11/9/24

Gerd Schumann: Patrice Lumumba

Rezensent: Thomas Barth

Gerd Schumann: Patrice Lumumba, Papyrossa Verlag, Köln 2024, 135 Seiten, 12,00 Euro

Patrice Lumumba war der erste freigewählte Premier der 1960 befreiten belgischen Kolonie Kongo, damals und noch mehr heute eine Schatzkammer an bedeutenden Rohstoffen: Coltan, Kobalt, Uran, Kupfer. Lumumbas immense historische Bedeutung ist hierzulande weitgehend unbekannt, was der Kolonialismus-Experte Gerd Schumann mit seiner Biographie des großen Staatsmannes ändern will.

Die Handels- und Ausbeutungsnetze des Kolonialismus gingen den Medien- und Kommunikationsnetzen der heutigen Digitalkultur voraus und sind ihr ökonomisch, politisch und technologisch verbunden. Rassistische Propaganda und Desinformation über koloniale Verbrechen flankieren bis heute die Ausplünderung des Südens („Dritte Welt“) durch den Westen (die „liberalen Demokratien“) medial.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir in unserem Mediensystem und auch in unserer historischen Literatur sehr viel über die Verfehlungen und Verbrechen nichtwestlicher Länder hören. Vorzugsweise trifft die Kritik solche Länder, die sich dem Westen widersetzten, besonders wenn sie sich selbst auch noch „sozialistisch“ nennen oder nannten. Sehr viel weniger hören wir über Untaten westlicher Länder, wobei derzeit immerhin Verbrechen der Kolonialzeit im Gespräch sind, etwa der deutsche Völkermord an Nama und Herero. Dabei wird jedoch regelmäßig die Frage ausgeklammert, warum die in den 1960er Jahren von der europäischen Kolonialherrschaft befreiten Länder insbesondere Afrikas trotz ihres Reichtums an Plantagen und Bodenschätzen fast alle dennoch seit über 60 Jahren in bitterer Armut verharren.

Eine platt-rassistische Weltsicht führt dies auf Defizite nicht-weißer Menschen zurück, die zu dumm oder zu faul sind, ihre Länder selbst zu regieren; westliche Mainstream-Ökonomen unterfüttern diese Ideologie mit windigen Theorien von einem „Rohstoff-Fluch“, der die an Naturschätzen reichen Länder angeblich quasi gesetzmäßig in Korruption und Armut stürzt. Beide blenden natürlich aus, dass die alten Kolonialmächte sich mit Zähnen und Klauen an ihre Privilegien klammern, also mit Intrigen, Bestechung, Erpressung, Terrorismus, Attentaten und Massenmorden. All dies versteckt man hinter einem Schirm von Propaganda, die in wechselnder Gestalt die Mär von der Zivilisation fortschreibt, die der Weiße den Farbigen gönnerhaft zuteil werden lässt, etwa als „Entwicklungshilfe“ (siehe die Kritik von Felwine Sarr).

Schatzkammer und Armenhaus Kongo

Dies gilt besonders für den gewaltigen Kongo, die Schatzkammer Afrikas, aber zugleich ein von Gewalt zerrüttetes Armenhaus. Das Wissen unserer Kultureliten über den Kongo endet oft bei Bismarcks Afrika-Konferenz 1885 und den vom belgischen König Leopold begangenen „Kongo-Gräueln“, einem der grausamsten Völkermorde der Geschichte. Vielen offenbar unbekannt ist die Ermordung von Patrice Lumumba durch westliche Schergen 1961, die unmittelbar zur weiteren und bis heute andauernden Ausbeutung und Verarmung des Landes führte: Siehe etwa die kürzlich ausgestrahlte Scobel-Sendung „Aufbruch Afrika“, die afrikanische Verelendung sehr bequem auf korrupte lokale Despoten zurückführte; es fehlte jedoch die Frage, ob diese Diktatoren durch die alten Kolonialherren an die Macht gekommen sein könnten. Schumanns Buch leistet hier dringend benötigte Aufklärungsarbeit und erklärt, wie westliche Intrigen, Interventionen und Gewalttaten den Hoffnungsträger Lumumba durch willfährige Despoten ersetzten.

Lumumba versuchte das Unmögliche, als er den Kongo vom belgischen Kolonialsystem unabhängig machen und aus der kolonialen Herrschaft befreien wollte. „Eine Treibjagd westlicher Geheimdienste folgte und endete am 17. Januar 1961 tragisch in Kongo-Katanga: Mit der Ermordung des charismatischen Redners, Denkers und erklärten Panafrikaners war ein Epochenwechsel hin zu einem vereinten, freien Afrika vorerst gescheitert. Auch das geostrategisch bedeutende, rohstoffreiche Land am Kongo-Strom würde in neokolonialen Strukturen verharren.” (Verlagstext)

Gerd Schumann zu Lumumba

Einführend beschreibt Schumann im Vorwort wie er als junger Zeitzeuge die fehlenden Reaktionen der westdeutschen Öffentlichkeit auf die Ermordung von Patrice Lumumba im Januar 1961 erlebte, wie der ganze Kontinent als primitives Buschland, bewohnt von Wilden hingestellt wurde. Das Afrikabild hierzulande sei immer noch durch die Völkerschauen Hagenbecks und andere Kolonialausstellungen geprägt gewesen: „106 nichteuropäische Menschen werden fünfeinhalb Monate öffentlich vorgeführt, die Bevölkerung glotzt wie im Zoo… und der gütige weiße Mann bringt hoch zu Ross mit Tropenhelm und in weißer Uniform die europäische ‚Zivilisation‘ in Strohhüttendörfer.“ (S.8)

Doch die Völker im Süden wollten nicht mehr so wie ihre weiße Herrschaft und der Vietnamkrieg machte die Generation ’68 hellhörig für imperialistische Verbrechen, begangen von Weißen an farbigen Menschen. Da sei Patrice Lumumba jedoch längst tot gewesen, „der erste frei gewählte Premier Kongos ermordet, sein Körper zerstückelt und in einem Säurefass aufgelöst“ (ebd.) Einzelheiten und Verantwortliche kamen erst viel später ans Licht, teils erst nach der Jahrtausendwende. Bei einer feierlichen Zeremonie in Belgien wurden Lumumbas Nachfahren erst 2022 jene Goldzähne zurückgegeben, die sich der verantwortliche belgische Kolonialoffizier aus dem Mund des Toten gebrochen hatte. Anschließend hatte er dem afrikanischen Staatsmann auch noch einige Finger abgeschnitten -ein perverses Souvenier, das deutlich dokumentiert, wer in diesem Kontext die „Wilden“ waren. Im keineswegs allzu reuigen Belgien dachte niemand an Reparationszahlungen, an die Rückgabe geraubter Reichtümer, man tat so als sei „die Horrortat ein, vielleicht durchaus schändliches, aber doch ein Kavaliersdelikt gewesen.“ (ebd.)

Rückblick: Bismarck und die Kongo-Gräuel

Im ersten Kapitel „Belgisch-Kongo“ wird erzählt, wie mit der Berliner Konferenz 1885/86 eine Schreckensherrschaft des belgischen Königs Leopold II beginnt, der etwa die Hälfte der Bevölkerung des Kongo massakrierte (S.13).

Der ehrgeizige belgische König strebte wie bald darauf Kaiser Wilhelm II nach einem Imperium nach Vorbild der Briten und Franzosen. Er engagierte im Vorfeld der Aufteilung Afrikas schon 1878 den berühmten britischen Afrikaforscher Henry Morton Stanley, um seine gewaltige Kolonie mit Gewalt, List und Tücke zu unterwerfen. Der Brite vertrat später in Berlin die belgischen Belange und Bismarck hielt es für schlau, den Kongo an das kleine Königreich zu vergeben, um die Großmächte London und Paris zu schwächen. Stanley hatte bei einer Rundreise etwa 450 lokale „Häuptlinge“ gegen die buchstäblichen Glasperlen-“Geschenke“ ihre Kreuze unter ihnen völlig unverständliche Papierstücke setzen lassen. Mit diesen „Verträgen“ befanden sich Land und Menschen somit (aus europäischer Sicht) im Besitz des Belgiers.

Gönnerhafter Kolonialismus, der sich selbstgefällig im Gefühl eigener Überlegenheit sonnt, mag das als Beweis sehen, dass diese „Wilden“ dringend europäischer Führung bedurften; psychopathischer Rassismus, der das Ziel brutaler Ausbeutung sogar realistischer sieht, wird hier stolz den schlauen Weißen preisen, der den „Primitiven“ ihr Land abgaunert. Aus Sicht der Indigenen waren die Unterzeichnungen solcher „Verträge“ wohl eher ein absonderliches Ritual der bedrohlich mit überlegenen Schusswaffen auftretenden Kolonialisten. Ein Ritual, bei dem man aus höflicher Gastfreundlichkeit teilnahm, vielleicht auch, um die darauf drängenden martialischen Fremden schnell wieder loszuwerden. Dass derartige „Verträge“ der gewaltsamen Landnahme und Versklavung der indigenen Bevölkerung als Rechtfertigung dienen sollten, war lokalen Eliten eher nicht offengelegt worden.

