wir an Kubricks Film „2001“: Dort wendet sich die AI als Bordcomputer eines Raumschiffes mörderisch wie Frankensteins Monster gegen die Astronauten. Auch Käptn Kirk von der Enterprise musste eine AI überlisten, bei Stanislaw Lem wächst in „Also sprach Golem“ die AI ihren Erfindern eher subtil über den Kopf und nimmt hinter ihrem Rücken interstellaren Kontakt zu ihres Gleichen in der Galaxis auf.

Jörg Auf dem Hövel ist sich dieser literarisch-utopischen Wurzeln bewusst, wenn er in Forschungslabors blickt und über die Zukunft intelligenter Automaten sinniert. Pioniere der AI wie Norbert Wiener, Alan Turing oder die Kommunikationtheoretiker Shannon&Weaver waren auf die Informationsverarbeitung der rationalen Intelligenz fixiert. Die ersten Schachcomputer erstaunten uns. Ein „General Problem Solver“ weckte große Erwartungen, die sich bei Transhumanisten zu einer neuen Heilslehre steigerten, aber auch bescheidenere Hoffnungen, dass de Rekonstruktion unserer Intelligenz schon bald weiter Fortschritte machen wird.

„Eine Maschine, die denkt, fühlt, redet und sich selbst erkennt – für die einen ein Menschheitstraum, für die anderen eine Horrorvision. Noch streiten sich die Wissenschaftler, ob wirkliche künstliche Intelligenz überhaupt jemals technisch realisierbar sein wird, und die Ergebnisse bisheriger Forschung fallen vor dem Hintergrund manch gewagter Vision noch bescheiden aus. Doch dies tut der Faszination an dem Thema keinen Abbruch. Denn die Wissenschaft von der künstlichen Intelligenz berührt das soziale, kulturelle und religiöse Selbstverständnis des Menschen.“ (Verlag)

Es geht um eine Disziplin, die trotz ihrer Fehlschläge von einer magischen Aura umgeben ist. Ende der 80er Jahre zeigte die AI deutliche Anzeichen einer degenerierten Wissenschaft, so der Autor, denn zu hoch waren die geschürten Erwartungen, schon bald menschliche durch elektronische Intelligenz ersetzen zu können. Die enormen Rechenleistungen ermöglichten Erfolge bei Expertensystemen, die aber trotzdem nur bessere Datenbanken blieben. Computer schafften es sogar Schachweltmeister ins Schwitzen zu bringen. Doch beim Einsatz in der banalen Alltagswelt der Straßenüberquerungen und etwa des Häkelns scheiterten die artifiziellen Superhirne gründlich. Selbst am am Massachusetts Institute of Technology (MIT) war man zunehmend frustriert darüber, dass die AI immer noch nicht in der Lage war, zügig eine Treppe zu überwinden und zum Einsammeln von ein paar Bauklötzchen Stunden brauchte. Doch man gab nicht auf.

Da ist zum Beispiel Rodney Brooks, ein MIT-Nestor der Künstlichen Intelligenz, der entwickelte ein völlig neues Konzept: Will man intelligente Maschinen bauen, muss die Kopplung zwischen Wahrnehmung und Handlung sehr eng gestaltet werden. Zuvor war man davon ausgegangen, dass der Roboter zunächst über ein inneres Weltmodell verfügen muss bevor er handeln kann. Brooks dagegen wollte diese „Kognitions-Box“, die man für unabdingbar hielt, einfach weglassen. Er plädierte für eine Rechner- und Roboterarchitektur, in der die einzelnen Elementarverhalten nicht mehr in einer Zentraleinheit verrechnet werden, sondern unabhängig voneinander ablaufen. Das Verhalten des Gesamtsystems ergibt sich aus der Kommunikation der Subsysteme miteinander, die gemeinsam je bestimmten Situationen bestimmte Interaktionsmuster zuordnen.

Es geht auch um die Verschmelzung von Mensch und Maschine mittels Nanotechnologie, doch hier befinden wir uns im Bereich der SF; Science und Fiction auseinander zu halten fällt manchen US-Autoren schwer. Dies gab schon den Ansätzen von Marvin Minsky, Hans Moravec und Ray Kurzweil ihre transhumanistische Würze, aber diskreditierte sie zugleich in der europäischen Wissenschaftlergemeinde. Seit den achtziger und neunziger Jahren lokalisierte man im Körper eine eigene Intelligenz -kann die von AI profitieren? Sind wir auf dem Weg zu einem AI-aufgerüsteten Supermenschen? Doch der Autor dämpft die überschießenden Hoffnungen (ohne sie ganz zu verwerfen).

Zum einen geht es um eine Wissenschaft, die nach Jahren der Höhenflüge auf den Boden der Tatsachen zurück gekommen ist; zum anderen blicken wir auf die Techno-Utopien einer Disziplin, die auf dem schmalen Grat zwischen techno-evolutionärem Fortschrittsglauben und, negativ ausgedrückt, inhumaner Überwindung des Menschseins wandelt. Ihr größtes Manko dabei: Bei allen Erfolgen der computer und neuro sciences weiß bis heute niemand, wie menschliche Intelligenz wirklich funktioniert. Unser Gehirn und seine Arbeitsweise bleiben bislang unerreichter Maßstab für Künstliche Intelligenz, die sich aber mit Informatik, Psychologie, Kognitions- und Neurowissenschaften hartnäckig weiter an Funktion und Struktur unseres Denkorgans herantastet.

Ein kluges und verrückt-geniales Buch, das auch verblüffende Perspektiven auf die Welt der Netze, Computer und AI eröffnet. (Rezension erschien zuerst auf InversePanopticon)

Jörg Auf dem Hövel: Abenteuer Künstliche Intelligenz, Discorsi Verlag, Hamburg 2002, 194 Seiten, 14 Euro, ISBN-13: 9783980733045