10/17/24

EU-Kommission: Pro X (Twitter)

Kommission kommt zu dem Schluss, dass der Online-Social-Networking-Dienst von X nicht nach dem Gesetz über digitale Märkte ausgewiesen werden sollte

Die Kommission kam heute zu dem Schluss, dass der Online-Social-Networking-Dienst von X nicht als zentraler Plattformdienst gemäß dem Gesetz über digitale Märkte (DMA) ausgewiesen werden sollte.

Der heutigen Entscheidung ging eine eingehende Marktuntersuchung voraus, die am 13. Mai 2024 eingeleitet wurde, nachdem X seinen Status als potenzieller Gatekeeper gemeldet hatte. Zusammen mit der Anmeldung reichte X auch Gegenargumente ein, in denen es erläuterte, warum sein sozialer Online-Netzwerkdienst seiner Ansicht nach nicht als wichtige Schnittstelle zwischen Unternehmen und Verbrauchern angesehen werden kann, selbst wenn X die quantitativen Schwellenwerte des DMA erfüllt.

Nach eingehender Prüfung aller Argumente, einschließlich der Beiträge der einschlägigen Interessengruppen, und nach Anhörung des Beratenden Ausschusses für digitale Märkte kam die Kommission zu dem Schluss, dass X in Bezug auf seinen sozialen Online-Netzwerkdienst tatsächlich nicht als Gatekeeper in Frage kommt, da die Untersuchung ergab, dass X kein wichtiges Gateway für Unternehmen ist, um Endnutzer zu erreichen.

Die Kommission wird die Entwicklungen auf dem Markt in Bezug auf diesen Dienst weiter beobachten, sollten sich wesentliche Änderungen ergeben.

Die nicht vertrauliche Fassung der Entscheidung wird auf der DMA-Website der Kommission veröffentlicht. -Übersetzt mit DeepL.com (kostenlose Version); mit Dank an den Newsticker von Netzpolitik.org.

Anm. Wie genau diese Entscheidung der eher demokratiefernen und konzernnahen EU-Kommission zustande kam, wird wohl trotz der scheinbaren Transparenz (?) nicht leicht nachvollziehbar sein.

Derweil läuft in der EU eine Petition gegen X von Elon Musk: BanX

10/15/24

Petition BAN X in EUROPE

Das Institute of Network Cultures ruft auf:

Unterzeichnen Sie die Petition BAN X in EUROPE und beteiligen Sie sich an der Kampagne

Von admin, 12. Oktober 2024 um 3:09 Uhr.

Die Europäer müssen sich gegen den Einfluss von Elon Musk vereinen. Wenn Sie in der EU leben oder deren Werte unterstützen, bitten wir Sie dringend, diese Petition zum Verbot seiner Plattform X zu unterzeichnen.

Bitte unterzeichnen Sie die Petition auf change.org hier. Ihr Name und Ihre Daten werden nicht veröffentlicht. Weitere Informationen und Aktualisierungen finden Sie auf der Website der Kampagne.

Die Social Media Plattform X muss in Europa verboten werden. Hören Sie auf, sie zu nutzen, organisieren Sie gemeinsam den Exodus und wechseln Sie zu sichereren und besseren Alternativen wie Mastodon – schließen Sie sich hier an <https://joinmastodon.org/>.

Dies ist ein Aufruf für ein sofortiges Verbot von Elon Musks Social-Media-Plattform X (früher bekannt als Twitter) in der Europäischen Union. Diese Plattform ist zu einem Nährboden für Desinformation, Hassreden und Missbrauch geworden, die die Werte der Inklusivität und Wahrheit in unserer Gesellschaft bedrohen. X wird zunehmend als Instrument zur Verbreitung von Desinformationen über kritische Themen wie politische Debatten, Klimawandel und soziale Gleichberechtigung missbraucht. Fehlinformationen führen nicht nur die öffentliche Meinung in die Irre, sondern untergraben auch das Vertrauen in demokratische Institutionen.

So hat Musk beispielsweise rechtsgerichtete Politiker wie Trump und Meloni in Italien offen unterstützt und ihnen das Eindringen in die Politik erleichtert, um seine rechtsextreme Agenda voranzutreiben. Diese Normalisierung extremistischer Ansichten und die Verstärkung von Hassreden stehen im direkten Widerspruch zum Engagement der EU für Menschenrechte und Gleichheit.

Darüber hinaus fördert X kein faires Umfeld für freie Meinungsäußerung; es wird von Elon Musks persönlicher Propaganda und der Unterdrückung alternativer Standpunkte angetrieben, was zu Zensur und der Radikalisierung falscher Narrative führt.

Vor allem aber verstößt X gegen europäische Gesetze, darunter den Digital Services Act (DSA). Musk hat diese Vorschriften ignoriert und ist illegal in der EU tätig. Mehrere europäische Abgeordnete haben ihn bereits wegen dieser Verstöße verwarnt, doch er missachtet weiterhin den Rechtsrahmen, der unsere Bürger schützen soll. Vor kurzem wurde X in Brasilien aus ähnlichen Gründen verboten, was den dringenden Handlungsbedarf in der EU verdeutlicht.

In Anbetracht dieser Bedenken fordern wir die Europäische Kommission dringend auf, entschlossen zu handeln und X zu verbieten.

Der Schutz der europäischen Bürger vor Desinformation und Hassreden ist unerlässlich, um einen gesunden öffentlichen Diskurs zu fördern und die Sicherheit und Würde aller Menschen zu gewährleisten.

Schließen Sie sich uns an und fordern Sie ein sichereres Online-Umfeld für alle Menschen in Europa. Unterzeichnen Sie die Petition zum Verbot von X hier: <https://www.change.org/p/ban-x-in-europe-elon-musk-must-be-stopped-in-eu> und setzen Sie sich für die Werte der Wahrheit, des Respekts und der Inklusivität ein.