Leopolds Kolonialfürst Stanley ließ dann „unter Einsatz massiver Gewalt und Unterdrückung“ (S.19) Eisenbahnen zur Ausbeutung des Kongo und seiner Bevölkerung bauen, ca. 20.000 Zwangsarbeiter wurden dabei zu Tode geschunden. Ziel war zunächst Elfenbein, später Kautschuk, den Belgien an die Automobil-Industrie verkaufte. Die „Kongogräuel“ dienten der Motorisierung der reichen weißen Eliten, etwa zehn Millionen Menschen wurden massakriert, um die Fronarbeit zu erzwingen; Abertausende wurden verstümmelt, meist durch Abschlagen der rechten Hand (S.28). Der Kolonialdiktator versechzigfachte von 1890 bis 1901 die Kautschukausbeute, bis seine Gräueltaten an die Öffentlichkeit kamen, unter anderem durch den Roman Heart of Darkness (1899) von Joseph Conrad. Dann verkaufte Leopold „seine“ Kolonie an die belgische Regierung, die jedoch die Ausbeutung kaum weniger brutal fortsetzte (S.30).

Patrice Lumumba als „neuer Hitler“

Im zweiten Kapitel, „Das ganze Afrika“ versucht Schumann eine biografische Annäherung an den kongolesischen Freiheitskämpfer Patrice Lumumba. Der charismatische junge Mann beherrschte neben Französisch vier einheimische Sprachen und gehörte zu einer winzig kleinen Schicht schwarzer Kolonialbediensteter. Vom Postschalterbeamten stieg er in zehn Jahren zum Assistenten eines Soziologen auf, der den Kongo erforschen wollte. Er wurde Mitglied einer belgischen liberalen Partei und wurde 1958 Mitgründer der ersten gesamtkongolesischen Partei MNC (Mouvement National Congolais, S.44). Im Kongo gab es zahlreiche weitere, lokale Befreiungsbestrebungen. Dort fand Lumumba Mitstreiter gegen die Belgier, von denen einige ihm später in den Rücken fallen sollten. Tschombe sollte später die Provinz Katanga abspalten, Kasavubu mit den Belgiern gegen ihn putschen, mit dem späteren Despoten Mobutu glaubte sich Lumumba sogar in Freundschaft verbunden (S.49). Zunächst wollten alle Parteien und Regionen die Belgier und ihr mit Gewalt und Unterdrückung betriebenes Kolonialregime loswerden.

Die Kolonie Belgisch Kongo war inzwischen strategisch wichtiger Rohstofflieferant, was westliche Interessen um so fanatischer an einer Vorherrschaft festhalten ließ. Kongo förderte 75 Prozent der Weltkobalterze, Kupfer, Silber und sogar das Uran für die ersten Atombomben der USA. Lumumba traf den ersten Präsidenten des 1958 befreiten Ghana, Kwame Nkrumah (1909-1972) und organisierte Proteste gegen die Kolonialherrschaft Belgiens, wurde inhaftiert. Mitte 1960, die Entkolonialisierung stand bevor, denunzierten belgische Autoritäten den keineswegs marxistischen Lumumba in einer antikommunistischen Rufmordkampagne aggressiv als neuen „Hitler“ (S.53), die propagandistische Gleichsetzung von Nazis und Kommunisten war schon damals eine gängige Propaganda-Methode, die sich im ideologischen Medien-Jargon als undifferenziertes Gerede von „den politischen Rändern“ bis heute fortsetzt. In Bezug auf den eher sozial-liberal einzuordnenden Aktivisten Lumumba sollte die Propaganda damals einen mörderischen Putsch vorbereiten.

In Verhandlungen vor der Entlassung aus der Kolonialdiktatur hatten die Belgier trickreich ihre Herrschaft über Land und Rohstoffe fortzuschreiben gewusst. Schumann beschreibt wie belgische Experten in Brüssel schlecht vorbereitete und falsch informierte kongolesische Delegationen über den Tisch zogen. Deren primäres Ziel war ohnehin eine politische Befreiung, vielleicht glaubte man, die unverschämten belgischen Ansprüche auf Rohstoffe und Privilegien in der souveränen Republik Kongo dann später immer noch zügeln zu können. Doch die Westmächte dachten nicht daran, dem Land wirklich Souveränität zu gönnen, geschweige denn künftig faire Preise für die ausgebeuteten Rohstoffe zu zahlen.

Eine dem Anspruch nach demokratische Wahl (unter belgischer Aufsicht) machte zunächst Lumumbas MNC zur stärksten Kraft und ihn zum Premier. Einer Entlassung der Kolonie in die hart erkämpfte Unabhängigkeit stand nun scheinbar nichts mehr im Wege. Am 30.Juni hielt der belgische König zur Amtsübergabe des Regierungsmandats eine salbungsvolle Rede, die angebliche Zivilisierungserfolge pries, welche die Afrikaner Belgien angeblich zu verdanken hätten, aber Kongogräuel, Rassismus und Ausbeutung verschwieg. Lumumba, den man trotz seiner Wahl zum Premierminister wohlweislich nicht als Redner vorgesehen hatte, ergriff dennoch das Wort und stellte in maßvoller Kritik klar, dass man dies anders bewertet. Kapitel 3, „Glanzstück des Antikolonialismus“ referiert über vier Seiten im von Schumann aus dem Französischen übersetzten Wortlaut die historische Rede Lumumbas am Tag der kongolesischen Unabhängigkeit, ein panafrikanisches Manifest für Freiheit und Menschenwürde.

Propaganda, Putsch und Bürgerkrieg nach Jakarta-Methode

Kapitel 4, „Das Ende der Hoffnung“ erzählt von der Intrige, die Lumumba durch einen Putsch des kolonial-kompatiblen Präsidenten Kasavubu und des von der CIA gestützten Oberst Mobutu, des späteren Diktators, entmachtet hatte. Zuvor ließ man die Rohstoff-Provinz Katanga gegen Lumumbas Regierung rebellieren, um das Land in Chaos zu stürzen. Die Regierungstruppen standen immer noch unter Führung belgischer Offiziere und einer von ihnen, General Emile Janssen, wiegelte sie gegen Lumumba auf.

Es kam zu Unruhen im Land, westliche Medien berichteten über Vergewaltigungen weißer Frauen durch schwarze Männer und Fluchtbewegungen der belgischen Einwohner des Kongo (S.78). Der Premier griff ein, setzte den belgischen Armeechef ab, ernannte Major Lulunda zu dessen Nachfolger und „seinen vermeintlichen Freund Mobutu“ zum Stabschef, obwohl bereits Gerüchte über dessen Kontakt zur CIA und belgischem Geheimdienst kursierten. Eine Entlassung der belgischen Armeeoffiziere lähmte Lumumbas Truppen, da sie ohne ausgebildete Führung orientierungslos waren. Dazu kam eine perfide Kampagne mit aufgebauschten Horromeldungen in westlichen Leitmedien, die das Chaos im Land schüren sollte:

„Die Heraufbeschwörung des größtmöglichen Tabubruchs ‚Schwarzer Mann – Weiße Frau‘ erzeugte eine Massenpsychose, die zum Exodus führte, und man könnte meinen, das Szenarium sei in einem Thinktank entwickelt worden.“ (S.79)

Schumann fällt auf, dass ähnliche Putschpläne später in Argentinien, Chile, Guatemala und Indonesien von der CIA umgesetzt wurden (S.74). Er kennt offensichtlich nicht das Buch „Die Jakarta-Methode“ von Vincent Bevins, der genau beschreibt, wie dieser immer wieder angewandte Plot funktioniert; eine breite propagandistische Ausschlachtung angeblicher Sexualverbrechen gehört fast immer dazu. Vom CIA-initierten und gesteuerten „Indonesian Genocide“ (5-10 Millionen Todesopfer) bis zur politischen Verfolgung des Wikileaks-Gründers Julian Assange wurden Gewaltmaßnahmen so propagandistisch „gerechtfertigt“ bzw. massenpsychologisch möglich gemacht. Auch im Kongo heizte man rücksichtslos Hass und Gewalt an.

Dazu kam (ebenfalls Teil der Jakarta-Methode) ein Wirtschaftskrieg, der die Exporte des Kongo sabotierte und Land wie Regierung in eine finanzielle Krise stürzte. Premier Lumumba wandte sich in Radioansprachen an sein Volk, protestierte gegen die angezettelte Sezession von Katanga. Der belgische König hatte persönlich dem Separatisten Tschombe gratuliert. Die Unruhen nahmen zu. Belgien evakuierte erst 30.000 Weiße und marschierte am 10.Juli 1960 (natürlich völlig völkerrechtswidrig) in die gerade erst „entlassene“ Kolonie ein, angeblich um belgische Bürger vor dem afrikanischen Chaos zu schützen. Hafenstädte wurden bombardiert und besetzt, Westkongo unter Kontrolle gebracht.

