11/15/23

Brüssel: Aktivistischer Besuch

Petition gegen die Chatkontrolle überreicht

Konstantin Macher

Wir waren im Oktober mit Aktivist.innen der Kampagne „Stop Scanning Me“ aus 13 europäischen Ländern in Brüssel und haben Europaabgeordneten Unterschriften gegen die Chatkontrolle überreicht.

Stop Scanning Me-Kampagne

Im Rahmen der „Stop Scanning Me“-Kampagne (Übersetzt in etwa: Hört auf, mich zu scannen) hat unser europäischer Dachverband EDRi (European Digital Rights) die Reise von Freiwilligen aus ganz Europa zu einer Aktion im Europäischen Parlament ermöglicht. Drei Tage lang trafen sich Aktivist.innen aus Griechenland, Italien, der Tschechischen Republik, Österreich, Schweden, Finnland, Norwegen, Portugal, Dänemark, Rumänien, Deutschland, Spanien und Frankreich mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Wir sprachen über die Chatkontrolle (sogenannte CSA-Verordnung) und die schwerwiegenden Folgen, welche das vorgeschlagene Überwachungsgesetz für Menschen haben würde.

Zivilgesellschaft in Brüssel

Die Diskussionen im Oktober fanden vor dem Hintergrund der Veröffentlichung einer investigativen Recherche von europäischen Medienhäusern statt. Journalist.innen hatten aufgedeckt, dass Teile der Europäischen Kommission mit ihrem Gesetzesvorschlag zur Chatkontrolle Interessen einer KI-Lobby vertreten haben. Wenig später wurde außerdem bekannt, dass die für die Chatkontrolle zuständige EU-Innenkommissarin versucht hat, Druck auf kritische Regierungen auszuüben. Dafür soll sie Menschen anhand ihrer religiösen und politischen Ansichten auf Sozialen Medien gezielt mit Desinformation ins Visier genommen haben, um die öffentliche und politische Meinung in den Mitgliedstaaten zu manipulieren, in denen sich die Regierungen dem Gesetz widersetzen.

Angesichts dieser schockierenden Enthüllungen und vor der Abstimmung des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten (LIBE) des Europäischen Parlaments über den Chatkontrolle-Vorschlag war es besonders wichtig, der Zivilgesellschaft eine Stimme in Brüssel zu geben. Aus diesem Grund hat unser Dachverband EDRi einer Gruppe von Menschen ermöglicht, nach Brüssel zu kommen, um ihre Bedenken zu diesem Gesetz direkt mit ihren gewählten Abgeordneten zu diskutieren. Mit dabei waren sowohl erfahrene, als auch neue Aktivist.innen, die sich gemeinsam bei den Abgeordneten für den Schutz unserer Grundrechte eingesetzt haben.

Dabei gelang es unserer Gruppe, sich mit mehreren Dutzend Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu treffen. Viele der Abgeordneten zeigten sich alarmiert über die Risiken der Chatkontrolle und über die enthüllten Skandale der zuständigen Innenkommissarin Ylva Johansson.

Neben den Advocacy-Treffen, die wir mit den Abgeordneten des Europäischen Parlaments hatten, überreichten wir und die anderen Aktivist.innen die über 200.000 Unterschriften von Menschen, welche die Chatkontrolle ablehnen. Die Unterschriften wurden durch mehrere Petitionen gesammelt, z.B. in Europa von EDRi und in Deutschland von uns gemeinsam mit Campact. Darin bringen viele Menschen ihre Sorgen zur Gefahr durch die Chatkontrolle zum Ausdruck und fordern, Verschlüsselung zu schützen.
Zu den Abgeordneten, die die Unterschriften entgegennahmen und ihre Unterstützung für Verschlüsselung zum Ausdruck brachten, zählten Saskia Bricmont (Grüne/EFA), Patrick Breyer (Piratenpartei, Grüne/EFA), Tiemo Wolken (S&D) Birgit Sippel (S&D) und Alex Agius Saliba (S&D).

reblogged von https://digitalcourage.de/blog/2023/chatkontrolle-petition-bruessel

Mehr zur Chatkontrolle auf unserer Themenseite

11/11/23

eIDAS-Reform: Digitale Brieftasche_mit Ausspähgarantie

Jetzt steht es fest: Die europäische digitale Brieftasche kommt. Aus Sicht von Beobachtern bringt der im Trilog erzielte Kompromiss etliche Verbesserungen im Vergleich zum ursprünglichen Kommissionsentwurf. Bürgerrechtsgruppen und Datenschützer:innen warnen jedoch davor, dass Staaten durch die Wallet eine „panoptische Vogelperspektive“ erhielten.

09.11.2023 Autor Daniel Leisegang auf Mastodon

„Wir haben es geschafft“, jubilierte EU-Kommissar Thierry Breton. Und Nadia Calviño, die Vize-Premierministerin Spaniens, deren Land derzeit den Vorsitz im Rat der EU innehat, versprach, dass die Einigung zur eIDAS-2.0-Verordnung „den Bürgerinnen und Bürgern in der neuen digitalen Welt eine Identität geben und unseren Binnenmarkt vertiefen wird – zum Nutzen der Innovation, der Privatsphäre, der Sicherheit und der Europäischen Union“

Den lang erhofften „Deal“ schlossen EU-Kommission, der Ministerrat und das EU-Parlament am Mittwoch. In einem finalen politischen Trilog haben sie sich auf einen Kompromisstext geeinigt. Damit geht das größte digitalpolitische Projekt der Europäischen Union nun in die Phase der Umsetzung.

Die eIDAS-Reform legt das rechtliche Fundament für die sogenannte „European Digital Identity Wallet“ (ID-Wallet). Demnach müssen bis zum Jahr 2026 alle 27 EU-Mitgliedstaaten ihren Bürger:innen eine digitale Brieftasche anbieten, mit der sie sich dann on- wie offline und in fast allen Lebensbereichen ausweisen können.

Zwei Jahre Verhandlungen

Clemens Schleupner, Referent für Vertrauensdienste & Digitale Identitäten beim Digitalverband Bitkom begrüßt die Einigung: „ID Wallets können sowohl Kosten sparen, indem Identifizierungsprozesse – zum Beispiel bei Banken – schneller und kostengünstiger durchgeführt werden können. Grundsätzlich bieten ID Wallets eine Vielzahl von Möglichkeiten, die heute noch nicht vollständig abzuschätzen sind, und zwar branchenübergreifend.“

Den entsprechenden Verordnungsentwurf dafür hat die Kommission im Juni 2021 vorgelegt. Er soll die eIDAS-Verordnung aus dem Jahr 2014 reformieren, die den sicheren Zugang zu öffentlichen Diensten sowie die Durchführung von Online-Transaktionen und grenzüberschreitenden Transaktionen in der EU regelt.

Datenschützer:innen und Bürgerrechtler:innen kritisierten das Vorhaben von Beginn an aus zwei zentralen Gründen. Zum einen drohe die Reform eine technische Infrastruktur zu schaffen, die es theoretisch ermöglicht, EU-Bürger:innen on- wie offline massenhaft zu identifizieren und zu überwachen. Zum anderen könnten nicht nur öffentliche, sondern auch private Stellen – also etwa Unternehmen – die Wallet einsetzen und ihre Kunden damit potentiell umfassend ausspähen.

Einige der Risiken, die der Ursprungsentwurf barg, wurden im Zuge der zurückliegenden Verhandlungen minimiert oder ausgeräumt. Andere bestehen aus Sicht von Bürgerrechtler:innen weiterhin – und sind so groß, dass Kritiker:innen eindringlich vor einer Nutzung der ID-Wallet warnen.

Der gelöschte Super-Cookie

Über die fortbestehenden Probleme können die erzielten Verbesserungen nicht hinwegtäuschen. Zu Letzteren zählt vor allem die Streichung einer eindeutigen, dauerhaften Personenkennziffer (Unique identifier). Dieser „Super-Cookie“ hätte aus Sicht von Datenschützer:innen und Bürgerrechtler:innen geradezu zum Tracking und Profiling eingeladen. Eine solche Kennziffer soll nun nur noch optional bei grenzüberschreitenden Verwaltungsvorgängen zum Einsatz kommen.

Stattdessen sollen sich die Wallet-Nutzer:innen im Alltag allein mit ihren personenbezogenen Daten, einem Pseudonym oder einem sogenannten Zero Knowledge Proof (zu Deutsch: Null-Wissen-Beweis) identifizieren. Damit können die Nutzer:innen ihre Identität bestätigen, ohne persönliche Informationen über sich preiszugeben.

Allerdings hat die Identifizierung nach wie vor einen Haken: Denn das Recht auf Pseudonymität kann laut dem Kompromiss durch nationales oder durch EU-Recht eingeschränkt werden. Und der Zero Knowledge Proof findet sich im beschlossenen Kompromissentwurf nur als Forderung in den erläuternden Recitals (Erwägungsgründen) der Verordnung und stellt für die EU-Mitgliedstaaten damit keine Verpflichtung dar.

Schutz vor Diskriminierung und Verlinkung

Immerhin: Wer sich gegen den Einsatz der ID-Wallet entscheidet, soll keine Nachteile erleiden. Der Kompromissentwurf sieht – anders als der Kommissionsvorschlag – explizit einen Schutz vor Diskriminierung für Menschen vor, die sich gegen eine Nutzung entscheiden.

Jene, die die Wallet nutzen, sollen nachvollziehbar und transparent darüber bestimmen können, welche Daten sie etwa gegenüber sogenannte relying parties preisgeben und welche nicht. Diese vertrauenswürdigen Parteien, gegenüber denen Nutzer:innen ihre Identität bestätigen, müssen sich vorab in den jeweiligen EU-Mitgliedstaaten registrieren und darlegen, welche Daten sie zu welchem Zweck von den Nutzer:innen anfordern werden. Über ein sogenanntes Datenschutzcockpit können die Nutzer:innen einsehen, welche Daten von ihnen abgefragt und geteilt wurden – und gegebenenfalls Beschwerden einreichen.

Außerdem legt der Kompromiss fest, dass verschiedene Identifikationsvorgänge nicht miteinander verknüpft werden dürfen. Der Schutz der Transaktionsdaten war bis zum Tag der Einigung umkämpft. Transaktionsdaten zeigen an, wann, wie und wo Nutzer:innen die Wallet einsetzen, sie bilden also das konkrete Nutzungsverhalten ab.

Artikel 6a zufolge muss die ID-Wallet dafür „Techniken zur Wahrung der Privatsphäre ermöglichen, die die Unverknüpfbarkeit gewährleisten, wenn die Bescheinigung von Attributen keine Identifizierung des Nutzers erfordert.“ Konkret heißt das: Kauft eine Person also beispielsweise in dem gleichen Geschäft wiederholt Alkohol und belegt dabei mit ihrer ID-Wallet ihr Alter, dann kann das Unternehmen die unterschiedlichen Vorgänge nicht miteinander verknüpfen, um so das Kaufverhalten dieser Person über eine längere Zeitspanne zu tracken.

QWACS: Zertifizierte Unsicherheit

Mindestens ebenso umstritten waren auch die Vorgaben zu Zertifikaten. Bis zuletzt hatten die Trilog-Partner um Artikel 45 und damit um die Frage gerungen, ob die Verordnung Browseranbieter dazu verpflichten soll, bestimmte qualifizierte Zertifikate (QWACs) zu akzeptieren. Bereits Artikel 22 der bestehenden eIDAS-Verordnung verpflichtet Mitgliedstaaten dazu, vertrauenswürdige Listen von qualifizierten Vertrauensdiensteanbietern zu erstellen, zu führen und zu veröffentlichen. Der Kompromisstext sieht darüber hinaus vor, dass Browser die in dem Zertifikat bescheinigten Identitätsdaten „in einer benutzerfreundlichen Weise“ anzeigen, wenn diese eine bestimmte Webseite besuchen.

Zertifikate sollen im Internet die Authentizität, Integrität und Vertraulichkeit der Kommunikation sicherstellen. Sie werden in der Regel von sogenannten Trusted Root Certificate Authorities ausgegeben. Das sind Unternehmen oder Körperschaften, die Zertifikate nach strengen Prüfverfahren validieren, ausstellen und widerrufen. Diesen funktionierenden selbstregulierten Genehmigungsmechanismus umgeht die EU durch die staatlichen Listen – mit womöglich dramatischen Folgen.

Staatliche Behörden könnten, so argumentieren Kritiker:innen, die Zertifikate dazu missbrauchen, um Webseiten zu kompromittieren und so die Internetkommunikation potentiell aller EU-Bürger:innen auszuspähen. Länder wie Kasachstan, China und Russland haben dies in der Vergangenheit getan. Entsprechend alarmiert hatten sich sowohl Bürgerrechtsorganisationen, IT-Sicherheitsexpert:innen und Entwickler:innen im Vorfeld der gestrigen Entscheidung geäußert.