Andere Versionen dieses Aufrufs finden Sie unter https://BAN-X-in.EU, dem Hashtag #BAN_X_in_EU, Mastodon <https://mastodon.social/@BAN_X_in_EU> und auf X selbst <https://x.com/BAN_X_in_EU>. Pressemappe und Banner: Bilder und Fotos <https://drive.google.com/drive/folders/1pxgzfWOd9DPtGe8zQpUstBHFyibNoVak?usp=sharing>. Anfragen: ban.x.in.eu@gmail.com.

Übersetzt mit DeepL.com (kostenlose Version) reblogged von Institute of Network Cultures (wurde von Geert Lovink gegründet). Im März war in den USA eine Klage gegen Hassrede auf X abgewiesen worden.

10/15/24

Big Brother Award 2024: Trend Technikpaternalismus

Dies ist kein Preis für einen einzelnen Kandidaten, sondern ein Hinweis auf ein größeres Problem: Technik, die uns bevormundet, gängelt und nervt mit Besserwisserei, die Menschen Entscheidungen abnimmt, sie lückenlos überwacht, keinerlei Abweichungen, Ausnahmen oder gar Individualismus erlaubt. Sanktioniert wird mit strafendem Piepston, Petzen bei Behörden oder schlicht Funktionsverweigerung.

(Anmerkung von Netzphilosophie: Diese Kür hat uns besonders gefreut, denn wir bearbeiten „Technikpaternalismus“ bereits seit langer Zeit als wichtiges Thema der Netzkultur und sogar als eine von 10 Kategorien zur Einordnung unserer Beiträge.)

Laudator.in: Rena Tangens, Digitalcourage

Dieser BigBrotherAward 2024 geht an einen Trend. Der Trend heißt „Technikpaternalismus“.

Haben Sie noch nie gehört?

Genau deshalb geben wir diesem Phänomen – dem Technikpaternalismus – jetzt einen BigBrotherAward. So erkennen Sie ihn in Zukunft, wenn Sie ihm begegnen.

Sarah Spiekermann und Frank Pallas haben 2005 den Begriff Technikpaternalismus geprägt.1 Das Wort „Paternalismus“ kommt von lateinisch „pater“, also Vater.

„Paternalistisch“ nennt man Handlungen, die auf das vermeintliche Wohl von anderen ausgerichtet sind, aber oft gegen deren Willen.

Beim „Technikpaternalismus“ hat die Technik die Rolle des Pater familias übernommen, der alles besser weiß und uns ständig sagt, was wir tun und was wir lassen sollen. Ist doch zu unserem eigenen Besten … Technikpaternalismus ist die freundliche Belagerung mit guten Vorschlägen. Und dieses Phänomen hat gerade richtig Konjunktur…

Noch ein Zitat von Eric Schmidt: „Ich glaube, dass die meisten Menschen gar nicht wollen, dass Google ihre Fragen beantwortet. Sie wollen, dass Google ihnen sagt, was sie als nächstes tun sollen.“ Diese Art Zukunftsvisionen sind darauf angelegt, uns zu entmündigen. Oder, wenn wir mit dieser Technik aufwachsen, uns gar nicht erst mündig werden zu lassen.

(…)

Ganzer Text hier

Als Preisträger der BigBrotherAwards 2024 wurden gekürt:

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach für das Gesundheitsdatennutzungsgesetz, das nach unklaren Verfahren und ohne geeignete Schutzvorkehrungen unsere sensiblen Gesundheitsdaten verfügbar macht.

Die sächsische Polizei und der sächsische Innenminister Armin Schuster für das „videogestützte Personen-Identifikations-System“, das einen gruseligen Vorgeschmack auf neue Überwachungsmöglichkeiten der Polizei gibt.

Die Handelsplattformen Temu und Shein, deren Datenschutzregeln und AGB von ähnlich schlechter Qualität sind, wie die angebotenen Produkte.

Die Deutsche Bahn, weil sie mit ihrem zunehmenden Digitalzwang nicht nur Menschen ausschließt, sondern auch anonymes Reisen zunehmend unmöglich macht.

Der Trend Technikpaternalismus: Immer mehr Technik nervt uns mit Besserwisserei, gängelt und bevormundet uns – so werden unsere Geräte nach und nach vom Butler zum Chef.

07/28/24

Gesetzentwurf Netzausbau

Gesetzentwurf: Netzausbau soll im „überragenden öffentlichen Interesse“ stehen

Künftig soll der Ausbau digitaler Infrastrukturen schneller und einfacher werden, geht es nach der Bundesregierung. Bis 2030 steht er deshalb im „überragenden öffentlichen Interesse“ – allerdings mit Einschränkungen.

Tomas Rudl, Netzpolitik.org 24.07.2024

Zumindest die erste Hürde ist nun genommen: Heute hat das Bundeskabinett einen Entwurf des Telekommunikation-Netzausbau-Beschleunigungs-Gesetzes (TK-Nabeg) beschlossen. Damit kann das lange erwartete Gesetz in die weitere Behandlung durch Bundestag und Bundesrat gehen.

„Mit diesem Gesetz beschleunigen wir den dringend notwendigen Ausbau unserer digitalen Infrastruktur“, freute sich Digitalminister Volker Wissing (FDP) über die Einigung. Quer gestellt hatte sich zuvorderst Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne), dem Vernehmen nach hatte sie lange für Naturschutzstandards verhandelt.

Der nun gefundene Kompromiss bringe „Umweltschutz und die Modernisierung“ des Landes in Einklang, heißt es aus dem federführenden Digitalministerium (BMDV). Künftig liegt der Ausbau von Telekommunikationsnetzen im „überragenden öffentlichen Interesse“. Das heißt, dass der Netzausbau Vorfahrt erhält, wo er bislang in Abwägungen mit anderen gleichrangigen Belangen unterlegen war. Allerdings gibt es hierbei Einschränkungen.