Die UNO half Lumumba nicht

Lumumba suchte Hilfe gegen den Überfall der Belgier bei der UNO, jedoch ohne großen Erfolg. UNO-Friedenstruppen griffen nicht gegen die belgischen Angreifer durch. Als Lumumba, der keineswegs dem Marxismus zuneigte, in seiner Not schließlich Hilfe auch bei der Sowjetunion suchte, sah der Westen buchstäblich rot. Chruschtschow hatte als einziger im Sicherheitsrat den Kongo unterstützt, US-Präsident Eisenhower hatte dagegen Gespräche mit Lumumba verweigert. Schumann zitiert Peter Scholl-Latour, der Lumumba seinerzeit persönlich interviewt hatte, der berichtete, wie die CIA einen Giftanschlag auf den Premierminister vorbereitete; 1982 enthüllte „Congo-Cables“ hätten später die von Scholl-Latour berichteten Mordpläne der CIA bestätigt (S.88).

Am 5.September 1960 putschten Kasavubu und Mobutu, doch das Parlament bestätigte den Premier zwei Tage später und erteilte Lumumba am 13.September Notstandsvollmachten. Ein weiterer Putsch entmachtete den Premier „mit Unterstützung der CIA“ endgültig (S.93). Vom gewaltsam erzwungenen Hausarrest aus gelang es Lumumba jedoch, Widerstand zu organisieren und während belgische Truppen Westkongo besetzten, blieb der Ostkongo zunächst in der Hand von Lumumbisten. Das Kapitel beschreibt drastisch, wie der Hoffnungsträger, der von Felwine Sarr in seinem Manifest „Afrotopia“ neben Nelson Mandela und Kwame Nkrumah gestellt wird (S.96), von geheimdienstlichen Verschwörern schließlich nach einer gescheiterten Flucht mittels lokaler Schergen vor laufender Kamera gedemütigt, gefoltert und ermordet wurde.

Die Ermordung von UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld

Der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld hatte Lumumba im Juli zu Beratungen in New York getroffen. Hammarskjöld hätte sich dabei distanziert gezeigt, später war die Zusammenarbeit mit UN-Truppen schwierig gewesen. Hammarskjöld hatte dennoch nach dem Putsch vergeblich für Lumumba plädiert (S.93). Er starb am 18.September 1961 beim mysteriösen Absturz, wie sich später herausstellte, Abschuss seines Flugzeugs durch Katanga-Söldner „wohl auch mit Billigung der CIA“ und der Briten (S.103). Man kann annehmen, dass er den Interessen jener entgegenstand, die ungehemmten Zugriff auf die Reichtümer Kongos, insbesondere auf das kriegswichtige Uran, wollten und dafür sogar über die Leichen bedeutender weißer Männer zu gehen bereit waren.

Kritisch zu hinterfragen ist vielleicht eine ansonsten sensationelle und in anderen Kongokriegs-Darstellungen fehlende Behauptung Gerd Schumanns hinsichtlich ihrer dürftigen Quellenlage. „Ein Bruder“ von Dag Hammarskjöld sei „mit der belgischen Krone verschwägert“ gewesen, hätte Aktienpakete des wichtigsten belgischen Rohstoff-Konzerns im Kongo besessen und war sogar „einer der Direktoren der Union Miniér“, so der Name des Konzerns (S.45). Dies sollte vielleicht die anfängliche Distanziertheit des UNO-Chefs zu Lumumba und die wirkungslose UNO-Friedensmission im Kongo erklären. Eine (zugegeben kurze) Netzrecherche zeigt jedoch nur einen Bruder von Hammarskjöld, jedoch keine Verbindung von ihm zur berüchtigten belgischen Union Miniér. Als Quelle nennt Schumann dafür nur ein Buch aus der DDR: Kurt Rückmann „Schlagzeile Mord. Fälle, die die Welt erregten“ (1964). Zu dieser Zeit, im tiefsten Kalten Krieg, wurden in der DDR jedoch gelegentlich auch Desinformationen über den kapitalistischen Gegner verbreitet. Andererseits waren DDR-Bürger bei anderen Weltereignissen auch besser informiert als Westdeutsche, etwa über den im Westen totgeschwiegenen „Indonesian Holocaust“. Im Fall der Verbindung Hammarskjöld – Union Miniér ist also weitere Nachforschung nötig.

BRICS, IWF, Che Guevara und Lumumba

Kapitel 5, „Che Guevara und Lumumba“, erzählt wie eine kleine kubanische Guerillagruppe unter Che Guevara vergeblich versuchte, für die Seite Lumumbas gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Putschisten, Separatisten und andere Komplizen der westlichen Kolonialverbrecher einzugreifen. Che Guevara hätte vom Anführer der Aufständischen Kabila nicht viel gehalten. Dieser sollte 1997 nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg schließlich den prowestlichen Despoten Mobutu ablösen, aber die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen (S.117).

Das abschließende Kapitel 6, „Der Kongo und wir“, beschwört die Nachhaltigkeit von Lumumbas Ideen und kritisiert den aktuellen Umgang des Nordens mit den Reichtümern und den Arbeitskräften des Südens -etwa den ausgebeuteten Kinderarbeitern, die bis heute für Hungerlöhne das Coltan für unsere Handys aus dem Boden kratzen müssen. Hoffnungsschimmer für das Land sieht Schumann in nicht-westlichen Bündnissen wie den BRICS und in China. Dessen Investitionspläne würden jedoch vom westlich dominierten IWF torpediert, der auf die 13 Milliarden Dollar Schulden pochte, die der prowestliche Despot Mobutu hinterlassen habe, bevor der Mobutu-Clan sich mit einem Privatvermögen von mindestens vier Milliarden Dollar in die Schweiz zurückzog.

„Die vormaligen Kolonialstaaten behaupten wie einst (der belgische König) Baudouin I bei seiner fatalen Rede 1960 in Elisabethville, der Kolonialismus sei nunmehr historisch. Sie selbst seien keine kolonialen Mächte mehr, sondern hätten dem globalen Süden die Unabhängigkeit gewährt. Wenn überhaupt seien die Verhältnisse ‚postkolonial‘. Im selben Atemzug bedienen sich ‚die Ehemaligen‘ weiter ungeniert in den nun ‚unabhängigen‘ Ländern… holen sich weiterhin die Reichtümer aus dem in Armut verharrenden Süden. Derweil häufen sie unvorstellbare Reichtümer an, die jeden Menschen erschaudern lassen, weil sich hinter der ungleichen Verteilung der Güter… ein unfassbares Maß an Unrecht verbirgt.“ (S.122)

Fazit

Die Biografie “Patrice Lumumba” hinterfragt unser oft selbstgefälliges Afrika-Bild durch die Dokumentation „postkolonialer“ Staatsverbrechen Belgiens, der USA und weiterer westlicher Länder. Die brutale Ermordung des großen Panafrikaners Lumumba wird in historischen und aktuellen Kontext gestellt und ihre Bedeutung für die andauernde Ausbeutung des Kontinents und insbesondere des Kongo durch westliche Konzerne engagiert und kritisch dargestellt. Das schmale Taschenbuch im Format eines Smartphones ist jedem zu empfehlen, der einen anderen als den Mainstream-Medien-Blick auf den Kolonialismus werfen möchte.

Der Autor

Gerd Schumann, geb. 1951, lebt und arbeitet als Autor und Journalist in Berlin und Mecklenburg, publizierte Reportagen und Hintergrundberichte vom Balkan, aus der Karibik und vom afrikanischen Kontinent. Zahlreiche Reportagen, Features für Hörfunk und Printmedien sowie Buchpublikationen, darunter in derselben Buchreihe „Basiswissen“: „Kolonialismus, Neokolonialismus, Rekolonisierung“ (2014). Die Buchreihe »Basiswissen« des politisch links einzuordnenden Papyrossa-Verlags bringt in handlichem Taschenbuch-Format leicht verständliche kritische Einführungen in Grundbegriffe aus Politik, Geschichte, Gesellschaft und Ökonomie.