Der Kompromiss sieht zwar vor, dass Browseranbieter selbst darüber entscheiden können, auf welche Weise sie Domains authentifizieren und die Internetkommunikation verschlüsseln. Wörtlich heißt es in einer Ergänzung zum Recital 32 bezüglich QWACs: „Die Verpflichtung zur Anerkennung, Interoperabilität und Unterstützung qualifizierter Zertifikate für die Website-Authentifizierung berührt nicht die Freiheit der Webbrowser, die Sicherheit des Internets, die Domänenauthentifizierung und die Verschlüsselung des Internetverkehrs in einer Weise und mit der Technologie zu gewährleisten, die diese für am besten geeignet halten.“

Allerdings findet sich diese Ergänzung in den Erwägungsgründen der Verordnung, aus denen sich keine bindenden Rechtsfolgen ableiten lassen. Die Hoffnung ruht daher nun auf Browseranbietern wie Mozilla, die sich frühzeitig gegen QWACs ausgesprochen haben. Auch das Sicherheitsteam von Chrome kritisiert die Pläne der EU. Sie befürchten, dass ihnen mit den QWACs eine schwache Verschlüsselung aufgezwungen wird. Die Anbieter könnten nun dazu übergehen, jeweils zwei verschiedene Varianten ihrer Browser anzubieten: eine unsichere für die EU und eine intakte für den Rest der Welt.

Blankoscheck zur Online-Überwachung

Die eIDAS-2.0-Reform würde es staatlichen Behörden aber nicht nur ermöglichen, den Internetverkehr auszuspähen, sondern sie könnten theoretisch auch die Wallets ihrer Bürger:innen einsehen.

Technisch wäre dies leicht zu verhindern gewesen. Das EU-Parlament hatte in seiner Position zum Verordnungsentwurf gefordert, die Wallet so zu gestalten, dass Transaktionsdaten nicht zentral erfasst werden. Der nun vereinbarte Kompromiss sieht nur eine logische Trennung dieser Daten vor. Mit den entsprechenden Befugnissen ist ein Zugriff und damit eine Zusammenführung der Daten theoretisch möglich.

Thomas Lohninger von der Bürgerrechtsorganisation epicenter.works zieht daher ein negatives Resümee der gestrigen Einigung: „Leider war der Zeitdruck der Verhandler am Ende stärker als ihre Sorgfalt. Bei diesem wichtigen Thema könnten wir das noch alle bereuen.“ Trotz der Verbesserungen, die in den vergangenen Monaten erzielt worden seien, warnt Lohninger vor dem neuen System: „Alles was man darüber tut, kann von staatlicher Seite eingesehen werden. Nachdem die Wallet in allen Lebensbereichen eingesetzt werden soll, hat der Staat damit die panoptische Vogelperspektive auf alles, was die Bevölkerung mit der Wallet macht“, so Lohninger.

„Diese Verordnung ist ein Blankoscheck zur Online-Überwachung der Bürger und gefährdet unsere Privatsphäre und Sicherheit im Internet“, kritisiert auch Patrick Breyer, Abgeordneter der Piratenpartei im Europäischen Parlament. „Dieser Deal opfert unverzichtbare Anforderungen im Verhandlungsmandat des Europäischen Parlaments, die die ID-Wallet datenschutzfreundlich und sicher gemacht hätten.“

Eine Wallet für alle EU-Bürger:innen bis 2030

Diese Befürchtungen lassen sich im weiteren legislativen Prozess wohl kaum noch ausräumen. Nach der gestrigen Entscheidung wird es noch ein „technisches Treffen“ geben, wo der Kompromisstext juristisch bereinigt wird. Wesentliche Änderungen sind dabei nicht mehr geplant.

Im Anschluss daran werden Rat und Parlament die Verordnung formell verabschieden. Der Rat tut dies planungsgemäß noch im Dezember dieses Jahres; das Parlament stimmt voraussichtlich am 28. November im ITRE-Ausschuss und im Februar 2024 im Plenum ab. Die Verordnung könnte dann frühestens im nächsten Frühjahr in Kraft treten. Bis zum Herbst 2026 müssten alle Mitgliedstaaten ihren Bürger:innen dann eine ID-Wallet anbieten. Geht es nach der Kommission sollen alle EU-Bürger:innen bis 2030 über eine digitale Identität verfügen.

Parallel zum legislativen Entscheidungsprozess werden aber noch etliche technische Fragen geklärt. Hier lassen sich möglicherweise noch einige der offenen Schlupflöcher schließen. Fest steht bereits, dass die ID-Wallets der jeweiligen Mitgliedstaaten auf der gleichen technischen Architektur (Architecture Reference Framework) basieren sollen, um so EU-weit genutzt werden zu können. Die Details dafür erarbeitet eine technische Arbeitsgruppe.

Der Bundestagsabgeordnete Markus Reichel (CDU) blickt mit Spannung auf deren Tätigkeit in den kommenden Monaten und erwartet von der Bundesregierung ein starkes Bekenntnis zum Datenschutz: „Ohne die explizite Einwilligung des Nutzers, sollten keine Daten geteilt werden können. Genau dafür muss sich die Bundesregierung in den Verhandlungen einsetzen. In der technischen Umsetzung muss die Unbeobachtbarkeit und die Unverknüpfbarkeit der Nutzungsdaten großgeschrieben werden“, so Reichel. Der Erfolg der Wallet hänge von der Sicherheit und dem Datenschutz ab. „Umso wichtiger ist es, diesen für sichere digitale Identitäten auch in der Architektur zu gewährleisten“, sagt der Abgeordnete.

Auch Clemens Schleupner vom Branchenverband bitkom erhofft sich noch Verbesserungen: „Es gibt noch zu viel Interpretationsspielraum für die Mitgliedsstaaten bei technischen Ausgestaltungen wie zum Beispiel bei der Frage, ob nur der Staat oder auch die Privatwirtschaft Wallets herausgeben darf.“ Langfristig könne die europäische digitale Brieftasche den Anstoß dafür geben, verschiedene Sektoren konsequent zu digitalisieren, vor allem die Verwaltung. -von Netzpolizik.org-

10/29/23
CC-by-sa-Gnsin

Transhumanismus & Netzphilosophie

Thomas Barth

„Ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa – das Gespenst des Transhumanismus. Seine Priester und Auguren haben bereits prominente Forschungslaboratorien, Universitäten, globale Unternehmen und politische Institutionen besetzt.“, warnte 2017 die NZZ und hatte damit nicht ganz unrecht. Einige transhumanistische Stimmen wollen heute offenbar einer hemmungslosen Digitalisierung den mühsam erkämpften Datenschutz aus dem Weg räumen.

Der Biologe und überzeugte Eugeniker Julian Sorell Huxley prägte 1951 den Begriff “Transhumanismus” im Aufsatz New Bottles for New Wine und setzte sich zugleich als erster UNESCO-Generalsekretär und bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für humanistische Werte ein. Julians Bruder Aldous Huxley warnte dagegen schon 1932 in seiner Babies-in-Bottles-Dystopie “Schöne neue Welt” vor einer Zukunft mit biologisch fabrizierter Drei-Klassen-Gesellschaft: Genetische oder technische Intelligenzsteigerung hatte schon immer ihre Fans und gehört heute zu den Hoffnungen der neuen Bewegung.

Viele erinnern sich dabei an die LSD-selige SMILE-Revolution (Space Migration, Intelligence Increasement, Life Extension) des „Exo-Psychologen“ Timothy Leary und sei es nur aus den Pop-Conspiracy-Bestsellern von Robert Anton Wilsons Auge-in-der-Pyramide-Zyklus. Bereits im 19.Jahrhundert brachte Auguste Comte, Begründer von Soziologie und Positivismus, eine vom Fortschritt berauschte Bewegung zusammen, in der man sich z.B. von der Medizin beträchtliche Verlängerungen der Lebenszeit, wenn gar nicht Unsterblichkeit erhoffte.

Heute verstehen sich Transhumanisten als Teil einer Bewegung, die vom „Posthumanismus“ abzugrenzen ist, der nicht den Menschen selbst, sondern als eher theoretische Richtung das Menschenbild des Humanismus überwinden will. Dieses wird, anknüpfend etwa an Michel Foucault  und andere Postmoderne, mit Schattenseiten der Moderne in Verbindung gebracht: Etwa psychiatrische Entmündigung, Sexismus, Rassismus, Kolonialismus, Totalitarismus usw. Der Transhumanismus reflektiert diese Schattenseiten eher nicht, steht sogar teilweise zu tradierten humanistischen Werten und will sie auf „verbesserte Menschen“ (Enhancement), Cyborgs und Künstliche Intelligenzen ausweiten (Janina Loh 2018).

Wie religiös ist der Transhumanismus?

Die Philosophin und Theologin Anna Puzio legte aus Sicht der philosophischen Anthropologie 2022 eine scharfe Kritik des Transhumanismus (TH) vor und fragt: Wie verändern sich Mensch und Körper durch Technik und welches Menschenverständnis resultiert daraus für den TH? Als Ziele des TH markiert sie Perfektionierung, Kontrolle und Macht und ein Menschenbild, das zentral auf Information basiert. Dieses reduktionistische Menschenbild lasse den TH in die Nähe der Eugenik geraten und enthülle im TH prototalitäre Aspekte einer Ideologie, die sie mit dem Nationalsozialismus vergleicht. In scharfer Abgrenzung zum TH, aber in überraschend affirmativer Haltung zur technologischen Selbstoptimierung, entwickelt Puzio ihre Technikanthropologie mit Bezug auf den kritischen Posthumanismus und Donna Haraway.

Wie sieht Puzio das Verhältnis zur Religion: Im TH stechen zwar „religiöse Semantik und eine Fülle an religiösen Motiven“ hervor, etwa Unsterblichkeit, ewiges Leben, Heilsvorstellungen, die Beseitigung von Leid, die Möglichkeit eines entkörperlichten Daseins. Doch der Religion wird vom TH, der sich von ihr abgrenzen will, auch mangelnde Vernunft, Intoleranz und Unwissenschaftlichkeit vorgehalten (S. 54).

Die Ziele des TH verbergen sich teilweise hinter religiöser Motivik, von „gottähnlichen Fähigkeiten und himmlischen Zuständen“ reden und „paradiesische Klänge“ anschlagen, „auch wenn sich ihre Vorstellungen von denen der Religion sehr unterscheiden“ (S. 232). Anstelle einer unsterblichen Seele im Himmel trete bei einigen TH-Richtungen der „Upload“ des Geistes als Programmcode in den Computer, was Puzio als Gipfel einer Körperabwertung sieht. Der TH seinerseits bringe jedoch Körperabwertung mit Christentum und Platonismus in Verbindung, von denen er sich abzugrenzen sucht: „Die transhumanistische Sicht auf den Körper wird als harmlos abgetan, wenn Hughes sie z.B. mit Praktiken der ‚Abtötung des Fleisches‘ vergleicht: der ‚Selbstgeißelung im Katholizismus‘, der Selbstkastration in frühen griechischen und christlichen Sekten…“ (S. 258). Andere TH-Bestrebungen zielen dagegen auf die fleischliche Perfektionierung sexueller Lust zu ungekannter Ekstase transhumaner „superpersonen“: So „werde eine ’superperson‘ neue Geschlechtsorgane und mehr sexuelle Möglichkeiten mit sich bringen. Eine weibliche ’superperson‘ werde beispielsweise über mehrere Körperöffnungen verfügen“ (S. 260). Hier sieht Puzio „Vorstellungen von Männern für Männer“ und eine Instrumentalisierung des Körpers (S. 261). Aber letztlich konkretisiere sich das Menschenverständnis des TH als Anthropologie der Information, der eine metaphysische Essenz zugesprochen werde: „Die Information konstituiert im TH das Wesen des Menschen. In gnostischer Motivik soll der reine Geist vom stofflichen Körper befreit werden, der aber im TH nicht mehr Pneuma ist, sondern ‚pure Form‘, substratunabhängige Information“ (S. 266).

Ist der Transhumanismus totalitär oder neoliberal?

Die Ziele des TH sieht Puzio im Streben nach Perfektionierung, Kontrolle und Macht, die sich hinter Visionen einer „Steigerung des gegenwärtigen menschlichen Daseins“ (S. 231) verbergen. Der „Supermensch“ des TH, er könnte dem NS-Begriff vom „Übermenschen“ nahestehen? Mit der Frage: „Der Transhumanismus -eine Ideologie?“, folgt Puzio der Totalitarismus-Theorie Hannah Arendts und findet „protototalitäre Aspekte“ im TH: „Für den Nationalsozialismus bedeutet das beispielsweise, dass »nichts ›logischer‹ und konsequenter ist, als daß man […] parasitäre Rassen oder dekadente Völker eben auch wirklich zum Absterben bringt.« Der TH ist nicht in der Position, seine Visionen in Gesellschaft und Politik voll umzusetzen. Dennoch gilt auf diese Gefahr, auf die Arendt aufmerksam macht, auch hinsichtlich des TH wachsam zu bleiben. Denn denkt man die transhumanistischen Gedanken zu Ende und zieht daraus strikte Konsequenzen, dann gilt auch hier das Recht des Stärkeren, des ökonomisch Gewinnbringenden, des Produktiven oder der Maschine“ (S. 275f).

Diese Ideologie-Kritik am TH ist vielleicht etwas zu eng auf Arendts Totalitarismus-Theorie begrenzt, vergleicht den TH i.d.S. mit Stalinismus und vor allem der NS-Ideologie. Die heute nach Ansicht vieler Gesellschaftskritiker westliche Länder dominierende Ideologie ist aber der Neoliberalismus (vgl. z.B. Reimer 2023). Dieser formt maßgeblich Gesellschaft und Technologien eines Digitalen Kapitalismus, der tief in Alltag und Leben der Menschen hineinwirkt. Der Neoliberalismus wird leider nicht erwähnt, obwohl er starke Bezüge zu digitalen Technologien und Medien aufweist und mit dem TH u.a. Ziele der Optimierung, Kontrolle und Macht teilt.