Befristetes „überragendes“ öffentliches Interesse

So ist die „überragende“ Bedeutung von Infrastrukturprojekten bis ins Jahr 2030 befristet. Ein Kompromiss dieser Art hatte sich bereits abgezeichnet, damit kann auch die Industrie leben. Auf teils heftige Kritik stößt jedoch die Beschränkung auf Mobilfunk in naturschutzrechtlichen Verfahren.

Nach einer weiterhin erforderlichen Abwägung können künftig Landesämter beispielsweise Funkmasten in unterversorgten Naturparks schneller errichten lassen, Festnetz- beziehungsweise Glasfaserleitungen jedoch nicht. Der Branchenverband Breko unterstellt der Regierung deshalb gar, mit ihrem Anspruch für mehr Tempo beim Glasfaser- und Mobilfunkausbau „krachend gescheitert“ zu sein. Tabea Rößner (Grüne) aus dem Digitalausschuss spricht hingegen von einem „ausgewogenen und tragfähigen Kompromiss“.

Wie und ob sich dieser auf den Ausbau auswirkt, soll nach drei Jahren evaluiert werden: „Dabei werden insbesondere die Anzahl, die Dauer und der Ausgang der Genehmigungsverfahren zur Verlegung und Änderung von Telekommunikationslinien sowie deren Umweltauswirkungen betrachtet“, heißt es in einem neu hinzugekommenen Paragrafen.

Beschleunigte Genehmigungsverfahren

Die restliche Entschlackung von Bürokratie war deutlich weniger umkämpft. Eine Genehmigung zum Ausbau gilt etwa nach zwei statt bisher drei Monaten nach Eingang des Antrags als erteilt (Zustimmungsfiktion). Auch die Frist, innerhalb derer auf einen unvollständigen Antrag aufmerksam gemacht werden muss, ist auf drei Wochen verkürzt worden. Hingegen können sich künftig Ämter zwei statt bislang einen Monat lang Zeit bei der Bewilligung lassen, „wenn dies wegen der Schwierigkeit der Angelegenheit gerechtfertigt ist“.

Mehr Auflagen kommen auf Netzbetreiber bei ihren Dokumentationspflichten zu. Das bereits bestehende Gigabit-Grundbuch soll deutlich aufgewertet und zu einer „zentralen Datendrehscheibe“ für alle Informationen werden, die für den Glasfaser- und Mobilfunkausbau relevant sind. Schon heute bietet das Datenportal Informationen zum Ausbaustand an, unter anderem mit öffentlichen Versorgungskarten oder nur Behörden zugänglichen Analysetools.

Im Vorfeld hatten manche Branchenverbände den erhöhten Aufwand und potenzielle Sicherheitsprobleme kritisiert, allerdings kommt eine bessere Datenlage auch ihnen zugute. Ausdrücklich begrüßt etwa der VATM-Verband die „verbesserte zentrale Informationsbereitstellung über das Gigabit-Grundbuch“. Dies helfe nicht nur Unternehmen beim Ausbau, sondern auch staatlichen Stellen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene. Die könnten sich nun nach dem „One-Stop-Shop“-Prinzip bei einer zentralen Stelle informieren.

Präzisiert wird das vor einigen Jahren eingeführte Minderungsrecht, wenn Netzanbieter nicht die bezahlte Leistung liefern. In solchen Fällen ist das vertraglich vereinbarte Entgelt mindestens um zehn Prozent herabzusetzen. Auf einen pauschalierten Anspruch auf Schadensersatz hatten lange Zeit Verbraucherschutzverbände hingewirkt, offenkundig erfolgreich: Im Referentenentwurf des Gesetzes aus dem Vorjahr war diese Regelung noch nicht enthalten.

Tomas ist in Wien aufgewachsen, hat dort für diverse Provider gearbeitet und daneben Politikwissenschaft studiert. Seine journalistische Ausbildung erhielt er im Heise-Verlag, wo er für die Mac & i, c’t und Heise Online schrieb. Er ist unter ‭+49 30 577148268‬ oder tomas@netzpolitik.org (PGP-Key) erreichbar und twittert mal mehr, mal weniger unter @tomas_np. (Von Netzpolitik.org, Autor:innen-Info)

05/24/24

Theorien des digitalen Kapitalismus

Carstensen/Schaupp/Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus: Arbeit, Ökonomie, Politik, Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2023, 533 Seiten, 28,00 Euro (Leseprobe/Inhaltsverzeichnis)

Thomas Barth

Wie kann kritische Sozialwissenschaft den digitalen Kapitalismus, heute theoretisch fassen? Wie kann sie die Frage beantworten, ob sich der Kapitalismus angesichts der gegenwärtigen Digitalisierung grundlegend verändert? Der vorliegende Band gibt einen Einblick in theoretische Analysen, Zeitdiagnosen und Debatten eines digitalen Kapitalismus. Er bespricht entlang der Felder Arbeit, Ökonomie, Politik, Kultur und Subjekt die Formen und Auswirkungen des digitalen Kapitalismus. Eine integrative Theorie des digitalen Kapitalismus scheine zwar unmöglich, gleichwohl wolle man „Verbindungen der disparaten Ansätze“ ausleuchten (Backcover). Der Begriff „Kapitalismus“ deutet es an: Die meisten Autor:innen des unübersichtlichen Sammelbandes beziehen sich theoretisch auf Karl Marx oder wenigstens auf freudomarxistische Theoretiker, etwa auf Adorno oder Habermas.