Gerd Schumann: Patrice Lumumba, Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie, Pocketformat, Papyrossa Verlag, Köln 2024, 135 Seiten, € 12,00 [D] ISBN 978-3-89438-829-4 https://www.papyrossa.de/neuerscheinung-112

12/25/21

Pankaj Mishra: Freundliche Fanatiker

Thomas Barth

Es ist eine klarsichtige Analyse der politischen Irrwege unserer Zeit – jenseits der eurozentrischen Perspektive: Pankaj Mishra untersucht in seinem neuen Buch „Freundliche Fanatiker: Über das ideologische Nachleben des Imperialismus“ die Auswirkungen des Imperialismus auf die heutige Welt und wie imperialistische Ideen und Strukturen weiterhin in verschiedenen Formen fortbestehen. Die „freundlichen Fanatiker“ sind liberal-rechtspopulistische Neoimperialisten wie etwa der Rechtsintellektuelle Niall Ferguson, die den Untergang des Abendlandes beschwören, weil dem Westen angeblich die nötige Aggressivität fehle, seine wohlverdiente globale Vormachtstellung zu halten.

Dies sei aus neoimperialer Sicht auch Schuld der degenerierten Netzkultur der Digital Natives. Die seien kriegsuntüchtige Faulenzer, die erschlafft vor ihren Bildschirmen chillen, statt tapfer zu den Waffen zu greifen, wie noch ihre wackeren Großväter. Mishras Kritik: Diese neoimperialen Ideologen betreiben Geschichtsfälschung, blenden aktuelle wie historische Verbrechen des Westens systematisch aus und stehen in rassistischer und faschistischer Tradition. Sie hätten den politischen Rechtsruck westlicher Länder herbeigeredet, der Trump, den Brexit und rechtsextreme Regierungsbeteiligungen etwa in Wien, Warschau und Rom erst möglich machte.

Der bekannte Schriftsteller und Publizist kritisiert die selbstzufriedenen Gedankengebäude des Westens und zeigt, dass der Mythos vom angeblich überlegenen Westen bis heute kaum hinterfragt wird. Erst in jüngerer Zeit dringen Stimmen aus dem Süden mit ihrer diesbezüglichen Kritik in unsere Debatten vor. Etwa der senegalesische Kulturökonom Felwine Sarr mit „Afrotopia“ oder eben der indische Buchautor Pankaj Mishra, der für seine Kolonialismus-Kritik „Aus den Ruinen des Empires“ den Leipziger Buchpreis erhielt, mit „Das Zeitalter des Zorns“ einen internationalen Bestseller landete und durch seine Liberalismus-Kritik „Freundliche Fanatiker“ aktuell erneut die Wut konservativer Feuilletons auf sich zog. Im vorliegenden Essayband schaut Mishra besonders auf die USA und Großbritannien als die Mächte, die seit dem 19. und 20. Jahrhundert Vorreiter im Bestreben waren, einen rassistisch geprägten, wie Mishra sagt, „imperialistisch gesinnten Liberalismus“ durchzusetzen – mit verheerenden Folgen, wie die Gegenwart zeigt.

Böse Zwillinge: Imperialismus und Liberalismus

Mishra analysiert die historischen und ideologischen Wurzeln des Imperialismus und zeigt auf, wie sie bis heute in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen präsent sind: Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus werden in der Erzählung vom demokratischen Aufstieg vertuscht. Simple, von Ressentiments geprägte Welterklärungen werden zum Mainstream. Mishra beleuchtet so die Rolle von liberalem Fanatismus und Extremismus in diesem Kontext und argumentiert, dass diese Ideologien oft aus imperialistischen Denkmustern entstehen, die westliche Werte für sich reklamieren, aber auch auf rassistische und antisemitische Wurzeln zurückzuführen sind.

„Eine lautstarke Beschwörung der Aufklärung oder eines anderen historisch und auf ewig festgelegten Wesenskerns Europas wirkt zunehmend wie das Symptom einer intellektuellen Rückständigkeit oder einer kulturellen Abwehrhaltung. Das multiethnische Europa ist eine unverrückbare Tatsache und benötigt daher eine stärker auf Inklusion bedachte, ergebnisoffenere Identität.“ Mishra S.61

Damit stellt sich Mishra gegen alle von rechtspopulistisch-konservativer Seite betriebenen Restriktionen europäischer Einwanderungs- bzw. Migrationspolitik. Diese berufe sich gerne auf den nationalistischen Juristen und Staatstheoretiker Carl Schmitt, der behauptet habe, die „Kraft einer Demokratie“ zeige sich darin, das Fremde, „die Homogenität bedrohende“ fernzuhalten oder zu beseitigen (Mishra S.51). Ob Schmitt mit diesen Behauptungen den von ihm unterstützten Nazi-Faschismus und dessen Massenmorde rechtfertigen wollte, diskutiert Mishra nicht. Schmitt, der als „Kronjurist“ des Nazi-Faschismus gilt, machte unter Hitler Karriere und rechtfertigte Diktatur und Massenmorde; der Zentralbegriff des nationalsozialistischen Staatsrechts sei „Führertum“, so Schmitt, und unerlässliche Voraussetzung dafür sei die „rassische“ Gleichheit von Führer und Gefolge (Wikipedia). Obwohl in seiner Karriere vor 1933 auch von jüdischen Kollegen gefördert, wandelte sich Schmitt nach Hitlers Machtergreifung zum fanatischen Antisemiten, der die Nazi-Rassegesetze juristisch legitimierte. Mishra stellt fest, dass heutige Rechtextremisten vom Front National in Paris, über die FPÖ in Wien bis zur British National Party „ihren ursprünglichen Antisemitismus“ neu verpackt hätten und nun Muslime „statt der Juden beschuldigen, heimlich nach der Weltherrschaft zu streben“ (S.52).

Die wahren Feinde der Demokratie aber sind jene, meint Mishra, die angeblich ihre Werte verteidigen: Dies zeige der in den USA tief verwurzelte Rassismus ebenso wie die Angst dortiger Machteliten vor islamistischen oder lateinamerikanischen Invasoren. Mit konkreten Beispielen hält Mishra den Westeliten einen Spiegel vor und macht sichtbar, wie brüchig das Fundament ist, auf dem unsere westliche Welt steht: Eine freiheitliche Demokratie, in der Gleichheit und Menschenwürde verwirklicht sind, ist noch lange nicht erreicht und wenn unsere Medien Parlamentswahlen westlicher Machtart als allein seligmachenden Weg zu einer Mitbestimmung der Bevölkerung hinstellen, wird dies oft als liberal-koloniale Herrschaftsattitüde gesehen. Mishra weigert sich aus gutem Grund, die im westlichen Medien-Mainstream kolportierte Mär von Indien als „größter Demokratie der Welt“ zu bestätigen, attackiert den aktuell wiedergewählten Präsidenten Indiens, Narendra Modi und dessen neoliberalen Hindu-Suprematismus. Mishra kritisiert auch die neokoloniale Ignoranz des Nordens, die Modi huldigt, und verweist auf den Erzliberalen O’Brian:

„Als Conor Cruise O’Brian in den 1960er Jahren Afrika und Asien besuchte, fiel ihm auf, dass viele Menschen in den früheren Kolonien ‚von dem Wort „Liberalismus“ angewidert waren‘. Sie sahen darin ‚eine beschönigende Maske, die eine zutiefst habgierige Gesellschaft vor der von ihr ausgeraubten Welt aufsetzt.“ (Mishra 2021, S.113)

Liberale „Bland Fanatics“

O’Brian habe nicht verstanden, warum man den Liberalismus für eine Ideologie der Reichen hielt, weil sie genau die Regeln zu universellen Werten erhob, die Entstehung und Fortbestand des Kapitalismus begünstigen. Mishra beschreibt, wie kolonialer Rassismus, Unmenschlichkeit und Überlegenheitskult in liberalen Ideologien gedeiht und spätestens mit Tony Blairs „New Labour“ auf ehemals sozialistisch oder wenigstens sozial gestimmte Politik übergreifen konnte. Die Idee der Republik, des Parlamentarismus selbst wurde dadurch zunehmend unglaubwürdiger:

„Die französische und die US-amerikanische Republik, die allen Menschen demokratische Rechte versprachen, setzten zugleich eine globale Hierarchie durch, in der die Rechte einigen wenigen vorbehalten blieben und allen übrigen vorenthalten wurden.“ (Mishra 2021, S.178)

Dabei stand auch die rassisch begründete Ausschließung von Anfang an „im Zentrum des liberalen Universalismus“. Von Nixon über Reagan und Trump, von Thatcher über Blair und den Brexiteer Boris Johnson, verfolgt Mishra die immer extremer werdende Ideologie westlicher Herrschaftseliten. Sein Programm ist die Enthüllung der verborgenen Schattenseiten einer von westlichen Medien sorgfältig glorifizierten Machtelite:

„Die freundlichen Fanatiker bemühten sich sehr, ihre parfümierte Vorstellung angloamerikanischer Überlegenheit vor der anrüchigen Vergangenheit des Völkermords, der Sklaverei und des Rassismus -wie auch vor dem Gestank der Korruption in den Wirtschaftsunternehmen- zu schützen…“ (Mishra 2021, S.24)

Dabei ist „Freundliche Fanatiker“ noch eine eher freundliche Übersetzung, denn der Originaltitel „Bland Fanatics“, hebt im Wort „Bland“ noch andere Seiten hervor: zwar milde, höflich, einschmeichelnd, aber auch kühl, ironisch -die listige Arroganz des Kolonialisten schwingt deutlicher mit als im Deutschen.