Puzios engagierte Kritik am Transhumanismus und seinen teilweise überschießenden Visionen kontrastiert mit einer tendenziellen Kritiklosigkeit gegenüber heutiger Techniknutzung und Gesellschaft, so dass sich die Dissertation stellenweise fast wie ein Werbetext liest wenn Puzio schreibt: „Das neuste Model (Apple Watch 6) ermittelt sogar den Blutsauerstoffgehalt. Da sie den Schlafrhythmus erfasst und wasserfest ist, muss sie gar nicht mehr abgenommen werden. Mit der Apple Watch können Fitnessziele gesetzt und erreicht werden (…) Die Bewegungsaktivitäten lassen sich teilen, sodass man mit seinen Kontakten in einen Wettbewerb treten kann.“ (S. 306) Fraglich scheint, ob es sich dabei, wie Puzio meint, wirklich um autonomieförderliche „Technologien des Selbst“ handelt oder eher um eine (andernorts von ihr kritisierte) Kommerzialisierung des Körpers -die hier zudem mit einer neoliberalen Ideologie des Wettbewerbs unterlegt ist.

Puzio berichtet, wie vornehmlich junge Frauen heute eine Schönheits-OP unter Vorlage eines mit digitalen „Filtern“ aufgehübschten Selfies anstreben und wie auf Instagram Abmagerungswettbewerbe ein besonders knochiges Schlüsselbein belobigen. Doch auf die dort und in anderen „Social Media“-Plattformen epidemische Anorexie geht sie nicht ein. Kritikwürdig scheint ihr offenbar auch nicht, dass im Rahmen künftigen digitalen „social engineering“ Probleme wie „Finanzcrash, Klimaschutz oder revolutionäre Bewegungen“ unter Kontrolle gebracht werden sollen (S. 312). Dass hier Ökologie, Finanzregulierung und politische Unterdrückung technokratisch auf eine Stufe gestellt werden, scheint etwas problematisch. Doch soweit können wir Anna Puzio wohl ohne Probleme zustimmen: Der Transhumanismus folgt Zielen der Perfektionierung, Kontrolle und Macht und zeigt dabei zumindest bei einigen seiner Protagonisten ein reduktionistisches Menschenbild sowie prototalitäre Aspekte einer Ideologie -die aber auch Neoliberalismus heißen könnte.

Loh, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, Hamburg: Junius 2018.

Anna Puzio: Über-Menschen. Philosophische Auseinandersetzung mit der Anthropologie des Transhumanismus. transcript (Bielefeld) 2022.

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. PapyRossa Verlag (Köln) 2023.

10/12/23

Ideologiekritik: Neoliberalismus – Reimers „Der absurde Kapitalismus“

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Rezension von Thomas Barth

Kann der Marxismus heute noch zu einer Kritik der Netzgesellschaften beitragen? Jürgen-Michael Reimer meint ja und legt eine philosophisch-politökonomische Analyse der Absurdität unseres digitalisierten Kapitalismus vor. Bei Marx, Adorno und Camus sucht er nach Antworten für unsere Krise und deren Unsichtbarkeit in Medien, Netzen und Denken.

Bestellen wir die Apokalypse bei Amazon?

Immer wieder, so Reimer einleitend, tauche in Gesprächen über die Klimakrise ein absurder Gedanke auf: Wir könnten uns heute in unseren westlichen Gesellschaften zwar das Ende der bewohnbaren Welt vorstellen, nicht aber das Ende des Kapitalismus. Thema des Buchs ist folgerichtig die Absurdität unseres Wirtschaftssystems, insbesondere des heutigen neoliberalen Kapitalismus. Der habe sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertige, er habe ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus habe er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruhe, und in diesem Sinne sei er absurd. Dieser Kritikansatz ziele nicht auf ethische oder moralische Verfehlungen des Neoliberalismus, sondern auf seine Dysfunktionalität.

Prof. em. Jürgen-Michael Reimer, studierte Sozialwissenschaften in Hamburg und Göttingen, lehrte „Human Ressource Management“ an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg und erweist sich im vorliegenden Buch als origineller Vertreter einer marxistischen Politökonomie auf der Höhe der Zeit was Digitalisierung, sogenannte „Soziale Medien“ und Plattformkonzerne wie Apple, Microsoft, Facebook, Google oder Amazon angeht.

Besagte Verheißungen, mit denen sich der neoliberale Kapitalismus rechtfertigt, erweisen sich Reimers Analyse als pure PR: Wohlstand für alle und Gerechtigkeit werden in absurder Weise konterkariert, Bildungs- und Gesundheitswesen ausgehungert, Natur und Klima verwüstet und selbst mit dem“ liberalen Markenkern“ der Freiheit ist es nicht weit her. Im Gegenteil, neoliberale Regime bedienen sich ausgiebig modernster digitalisierter Massenmanipulation: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen“ (S.93).

Es etabliere sich eine neoliberale „Marketinggesellschaft“, die auf großflächige Manipulation des Bewusstseins setze und uns mit kulturellen und affektiven Gütern abspeise. Digitale Plattformen stellen dabei etwa über Influencerinnen Märkte der Eitelkeiten und des Sozialprestige bereit, wo mit Selfies und Partnerbörsen um Aufmerksamkeit gebuhlt würde und Luxusgüter immer größeren Raum einnehmen. „So treffen zwei unvereinbare Imperative -Lohnverzicht und unbegrenzter Konsum- im Individuum aufeinander. Das große Paradox!“ (S.102) Ergebnis sei sich ausbreitende Entfremdung, die zunächst klassisch marxistisch erläutert und dann auf den Neoliberalismus bezogen wird: „Auch das Absurde lässt sich als Entfremdung deuten“ (S.108) Die „Auswüchse des auf Algorithmisierung beruhenden digitalen Kapitalismus“ sieht Reimer schon bei Horkheimer/Adorno und ihrer „Dialektik der Aufklärung“ vorausgeahnt.

Der neoliberale Kapitalismus hat sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertigt, er hat ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus hat er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruht. In diesem Sinne ist er absurd. Die in dem Essay entfaltete Kritik am Neoliberalismus ist funktionalistisch und macht diesen als interessengeleitete Ideologie kenntlich.“ (Klappentext, PapyRossa Verlag)

Die Entwicklung des Geistes des Kapitalismus in der vorindustriellen Zeit wird vom Reimer beginnend bei Aristoteles bis zu Marx, Weber und Sombart nachgezeichnet. Letzterer sah den Luxus als Bedingung der Entstehung des kapitalistischen Geistes, wobei mit Weber (protestantische) Askese als weitere Wurzel dazu gedacht werden muss. Die Vorgeschichte des Neoliberalismus wird in marxistischer Begrifflichkeit analysiert und als ihre Folge die Pervertierung heutiger Lebenswelt herausgearbeitet:

„Als seine zentralen Merkmale werden sowohl die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation als auch deren Ausuferung zu einer ‚gesellschaftlichen Grammatik‘ herausgestellt, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränkt.“ (Klappentext)

Neoliberalismus, Staatsverachtung und machtbesoffene Konzerne

Seit den 1970er und -80er Jahren trat der neoliberale Kapitalismus seinen Siegeszug an, da mit Überproduktion und Legitimationsverlusten Krisenerscheinungen zu überwinden waren. Diese wurden der Akkumulationslogik im Sinne des Nutzens einer kleinen Minderheit von Kapitaleignern immer gefährlicher. Bereits in der Ideologie des Kapitalismus verschleierte der Liberalismus die ökonomischen Kerninteressen dieser Minderheit mit dem hehren Wert der Freiheit. Die liberalen Wurzeln des Neoliberalismus zielen auf Marktfreiheit, die eine Reduktion staatlicher Macht ins Zentrum rückt. Milton Friedman habe vertreten, dass Freiheit da beginne, wo die Politik aufhöre. Hannah Arendt habe dem entschieden widersprochen, Freiheit sei der Sinn von Politik, den der neoliberal erstrebte „Minimalstaat“ (Hayek, Nozik) schwerlich einlösen könne.

Die Haupttugenden einer freiheitlichen Gesellschaft seien nach John Rawls, so Reimer, Wahrheit und Gerechtigkeit, wobei jeder gleiche Grundfreiheiten habe und wirtschaftliche Ungleichheit so zu gestalten sei, dass sie dem Gemeinwohl diene. Dem stehen die Doktrinen des Neoliberalismus entgegen, die ausgehend von der Mont Pèlerin Society (Hayek, Popper, Friedman u.a. 1947), 1973 in der Pinochet-Diktatur in Chile erstmals umgesetzt wurden. In USA und UK folgten Thatcher und Reagan diesem Beispiel und 1989 wurden im Washington Consensus die neoliberalen Leilinien festgelegt, an denen sich auch IWF, WTO und Weltbank orientiert hatten: Reduktion der Staatsquote, Steuersenkung, Privatisierung von Staatsbetrieben, Deregulierung vor allem der Finanzmärkte, Investorenschutz. Diese Doktrinen finden sich in Austeritätsprogrammen im Euroraum unter Stichworten wie Fiskalpakt, Schuldenbremse, Privatisierung. Neoliberaler Marktradikalismus und Antikollektivismus (wurzelnd in der antikommunistischen McCarthy-Bewegung der USA) laufen damit auf eine Schwächung des Staates hinaus, deren Hauptmethode die Privatisierung sei. Zu ihrer Rechtfertigung diene die Krise der Staatsfinanzen, deren Ursache nicht in neoliberalen Steuersenkungen gesehen, sondern als „Demokratieversagen“ umgedeutet werde.

Die unermüdliche Lobbyarbeit des neoliberalen Kapitals ziele hierzulande vor allem auf die Privatisierung von Post, Verkehr, Bildung, Gesundheit, Wohnen und Daseinsvorsorge. Der Ausverkauf des Staates erfolge auch durch ppp (public privat partnership -eine Erfindung der bereits vor der Jahrtausendwende zunehmend neoliberal agierenden Grünen in ihrer ersten Regierungsbeteiligung unter Schröder. Manipuliert werde durch subtiles deep lobbying, etwa mit der Platzierung von Leihbeamten aus Privatunternehmen in Ministerien (hier waren ebendiese Grünen ebenfalls federführend und schufen Querverbindungen von Großkapital und Ökopartei-Spitzenpolitiker:innen), staatlicher Beauftragung privater Berater, Formulierung von Gesetzen durch Anwaltskanzleien usw.

Die neoliberale Finanzialisierung der Märkte hätte etwa in Finanz- und Griechenlandkrise (2008 ff.) großes Unheil bewirkt, neoliberale Digitalisierung hätte unsere Daten in kognitive Güter verwandelt, Überwachung dabei die Freiheitsrechte ausgehöhlt (Zuboff) und Leitunternehmen wie Google, Apple, Facebook, Amazon wären inzwischen zu proprietären Märkten (in Privatbesitz) geworden. Der neoliberal regierte Staat habe die Besitzenden und Unternehmen „gepampert“, durch „mehrfache und deutliche Reduzierung des Spitzensteuersatzes der Einkommenssteuer. Die hätten sich durch immer weitergehende Steuervermeidung selbst der niedrigen Steuern bedankt, bis hin zu den „extremen Cum-Ex-Skandalen“, wo kriminelle Bereicherung die Staatskasse 10 bis 30 Milliarden Euro gekostet habe (S.80). Was den Autor zur Frage führt, wie lange wir uns den Kapitalismus noch leisten können.

Die Legitimierung und Einhegung wirtschaftlicher Macht durch demokratischer Prozesse sei im Neoliberalismus nicht erwünscht (der Leser wird an die erste Anwendung neoliberaler Dogmen in der Pinochet-Diktatur erinnert). Sogar die Märkte selbst gerieten bei digitalen Plattformkonzernen in das Eigentum des Kapitals. Folge sei eine Entmachtung der Arbeitnehmerseite im Wirtschaftsprozess, eine Senkung der Lohnquote im BIP und die Demokratisierung betrieblicher Entscheidungen „steht nicht einmal zur Diskussion“ (S.94).

Der Industriekapitalismus brachte bedeutende Treiber der Produktivitätssteigerung wie Arbeitsteilung, Massenproduktion und technische Innovationen, aber auch eine industrielle Reservearmee von Arbeitslosen. Deren Verdammung zur „unfreiwilligen Askese“ der Elendsviertel diene zur Disziplinierung der Arbeiterschaft. Diese Drohkulisse zeige sich bis heute im Neoliberalismus, etwa in der Programmatik des „Forderns und Förderns“ bei Hartz IV, die Verwerfungen des Arbeitsmarktes der Eigenverantwortung des undisziplinierten Subjekts zuschreibe. Global komme in einer Privatisierung der Macht (vgl. Krysmanski) es zugleich zum Übergang einer geopolitischen zu einer geoökonomischen Ordnung, deren neoliberales Finanzregime von OECD, IWF, WTO und Weltbank unter dem Schlagwort einer „global governance“ den Charakter einer „vierten, monetativen Gewalt“ annehme (S.47). Angesichts globaler Macht ist die Demokratie in Gefahr (vgl. Barth) und auch durch bis in die intimsten Bereiche der Lebenswelt vordringende digitale Technologien sind die Menschen heute einer absurden gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesetzt, deren Lebensperspektive sich für die Mehrheit auf ein zunehmend prekäreres muddling through beschränke (S.99). Absurd in einer Gesellschaft die unsagbaren Reichtum produziert, sich selbst für rational hält und Freiheit und Individuum zu ihren höchsten Zielen erklärt.