Das Taschenbuch mit einem Umfang von 533 Seiten gliedert sich in vier Kapitel mit insgesamt 25 Unterkapiteln nebst Einleitung. Die Kapitel heißen: 1. „Arbeit“, 2. „Ökonomie“, 3. „Politik und Öffentlichkeit“ sowie 4. „Kultur und Subjekte“. Die Zuordnung der Beiträge ist dabei nicht immer einsichtig, etwa wenn die sehr lesenswerten Texte von Marisol Sandoval zu digitalen Genossenschaften und Felix Stalder zu Commons und Commoning nicht unter Ökonomie, sondern im dritten bzw. vierten Kapitel landen.

Progressive Perspektive auf Digitalisierung

Eine progressive Perspektive wird markiert durch Berichte über Arbeitskämpfe gegen Digitalkonzerne, deren unethische Geschäftspolitik, feministische Beiträge zum Thema Care und Digitales sowie ökologische Kritik –bei Thomas Barth (nicht identisch mit dem Rezensenten), auf dessen Text „Nachhaltigkeit im digitalen Kapitalismus“ jedoch niemand weiter eingeht. Oft wird auch versucht, Kulturkritik am digitalen Kapitalismus zu üben, politisch die Sache der (digital) Arbeitenden gegen die Seite des (Dotcom-) Kapitals zu vertreten oder marxistische Begriffe auf die Thematik der Digitalisierung anzuwenden.

Der Marxismus wurde oft tot gesagt, erweist sich aber langlebiger als erwartet. Der renommierte Suhrkamp-Wissenschaftsverlag brachte im Herbst 2023 diesen Sammelband überwiegend marxistischer Theoretiker:innen zum „Digitalen Kapitalismus“ heraus. Deren Beiträge sind fast alle politisch links, feministisch, ökologisch, marxistisch. Aber sie dokumentieren auch eine offenbar langjährige hartnäckige Weigerung vieler Marxist:innen, sich mit politischen Debatten rund um Informationsgesellschaft, Netzwerkkultur, Web2.0 und zuletzt „Digitalisierung“ auseinanderzusetzen. Erst mit der Plattformkritik scheint hier eine Debatte eingesetzt zu haben, der aber marxistische Perspektiven punktuell durchaus nützlich sind.

So entmystifiziert und kritisiert etwa Jamie Woodcock Dotcom-Konzerne und setzt im Text „Plattformarbeit“ (S.85-101) bei Nick Srniceks „Typologie der Plattformen“ an. Plattformen profitieren von Netzwerkeffekten und ihrer Tendenz zu Monopolisierung und kämen dem nahe, was Marx einen „Kaufmannskapitalisten“ nannte, der billig kaufe und teuer verkaufe (S.90). Auf einem abstrakten Niveau werden hehre PR-Selbstdarstellungen von Woodcock auf ein simples Profitmodell zurecht gestutzt, das nur als Trittbrettfahrer des Neoliberalismus seine Erfolge feierte:. Die Zunahme der Plattformarbeit sei Teil des neoliberalen „Wandels von Arbeit, Gesellschaft und Staat“ (S.93) mit grassierender Aushöhlung von Arbeitsrechten, Prekarisierung und Abwälzung von Risiken auf die Arbeitenden. Dabei würde etwa bei Amazon Mechanical Turk menschliche Arbeitskraft als „billigere Form von Software“ ausgebeutet (S.97). „Plattformen haben sich bisher als Laboratorium für das Kapital erwiesen, könnten aber auch ein Testfeld für neue Formen des Widerstands und der Organisation von Arbeitnehmer:innen darstellen.“ (S.101)

In diesem Sinne betont etwa Simon Schaupp die Möglichkeiten von Betriebsräten, bei Digitalisierung in Unternehmen Datenschutzgesetze für die Verteidigung von Arbeitnehmerrechten zu nutzen (S.334ff.); Tanja Carstensen widmet sich dem digitalen Ringen um Handlungsfähigkeit in Kämpfen, die um gender, race, class und ability geführt werden (S.404) und kritisiert mit Nancy Fraser die idealisierte Vorstellung von Öffentlichkeit nach Habermas (S.412); das Autorentrio Nachtwey/Truffer/Seidl kritisiert den „solutionistischen Geist des Kapitalismus“, aber ohne den Transhumanismus beim Namen zu nennen (S.458ff.); Helen Hester blickt zurück auf die Geschichte des Cyberfeminismus, der Beziehung von Frau und Technik vom Flechten und Weben über die feminisierte Schreibmaschine bis zum Cyberpunk-Genre (S.424ff.), seltsamerweise ohne dabei Donna Haraway zu erwähnen, obwohl sie sich auf deren Konzept vom situierten Wissen beruft (S.434); Jodi Dean ruft zum Kampf gegen den digitalen Neofeudalismus auf, der Arbeitende zu rechtlosen Bauern in einem „Game-of-Throne-Machtkampf“ (S.439) degradiert, beruft sich dabei auch auf den sozialistischen Ökonomen Yanis Varoufakis, den griechischen Ex-Finanzminister, dessen Europa-Wahlkampf-Auftritt in Deutschland jüngst verboten wurde -was man als Zeichen feudaler Willkür sehen könnte. Aus dem Wimmelbild kritischer Ansätze wichtige Argumentationsfiguren und Diskursarenen herauszufiltern ist verständlicherweise schwierig. Eine kritische Rezension muss einige Defizite des Sammelbandes benennen.