Als ersten Vertreter der bland fanatics knöpft sich Mishra den Kennedy-Biografen und bekennenden Bilderberg-Conférencier Niall Ferguson vor. Man ahnt, warum Ferguson den Unmut des indischen Kritikers erregte: Die Inder etwa verdanken laut Ferguson dem Britischen Empire ihre Freiheit, Demokratie und die englische Sprache; die USA sollten endlich diesem Beispiel folgen und sich stolz zu ihrem Imperialismus bekennen (Mishra S.30). In Fergusons Buch „Das verleugnete Imperium. Chancen und Risiken amerikanischer Macht“ werden als Schwächen westlicher Macht Feministinnen, Adipöse und Digital Natives genannt. Der Feminismus sei schuld am demographischen Niedergang Europas und daran, „dass Mädchen nicht mehr mit Puppen spielen“, die Amerikaner seien übergewichtig und die Europäer degenerierte Faulenzer, die sich endlos dem „Gaming, Chatten und Chillen mit ihren iPods“ hingeben würden (Mishra S.35).

Wie sein Gönner Kissinger sieht Ferguson in den Chinesen die kommende Macht, natürlich nur, weil sie angeblich den westlichen Imperialismus kopieren; seinen ökonomischen Aufstieg verdankt China bei Ferguson selbstverständlich nicht der klugen Kombination von Marxismus und Kapitalismus, sondern dem sich in Peking angeblich ausbreitenden Protestantismus. Der ist nach dem deutschnationalen Soziologie-Klassiker Max Weber mit seiner protestantischen Arbeitsethik die Wurzel eines „Geist des Kapitalismus“. Mishra kommentiert:

„Der wieder aufgewärmte Weberianismus -Indiz für Fergusons nostalgische Sehnsucht nach den Gewissheiten des Sommers 1914- verwandelt sich in eine weitere Klage über die westliche Zivilisation, deren Niedergang sich an der Tatsache zeige, dass die Kirchen leer und die Steuern auf Vermögen und Einkommen hoch seien… während ‚Imperium‘ zu ‚einem schmutzigen Wort geworden‘ sei.“ Mishra S.44

Bei uns würden Christliche Union und neoliberale FDP dieser Klage wohl einmütig zustimmen, stehen Religion bei den einen und Steuersenkung bei beiden weit oben auf der Agenda. Unverblümter Neoimperialismus wäre jedoch noch nicht gesellschaftsfähig und fremdenfeindliche Ressentiments werden noch den Rechtsextremisten allein zugeschrieben.

Neben fleißigen Chinesen machen Ferguson auch die vermehrungsfreudigen Araber große Sorgen um die westliche Vormachtstellung in der Welt. Besonders Europa ist nach dieser ebenso paranoiden wie rassistischen Weltsicht in großer Gefahr, schon sehr bald von Moslems überrannt zu werden. Mishra zitiert die auch von deutschen Rechtspopulisten und Rassisten oft erhobene Behauptung, dass

„eine junge muslimische Gesellschaft südlich und östlich des Mittelmeers bereitsteht, ein vergreistes Europa zu kolonisieren“ (Mishra S.46, Ferguson zitierend)

Der von der BBC hofierte schottische Historiker Ferguson strebe penetrant nach einer Reinwaschung nebst Rivival des Imperialismus. Mishra zeigt auf, wie Ferguson dabei in Fußstapfen von Nazi-Befürwortern und Rassisten wie T.L.Stoddard tritt, der in den USA der 1920er Jahre mit faschistoiden Bestsellern die Angst vor Schwarzen schürte.

Die Verteilung der Rassen nach T. L. Stoddard, schematisierende Karte aus The Rising Tide of Color

Stoddard gilt, was Mishra nicht erwähnt, laut Wikipedia als wichtiger Stichwortgeber des deutschen Nationalsozialismus. Nicht nur dämonisierte er Juden als „eigene Bastard-Rasse“ und verleumdete sie als „Gefahr für die europäische Zivilisation“: In seinem Buch The Revolt Against Civilization. The Menace of the Under Man (1922; dt. Der Kulturumsturz. Die Drohung des Untermenschen, 1925) identifizierte er den Bolschewismus mit einem rassisch definierten Judentum und dieses wiederum mit dem „Untermenschen“. Der Nazi-Ideologe Alfred Rosenberg griff diese hetzerischen Behauptungen Stoddards in Der Mythus des 20. Jahrhunderts auf, und machte damit das zynische Unwort „Untermensch“ zum nationalsozialistischen Schlagwort. Stoddards Weltkarte der „Verteilung der Rassen“ erinnert nicht zufällig an ähnliche, aber von Rassen auf Kulturen umgeschwenkte Karten des Havard-Professors Samuel Huntington. Auch dieser US-Ideologe schürt in seiner „unheilverkündenden Großtheorie“ von einem angeblich tobenden „Kampf der Kulturen“ Rassenängste (Mishra S.28). Huntington begann seine Karriere als Berater beim rassistischen Apartheid-Regime von Pieter Willem Botha in Südafrikas Geheimdienst Civil Cooperation Bureau, das zahlreiche Verbrechen an Apartheidsgegnern verübte – und bezeichnete 1960 die Gesellschaft Südafrikas zur Zeit der Apartheid als eine „zufriedene Gesellschaft“ (Wikipedia). Später setzte er seine Arbeit in den USA fort und war Mitgründer und Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift Foreign Policy, die eine große Stütze des „verleugneten“ Imperiums der USA ist.

Ferguson bemüht sich, den Imperialismus für seine angeblichen Bemühungen um Handelsfreiheit und sogar zur Abschaffung der Sklaverei zu preisen (Mishra S.12). Ob diese durch oder nicht eher gegen die Imperialisten abgeschafft wurde, dürfte zumindest strittig sein, ergänzt der Rezensent, unstrittig dagegen, dass die Hauptimperialisten durch Sklavenhandel und -ausbeutung reich wurden. Die verkrampft-feindselige Haltung heutiger Westeliten gegenüber anderen Kulturen wurzele, so Mishra, in solch dunklen Ideologien und ziele weiterhin auf skrupellosen Machterhalt ab.

Das habe auch Folgen für das politische Klima der angelsächsischen „liberalen Demokratien“ selbst. Mit der Entfernung von Denkmälern für Sklavenhändler sei es dort nicht getan. Es müssten auch Geschichts- und Schulbücher endlich umgeschrieben werden, damit das dort „neumodische“ Sozialstaatsdenken nicht länger dämonisiert werden könne. Voraussetzung dafür sei, dass man dort „nachhaltig mit der Sklaverei, dem Imperialismus und dem rassistischen Kapitalismus abrechnet. Sie waren es, die einigen Leuten in Großbritannien und den USA gewaltigen Reichtum und einzigartige Macht bescherten, die große Mehrheit der Weltbevölkerung jedoch in einen brutalen Kampf gegen Mangel und Entwürdigung stürzten.“ (Mishra S.295)

Pankaj Mishras neues Buch bietet eine kritische Perspektive auf die globalen Auswirkungen des Imperialismus und regt dazu an, über die historischen Kontinuitäten in der heutigen Welt nachzudenken. So entstand der Neoliberalismus aus der Angst der Weißen um ihre Vorherrschaft. Und der westliche Liberalismus ist gar nicht so liberal, denn er definiert die eigene Kultur als die maßgebliche und brandmarkt andere Entwürfe als rückständig oder autoritär.

Mishra, Pankaj: Freundliche Fanatiker: Über das ideologische Nachleben des Imperialismus, Frankfurt/M. 2021, S.Fischer Verlag, 304 Seiten, 24,00 Euro

(Aktualisiert Juli 2024)

04/28/19

Felwine Sarr: Afrotopia – Kultur, Zeit, Netze

Rezension von Thomas Barth

Afrotopia ist ein Manifest des senegalesischen Kultur- und Wirtschaftswissenschaftlers, Musikers und Schriftstellers Felwine Sarr. In seinem Buch plädiert Sarr für eine Neugestaltung der afrikanischen Gesellschaften und Wirtschaftssysteme, um eine bessere Zukunft für den Kontinent zu schaffen. Eigene sozioökonomische und digitale Netzwerke, eigene Zeit- und Kulturautonomie wären die notwendige Basis, um sich aus der politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Dominanz des Westens zu befreien.