Soziale Medien, Propaganda, Konformismus

Eine vom Liberalismus proklamierte Freiheit werde für die meisten Menschen zur zynischen Illusion, die sich nur die oberen 20 Prozent in der steiler werdenden Einkommenspyramide noch wirklich finanzieren können. Menschliches Leben würde vielmehr zwischen wachsender Unfreiheit im digitalisierten Arbeitsleben, Konsumismus und unfreiwilliger Askese des Prekariats zerrieben. Der neoliberal gepriesene Wettbewerb bringe am Ende auf dem Markt nur wenige Sieger hervor: The winner takes all. Ein absurder Effekt, weil der Wettbewerb so seine eigenen Voraussetzungen zerstört. Besonders absurd sei der Glaube, der Markt könne die Gesellschaft mit heute öffentlichen Gütern versorgen. Der Markt habe keine Lösungen in den Krisen der Umwelt, der Pandemie, der Energieversorgung oder des Ukrainekrieges erbracht. (S.75) Bei Privatisierungen sei die Effizienzsteigerung nicht eingelöst worden, Leistungen wurden teurer, die Versorgung schlechter und in der öffentlichen Infrastruktur sei hierzulande ein Investitionsstau von 450 Milliarden Euro zu verzeichnen. Der neoliberale „Schlanke Staat“ sei in Wahrheit ein Ausverkauf des Staates zu Ramschpreisen gewesen. Staatliche Behörden sind zwar für Umweltschutz, Bildung, Gesundheitswesen zuständig, aber der Medien, Parteien und Öffentlichkeit dominierende Neoliberalismus untergrabe mit seiner Forderung nach dem Rückzug des Staates seine eigenen Grundlagen.

Ein absurder Trick des Neoliberalismus sei seine Selbstdarstellung als Verteidiger der Freiheit bezüglich tatsächlicher Machtausübung: „Neoliberale Argumentationen schweigen in der Regel die Macht des Kapitals tot, eine für Ideologien typische Form selektiver Wahrnehmung. Neoliberale Manager bzw. Kapitaleigner bestreiten häufig, Macht auszuüben. Sie geben vor, mit ihren Entscheidungen der invisible hand des Marktes zu folgen.“ (S.91)

Unseren Gehorsam sichern sich neoliberale Regime auch durch (zunehmend digitalisierte) Erziehung und Propaganda vor allem durch Mobilisierung von Voreingenommenheit: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen.“ (S.93)

Camus, das Absurde und die liberale „Freiheit“

„Die Vorstellungen zur Absurdität sind dem literarischen und philosophischen Werk von Albert Camus entlehnt. Bei ihm führt das Absurde, die Begegnung des sinnsuchenden Menschen mit einer sinnlosen Welt, nicht in eine hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr bietet das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“ (Klappentext)

Die manipulative Macht der neoliberale Ideologen veranlasst auch jene Menschen, die im Neoliberalismus benachteiligt werden, zu einer unbewussten und freiwilligen Unterwerfung. Die Entfremdung der Menschen wachse im digitalen Kapitalismus, den der Neoliberalismus entlang der Dogmen des Washington Consensus durchsetze. Im so durch wachsende Entfremdung immer absurderen Dasein der Menschen kann der Neoliberalismus die von ihm aufgerissene Lücke der Sinngebung nicht füllen. Mit dem existenzialistischen Philosophen und Schriftsteller Albert Camus könne man sich nur durch Bewusstmachung des Absurden auf Freiheit, Leidenschaft und Auflehnung besinnen, um die absurden Auswüchse des Neoliberalismus in demokratischen Prozessen zu thematisieren und einzuhegen.

Dies führe nach Camus jedoch nicht, so Reimer, in hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr biete das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Reimer will der Auflehnung ein Ziel geben und macht deshalb den Neoliberalismus als interessengeleitete Ideologie kenntlich. Deren zentralen Merkmale wären die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation sowie deren Ausuferung zu einer „gesellschaftlichen Grammatik“, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränken würde.

Eine Abkehr vom absurden Neoliberalismus wäre nur durch ergebnisoffene demokratische Diskurse möglich: „Dieser Diskurs darf aber nicht den Meinungsmachern im Dienst des Kapitals überlassen bleiben. Auf dem Weg dahin dürften sich Versuche lohnen, die absurden Auswüchse des Neoliberalismus zu thematisieren und einzuhegen.“ (Schlusssätze S.119)

Reimer ist nicht der erste Altmarxist, der auch beim französischen Existenzialismus nach Antworten suchte. Bereits Wolfgang Fritz Haug befasste sich in seiner Doktorarbeit „Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden“ (1965) mit existenzialistischer Gesellschaftskritik, deren Kreisen um das Absurde er ebenfalls in der Entfremdung und Vereinzelung begründet fand. Seine Kritik am Kult leerer Freiheit bei Sartre, aber insbesondere bei Camus war, dass dieser sich, in elitärer Ferne zur Gesellschaft, eher darin gefiel, „das Absurde“ auszuhalten, als aktiv gegen die kapitalistische Entfremdung vorzugehen. Haug zitiert Hannah Arendt, die Camus Fatalismus und Schicksalsergebenheit zuschrieb (Haug 1991, S.40f., S.190f.), eine Einschätzung, die selbst konservative Philosophiehistoriker bis heute teilen (vgl. etwa Steenblock 2002, S.326f.). Reimers funktionalistische Kritik an Neoliberalismus und digitalem Kapitalismus wird dadurch jedoch nicht geschmälert. (Thomas Barth)

Quellen:

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Barth, Thomas: Controlling statt Demokratie? In: ders. Hg.: Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S.101-111.

Haug, Wolfgang Fritz: Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden, 3.Aufl., Argument-Verlag, Hamburg 1991 (Or.1966).
Krysmanski, Hans Jürgen: Die Privatisierung der Macht, in: Altvater, Elmar u.a.: Privatisierung und Korruption: Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S.25-37.
Steenblock, Volker: Kleine Philosophiegeschichte, Stuttgart 2002.

08/30/23
Total vernetzt - Nur wer sich anschließt wird nicht ausgeschlossen.