Digitalisierung und Informatisierung

Die Einleitung klärt zunächst die Begriffe Digitalisierung und Informatisierung, wobei letzere die Vergegenständlichung geistiger, regulierend-orientierender Tätigkeiten meint. In Zeichen oder Information erlange dabei nur ein Teil menschlicher Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissens „eine eigenständige Gestalt“. Andere Kommunikationspartner:innen müssten die vergegenständlichten Informationen dann wieder in ihr Wissen und ihre Erfahrungen einbetten. Diese kooperative „Arbeit an den Zeichen“ (Fn1) bediene sich auch unterschiedlicher Informationstechniken. Informatisierung meine in einem zweiten Sinn die „Materialisierung des Informationsgebrauchs“ (Fn2) in Informationssystemen. Es ginge hier um den organisierten und vergegenständlichten Umgang mit Informationen. Digitalisierung sei demgegenüber die Formalisierung, Reduktion und Integration von Information die in virtuellen Modellen gipfle, welche Tätigkeiten, Arbeit und der Herstellung von Technik vorausgehe (S.10).

Gleich die erste Fußnote der Einleitung verweist auf einen posthum erschienenen Band mit Schriften von Arne Raeithel (1943-96) „Selbstorganisation, Kooperation, Zeichenprozess“ (1998), die zweite auf den Beitrag von Andreas Boes und Tobias Kämpf, „Informatisierung und Informationsraum: Eine Theorie der digitalen Transformation“ (S.141-161), so als hätten diese Raeithels für das Thema des Sammelbandes einschlägige Arbeiten weiterentwickelt. Leider nehmen Boes und Kaempf keinen Bezug auf Raeithel und auch sonst keiner der Beiträge -die drei weiteren Texte der Herausgeber:innen inbegriffen.

Boes und Kämpf blicken in ihrem Beitrag auf die Informatisierung als zentrales Element der Produktivkräfte, aus „historischer Perspektive“ sogar als „Teil der conditio humana“ sowie auf Information als soziale Kategorie (S.143). Wir werden sehen, dass Arne Raeithel in den 1980er und –90er Jahren die Ehre hatte, diese drei „konzeptionellen Säulen“ nicht nur als grundlegend vorauszuahnen, sondern zumindest teilweise auch bereits tiefer und detaillierter auszuarbeiten als Boes und Kämpf in ihrem Text erkennen lassen. Sie monieren am Stand der Forschung, dass wegen der Marx’schen Fokussierung auf industrielle Handarbeit die „Sphäre der Kopfarbeit“ vernachlässigt wurde. Ihr „Konzept der Informatisierung“ will „an dieser analytischen Leerstelle“ ansetzen, doch die vermeintliche Leerstelle hätte sich durch Lektüre von Raeithel mehr als schließen lassen. Ihr historischer Rückblick auf Zeichensysteme bis Buchdruck (S.150ff.) bleibt deutlich hinter Raeithels Geschichte der „symbolischen Herstellung sozialer Kohärenz“ zurück, der Vor- und Frühgeschichte bis Ethnologie aufbietet (Raeithel 1998, S.189-208) vgl. Raeithel 1996.

Die multimediale Welt des heutigen WWW konnte Raeithel noch nicht kennen, doch der von Boes und Kämpf als Fazit ihrer Analyse präsentierte, von „Bild, Ton, Zeichen usw.“ (S.154) erfüllte „Informationsraum“ überzeugt nicht wirklich: Er sei sozialer Handlungsraum, durchdringe die Gesellschaft, „eröffne das Potenzial für einen egalitären Modus der gesellschaftlichen Produktion von Wissen“ (S.158). Dies sind heute Gemeinplätze oder schon lange fragwürdig gewordene Hoffnungen der „Kalifornischen Ideologie“ des Slicon Valley (Barth 1999). Die Raummetapher für das Internet stammt aus den 80er-Jahren, der Cyberspace, den die Matrix-Filme auf die Leinwand brachten. Sie ist seit einer guten Dekade als ein Ordnungsmodell des Internets in den Medienwissenschaften kanonisiert –Raummodelle: Cyberspace, Portal, Plattform (Bleicher 2010, S.46 ff.); heute sind die Raummodelle nur noch eines von einem Dutzend Ordnungsmodelle, von „Dispositiv“ bis „Suchmaschinen“ (Bleicher 2022, S.109 ff.) –hier scheinen den Marxisten schlicht wichtige Basiskenntnisse aus der einschlägigen Nachbarwissenschaft zu fehlen. Das ist schlecht, wenn man ein nur interdisziplinär fassbares Thema bearbeiten will.

Arne Raeithel und Mark Poster als vergessene Klassiker

Thomas Barth (der Rezensent, nicht der Beiträger zum Suhrkamp-Band) zeichnete 1995 im Exkurs „Marxistische Ansätze zur Informationsgesellschaft“ die marxistische Begriffsentwicklung zur Informatisierung u.a. beim US-Marxisten Mark Poster und beim marxistischen Psychologen Arne Raeithel nach (Barth 1997, S.79ff.). Poster entwickelte aus dem Marx’schen Begriff der „Produktionsverhältnisse“ unter Bezug auf postmoderne Theorie (Baudrillard, Foucault) seinen auf die kommende Informationsgesellschaft zugeschnittenen Begriff der „Informationsverhältnisse“ -aber keiner der Suhrkamp-Beiträge bezieht sich auf Poster. Am weitesten ausgearbeitet war die marxistische Analyse der Digitalisierung, die man damals noch Informatisierung nannte, m.W. jedoch bei Arne Raeithel.

Raeithel analysierte soziale Kommunikation als Form gesellschaftlicher Arbeit, basierend auf einem vergegenständlichten Begriff von Sprechhandlungen bzw. generell von Information als Trägerin einer symbolisch geteilten Welt (Raeithel 1989). Dies greift der zweiten „Säule“ der Konzeption von Boes und Kämpf vor, Informatisierung als soziales Verhältnis und gesellschaftlichen Prozess zu verstehen, wobei Raeithel mit „Zur Naturgeschichte der Zeichenprozesse – Drei Stufen der Entwicklung von Kommunikation und Denken“ (Raeithel 1998, S.243-255) auch die dritte „Säule“, die historische Perspektive auf die informatorische conditio humana vorwegnahm. Dabei schloss Raeithel, der zu den sehr frühen Anwendern von Computer und Internet zählte und selbst programmieren konnte, ausdrücklich „rechnergestützte“ Arbeit, d.h. Arbeit im digitalen Bereich, ein (Raeithel 1992).