Dem neoliberal-neokolonialistischen Homo Oekonomicus ist die soziokulturelle Rationalität eines Homo Africans entgegenzustellen, von der zur Abwechslung jetzt der Westen einmal etwas lernen könne. In der Netzkultur kennen wir schon aus den Bantu-Sprachen den Begriff Ubuntu, was für die Zulu- und Xhosa-Kulturen etwa „Menschlichkeit“ bedeutet und die Achtung der Menschenwürde mit dem kollektiven Streben nach einer friedlichen und harmonischen Gemeinschaft verbindet (Nelson Mandela erklärt den Begriff Ubuntu). Die Debian-Opensource-Community wählte den Namen Ubuntu in diesem Sinne für ihr gemeinschaftlich entwickeltes Linux-Betriebssystem, wie der Kulturphilosoph Felix Stalder ausführt.

Hintergrund: Restitution und Neoliberalismus

„Die Maxime der Ubuntu-Philosophie, Ich bin, weil wir sind, nimmt das gesellschaftliche Wesen des Individuums zum Ausgangspunkt, gibt dem Gemeinwohl und dem Respekt vor der Menschlichkeit des anderen den Vorrang.“ (Sarr, Afrotopia, S.96) So referiert Sarr die bedeutendste Wurzel der erhabenen Vision des Politischen, die Nelson Mandela während seiner Haft als politischer Gefangener des rassistischen „Apartheit-Regimes“ in Südafrika entwickelte und schließlich zum Sieg führte. Sie ist das Gegenteil der Ideologie des Neoliberalismus, den heutige Neoimperialisten wie Niall Ferguson (so kritisiert ihn Pankaj Mishra) durch Wiederbelebung kolonialer Machthierarchien und imperialen Größenwahns aus seiner weiter schwelenden Finanzkrise führen wollen. Doch Autoren wie Sarr leisten Gegenwehr und lassen die Ausblendung kolonial-imperialistischer Verbrechen nicht zu.

Felwine Sarr machte sich auch, zusammen mit seiner Kollegin Bénédicte Savoy, einen Namen im Bereich der Restitutionsforschung. Zur Kulturautonomie gehört das selbstbewusste Zurückfordern von Raub- und Diebesgut, wie perspektivisch auch das Einklagen von Entschädigung für die Barbarei des jahrhundertelangen Sklavenhandels, der den Westen bei seinem Aufstieg zu globaler Dominanz überhaupt erst reich gemacht hat. Das betrifft auch den, von konkurrierenden Kolonialmächten freilich schnell beendeten, kaiserlich-deutschen Raubzug nach Afrika. Die Entschuldigung bei den Hereros für den deutsch-wilhelminischen Vökermord und die Rückgabe von Benin-Bronzen an Nigeria sind nur der Anfang. In den etwa 50 deutschen Völkerkundemuseen lagern noch mehrere hunderttausend Objekte, die aus der Kolonialzeit stammen und deren Herkunft angeblich unklar ist. Obwohl wahrscheinlich ist, dass es sich zumeist um Hehlerware handeln dürfte, um Beute- oder Raubkunst, tut man sich in der Wissenschaft schwer, mit afrikanischen Kollegen zu verhandeln. Allen deutsch-museal Beschäftigten wäre Afrotopia auch als Verständnishilfe in der interkulturellen Kommunikation zu empfehlen, denn die Zeit scheint endgültig vorbei, wo man ganz naiv von den „unterentwickelten Ländern“ eine Übernahme westlicher „Standards“, die oft nur ideologische Sichtweisen meinen, erwarten durfte.

Der Westen bemisst und bewertet die ganze Welt anhand seines Modells, kritisiert Sarr, das an Kriterien von Reichtum, „freien Märkten“ und der grenzenlosen ökonomischen Expansion orientiert ist. Er meint die erzkapitalistische Ideologie des Neoliberalismus, die unserem Leben nur als ökonomische Leistung einen Wert zugesteht, nicht als Erfahrung, Kultur und Gesellschaft. Diese ökonomische Leistung ist dabei grundsätzlich etwas, das diejenigen, die in der Hierarchie unten sind, zum Nutzen derjenigen zu erbringen haben, die das Privileg der Herrschaft besitzen. Der Sozialstaat, Solidarität und soziale Rechte werden als „Sozialismus“ dämonisiert und im Namen einer „Freiheit“ bekämpft, die streng nach individueller Finanzkraft zugemessen oder vorenthalten wird.

„Es gibt keine Gesellschaft“, da sind nur Individuen, behauptete die Scharfrichterin der britischen Arbeiterbewegung, Premierministerin Margret Thatcher, wofür erzkonservative Propagandisten einer brutalen Marktideologie sie bis heute bejubeln, etwa im Deutschlandfunk (DLF): Die Gesellschaft sei nur Konstrukt, die Freiheit beginne „beim Ich“, nur das könne denken und handeln, nicht das Kollektiv; „Insofern gibt es keine Gesellschaft, es gibt immer nur Individuen. Wir leben schließlich nicht im Sozialismus.“ Und die neoliberale Thatcher, die Millionen britische Arbeiter ins Elend brachte, um Konzerngewinne explodieren zu lassen, habe ja auch „die Familie“ in ihrem viel zu selten vollständig gelesenen Interview erwähnt -„die Familie“, jeder Mafia-Pate und Rechtspopulist lobt sie über den grünen Klee. Hier dient sie, um suggestiv vom brutalen Kerninhalt der Aussage, von der unsozialen Politik Thatchers und des Neoliberalismus abzulenken.

Doch die meisten Menschen der Welt haben genug vom neoliberalen Raubtierkapitalismus und der ausgefeilten Propaganda seiner Ideologen, nicht nur in Afrika. Das westliche Modell beruft sich auf angeblich „freie Märkte“, hinter denen sich aber oft nur lichtscheue Netzwerke der Herrschaftseliten verbergen, und will arrogant darüber entscheiden, welches Land, sogar welcher Kontinent, als „entwickelt“ gilt oder als „unterentwickelt“. Nebenbei bemerkt: Der diktatorische Sozialismus Libyens brachte den Libyern zwar nicht die volle westliche Freiheit, aber -sogar nach westlichen, laut Sarr, wie wir sehen werden, „quantophrenischen“ Maßstäben- den höchsten Lebensstandard Afrikas, Bildung, Gesundheitswesen, Frauenemanzipation. Weil das aber nicht ins ideologische Weltbild passte und Libyen frecherweise auch noch sein Öl eigenmächtig an die Chinesen verkaufen wollte, bombte der Westen völkerrechtswidrig islamistischen Terrorhorden den Weg nach Tripolis frei: Den Afrikanern ging es wieder dreckig und das begehrte Öl floss westwärts. Neokolonialismus macht reich, aber niemals frei -und reich auch nur die Kolonialisten.

Das neoliberale Denken hat sich von den humanistischen Wurzeln des politischen Liberalismus weit entfernt, denn in der Technokratie gibt es (angeblich) kein Gegenüber mehr, bei dem wir unsere Menschenrechte einfordern könnten (Günther Anders). Der Neoliberalismus basiert auf einer bornierten Ideologie, die der Humanität und der Vernunft ebenso Hohn spricht wie der Vielfalt menschlicher Kulturen. Insbesondere der Vielzahl lokaler und regionaler Kulturen, wie sie allein Afrika, die Wiege der Menschheit, hervorgebracht hat.

Zu Afrotopia: Der blinde Fleck der Liberalen

Sarr will den „blinden Fleck des neoklassischen Paradigmas“ enthüllen, „kollektive Kräfte“ zur Kenntnis nehmen (S.79) und entlarvt das neoliberale Gerede vom universalen „Ich“ versus der „konstruierten Gesellschaft“ als ideologisch einseitige Verkürzung: Selbstverständlich ist auch das im staatsnahen DLF propagierte angeblich „freie Ich“ nur eine Konstruktion, leider die einer toxisch gewordenen Unkultur von Konkurrenz, Überwachung und Angst. Sarr aber konstruiert, unter Verweis auf Arendt, Adorno, David Throsby und den Netzphilosophen Michel Foucault, die Ökonomie lieber als kulturellen Prozess statt umgekehrt (S.71 ff.). Und Sarr dreht auch die in westlichen Medien kolportierten, einseitig als katastrophisch konstruierten Meldungen von hoher Geburtenrate und Übervölkerung um: Die Demografie spricht für Afrika als kommenden Kontinent.

In 35 Jahren wird bei Fortschreibung heutiger demografischer Trends ein Viertel der Weltbevölkerung in Afrika zuhause sein. Es ist also an der Zeit, die verborgene Lebenskraft dieses Kontinents zu entdecken und das Zeitalter eines Afrofuturismus auszurufen. Afrotopia hat in der intellektuellen Welt viel Aufmerksamkeit erregt und wird oft als wichtiger Beitrag zur Debatte über die Zukunft Afrikas angesehen. In „Afrotopia“, wie der Essay auch im französischen Original heißt, steckt der Begriff „Utopia“ – Sarr rehabilitiert den von Reaktionären und Liberalen aus Angst vor der kommunistischen Utopie durch diffamierende Reduktionen in Misskredit gebrachten Begriff. Die allzu billige Gleichsetzung jeder „utopischen“ Forderung nach Entmachtung und Enteignung bourgeoiser Herrschaftsklassen mit dem gebetsmühlenhaft beschworenen Stalinismus lässt sich der afrikanische Star-Ökonom nicht so leicht aufschwatzen wie die konformistische Mehrheit seiner westlichen Kollegen. Ist Sarr ein sozialistischer Denker? In vieler Hinsicht schon, besonders in seiner Gegnerschaft zur herrschenden kapitalistischen Ideologie, ob man sie nun „Globalisierung“ oder Neoliberalismus nennt.