Rezension: Braches-Chyrek u.a. (Hg.): Handbuch Kindheit, Technik & das Digitale

Thomas Barth
Was bedeuten die rasanten medialen und digitalen Transformationen für das Leben von Kindern? Diese Frage wurde „in der deutschsprachigen Kindheitsforschung bislang wenig untersucht“ (Klappentext). Das Handbuch thematisiert zentrale Zusammenhänge und interdisziplinäre Diskurse über Gesellschaft, Technik und Kindheit mit dem Ziel, emanzipatorische Bildungs- und Lernprozesse zu fördern.
Die Herausgeber*innen kommen aus den Bereichen Pädagogik, Sozialpädagogik und Soziologie, ebenso die meisten der insgesamt 26 Beiträger*innen unter denen acht aus Digitalisierungs- oder Medienwissenschaften stammen. Charlotte Röhner und Heinz Sünker, beide emiritiert, sind Nestor*innen der deutschen Kindheitsforschung, Sünker ist zudem Adorno-Experte und sein Blick auf das Digitale geprägt von der Kritischen Theorie der freudomarxistischen Frankfurter Schule. Überwiegend aus dieser kritischen Perspektive diskutiert der erste von vier Teilen des Bandes „Technik und Gesellschaft“, also die sozialen, kulturellen, pädagogischen und politischen Folgen der Digitalisierung. „Welche neuen Zugriffsmöglichkeiten auf kindliche Subjektivität ergeben sich aus der Techniknutzung und welche Widerstandspotentiale (Adorno, Erziehung zur Mündigkeit)? Welche veränderten Konzeptualisierungsansätze von Kindheitspolitik ergeben sich?“ (Verlagstext).
Soziale Aufgaben wie Wert schätzen, Bindung schaffen, Trennung verarbeiten, Grenzen setzen, Identität und Autonomie gewinnen, sie alle unterliegen durch allgegenwärtige Digitalmedien neuen Risiken, etwa prekärer Datensicherheit, leicht zugänglichen jugendgefährdenden Inhalten oder Cybermobbing. Doch das Handbuch thematisiert auch neue Chancen der Digitalmedien. Im zweiten Teil „Digitalisierung und Mediatisierung von Kindheit“ wird die Sozialisation und Kinder als Akteur*innen thematisiert. Der dritte Teil „Digitales Konstruieren, Spielen und Handeln“ legt den Fokus auf die früher meist negativ bewerteten Computer-, Video- und heute auch Online-Spiele, sucht nach kreativen Potentialen, warnt aber auch, etwa vor unreflektiertem Konsum gewalthaltiger Spiele. Der letzte Teil „Digitalisierung und digitale Bildung in Institutionen“ nimmt Probleme und Lösungsansätze in Kitas und Schulen des Elementar- und Primarbereichs in den Blick.
Technologie, Adoption und Pflegefamilien
Prof. Rita Braches-Chyrek war 2010 Mitherausgeberin des Bandes „Kindheit in Pflegefamilien“, doch dieser Aspekt der Kindheitsforschung klingt im vorliegenden Handbuch nur in zwei Beiträgen an: 1. Die Afrikanistin Konstanze N‘Guessan streift mit „Verwandtschaft und Kindheit im Zeitalter assistierter Reproduktion – Einblicke in die ethnographische Erforschung des doing family“ das Thema Adoption und Islam. 2. Der Beitrag „Beobachtung der Beobachteten: Technologie, Schutz und Fürsorge an einem Tag im Leben von Jasmine“ von Rachel Thomson und Ester McGeeney, berichtet aus einer „alternativen Erziehungseinrichtung für Jugendliche, die keinen Zugang zur Regelschule haben“; sie beobachten dort den Medienalltag der fünfzehnjährigen Mutter Jasmine, die in einer Pflegefamilie untergebracht ist (s.u.2.).
1. Verwandtschaft, Kindheit und Technologie
Der Beitrag von N‘Guessan ist der einzige des Bandes, der nicht von digitalen Medien handelt -dafür aber biotechnologische Bezüge zum Transhumanismus aufweist, indem dessen Biologismus auf den Boden der sozialen, kulturellen und psychologischen Tatsachen zurückgeholt wird. Im Fokus stehen medizinische Technologien der assistierten Reproduktion und die kulturelle Herstellung von Verwandtschaft und Familie in verschiedenen Kulturen. Ihre Ausgangsfragen sind: „Was ist Familie und wer gehört dazu? Welche Dimensionen hat Eltern-Sein und wie wird Abstammung kulturell konzeptualisiert?“ Solche Fragen stellt die Ethnologie der „New Kinship Studies“, die seit den 1980er-Jahren die Verwandtschaftsforschung „von der Biologie befreit, die durch euroamerikanische Prägung entstanden sei.“
Verwandtschaft wird und wurde immer kulturell gemacht -und dieser Entstehungsprozess oft mit Biologismen wie „Blut ist dicker als Wasser“ verborgen, was oft schon den Status von Adoptivkindern kompliziert habe. Neue Reproduktionstechniken (NRT) lassen die biologische Simplifizierung heute vielerorts ins Schwimmen geraten. Denn es sind dabei nicht nur zwei, sondern bis zu fünf Personen im engeren Kreis einer konstruierbaren Elternschaft vorhanden: Mutter, Vater, Eispenderin, Samenspender und Leihmutter. Dazu kämen im weiteren Umfeld noch diverse Medizintechniker*innen, die etwa mit ihren Händen unter dem Mikroskop die Eizelle besamen. „NRT und Adoption konstituieren einen Möglichkeitsraum, auf den sich unterschiedlichste Akteur*innen in ihren Überlegungen und Praxen beziehen. Durch die Linse der NRT lässt sich Verwandtschaft als Ergebnis von Handlungen verstehen.“
Konstanze N‘Guessan erläutert an diversen afrikanischen und islamischen Kulturen Praktiken des Verwandt-Machens -und ist mit dieser interkulturellen Perspektive in diesem Handbuch einmalig. Wir erfahren von einem „Unfruchtbarkeitsgürtel“ in Zentral- und Südafrika, wo NRT trotz der hohen Kosten stark gefragt sind und auf andere als die euroamerikanischen Verwandtschafts-Praktiken treffen. In matrinlinearen Gesellschaften, etwa den Macao in Mozambik, können Vaterpflichten und -privilegien auf den Mutterbruder übergehen; in anderen Kulturen gibt es die „Geist- oder Frauenheirat“, wo Vater- bzw. Schwangerschaft durch Zahlung eines Brautpreises auf einen Ahnen oder eine Frau übertragen werden.
In islamischen Kulturen ist entscheidend, ob diese schiitisch oder sunnitisch sind: Bei Sunniten kann schon die Adoption verboten sein, im weniger restriktiven Schiismus bleiben Adoptivkinder zumindest von der patrilinearen Erbfolge ausgeschlossen; seit einer permissiven Fatwa von Ayatolla Khomeini sind in Iran und Libanon NRT-Kinder erlaubt und Adoptierten gleichgestellt. „Die Frage, wie ‚fremde‘ Kinder durch soziale Praktiken und diskursive Rahmungen der Familie zugehörig gemacht werden stellt sich nicht nur bei NRT-Kindern, sondern immer“, so N‘Guessan, denn Verwandtschaft sei eine „biologisch wie sozial unterdeterminierte, gestaltungsoffene wie gestaltungsnotwendige soziale Ordnung“. Damit stellt sie sich dem reaktionär-neoliberalen Mythos von der biologistisch verabsolutierten bourgeoisen Familie ebenso entgegen, wie dies mit breiterer Perspektive der afrikanische Ökonom und Kulturwissenschaftler Felwine Sarr in seinem Manifest Afrotopia tat.
2.Technologie, Schutz und Fürsorge
Thomson und McGeeney stehen mit ihrem britischen „Kinderalltagsprojekt“ in der Tradition materialistisch-feministischer Methodologie, die ihre Forschungstätigkeit eingehend selbstkritisch reflektiert und nach Möglichkeiten „nachhaltigerer Sorge-Relationalitäten“ sucht:
„Die digitalen Medien haben ganz eigene Möglichkeiten geschaffen, die auch neue Arten von erzieherischer Führung erfordern und neue Gebiet ethischer Untersuchungen eröffnen. (…) Junge Menschen in staatlicher Obhut wurden als eine besondere Risikogruppe identifiziert, einschließlich des Risikos in Bezug auf digitale Kulturen… besonders in den Bereichen Adoption und Pflegefamilien kämpfen Sozialarbeiter*innen darum, die Kinder vor der Aufnahme oder der Fortsetzung von Kontakten mit ihren leiblichen Eltern zu bewahren, wenn diese gerichtlich eingeschränkt worden war.“
Digitale Medien, besonders das allgegenwärtige Smartphone, erschweren diese Aufgabe, denn Kinder und Jugendliche verstehen es, sich der Kontrolle zu entziehen. Im Fall der einen Tag wissenschaftlich beobachteten Jasmine wird klar, dass auch sie und ihre Mitschüler*innen die ihnen auferlegten Regeln für den Mediengebrauch zu unterlaufen wissen: „Die ‚Ein-Tag-im-Leben-Methode‘ hat uns diese Art der dichten, affektiven Geometrien einfangen lassen.“ Die Forscher*innen erfahren, wie vermutlich Instagram und Snapchat von minderjährigen Müttern verwendet werden, um Babyfotos zu posten -schon deren Aufnahme wird von der Einrichtung eigentlich untersagt.
Die Konfliktsituation wird von Thomson und McGeeney aus beiden Perspektiven reflektiert: Die Schutzbefohlenen müssen einerseits „beobachtet, überwacht, geschützt und zensiert werden“, andererseits gibt es auch eine „Kinderöffentlichkeit“ mit „den Imperativen: gesehen werden, sichtbar sein, teilhaben in/an einer digitalen Kultur“. Die Autor*innen stellen fest, dass in dieser neuen Kultur „neue Arten der Subjektivität“ entstehen. „Im Kontext einer Aufmerksamkeitsökonomie können wir das Bedürfnis junger Menschen, gekannt und gesehen zu werden, nicht einfach ignorieren“. Jugendliche Medienpraxis unreflektiert „unterdrücken“ zu wollen, halten die beiden Forscher*innen „für irregehend“.
Der emanzipative Ansatz ist bei Thomson und McGeeney deutlich, doch bei der Reflexion des „Neuen“ an der „neuen Subjektivität“ ist noch Luft nach oben. Denken wir an eine 1950er-Jahre-Werbung für Dosen-Ananas: „Toast Hawaii! Da werden Ihre Nachbarn staunen!“ Foodporn auf Instagram posten ist vielleicht nur überkommene Subjektivierung in digitalisierter Werbeästhetik, die kunstvolle Beleuchtung und Belichtung von damals wird heute durch einen das Foto farblich aufpeppenden digitalen „Filter“ ersetzt.
Fazit
Die emanzipatorische Haltung ist löblich, doch leider gelingt der Transfer der Medienkritik von Adorno ff. auf die Digitalisierung durch die Bank nur ungenügend. Die zweifelhafte Referenz von Heidegger als Paten der Technikkritik überzeugt ebenso wenig wie der gelegentliche, hilflos wirkende Verweis auf neueste Ansätze wie Shoshana Zuboffs „Überwachungskapitalismus“. Dabei wäre bei Kenntnis der kritischen Diskurse zu Computer- und Internetkultur gar nicht nötig, das Rad neu zu erfinden: Der Adorno-Experte Mark Poster etwa kombiniert seit 30 Jahren Freudomarxismus mit postmodernen Ansätzen, etwa den Heidegger implizit weiterführenden Theorien von Michel Foucault, bei seiner Digitalmedienkritik.
Den meisten Beiträgen scheinen auch tiefer gehende Kenntnisse der technologischen und politischen Hintergründe der Digitalisierung zu fehlen, mit den beiden Ausnahmen des Professors für Digital Humanities (Sussex) David M. Berry und des Diplom-Informatikers Marius Melzer, der beim Chaos Computer Club ein Schülerprojekt betreibt. Bei Melzer bleibt die Warnung vor Manipulation im Internet nicht vage, sondern er führt konkret die wohl dramatischste Auseinandersetzung auf diesem Gebiet an:
„Das Beispiel Julian Assange zeigt dies deutlich: Die nach heutigem Wissensstand fingierten Vergewaltigungsvorwürfe (Melzer 2020) führten dazu, dass die vorhergegangene Wikileaks-Veröffentlichung „Collateral Murder“, die zeigte wie US-Soldaten im Irakkrieg lachend aus einem Hubschrauber auf Zivilisten und Journalisten feuerten, in Vergessenheit geriet.“ (S.114)
Die mit nur einem Satz allzu sparsame Erwähnung dieser digitalen Medienschlacht um die (nicht nur Medien-) Geschichte schreibende Enthüllungsplattform Wikileaks brachte einen gravierenden Fehler: In der Literaturliste wurde beim Quellennachweis der Vorname von N.Melzer offenbar zu M.Melzer fehlkorrigiert. Man nahm wohl ein Selbstzitat von Marius Melzer an und kannte nicht den wirklich zitierten weltberühmten Autor Nils Melzer, den UNO-Folterbeauftragten und Schweizer Professor für Völkerrecht. Nils Melzer hatte die gegenwärtige Folter des Wikileaks-Gründers Julian Assange angeprangert, den er als Opfer einer perfiden Intrige sieht. Er hatte in schockierenden Artikeln und seinem Buch „Der Fall Assange“ detailliert enthüllt, wie mutmaßlich Geheimdienste die Regierungen der USA und Großbritanniens sowie die schwedische Justiz den politisch verfolgten Assange als Vergewaltiger abgestempelt hatten. Diese Fakten wurden in westlichen Medien jedoch weitgehend vertuscht, was den Irrtum von Verlag, Lektoren und Korrekturat begründen dürfte. Somit wird dieses Handbuch selbst zu einem Beispiel gelungener Medienmanipulation im Digitalzeitalter.

Rita Braches-Chyrek, Jo Moran-Ellis, Charlotte Röhner, Heinz Sünker (Hrsg.): Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2021. 422 S., 69,90 Euro.

07/8/23
Mitadlndem Finger werden die ausgeschlossen, die sich nicht an Faceook verkaufen wollen

Neue Arbeitsgruppe: AG Eltern & Schulsoftware

Jessica Wawrzyniak 06.07.2023

Ein Austauschkanal für Eltern, die rechtlich gegen datensammelnde Software an Schulen vorgehen möchten, und für Jurist.innen, die dabei helfen möchten.

Immer wieder erreichen uns Anfragen von Eltern, die nicht mehr weiter wissen, weil die Schule ihrer Kinder nicht von datensammelnder, rechtlich bedenklicher Schulsoftware abrücken möchte. Während einige Eltern der Schule noch gut zureden und Argumente für den Einsatz freier Software sammeln, kontaktieren uns andere bereits, um sich wegen erster rechtlicher Schritte zu erkundigen. Einige Eltern sind schon weitergegangen und haben bereits Kontakt zu Anwält.innen aufgenommen, um den Klageweg zu beschreiten.

Es ist kein Wunder, dass sich Eltern für den juristischen Weg entscheiden. Bei Schulträgern und Ministerien finden sie kein Gehör oder die Schule behauptet, die Entscheidung zu Microsoft Teams oder Zoom sei in Absprache mit dem Datenschutzbeauftragten erfolgt, als unbedenklich eingestuft worden und schon allein aus praktischen Gründen nicht mehr zu ändern. Manchen Eltern hat die Schule sogar gedroht, den Schulvertrag zu kündigen, wenn sie der Nutzung der Schulsoftware nicht zustimmen, und diese sei nun einmal Microsoft 365. Das geht zu weit! Dass Behörden widerwillig auf Kritik und Veränderungen reagieren und immer mal wieder den falschen Weg einschlagen, ist nicht neu. Doch an einzelnen Schulen erreicht das Thema mit Erpressung, dem Verstoß gegen datenschutzrechtliche Grundsätze und der Missachtung von Grundrechten ein neues Niveau.

Wir möchten Sie als Eltern mit Ihren Sorgen nicht alleine lassen. Argumente, die gegen den Einsatz datensammelnder Software an Schulen sprechen, stellen wir auf unserer Website zur Verfügung. Wir erarbeiten dazu immer wieder neues Informationsmaterial und schaffen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene Aufmerksamkeit für die Problematik. Digitalcourage hat jedoch nicht die Ressourcen, Sie juristisch zu beraten oder an fachkundige Anwält.innen zu verweisen. Wir möchten Betroffene aber vernetzen und dabei unterstützen, einander zu helfen, zum Beispiel indem sie sich gegenseitig berichten, welche juristischen Maßnahmen bereits Erfolg hatten und was ihre Anwältinnen und Anwälte ihnen empfohlen haben.

In der AG Eltern und Schulsoftware finden Sie Eltern, die bereits juristisch gegen den Einsatz von Microsoft 365, Zoom, Google und anderen datensammelnden Programmen an ihrer Schule vorgegangen sind oder dies noch vorhaben. Auch wenn Sie gegen die Entscheidung eines Schulträgers oder eines Ministeriums vorgehen möchten, sind Sie hier richtig. Herzlich eingeladen sind außerdem Juristinnen und Juristen, die sich dieses Themas bereits angenommen haben und betroffene Eltern ehrenamtlich unterstützen möchten. Wenn Sie sich für die Teilnahme an der AG interessieren, melden Sie sich bitte per E-Mail bei uns (mail@digitalcourage.de).

Die Gruppe wird durch die Teilnehmenden selbst geleitet. Digitalcourage moderiert den Austausch nur geringfügig, um den thematischen Fokus nicht aus dem Blick zu verlieren.

Die AG Eltern und Schulsoftware bietet explizit Eltern und Jurist.innen einen Austauschkanal. Pädagogische Fachkräfte aus der (vor)schulischen und außerschulischen Bildung, die sich aktiv für Datenschutz und Grundrechte in der digitalen Bildung einsetzen möchten und beispielsweise bereits auf freie Materialien und freie Software setzten, sind herzlich eingeladen, sich in einer anderen Arbeitsgruppe von Digitalcourage einzubringen: in der AG Pädagogik.

(reblogged von https://digitalcourage.de/blog/2023/ag-eltern-und-schulsoftware)

09/1/22
CC-by-sa-Gnsin

Transhumanismus, Triefnase & Digitalisierung

Thomas Barth

Transhumanistische Aktivisten und Philosophen schwelgen in Visionen einer digitalen Zukunft. Das Paradies soll uns spätestens nach dem Upload in die Virtual Reality einer bewohnbaren Cloud erwarten, wenn unser Geist sich digitalisiert selbst simulierend im Himmelreich der Matrix wiederfindet. Doch hienieden warten einstweilen noch ein paar Hindernisse, besonders hierzulande, wo selbst das stinknormale Internet dem 16 bleierne Jahre währenden Merkel-Staat als „Neuland“ galt.

Das irdische Elend der Digitalisierung wie auch die Schwächen des cishumanen Mängelwesens Mensch zeigten sich am 4. Oktober 2019 im Tagungszentrum der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Die Kirche wollte den Transhumanismus erörtern und hatte neben dem Theologen Hoff dafür den Religionsphilosophen Professor Göcke und den „bekanntesten deutschsprachigen Transhumanisten“ Professor Sorgner eingeladen. Pech war, Sorgner kam stark vergrippt, Göcke stark verspätet, weil mit der offenbar fehldigitalisierten Deutschen Bahn.

Was ist der Mensch?

Was ist der Mensch? Was soll er glauben, worauf soll er hoffen? Diese Fragen bewegen Denker und Philosophen, Theologen wie Transhumanisten: „Der Transhumanismus geht davon aus, dass sich der Mensch als ein Produkt der biologischen Evolution auch selbstständig technisch bis hin zu einem neuen Mensch-Maschine-Wesen oder einer Cyberspace-Entität weiterentwickeln kann und sollte.