Raeithels Ansatz gründete auf der sowjetischen kulturhistorischen Schule von Leontjew und Wygotsky, die im Stalinismus marginalisiert wurde. Er formulierte einen Arbeitsbegriff aus, der kognitive Tätigkeit an symbolischen Gegenständen ins Visier nahm. Der so gezeichnete Arbeitsprozess zielt auf Veränderungen von Können, Begriffen und Werkzeugen, also auf die sich entwickelnde Reproduktion der inneren und äußeren Verhältnisse der Subjekte (Raeithel 1998, S.35). Raeithel ging damit bereits nicht nur über die theoretische Analyse von Boes und Kaempf hinaus, sondern bewegte sich in Bereichen, die der vorliegende Sammelband eher defizitär im Kapitel „Kultur und Subjekte“ behandelt.

Regulierung digitaler Plattformen

Ulrich Dolata und Jan-Felix Schrape entwerfen in ihrem Beitrag „Politische Ökonomie und Regulierung digitaler Plattformen“ ein –zumindest für diesen Sammelband- überraschend unkritisches, teils fast affirmatives Bild der Plattformkonzerne. Aus Sicht der Organisations- und Innovationssoziologie verteidigen sie zunächst die US-Technologiekonzerne Amazon, Apple, Alphabet/Google und Meta/Facebook gegen die Vorhaltung, dort würde in einem „asset-light-Geschäftsmodell“ weitgehendes Outsourcing betrieben (S.346). Unklar bleibt dabei, warum sie Microsoft ausnehmen. Ihre analytische Teilung von „Plattformunternehmen als organisatorischer Kern“ und der „Plattform als sozialer Handlungsraum“ scheint die Unabhängigkeit besagter „Handlungsräume“ von den Konzernen zu betonen. Das spielt deren Management in die Hände, das die Freiheit ihrer Nutzer gegenüber eigener manipulativer Eingriffe herausstellt. Dolata und Schrape erwähnen zwar das Machtgefälle zwischen Nutzer:innen und Konzernen, haben aber wenig Einwände gegen konzernseitige „lückenlose Beobachtung“ des Nutzerverhaltens, dessen Daten „zunächst als Rohmaterial anfallen“ (S.349).

Sie kritisieren den Ansatz von Shoshana Zuboff, weil deren „Überwachungskapitalismus“ bei der Entstehung dieser Daten fälschlich von „unbezahlter digitaler Arbeit“ der Nutzer ausgehe, obwohl es doch „viel trivialer“ um die „bereitwillige Offenlegung… alltäglichen Verhaltens“ ginge. Was den Nutzer:innen, die ihre „Datenspuren oft achtlos und im Vorbeigehen liefern“, entzogen wird seien wertlose Rohstoffe. Diese werden erst von den Konzernen durch „Aufbereitungs- und Veredelungsleistungen“ zur Ware erhoben. Die Konzerne erwerben damit offenbar nicht nur das ökonomische, sondern auch noch das moralische Recht, private Kommunikation als „handelbare Datensätze und personalisierte Werbemöglichkeiten“ zu Geld zu machen (S.358). Die Fixierung auf marxsche Wertlehre verstellt hier womöglich den Blick auf die Manipulation der Nutzer:innen, deren Daten nicht „achtlos im Vorbeigehen“, sondern in vorsätzlich süchtig machenden Strukturen produziert werden.

Beim Thema Regulierung sehen Dolata und Schrape die Plattformen unter „intensiver Beobachtung“ einer „politischen Öffentlichkeit“. Zivilgesellschaft und Journalisten hätten „Desinformationsdynamiken“ und „Verletzungen der Privatsphäre“ aufgedeckt –nebenbei bemerkt: in jenen Konzernaktivitäten, die Dolata und Schrape als „Veredelungsleistungen“ bezeichneten. Doch die Plattformkonzerne hätten auf die Kritik „durchaus reagiert –etwa mit Transparenzinitiativen sowie Versuchen einer institutionalisierten Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in ihre eigenen Regulierungsstrukturen“. (S.360) Beispiele nennen die Autoren nicht, daher kommt die Frage nicht auf, ob es sich dabei nur um die üblichen PR-Spektakel gehandelt haben könnte.

Felix Stalder: Plattform-Demokratie-Spektakel

Facebook wurde nach diversen Skandalen in den USA besonders das Ziel von öffentlicher Kritik. Senatsanhörungen brachten Konzernchef Zuckerberg persönlich ins Schwitzen (was sogar wörtlich stimmte: man konnte in der TV-Übertragung sehen, wie der CEO mit Schweißtropfen auf der Stirn sein Sakko ablegen musste). Dennoch bewertete Felix Stalder 2016 Facebooks Reformen der „eigenen Regelungsstruktur“ kritisch.

Facebook habe sich zwar 2009 selbst auferlegt, Änderungen der Geschäftsordnung einer Abstimmung vorzulegen, sobald 7000 Kommentare dazu abgegeben würden; doch das Quorum von 30 Prozent der User:innen wäre bis zur Abschaffung der Regel 2012 nie erreicht worden, auch weil die Konzern-Demokratie dazu neigte die Wahlurnen zu verstecken. Überhaupt hätten Anbieter wie Facebook sich bemüht „mit jeder Neuerung das Machtgefälle zwischen Nutzern und Betreibern“ zu verschärfen (Stalder 2016, S.217). Kannten Dolata und Schrape das Buch ihres Kollegen Stalder nicht?