Bei Felwine Sarr sind antikommunistische Konservative und Reaktionäre jedoch mit ihrem Pochen auf Familie und Tradition gegen „die gottlosen Sozialisten“ an der falschen Adresse: Traditionelle Sitten und Strukturen führt er in Hülle und Fülle an, nur eben nicht die biologistisch verabsolutierte bourgeoise Kleinfamilie, die konservative Westeliten ihrem Proletariat und neuerdings Prekariat als Paradies der Seligkeit verkaufen wollen. Er verweist auf die Kulturen der Muriden und Sufis, Wiredu und Modimbe, die Serer und Songhai und ihre soziohistorischen Wurzeln im Malireich, Ghana und Altägypten. In der Bildungsforschung stellt die Ethnologie der „New Kinship Studies“ inzwischen ähnliche Fragen an hergebrachte Konstrukte wie „die Familie“.

Der visionäre Ökonom und Kulturwissenschaftler Felwine Sarr entwickelt in seinem Manifest eine visionäre Utopie, wie eine eigene Form afrikanischen Fortschritts gelingen könnte, vor allem durch Entscheidungsautonomie und ein selbst gewähltes Entwicklungstempo. Langfristig könnte die afrikanische Kulturrevolution auch neue Ansätze für eine nachhaltige Entwicklung auf anderen Kontinenten liefern, bringt Sarr den generationenlang emsigen „Entwicklungshelfern“ ironisch seine Deutung nahe. Der Süden kann Vorbild werden -wenn es Afrika gelingt, sich vom schwarzen Erbe der europäischen Invasoren und Kolonialdiktaturen zu befreien. Denn das heutige „Afrika“ ist eine Erfindung Europas, die Sarr „Afropessimismus“ nennt:

„Seit den 1960er-Jahren und seit dem Morgen der Unabhängigkeit ist Afrika… ohne Unterlass als der Kontinent beschrieben worden, der einen Fehlstart hingelegt hat und seitdem am Abdriften ist: ein sterbendes Ungeheuer, dessen jüngste Zuckungen das baldige Ende ankündigen. Die grimmigen Zukunftsprognosen folgen einander im Gleichschritt… Auf dem Höhepunkt der Aids-Pandemie prophezeiten einige Auguren nichts weniger als die Auslöschung allen Lebens auf dem afrikanischen Kontinent. Soll diese Ansammlung von Elend doch von einer Gesundheitskatastrophe zugrunde gerichtet werden, der übrigen Menschheit kann es dann nur besser gehen.“ (S.9)

Deshalb ist „Afrika“ auch unter Ägide des Postkolonialismus ein finsteres Wort geblieben: „Dunkler Kontinent“, „Elendsgebiet“, „Rohstofflager der Welt“. Weiterhin wird Afrika mit Stereotypen belegt, die Unterentwicklung und Armut betonen. Weiterhin werden die Perspektiven des Kontinents an westlichen Fortschrittsmaßstäben gemessen, obwohl sich diese längst als unbrauchbar, wenn nicht gar zerstörerisch erwiesen haben. In seinem bahnbrechenden Manifest, das Analyse und Utopie anstrebt, fordert Felwine Sarr eine wirkliche Entkolonialisierung Afrikas, die auch auf die Kolonialzeit zurückgehende Institutionen und Handelsbeziehungen überwindet. Afrikanische Probleme können nur durch ein umfassenderes Verständnis ihrer Ursachen und nur durch die Afrikanerinnen und Afrikaner selbst gelöst werden.

Entwicklung“ -ein ideologisches Konzept

Wenn im Westen von „entwickelten“ oder gar von „unterentwickelten“ Ländern geredet wird, werden diese Begriffe selten reflektiert. Sarr analysiert diesen Begriff, der sich bis in die UNO-Milleniums-Entwicklungsziele verfolgen lässt, als Worthülse, die darauf zielt, „die Mythen des Westens auf die Entwicklungsverläufe afrikanischer Gesellschaften zu projizieren; der Westen habe habe damit „fremden mythologischen Universen“ sein „Interpretationsraster aufoktroyiert“ (S.17).

Ein begriffliches Defizit sei dabei die „quantophrenische Schieflage“, der „Zwang, alles zu zählen, zu bewerten, zu quantifizieren und in Gleichungen einzufügen.“ Bei einer solchen „mathematischen Reduktion der Realität bestehe die Gefahr, dass unvollkommene Maßeinheiten und Bezugspunkte unter der Hand in Zwecke des gesellschaftlichen Abenteuers umgedeutet werden.“ Sogar der Lebensqualität einbeziehende „Index der menschlichen Entwicklung“ diene letztlich dazu, Nationen zu klassifizieren und Rangordnungen zu erstellen, „mit Klassenbesten und Klassenschlechtesten“. Dabei sagen solche Indikatoren „nichts über das Leben selbst“ (S.18).

Etymologisch sei „Entwickeln“ der Gegensatz des „Einwickelns“ und genau das habe der Westen in Wirklichkeit mit nichtwestlichen Gesellschaften in seiner „Entwicklungspolitik“ getan: „Man hat sie in gesellschaftliche Formen eingewickelt, die ihnen nicht entsprechen.“ (S.23). Geködert mit Wohlstand, den der Westen der Plünderung seiner Kolonialreiche verdankt, wären viele dieser Ideologie auf den Leim gegangen. Deren scheinbare Objektivität des Bruttosozialprodukts basiere auf einem Weltbild der westlichen Neuzeit-Kultur, das Rationalität mit bestimmten westlichen Mythen verbinde: Gesellschaftlicher Evolutionismus, sprich: „Entwicklung“, sei analog biologischer Prozesse konstruiert; die Utopie grenzenlosen Wirtschaftswachstums wurzelt nach Sarr in „der Vorstellung eines unbegrenzten Himmelsreichs, wie man sie aus der christlichen Eschatologie kennt“ (S.22). Profanisiert zu westlichen Leitbegriffen wie Ordnung, Vernunft, Fortschritt und Wachstum finde sich dort die „Utopie einer deterministischen und vorhersagbaren Welt“, die im Europa des 17.Jahrhunderts entstand.

Ein Kernbegriff der Kritik von Falwine Sarr ist leider schwer ins Deutsche zu übersetzen: Ökomythos (S.25). Die Vorsilbe „Öko“ ist bei uns fest mit „Ökologie“ verknüpft, meint aber bei Sarr die Ökonomie. Da es kein naheliegendes deutsches Wort gibt („Kapitalismus“, „Instrumentelle Rationalität“ wären zu holprig) blieb es missverständlich im Text stehen -besser wäre vielleicht noch „Finanzmythos“, doch das fasst die Begriffsgeschichte erst ab der neoliberalen Finanzialisierung der Weltökonomie.

„Dieser Ökomythos ist zum einen dadurch hegemonial geworden, dass er westliche Vorstellungen des gesellschaftlichen Abenteuers auf Afrika projiziert hat, zum anderen dadurch, dass er stets dazu tendierte, sich in sämtliche soziale Praktiken einzuschreiben.“ (S.26) Das verhängnisvolle Versagen dieses Öko– bzw. Finanzmythos zeige sich in „Krise der Weltwirtschaft, die wir heute durchleben“. Die seit 2008 gärende Finanzkrise, deren Schockwellen, ausgehend von der Lehman-Pleite, weltweit Krisen verursachten, war für Sarr 2016 noch gegenwärtiger als heute. Abgelenkt von der endlich nicht mehr abzuleugnenden Klimakrise und vor allem vom Ukrainekrieg, sind sie fast schon wieder vergessen, die Bruchstellen im Finanzsystem -sie sind jedoch nur dürftig gekittet. Derzeitig explodierende Rüstungsetats im Westen könnten sogar als brandgefährlicher Versuch gedeutet werden, die Finanzkrise weiter zu verbergen und einer fatalen „Lösung“ in einem Dritten Weltkrieg zuzuführen.

Kein Wunder, dass Sarr dazu rät, „sich von der Herrschaft der mechanischen Vernunft zu befreien, indem man aufhört, den Geboten der herrschenden Wirtschaftsordnung zu folgen (Entwicklung, Ökonomismus, unbegrenztes Wachstum, Massenkonsum).“ (S.27) Die Wirtschaft solle, ihres dominierenden Selbstzwecks entkleidet, endlich wieder zu einem Mittel werden, das „den von der Gruppe definierten gesellschaftlichen Zwecken dient“ (S.28).