Der durchaus transhuman geneigte Göcke beginnt so die Einleitung zu seinem Buch „Designobjekt Mensch: Die Agenda des Transhumanismus auf dem Prüfstand“. Da kommt digitale Technologie wie gerufen, etwa als Hirn-Chip, als Big-Gene-Data, KI oder in fernerer Zukunft als virtueller Lebensraum ganz entkörperlichter Menschen (brain uploading). Bedeutsamer Zankapfel der Digitalisierung ist der Datenschutz, der nach Meinung Prof.Sorgners leider auch transhumanem Streben nach kybernetischer wie genetischer Verbesserung des Menschen im Weg steht.

Big-Data-Firmen lieben die Transhumanisten, wie etwa die Super-KI-Forscher des Machine Intelligence Research Institute , mehr als Datenschützer. Google etwa hat mit Ray Kurzweil einen prominenten Transhumanisten zum Forschungsdirektor gemacht, Tesla-Milliardär Elon Musk will mit seiner neuen Firma Neuralink Hirnimplantate entwickeln. Bei Facebook treibt Mark Zuckerberg persönlich transhumane Projekte voran, etwa die Worterkennung per Hirnscan. Das dabei angestrebte Brain-Diktaphon würde nebenbei dem maschinellen Gedankenlesen etwas näher kommen, das der NSA bei ihrer Totalüberwachung noch schmerzlich fehlt. Auch deutsche Transhumane scheinen Belangen der IT-Wirtschaft nicht abgeneigt, wie die Diözese Rottenburg auf oben erwähnter Tagung feststellen konnte.

Prof. Sorgner ließ es sich dort nicht nehmen, die Debatte mit einem Bonmot der IT-Industrie zu bereichern: „Daten sind das neue Öl!“ Unter dieser Parole hatte die Industrielobby bekanntlich versucht, die neue EU-Datenschutzverordnung zu torpedieren, wie eine Polit-Dokumentation zeigte. Aus Angst davor, die EU könnte von China digital abgehängt werden, tritt Sorgner dafür ein, ein europäisches Social-Credit-System nach chinesischem Vorbild einzuführen, inklusive einer personalisierten Dauerüberwachung der kompletten EU-Bevölkerung:

Warum es für uns keine realistische Position ist, die Datenerfassung zu unterlassen: Der zentrale politische Grund für eine umfassende Datensammlung ist, dass wir in einer globalisierten Welt leben und das Daten das ‚Neue Öl‘ sind, wie viele Experten betonen: Öl bedeutet Macht und finanzielles Florieren. Angesichts dieser Erkenntnis ist es keine realistische Option, keine personalisierten Daten zu sammeln… In China wird ab 2020 ein Sozialkreditsystem flächendeckend angewendet werden. Die Menge an digitalen Daten, die auf diese Weise erhoben wird, ist kaum zu unterschätzen. Je mehr digitale Daten verfügbar sind, desto mehr Macht und Geld kann realisiert werden. Europa dagegen hat Datenschutzbestimmungen institutionalisiert, die einer hilfreichen Erfassung digitaler Daten entgegenstehen.“ Prof. Stefan Lorenz Sorgner 

Damit wäre Sorgner wohl ein transhumaner Extremist, sogar aus Sicht der 2015 gegründeten Transhumanistischen Partei Deutschlands (TPD). Die pocht in den Leitlinien ihres Parteiprogramms Version 2.0 gleich an erster Stelle auf die Grundrechte der Menschenwürde und der informationellen Selbstbestimmung. Sorgner übergeht dagegen in seinem Redebeitrag den möglichen Einwand, dass blinde Gier nach Macht und Geld geradewegs in einen digitalen Totalitarismus führen könnte. Auch an seinem Buch mit dem reißerischen Titel „Transhumanismus: ‚Die gefährlichste Idee der Welt‘!?“ (2016), fällt auf, dass kaum Bedenken, Zweifel oder Kritik an Technologien vorkommen. Dabei haben insbesondere Eingriffe in das menschliche Gehirn eine dunkle Geschichte -man denke an Militär- und Geheimdienst-Projekte wie das Zimbardo-Experiment, LSD-Forschung, Gehirnwäsche oder MKUltra. Der Transhumanismus muss sich außerdem angesichts lobbyistischer Verfilzungen und enormer Geldsummen, die auf dem Spiel stehen, auch fragen, wer und warum ihn finanziert.

Thomas Hobbes und Bioshock

Hinter Sorgners transhumanem Bejahen des technischen Fortschritts, das geradezu von einer Euphorie in die nächste taumelt, verbirgt sich jedoch ein zutiefst pessimistisches Menschenbild: Der „Mensch als des Menschen Wolf“ des Frühaufklärers Thomas Hobbes, wie man es im „Bioshock“-Computerspiel in einer transhumanen Welt der Gen-Mutanten nachspielen kann. Dort werden individuell gestaltete Menschen zu einander bekriegenden Monstren in einer Gesellschaft, die nach den darwinistisch-libertären Grundsätzen von Ayn Rand konzipiert ist (so Weber in Weber/Zoglauer 2015 S.55,69).

Als Begründer der modernen politischen Philosophie empfahl Hobbes zur Überwindung der angeblich menschlichen Gewaltnatur den frühtotalitären Absolutismus eines staatlichen Leviathans. Angesichts einer Welt voller psychopathischer Wolfsmenschen ist eine an Ethik orientierte Lebenshaltung natürlich nicht ratsam, meint offenbar Sorgner, wenn er sagt:

Moralischer zu sein hingegen, ist ggf. nicht der zentrale Wunsch vieler Menschen. Überspitzt formuliert liegt dies meiner Meinung nach darin begründet, dass Moralität in der Regel im Interesse der nicht-moralischen Menschen ist und moralische Menschen eher ausgenutzt, ausgebeutet und unterdrückt werden.“ Sorgner 2016, S.62

Kritisch sieht Sorgner daher eine von manchen Transhumanisten geforderte gesetzliche Verpflichtung zum „moralischen Enhancement“ (und das ist fast die einzige Technikkritik im ganzen Buch). Dabei ist hier nicht ethische Bildung und Erziehung gemeint, sondern Moral etwa per Hirnimplantat oder Einflößung von Drogen, die analog zur Impfpflicht verordnet werden könnte. Das lehnt Sorgner ab. Aber nicht, weil ein Herumpfuschen an den höchsten Funktionen des menschlichen Gehirns unsere Gesundheit, Freiheit und Würde beeinträchtigen könnte, sondern -ganz im Sinne eines Bioshock-Rechtslibertarismus nach Ayn Rand- wegen des „globalen Wettbewerbs“:

Eine solche Regelung mag zwar praktisch nicht ausgeschlossen sein, jedoch erscheint sie mir in keinem Fall im politischen Interesse des betroffenen Landes zu sein, da ein Land mit einer besonders moralischen Bevölkerung im Kontext des globalen Wettbewerbs sicherlich nicht lange bestehen kann.“ Sorgner 2016, S.63

Janina Loh, die Sorgners „Metahumanismus“ in ihrem Buch „Trans- und Posthumanismus zur Einführung“ in einem kurzen Kapitel analysiert, mag diesen letztlich nicht als eigenständigen Ansatz anerkennen (Loh 2018, S.175). Auch Sorgners duales Theoriesystem von Kohlenstoff- bzw. Siliziumbasiertem Transhumanismus (womit er Bio- von Digitaltechnik trennt) lehnt Loh als zu schematisch und daher nur bedingt brauchbar ab (S.78).Aber Loh schreibt Sorgner auch zu, die von Transhumanisten prognostizierte Unsterblichkeit nur als „rhetorisches Mittel“ zu sehen (S.173), hat dabei jedoch evtl. überlesen, dass Sorgner Unsterblichkeit zwar für unmöglich erklärte, aber nur wegen eines in Milliarden Jahren drohenden kosmologischen Kollaps des Universums (Sorgner 2016 S.11, 2018 S.157).

Bis dahin könnte Sorgners extrem langlebiger (wenn auch im haarspalterisch-philosophischen Sinne nicht völlig unsterblicher) Transhumaner noch eine ganze Menge Neutrinos die Galaxis runterfließen sehen -und evtl. auch eine Revision der schließlich nur auf läppischen 200 Jahren Forschung basierenden Big-Bang-Theorie. Der Kritik am transhumanen Unsterblichkeitsstreben entgeht Sorgner mit seiner kosmologischen Scholastik aber nicht, der Frage nach sozialer Verantwortung hier und heute ebenso wenig.

Unsoziale Weapons of Math Destruction

Die Mathematikerin Cathy O‘Neil, die wirklich etwas von der Technik und dem Code dahinter versteht, fordert etwas mehr „moralisches Vorstellungsvermögen“, denn „Big Data-Prozesse kodifizieren die Vergangenheit und können nicht die Zukunft erfinden“ (S.276). Cathy O‘Neil spricht von Weapons of Math Destruction, also Mathe-Vernichtungswaffen (analog zu Massenvernichtungswaffen), warnt mit Blick auf Google, Amazon und Facebook davor, dass „Daten privatisiert und privat genutzt werden, um Profite zu erzeugen und Macht zu gewinnen“. Man müsse die Digitalisierung und ihre Algorithmen bändigen, indem man sie öffentlicher Aufsicht und die sie betreibenden Firmen mit „verpflichtenden Standards der Rechenschaftslegung“ staatlicher Regulierung unterwirft (S.308). Sie weist darauf hin, dass der Trump-Nestor „Steve Bannon, selbst während er gezielt daran arbeitet, das öffentliche Vertrauen in Wissenschaft zu untergraben, im Verwaltungsrat von Cambridge Analytica sitzt -einer politischen Datenfirma, die behauptet, sie habe Trump zum Wahlsieg verholfen…“ (S.313).

Heiße PR-Luft einer schmuddeligen Dotcom-Firma? Oder die üblichen Wahlmanipulationen im digitalen Kapitalismus, nur leider diesmal aufgeflogen? Manche KI-Kritiker sehen etwa in „lernfähigen neuronalen Netzen“, die aktuell als KI gepriesen werden, eine aufgeblasene Hype. Diese „KI“ wären eher „spreadsheets on steroids“ -Tabellenkalkulation auf Steroiden. So zitiert Schnetker in seiner Kritik der „Transhumanistischen Mythologie“, den DARPA-KI-Experten John Launchbury (Schnetker S.75). Cathy O‘Neil kritisiert die unsozialen Folgen des Einsatzes solcher „KI“ als klassistisch, rassistisch und sexistisch:

„Sie versprechen Effizienz und Gerechtigkeit, manipulieren dabei jedoch die höhere Bildung, verursachen zusätzliche Schulden, fördern massenhaft Gefängnisstrafen, prügeln bei jeder Gelegenheit auf die Armen ein und untergraben die Demokratie.“ (O‘Neil S.270)

Literatur

Göcke, B.P.: Designobjekt Mensch?! Ein Diskursbeitrag über Probleme und Chancen transhumanistischer Menschenoptimierung.“ In: Benedikt Paul Göcke/ Frank Meier-Hamidi (Hg.): Designobjekt Mensch. Der Transhumanismus auf dem Prüfstand. Freiburg i.Br.: Herder 2018, 117-152

Loh, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, Hamburg: Junius 2018

Loh, Janina: Transhumanismus: Den Menschen weiterentwickeln, um ihn besser kontrollieren zu können, Berliner Gazette 15.8.2017

O‘Neil, Cathy: Angriff der Algorithmen, München: Hanser 2017

Schnetker, M.F.J.: Transhumanistische Mythologie: Rechte Utopien einer technologischen Erlösung, Münster: Unrast 2019

Sorgner, S.L.: Transhumanismus: ‚Die gefährlichste Idee der Welt‘!?, Herder: Freiburg 2016

Sorgner, S.L.: Was wollen Transhumanisten? In: Göcke/ Meier-Hamidi (2018) 153-180

Weber, K. u. T. Zoglauer: Verbesserte Menschen: Ethische und technikwissenschaftliche Überlegungen, München: K.Alber 2015

12/25/21

Pankaj Mishra: Freundliche Fanatiker

Thomas Barth

Es ist eine klarsichtige Analyse der politischen Irrwege unserer Zeit – jenseits der eurozentrischen Perspektive: Pankaj Mishra untersucht in seinem neuen Buch „Freundliche Fanatiker: Über das ideologische Nachleben des Imperialismus“ die Auswirkungen des Imperialismus auf die heutige Welt und wie imperialistische Ideen und Strukturen weiterhin in verschiedenen Formen fortbestehen. Die „freundlichen Fanatiker“ sind liberal-rechtspopulistische Neoimperialisten wie etwa der Rechtsintellektuelle Niall Ferguson, die den Untergang des Abendlandes beschwören, weil dem Westen angeblich die nötige Aggressivität fehle, seine wohlverdiente globale Vormachtstellung zu halten.

Dies sei aus neoimperialer Sicht auch Schuld der degenerierten Netzkultur der Digital Natives. Die seien kriegsuntüchtige Faulenzer, die erschlafft vor ihren Bildschirmen chillen, statt tapfer zu den Waffen zu greifen, wie noch ihre wackeren Großväter. Mishras Kritik: Diese neoimperialen Ideologen betreiben Geschichtsfälschung, blenden aktuelle wie historische Verbrechen des Westens systematisch aus und stehen in rassistischer und faschistischer Tradition. Sie hätten den politischen Rechtsruck westlicher Länder herbeigeredet, der Trump, den Brexit und rechtsextreme Regierungsbeteiligungen etwa in Wien, Warschau und Rom erst möglich machte.

Der bekannte Schriftsteller und Publizist kritisiert die selbstzufriedenen Gedankengebäude des Westens und zeigt, dass der Mythos vom angeblich überlegenen Westen bis heute kaum hinterfragt wird. Erst in jüngerer Zeit dringen Stimmen aus dem Süden mit ihrer diesbezüglichen Kritik in unsere Debatten vor. Etwa der senegalesische Kulturökonom Felwine Sarr mit „Afrotopia“ oder eben der indische Buchautor Pankaj Mishra, der für seine Kolonialismus-Kritik „Aus den Ruinen des Empires“ den Leipziger Buchpreis erhielt, mit „Das Zeitalter des Zorns“ einen internationalen Bestseller landete und durch seine Liberalismus-Kritik „Freundliche Fanatiker“ aktuell erneut die Wut konservativer Feuilletons auf sich zog. Im vorliegenden Essayband schaut Mishra besonders auf die USA und Großbritannien als die Mächte, die seit dem 19. und 20. Jahrhundert Vorreiter im Bestreben waren, einen rassistisch geprägten, wie Mishra sagt, „imperialistisch gesinnten Liberalismus“ durchzusetzen – mit verheerenden Folgen, wie die Gegenwart zeigt.

Böse Zwillinge: Imperialismus und Liberalismus

Mishra analysiert die historischen und ideologischen Wurzeln des Imperialismus und zeigt auf, wie sie bis heute in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen präsent sind: Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus werden in der Erzählung vom demokratischen Aufstieg vertuscht. Simple, von Ressentiments geprägte Welterklärungen werden zum Mainstream. Mishra beleuchtet so die Rolle von liberalem Fanatismus und Extremismus in diesem Kontext und argumentiert, dass diese Ideologien oft aus imperialistischen Denkmustern entstehen, die westliche Werte für sich reklamieren, aber auch auf rassistische und antisemitische Wurzeln zurückzuführen sind.

„Eine lautstarke Beschwörung der Aufklärung oder eines anderen historisch und auf ewig festgelegten Wesenskerns Europas wirkt zunehmend wie das Symptom einer intellektuellen Rückständigkeit oder einer kulturellen Abwehrhaltung. Das multiethnische Europa ist eine unverrückbare Tatsache und benötigt daher eine stärker auf Inklusion bedachte, ergebnisoffenere Identität.“ Mishra S.61

Damit stellt sich Mishra gegen alle von rechtspopulistisch-konservativer Seite betriebenen Restriktionen europäischer Einwanderungs- bzw. Migrationspolitik. Diese berufe sich gerne auf den nationalistischen Juristen und Staatstheoretiker Carl Schmitt, der behauptet habe, die „Kraft einer Demokratie“ zeige sich darin, das Fremde, „die Homogenität bedrohende“ fernzuhalten oder zu beseitigen (Mishra S.51). Ob Schmitt mit diesen Behauptungen den von ihm unterstützten Nazi-Faschismus und dessen Massenmorde rechtfertigen wollte, diskutiert Mishra nicht. Schmitt, der als „Kronjurist“ des Nazi-Faschismus gilt, machte unter Hitler Karriere und rechtfertigte Diktatur und Massenmorde; der Zentralbegriff des nationalsozialistischen Staatsrechts sei „Führertum“, so Schmitt, und unerlässliche Voraussetzung dafür sei die „rassische“ Gleichheit von Führer und Gefolge (Wikipedia). Obwohl in seiner Karriere vor 1933 auch von jüdischen Kollegen gefördert, wandelte sich Schmitt nach Hitlers Machtergreifung zum fanatischen Antisemiten, der die Nazi-Rassegesetze juristisch legitimierte. Mishra stellt fest, dass heutige Rechtextremisten vom Front National in Paris, über die FPÖ in Wien bis zur British National Party „ihren ursprünglichen Antisemitismus“ neu verpackt hätten und nun Muslime „statt der Juden beschuldigen, heimlich nach der Weltherrschaft zu streben“ (S.52).

Die wahren Feinde der Demokratie aber sind jene, meint Mishra, die angeblich ihre Werte verteidigen: Dies zeige der in den USA tief verwurzelte Rassismus ebenso wie die Angst dortiger Machteliten vor islamistischen oder lateinamerikanischen Invasoren. Mit konkreten Beispielen hält Mishra den Westeliten einen Spiegel vor und macht sichtbar, wie brüchig das Fundament ist, auf dem unsere westliche Welt steht: Eine freiheitliche Demokratie, in der Gleichheit und Menschenwürde verwirklicht sind, ist noch lange nicht erreicht und wenn unsere Medien Parlamentswahlen westlicher Machtart als allein seligmachenden Weg zu einer Mitbestimmung der Bevölkerung hinstellen, wird dies oft als liberal-koloniale Herrschaftsattitüde gesehen. Mishra weigert sich aus gutem Grund, die im westlichen Medien-Mainstream kolportierte Mär von Indien als „größter Demokratie der Welt“ zu bestätigen, attackiert den aktuell wiedergewählten Präsidenten Indiens, Narendra Modi und dessen neoliberalen Hindu-Suprematismus. Mishra kritisiert auch die neokoloniale Ignoranz des Nordens, die Modi huldigt, und verweist auf den Erzliberalen O’Brian:

„Als Conor Cruise O’Brian in den 1960er Jahren Afrika und Asien besuchte, fiel ihm auf, dass viele Menschen in den früheren Kolonien ‚von dem Wort „Liberalismus“ angewidert waren‘. Sie sahen darin ‚eine beschönigende Maske, die eine zutiefst habgierige Gesellschaft vor der von ihr ausgeraubten Welt aufsetzt.“ (Mishra 2021, S.113)

Liberale „Bland Fanatics“

O’Brian habe nicht verstanden, warum man den Liberalismus für eine Ideologie der Reichen hielt, weil sie genau die Regeln zu universellen Werten erhob, die Entstehung und Fortbestand des Kapitalismus begünstigen. Mishra beschreibt, wie kolonialer Rassismus, Unmenschlichkeit und Überlegenheitskult in liberalen Ideologien gedeiht und spätestens mit Tony Blairs „New Labour“ auf ehemals sozialistisch oder wenigstens sozial gestimmte Politik übergreifen konnte. Die Idee der Republik, des Parlamentarismus selbst wurde dadurch zunehmend unglaubwürdiger:

„Die französische und die US-amerikanische Republik, die allen Menschen demokratische Rechte versprachen, setzten zugleich eine globale Hierarchie durch, in der die Rechte einigen wenigen vorbehalten blieben und allen übrigen vorenthalten wurden.“ (Mishra 2021, S.178)

Dabei stand auch die rassisch begründete Ausschließung von Anfang an „im Zentrum des liberalen Universalismus“. Von Nixon über Reagan und Trump, von Thatcher über Blair und den Brexiteer Boris Johnson, verfolgt Mishra die immer extremer werdende Ideologie westlicher Herrschaftseliten. Sein Programm ist die Enthüllung der verborgenen Schattenseiten einer von westlichen Medien sorgfältig glorifizierten Machtelite:

„Die freundlichen Fanatiker bemühten sich sehr, ihre parfümierte Vorstellung angloamerikanischer Überlegenheit vor der anrüchigen Vergangenheit des Völkermords, der Sklaverei und des Rassismus -wie auch vor dem Gestank der Korruption in den Wirtschaftsunternehmen- zu schützen…“ (Mishra 2021, S.24)

Dabei ist „Freundliche Fanatiker“ noch eine eher freundliche Übersetzung, denn der Originaltitel „Bland Fanatics“, hebt im Wort „Bland“ noch andere Seiten hervor: zwar milde, höflich, einschmeichelnd, aber auch kühl, ironisch -die listige Arroganz des Kolonialisten schwingt deutlicher mit als im Deutschen.

Als ersten Vertreter der bland fanatics knöpft sich Mishra den Kennedy-Biografen und bekennenden Bilderberg-Conférencier Niall Ferguson vor. Man ahnt, warum Ferguson den Unmut des indischen Kritikers erregte: Die Inder etwa verdanken laut Ferguson dem Britischen Empire ihre Freiheit, Demokratie und die englische Sprache; die USA sollten endlich diesem Beispiel folgen und sich stolz zu ihrem Imperialismus bekennen (Mishra S.30). In Fergusons Buch „Das verleugnete Imperium. Chancen und Risiken amerikanischer Macht“ werden als Schwächen westlicher Macht Feministinnen, Adipöse und Digital Natives genannt. Der Feminismus sei schuld am demographischen Niedergang Europas und daran, „dass Mädchen nicht mehr mit Puppen spielen“, die Amerikaner seien übergewichtig und die Europäer degenerierte Faulenzer, die sich endlos dem „Gaming, Chatten und Chillen mit ihren iPods“ hingeben würden (Mishra S.35).

Wie sein Gönner Kissinger sieht Ferguson in den Chinesen die kommende Macht, natürlich nur, weil sie angeblich den westlichen Imperialismus kopieren; seinen ökonomischen Aufstieg verdankt China bei Ferguson selbstverständlich nicht der klugen Kombination von Marxismus und Kapitalismus, sondern dem sich in Peking angeblich ausbreitenden Protestantismus. Der ist nach dem deutschnationalen Soziologie-Klassiker Max Weber mit seiner protestantischen Arbeitsethik die Wurzel eines „Geist des Kapitalismus“. Mishra kommentiert:

„Der wieder aufgewärmte Weberianismus -Indiz für Fergusons nostalgische Sehnsucht nach den Gewissheiten des Sommers 1914- verwandelt sich in eine weitere Klage über die westliche Zivilisation, deren Niedergang sich an der Tatsache zeige, dass die Kirchen leer und die Steuern auf Vermögen und Einkommen hoch seien… während ‚Imperium‘ zu ‚einem schmutzigen Wort geworden‘ sei.“ Mishra S.44

Bei uns würden Christliche Union und neoliberale FDP dieser Klage wohl einmütig zustimmen, stehen Religion bei den einen und Steuersenkung bei beiden weit oben auf der Agenda. Unverblümter Neoimperialismus wäre jedoch noch nicht gesellschaftsfähig und fremdenfeindliche Ressentiments werden noch den Rechtsextremisten allein zugeschrieben.

Neben fleißigen Chinesen machen Ferguson auch die vermehrungsfreudigen Araber große Sorgen um die westliche Vormachtstellung in der Welt. Besonders Europa ist nach dieser ebenso paranoiden wie rassistischen Weltsicht in großer Gefahr, schon sehr bald von Moslems überrannt zu werden. Mishra zitiert die auch von deutschen Rechtspopulisten und Rassisten oft erhobene Behauptung, dass

„eine junge muslimische Gesellschaft südlich und östlich des Mittelmeers bereitsteht, ein vergreistes Europa zu kolonisieren“ (Mishra S.46, Ferguson zitierend)

Der von der BBC hofierte schottische Historiker Ferguson strebe penetrant nach einer Reinwaschung nebst Rivival des Imperialismus. Mishra zeigt auf, wie Ferguson dabei in Fußstapfen von Nazi-Befürwortern und Rassisten wie T.L.Stoddard tritt, der in den USA der 1920er Jahre mit faschistoiden Bestsellern die Angst vor Schwarzen schürte.

Die Verteilung der Rassen nach T. L. Stoddard, schematisierende Karte aus The Rising Tide of Color

Stoddard gilt, was Mishra nicht erwähnt, laut Wikipedia als wichtiger Stichwortgeber des deutschen Nationalsozialismus. Nicht nur dämonisierte er Juden als „eigene Bastard-Rasse“ und verleumdete sie als „Gefahr für die europäische Zivilisation“: In seinem Buch The Revolt Against Civilization. The Menace of the Under Man (1922; dt. Der Kulturumsturz. Die Drohung des Untermenschen, 1925) identifizierte er den Bolschewismus mit einem rassisch definierten Judentum und dieses wiederum mit dem „Untermenschen“. Der Nazi-Ideologe Alfred Rosenberg griff diese hetzerischen Behauptungen Stoddards in Der Mythus des 20. Jahrhunderts auf, und machte damit das zynische Unwort „Untermensch“ zum nationalsozialistischen Schlagwort. Stoddards Weltkarte der „Verteilung der Rassen“ erinnert nicht zufällig an ähnliche, aber von Rassen auf Kulturen umgeschwenkte Karten des Havard-Professors Samuel Huntington. Auch dieser US-Ideologe schürt in seiner „unheilverkündenden Großtheorie“ von einem angeblich tobenden „Kampf der Kulturen“ Rassenängste (Mishra S.28). Huntington begann seine Karriere als Berater beim rassistischen Apartheid-Regime von Pieter Willem Botha in Südafrikas Geheimdienst Civil Cooperation Bureau, das zahlreiche Verbrechen an Apartheidsgegnern verübte – und bezeichnete 1960 die Gesellschaft Südafrikas zur Zeit der Apartheid als eine „zufriedene Gesellschaft“ (Wikipedia). Später setzte er seine Arbeit in den USA fort und war Mitgründer und Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift Foreign Policy, die eine große Stütze des „verleugneten“ Imperiums der USA ist.