Afrika sollte sich auf seine verfemten und verdrängten geistigen Ressourcen zurückbesinnen, ohne den Kontakt mit der Moderne zu verleugnen. So findet sich eine Fülle kulturellen und geistigen Reichtums, die auf ein anderes, ausgeglicheneres Verhältnis zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur verweist. Die afrikanische Kulturrevolution bietet dabei auch für den Rest des Planeten dringend benötigte Ansätze, um eine postkolonialistische Zivilisation zu begründen. Afrika muss niemanden einholen auf Pfaden, die man ihm vorgibt. Es muss einen Weg gehen, den es für sich selbst gewählt hat. Es muss sich aus dem Wettbewerb lösen, aus einer kindischen Haltung, in der sich die Nationen vergleichen, um zu sehen, wer den größten Reichtum angehäuft hat -im Fall der westlichen Nationen fast immer, ohne zu fragen wie dies geschah. Und Afrika hat auch das Potential, so der Ökonom Sarr, sich aus diesem unverantwortlichen Wettbewerb zu lösen, der unsere sozialen und ökologischen Lebensgrundlagen zu zerstören droht.

frz.Original Édition Philippe Rey 2016

Eigene Zeit, eigene Netzwerke
Oft hysterische, angeblich immer wohlmeinende westliche Entwicklungshilfe kann man angesichts der dürftigen Ergebnisse kritisch sehen. Afrikas einzige Dringlichkeit besteht darin, so Felwine Sarr, endlich seinem Potenzial gerecht zu werden. Afrika muss seine Entkolonialisierung durch eine fruchtbare Begegnung mit sich selbst vollenden. In 35 Jahren wird seine Bevölkerung ein Viertel der Weltbevölkerung ausmachen und die lebendige Kraft einer alternden, hoffentlich nicht mehr von „alten weißen Männern“ regierten Welt sein. Ein demografisches Gewicht und eine Vitalität, die das soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Gleichgewicht des Planeten beeinflussen werden. Schon heute verfügt der jüngste Kontinent der Welt über eine Jugend, die sich in den stereotypen Nachrichtenbildern von Hunger und Elend in den europäischen Medien nicht wiederfinden kann. Felwine Sarr wendet sich selbstbewusst gerade an die ehemaligen Kolonialisten in Paris:

„Diese Jugend nutzt die sozialen Netzwerke, betreibt Blogs, tweetet, kommentiert Nachrichtenmeldungen, äußert ihre Meinung und beobachtet den Lauf der Welt. Sie ist rasch zur Stelle, wenn es auf einen im Gewand der Frankofonie auftretenden kulturellen Imperialismus zu reagieren gilt. Wo doch demografische und soziolinguistische Dynamiken aus dem Französischen nicht nur eine afrikanische Sprache gemacht haben, sondern auch eine, die nur dank afrikanischer Demografie überleben und ihren internationalen Status behalten wird.“ (S.93)

Um ein treibender Akteur der Geschichte zu werden, muss Afrika eine tiefgreifende kulturelle Revolution durchlaufen. Es muss sich von den Versuchungen des Westens lösen, wie Sarr unter Berufung auf den indischen Kritiker westlicher Dominanz, Pankaj Mishra, betont, und den „Reichtum der eigenen gesellschaftlichen Besonderheiten“ retten (S.122). Es muss am Aufbau einer bewussteren Zivilisation mitwirken, die sich kraftvoller um das Gemeinwohl, das Gleichgewicht verschiedener soziokultureller Ordnungen und um die Würde des Menschen bemüht. Afrotopia ist ein Ausdruck des Vertrauens in diese beherzte Utopie: Sarr fordert ein Afrika, das dazu beiträgt, unsere globale Gesellschaft auf eine neue Stufe zu heben. So schließt Afrotopia optimistisch:

„Afrika muss auch die Rolle seiner Kultur neu überdenken. Kultur als Suche nach Zwecken, nach Zielen und Gründen, überhaupt zu leben, als Verfahren, um dem menschlichen Abenteuer einen Sinn zu verleihen. Um Kultur in diesem Sinn zu verwirklichen, bedarf es einer radikalen Kritik all dessen, was in den heutigen afrikanischen Kulturen die Menschheit und die Menschlichkeit eindämmt, behindert, begrenzt oder herabsetzt. Zugleich müssen aber bestimmte afrikanische Werte rehabilitiert werden: jom (Würde), Gemeinschaftlichkeit, téraanga (Gastfreundschaft), kersa (Bescheidenheit), ngor (Ehrgefühl). Es gilt, den tiefgreifenden Humanismus der afrikanischen Kulturen zutage zu fördern und zu erneuern. Die Revolution, die es auf den Weg zu bringen gilt, ist eine spirituelle. Und es scheint uns, dass die Zukunft der Menschheit von ihr abhängt. Am Tag der Revolution wird Afrika, wie zur Zeit der ersten Morgenanbrüche, wieder das spirituelle Zentrum der Welt sein.“ (S.156)

Die Afrotopia-Buchbesprechung im staatsnahen Deutschlandfunk meinte offenbar der deutschen Öffentlichkeit in seinem Zitat genau dieser Passage weder die afrikanischen Worte zumuten zu können, noch den auf „den Tag der Revolution“ verweisenden Schlusssatz. Besser lässt sich die Notwendigkeit der deutschen Fassung von Felwine Sarrs Manifest wohl nicht dokumentieren als mit dieser eurozentrischen Verkürzung, die fremde Sichtweisen noch dort zum Verstummen bringen will, wo sie ihnen vermeintlich lobend das Wort erteilt.

Der Autor: Felwine Sarr wurde 1972 in Niodior im Senegal geboren. Er ist Schriftsteller, Musiker und lehrt als Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Gaston Berger Universitat in Saint-Louis, Senegal. Im März 2018 wurde er gemeinsam mit Benedicte Savoy von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beauftragt, die Rückgabe von französischer Raubkunst nach Afrika vorzubereiten. Felwine Sarr gilt als einer der meistdiskutierten Denker Afrikas. Zusammen mit Bénédicte Savoy wurde Felwine Sarr vom Time Magazin zu den 100 einflussreichsten Menschen 2021 gewählt. Bénédicte Savoy, 1972 in Paris geboren, lehrt Kunstgeschichte an der TU Berlin. Ihre Forschungsinteressen sind Kunst und Kulturtransfer in Europa, Museumsgeschichte sowie Kunstraub und Beutekunst. 2016 erhielt sie den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Das Buch von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy: „Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“ stellt die Kolonialisten zur Rede. Der von Präsident Macron beauftragte Bericht zur Rückgabe des in französischen Museen befindlichen afrikanischen Kulturerbes lag im November 2018 vor. Er löste eine bis heute anhaltende Debatte aus, die über Frankreichs Grenzen hinausging. Sarr und Savoy zeigen, dass ein großer Teil der afrikanischen Sammlungen in den ethnologischen Museen Europas gewaltsam im Zuge des Kolonialismus oder durch die Übervorteilung der Einheimischen geraubt wurde. Bis heute befinden sich ca. 90 Prozent des afrikanischen Kulturerbes außerhalb des Kontinents. Nötig ist eine radikale Revision der bisherigen Sammlungspraxis, die auch deutsche Museen und nicht zuletzt das geplante Humboldt Forum berührt. Die Debatte über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes sollte einen neuen gleichberechtigten Dialog zwischen Afrika und Europa eröffnen. Doch es kam anders: Der französische Präsident wollte seinen Rat, wie er mit kolonialer Raubkunst umgehen solle – und schlug ihn in den Wind, so Felwine Sarr am 29.7.2019 in der „ZEIT“ über die Arroganz der Europäer und die große Chance der Restitutionsdebatte.

Das französische Original wurde erstmals im Jahr 2016 veröffentlicht, die deutsche Übersetzung folgte 2019 im Verlag Matthes & Seitz und seit 2020 liegt bei der staatlichen Bundeszentrale für Politische Bildung eine billige Ausgabe vor. Dieser Buchbesprechung lag die erste deutsche Übersetzung vom Verlag Matthes & Seitz zugrunde, der auch den Bericht an den Präsidenten der französischen Republik, Emmanuel Macron, übersetzte:

Sarr, Felwine: Afrotopia, Berlin 2019, Matthes & Seitz, 175 Seiten, 20,00 Euro, ISBN: 978-3-95757-677-4, 2020 erschien die druckgleiche, im Rahmen des Förderprogramms des Institute fancais herausgegebene BPB-Ausgabe mit dem Hinweis: „Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.“

Sarr, Felwine und Bénédicte Savoy: Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin 2019, Matthes & Seitz Berlin, 18,00 Euro, ISBN: 978-3-95757-763-4