Ferguson bemüht sich, den Imperialismus für seine angeblichen Bemühungen um Handelsfreiheit und sogar zur Abschaffung der Sklaverei zu preisen (Mishra S.12). Ob diese durch oder nicht eher gegen die Imperialisten abgeschafft wurde, dürfte zumindest strittig sein, ergänzt der Rezensent, unstrittig dagegen, dass die Hauptimperialisten durch Sklavenhandel und -ausbeutung reich wurden. Die verkrampft-feindselige Haltung heutiger Westeliten gegenüber anderen Kulturen wurzele, so Mishra, in solch dunklen Ideologien und ziele weiterhin auf skrupellosen Machterhalt ab.

Das habe auch Folgen für das politische Klima der angelsächsischen „liberalen Demokratien“ selbst. Mit der Entfernung von Denkmälern für Sklavenhändler sei es dort nicht getan. Es müssten auch Geschichts- und Schulbücher endlich umgeschrieben werden, damit das dort „neumodische“ Sozialstaatsdenken nicht länger dämonisiert werden könne. Voraussetzung dafür sei, dass man dort „nachhaltig mit der Sklaverei, dem Imperialismus und dem rassistischen Kapitalismus abrechnet. Sie waren es, die einigen Leuten in Großbritannien und den USA gewaltigen Reichtum und einzigartige Macht bescherten, die große Mehrheit der Weltbevölkerung jedoch in einen brutalen Kampf gegen Mangel und Entwürdigung stürzten.“ (Mishra S.295)

Pankaj Mishras neues Buch bietet eine kritische Perspektive auf die globalen Auswirkungen des Imperialismus und regt dazu an, über die historischen Kontinuitäten in der heutigen Welt nachzudenken. So entstand der Neoliberalismus aus der Angst der Weißen um ihre Vorherrschaft. Und der westliche Liberalismus ist gar nicht so liberal, denn er definiert die eigene Kultur als die maßgebliche und brandmarkt andere Entwürfe als rückständig oder autoritär.

Mishra, Pankaj: Freundliche Fanatiker: Über das ideologische Nachleben des Imperialismus, Frankfurt/M. 2021, S.Fischer Verlag, 304 Seiten, 24,00 Euro

(Aktualisiert Juli 2024)

12/13/21

Rezension Nils Melzer: Der Fall Julian Assange

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, Piper Verlag 2021

Hermine Humboldt

Hat die schwedische Justiz Beweise gefälscht und Zeugenaussagen manipuliert, um einen Vergewaltigungsverdacht gegen Julian Assange zu konstruieren? Der UNO-Menschenrechtsexperte Prof. Nils Melzer war anfangs kein Assange-Unterstützer, aber er nutzte sein diplomatisches Mandat für eigene Ermittlungen im Fall Assange.

Was hat der Fall Assange mit Netzphilosophie zu tun? Der Schweizer Netzphilosoph Felix Stalder wies schon 2016 in seinem bahnbrechenden Buch „Die Kultur der Digitalität“ auf eine westliche Machtelite hin, die er als „den inneren Kern des postdemokratischen Systems“ bezeichnete, „bestehend aus den Spitzen der Wirtschaft, der Politik und der Geheimdienste“ (Stalder 2016, S.230). Der Begriff „Postdemokratie“ markiert eine Kritik an westlichen Ländern, die von einer schleichenden Entdemokratisierung und Herrschaft von Technokraten ausgeht, die sich ausgeklügelter medialer Massenmanipulation bedient.

„Die Grenzen zwischen postdemokratischen Massenmedien und staatlichen Nachrichtendiensten sind fließend. Wie inzwischen bekannt ist, bestehen zwischen beiden Bereichen personelle Kontinuitäten und inhaltliche Gemeinsamkeiten.“ (Stalder 2016, S.234)

In seinem Buch „Der Fall Assange“ bestätigt Nils Melzer die Analyse seines Schweizer Landsmanns Felix Stalder in spektakulärer Weise: Denn der Fall Assange ist zweifellos einer der größten Justizskandale die wir kennen (sollten). Den jedoch die wenigsten in voller Tragweite zur Kenntnis nehmen können, denn es ist auch ein eklatanter Fall von Medienversagen der westlichen „freien Presse“. An deren tatsächliche Freiheit kann man angesichts ihrer äußerst desolaten (Nicht-) Berichterstattung zu weiten Teilen dieser Story höchstens noch eingeschränkt glauben -wie auch der Philosoph Stalder gut begründet argumentiert hatte. 2010 wurde Julian Assange zum „Staatsfeind Nr.1“ für die USA und Großbritannien und geriet ins Fadenkreuz der mächtigsten Geheimdienste der Welt: Der CIA, NSA, FBI (und der ca. 30 weiteren US-Geheimdienste) sowie der Britischen MI5, MI6 und GCHQ. Diese Dienste warfen, so muss man annehmen, angesichts der Wikileaks-Enthüllungen ihre ganze Macht in die Waagschale. Dazu gehört auch die Macht über Massenmedien, Politik und Justiz vieler Länder -ganz offensichtlich hier der Justiz in Schweden und England.

Mit dem „Afghan War Diary“ veröffentlicht WikiLeaks 2010 das größte Leak der US-Militärgeschichte, mitsamt Beweisen für Kriegsverbrechen und Folter. Kurz danach verdächtigt Schweden WikiLeaks-Gründer Julian Assange der Vergewaltigung, und ein geheimes US-Schwurgericht ermittelt wegen Spionage. Als ihn Ecuador nach jahrelangem Botschaftsasyl der britischen Polizei überstellt, verlangen die USA sofort seine Auslieferung und drohen mit 175 Jahren Haft. Nils Melzer, UNO-Sonderberichterstatter für Folter, will sich zunächst gar nicht auf den Fall einlassen. Erst als er Assange im Gefängnis besucht und die Fakten recherchiert, durchschaut er das Täuschungsmanöver der Staaten und beginnt den Fall als das zu sehen, was er wirklich ist: die Geschichte einer politischen Verfolgung. An Assange soll ein Exempel statuiert werden – zur Abschreckung aller, die die schmutzigen Geheimnisse der Mächtigen ans Licht ziehen wollen. Dieses packende Buch erzählt erstmals die vollständige Geschichte von Nils Melzers Untersuchung. (Piper-Verlagstext)

Der UNO-Menschenrechts- und Folterexperte Prof. Nils Melzer war anfangs kein Assange-Unterstützer. Melzer ist ein Anwalt der Menschenrechte, berufen von der UNO, und er nutzte sein diplomatisches Mandat für eigene Ermittlungen im Fall Assange -angefangen bei dem angeblichen „Vergewaltigungsverdacht“ an zwei Schwedinnen, den uns die Medien seit zehn Jahren vor jeder Erwähnung von Julian Assange präsentierten. Kritiker wie der Rezensent oder der Buchautor Gerd R. Rüger haben diese Bezichtigungen niemals geglaubt und immer von einer CIA-Intrige gegen Assange gesprochen -sie wurden dafür als „Verschwörungstheoretiker“ denunziert. Nun zeigt sich, dass wir Recht hatten: Es war eine Justiz-Geheimdienstintrige gegen Assange. Denn Prof. Melzer findet, wie er entsetzt feststellen muss, manipulierte schwedische Justizakten, und schreibt in seinem Buch über „die behördliche Nötigung der beiden Frauen zur Anpassung ihrer Aussagen an das offiziell forcierte Vergewaltigungsnarrativ“ (S.149).

Wikileaksgründer im britischen Guantánamo

London, Juni 2021. Im bestbewachten Knast Ihrer Majestät, dem Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, dem „britischen Guantánamo“, wird Julian Assange gefangen gehalten. Der wohl bislang bedeutendste Journalist des 21. Jahrhunderts ist auch inhaftiert, weil er die Foltermethoden des berüchtigten US-Gefangenenlagers Guantánamo enthüllte, jenem US-Gulag also, den der ehemalige US-Präsident Barack Obama eigentlich schließen wollte. Aber nicht die Verantwortlichen in den USA, sondern Assange wurde angeklagt: wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente – gutes Recht von Enthüllungsjournalisten – und wegen angeblicher Verstöße gegen das Anti-Spionage“-Gesetz, eines Relikts aus Zeiten des Ersten Weltkriegs. Der Schauprozess dauert an, das Unrechtsregime in London hat gerade, wie erwartet, den US-Anklägern die Auslieferung des politisch Verfolgten genehmigt.

Unsere Medien ARD, ZDF usw. betreiben eine systematisch verwirrende Berichterstattung über die Der-Fall-Assange-Enthüllungen von Nils Melzer, so droht der Kern seiner Botschaft unterzugehen: Die schwedische Justiz hat 2010 gezielt Beweise gefälscht und Zeugenaussagen manipulierte, um einen Vergewaltigungsverdacht gegen Julian Assange überhaupt erst zu konstruieren.

Der UN-Sonderberichterstatters zum Thema Folter ist Schweizer, aber Nils Melzer spricht auch fließend Schwedisch ein sagenhafter Glücksfall in der Sache Assange. Melzer arbeitete sich durch die schwedischen Akten zum Fall Assange. Doch sein bahnbrechendes Fazit wollte in unseren Leitmedien kaum jemand hören. Erst mühsam kämpfte er sich durch Netzmedien (!) wenigstens an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit. Jetzt legte er ein Buch vor, das seine Arbeit akribisch beschreibt, „Der Fall Julian Assange: Geschichte einer Verfolgung“, und folgert

Der eigentliche Zweck der Verfolgung von Assange ist nicht in erster Linie die persönliche Bestrafung von Assange, sondern die Etablierung eines Präzedenzfalles mit globaler Abschreckungswirkung für andere Journalisten, Publizisten und Aktivisten, um künftig weltweit jeden strafrechtlich verfolgen zu können, der es wagen sollte, die schmutzigen Geheimnisse der Regierungen ans Licht der Öffentlichkeit zu ziehen.“ Melzer S.230

Prof. Nils Melzer kritisiert die Leitmedien. Zwar würden einige Meinungsbeiträge halbherzig Partei für Assange ergreifen und auch die Gefahr für die Pressefreiheit anerkennen, „doch kein einziges Medienhaus protestiert gegen die den ganzen Fall durchziehende Justizwillkür“ (S.312). Die Justizwillkür zeige sich in der britischen Willfährigkeit gegenüber der US-Anklage vor dem Londoner Gericht:

Schritt für Schritt wurden auch die abwegigsten Argumente der USA kritiklos bestätigt. Gleichzeitig, fast wie im Vorbeigehen, wischte Bezirksrichterin Baraitser sowohl die rechtlichen Einwände als auch die entlastenden Gutachten und Zeugenaussagen der Verteidigung ohne viel Federlesens vom Tisch.“Melzer S.318

Prof. Nils Melzer kommt in seinem Bericht, der sich wie ein Justizthriller liest, also zu Schlussfolgerungen, die sich weitgehend mit dem decken, was Assange-Anhänger seit zehn Jahren skandalisieren: Der WikiLeaks-Gründer wurde Opfer einer Intrige, einer gnadenlosen Rufmordkampagne sowie politischer Verfolgung.

Bei dieser großangelegten Intrige handelt es sich demnach um Staatsverbrechen, für die die Verantwortlichen der beteiligten Staaten – mindestens der USA, Großbritannien, Schweden und zuletzt auch Ecuador – eigentlich vor Gericht gehören würden. Gegen Assange konnten die USA vor Gericht, anders als die Londoner Richterin in ihrem Urteil behauptet, aus Melzers Sicht nichts strafrechtlich Relevantes vorweisen. In einem rechtsstaatlichen Verfahren wäre er schon lange ein freier Mann. Das läuft schließlich auf den Vorwurf der Justizwillkür hinaus.

Westliche Massenmedien als Mittäter

Prof. Nils Melzer zeigt sich in seinem Buch überzeugt, die westlichen Medien hätten sich mit ihrer willfährigen Beteiligung an der Anti-Assange-Rufmordkampagne zu Gehilfen einer perfiden psychischen Folter gemacht – er spricht von „öffentlichem Mobbing“ (S.109). Der UNO-Experte kritisiert auch das anhaltende Ausbleiben medialer Aufmerksamkeit für den Fall Assange. Würden westliche Leitmedien die Justizwillkür angemessen skandalisieren, so seine These, würde das windige Verfahren rasch eingestellt: „Denn wenn Regierungen eines fürchten, dann ist es das gebündelte Scheinwerferlicht und die kritischen Fragen der Massenmedien.“ (S.312)

Beides bleibt jedoch aus. Stattdessen greifen westliche Leitmedien Nils Melzer an, den Überbringer der unbequemen Botschaft: Der skandalösen Botschaft, dass im Westen ein Dissident gefoltert wird, von den eigenen Regierungen, nicht im feindlichen Ausland. Unsere Leit- und Netzmedien ignorieren Melzers Erkenntnisse und berichten lieber noch kleinste und selbst konstruierte Verfehlungen von Julian Assange (wie seine angeblich hungernde Katze im Botschaftsasyl) zehn Jahre mehrheitlich breitgetreten und ihn zu einem Außenseiter stigmatisiert. Rückgratlose Leitmedien sehen bei Melzer nun wohl ihre eigene Erbärmlichkeit bestätigt -von derart autorisierter Stelle, dass sie nur peinliches Schweigen darüber breiten möchten. Melzers Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen, besonders unter Freunden der Netzphilosophie.

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, (Mitautor: Oliver Kobold ), Piper Verlag 2021, 336 Seiten, 22,00 Euro. https://www.piper.de/buecher/der-fall-julian-assange-isbn-978-3-492-07076-8