Felix Stalder lieferte auch einen äußerst lesenswerten Beitrag zum hier besprochenen Suhrkamp-Band, der sein recht bekanntes Werk „Kultur der Digitalität“ von 2016 selbstkritisch hinterfragt. Stalders 2016 noch große Begeisterung für die digitale Allmende („Commons“) der Open-Source-Bewegung wurde inzwischen gedämpft. Der Neoliberalismus instrumentalisiere zunehmend Commons als Trostpflaster für soziale Raubzüge, etwa wenn mittels Crowdsourcing bezahlte Arbeit durch schlechtbezahlte Arbeit ersetzt würde.

Der Geist der freien Software mit Gnu-Public-Licence (GPL) würde von der Software-Industrie heute unterlaufen, indem ihre Dienstleistung über die Cloud angeboten würde –ohne den Quellcode der spezifisch angepassten GPL-Programme offenlegen zu müssen: Eine neue Form kapitalistischer Einhegung einer Allmende. Kombination mit firmeneigenem Code sei eine weitere Einhegung, etwa bei Googles dadurch nicht wirklich offenem Android-System. Kulturelles Commoning diene auf Plattformen der Kommerzialisierung von Nutzerdaten-Extraktion. Schlimmer noch:

„Aber die Einhegung findet nicht nur als Form des Datenextraktivismus statt, sondern auch durch vielfache Möglichkeiten des ‚nudging‘, das die aus Nutzer:innensicht nichtkommerzielle Tätigkeiten in für Plattformbetreiber kommerziell interessante Richtungen lenkt, mit allen problematischen Konsequenzen.“ Felix Stalder 2023, S.510

Kulturproduktion im Internet wird so hinter dem Rücken der User doch wieder für eine Kulturindustrie vereinnahmt. Da wir von der Frankfurter Schule gelernt haben, so Mark Poster 2003, wie verheerend sich die Kulturindustrie auf die Arbeiterklasse und andere demokratisierende Bewegungen auswirkt, sei es unsere Pflicht, die Möglichkeiten ihrer Technologie zu verstehen. Wir sollten lernen, wie sie bei der Konstruktion kultureller Formen eingesetzt werden können, die einer demokratischen Lebenswelt angemessener sind.

Habermas und Plattform-Kapitalismus

An den Adorno-Schüler Habermas knüpfen immerhin zwei Beiträge an: Nosthoff/Maschewski untersuchen mit einem brandneuen Habermas-Text „Plattformökonomische Öffentlichkeiten“, denen der Nestor der kommunikativen Vernunft „höchst ambivalente und möglicherweise disruptive Auswirkungen auf die politische Öffentlichkeit“ zuschrieb. Die Fragmentierung des Publikums in emotionalisierte Teilöffentlichkeiten, Fakenews, Donald Trump und Gereiztheit plagen uns: „Kommunikation und Kontrolle bilden so das dominante wie dialektische Signum der Social-Media-Plattformen: Wer die Strukturen der Kommunikation kontrolliert, definiert auch die Strukturen der öffentlichen Sphäre“ (S.371f.). Nicht, dass nicht schon vor dem Start des WWW, aus dem die Plattformen dann entsprangen, vor dem Zusammenfließen von panoptischer Kontrolle und Verhaltenssteuerung gewarnt worden wäre: Das von mir seit 1996 empfohlene Gegengift eines „Inversen Panoptismus“, einer Umkehrung der Kontrolltechnologie gegen die Machtzentren, scheint den akademischen Autoren wohl zu radikal (Barth 1996). Keiner wagt es auf den 533 Seiten, die hier profilierteste Anti-Plattform auch nur zu erwähnen –Wikileaks und ihren wegen „Geheimnisverrat“ seit fünf Jahren inhaftierten Gründer Julian Assange.

Der zweite Habermas-affine Text ist von Evan Fisher: „Algorithmen und das Selbst“ (S.514-532) und beschließt den Band. Er untersucht die Rolle des Wissens in der Ko-Konstituierung von Mensch und Maschine, wobei Plattformen als „epistemische Medien“ analysiert werden. Mit Friedrich Kittler sieht Fisher Medien als Kulturtechniken, die Wissen über das Selbst schaffen, und dem Selbst in der öffentlichen Sphäre Selbstreflexion erlauben, so Habermas. Dessen emanzipatorisches Erkenntnisinteresse leitet Fisher aus der Psychoanalyse her und verfolgt es bis in die heutige Medienwelt der Plattformen. Deren Algorithmen schaffen zwar Wissen über das Selbst, jedoch ohne Selbstreflexion wie die Psychoanalyse, die Habermas der kritischen Theorie zuordnet. So endet der Sammelband pessimistisch, wobei Fisher noch die Profit-Eigeninteressen der Plattformen unterschätzt und ihr User-Profiling als auf „quasi-freiwilliger“ Selbstbewertung sieht (S.528).

Andere Beiträge, wie jener von Felix Stalder belehren ihn jedoch eines Besseren und wenn alle versammelten Autoren den ganzen Band rezipieren und die Wissenslücken ihrer divergierenden Ansätze damit schließen würden, hätte die Debatte schon viel gewonnen. Es fehlten gleichwohl, wie in dieser Buchkritik ausgeführt, noch viele Erkenntnisse der Medienwissenschaft und aus den kritischen Diskursen der Netzkultur (-Wissenschaft). Etwa aus den Texten des -von keinem der Suhrkamp-Beiträge zitierten- Experten Geert Lovink, der es in den liberalen Niederlanden vom Aktivisten und Netzkritiker zum Professor für Kunst und Netzwerkkulturen brachte. Lovink sieht uns „In der Plattformfalle“ und plädiert seit Jahren für eine „Rückeroberung des Internets“, dabei warnt er spöttisch:

„Man sollte sich nicht in pedantischen Übungen verlieren, um akademische Territorien mit ihren Kanons und Methoden zu definieren und zu verteidigen… Wir sollten die momentane Leichtigkeit annehmen und uns über die Verwirrung unter jenen amüsieren, die versuchen, ‚Digitalisierung‘ zu kartieren.“ Lovink 2022, S.29

Nicht Marx, aber Marxisten ignorieren Technologie

Vor über 20 Jahren zeigte sich Mark Poster (1941-2012) erstaunt über das Ausmaß, in dem viele Marxisten dazu neigten, neue Technologien „fast vollständig zu ignorieren“. Diese nahmen an, dass der Kapitalismus den entstehenden Cyberspace, das Internet vollständig übernehmen würde. Poster fand das sehr überraschend, weil Marx doch stets darauf geachtet habe, die Art und Weise zu untersuchen, wie soziale Innovationen sowohl für bestehende Institutionen als auch in Richtung ihrer Infragestellung wirkten. Marx selber wäre sogar so weit gegangen, disruptiv-brutale Ereignisse wie die Zerstörung der indischen Baumwollindustrie durch britische Kolonialisten insofern zu begrüßen, als sie die historische Entwicklung zum Sozialismus fördern könnten. Das Misstrauen marxistischer Kritiker gegenüber dem Internet erschien Mark Poster daher übertrieben, besonders angesichts der Chancen progressiver Netzkultur in der Open-Source und Hacker-Szene. Sein Optimismus speiste sich aus dem, was damals als „Kalifornische Ideologie“ wegen Ignoranz gegenüber der sozialen Frage kritisiert und heute auch als Transhumanismus bezeichnet wird.

Es war die Zeit einer ersten Verbreitung von Unternehmens-Websites, gefolgt von Börsen-Hype und Dotcom-Crash 2001, als im Kampf um die Netzkultur noch vieles offen war. Für Marxisten war es damals jedoch schon offensichtlich, so Mark Poster, dass das Internet nur eine weitere Teufelei war, um die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer zu machen. Heute, nach der Durchsetzung des Plattform- oder Überwachungskapitalismus, müssen wir leider feststellen, dass die Pessimisten nicht völlig falsch lagen. Zwar hat sich die widerständige Netzkultur weiterhin gehalten, doch Dotcom-Konzerne stehen in der Öffentlichkeit und an den Börsen als Sieger da. Marxistische Kritik an der Plattform-Industrie leidet heute unter deren Ignoranz zwar nicht mehr gegenüber der Technologie selbst, aber gegenüber den sie betreffenden Diskursen. Technik- und Netzkritik, wie sie auf Netzphilosophie gepflegt wird, scheint in vielen Suhrkamp-Beiträgen leider eher unbekannt zu sein. Erst mit der Plattformkritik scheint hier eine Debatte eingesetzt zu haben, der aber marxistische Perspektiven punktuell durchaus nützlich sind.

Fazit

Leider kann der Sammelband trotz vieler herausragender Beiträge seine Versprechen nicht einlösen, vor allem nicht jenes, die „Verbindungen der disparaten Ansätze“ auszuleuchten. Schon die Gliederung in die Kapitel „Arbeit“, „Ökonomie“, „Politik und Öffentlichkeit“ sowie „Kultur und Subjekte“ überzeugte wohl nicht jeden. Abweichend davon benennen die Herausgeber:innen sie in den Titeln der Unterkapitel ihrer Einleitung „Produktivkraftentwicklung und Arbeit“, „Wertschöpfung und Ökonomie“, „Politische Regulation und Öffentlichkeit“ sowie „Kulturelle Regulation und Subjekte“. Zu Beginn der Einleitung findet sich zudem der noch weitgehender abweichende Vorschlag zur „Strukturierung des Feldes anhand der kapitalismustheoretischen Basiskategorien Produktivkraftentwicklung, Arbeit, Wertschöpfung, politische Regulation sowie Kultur und Subjekte“ (S.11).

Die nicht immer einsichtige Zuordnung der Beiträge zu diesen Kapiteln bzw. Kategorien sowie insbesondere das Fehlen editorischer Orientierungshilfen machen den Sammelband äußerst unübersichtlich. Am Ende des Buches findet sich lediglich eine Liste mit Textnachweisen für die sieben Beiträge, die keine Originalbeiträge sind. Es fehlen biographische Angaben zu den Autor:innen, Literaturlisten zu den Beiträgen, ein Schlagwort- oder wenigstens Namensregister. Es fehlt mithin alles, was der Leser gebraucht hätte, um wirklich Verbindungen der disparaten Ansätze ausleuchten zu können. Einen Überblick über die verwendete Literatur gewinnt man nur mühselig aus den weit über tausend Fußnoten. Bezugnahmen der Beiträge oder Autor:innen aufeinander sind seltene Ausnahmen, bleiben fast immer beim bloßen Namedropping -selbst bei der in den Leitmedien herumgereichten und daher schwer ignorierbaren Shoshana Zuboff. Die renommierte Havard-Professorin gehört mit ihrer Kritik des „Überwachungskapitalismus“ zu den am häufigsten zitierten Autor:innen im Sammelband, leider fast immer nur als inhaltsleerer Verweis auf das Problem der Überwachung (das damit oft als abgehandelt betrachtet wird). Eine lebendige Diskussionskultur, Diskurse und Debatten, für die es allein schon innerhalb der marxistischen Digitalisierungsforschung genügend Themenfelder gäbe, sucht man bislang offenbar weitgehend vergeblich.

Herausgeber:innen und Autor:innen des Sammelbandes

Die drei Herausgeber:innen, die selbst Beiträge liefern und gemeinsam die Einleitung verfassten, sind: Tanja Carstensen, Privatdozentin für Soziologie der LMU München und Koordinatorin des Forschungsverbunds Sorgetransformationen an der Universität Hamburg, Simon Schaupp, Gastprofessor am Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft am KIT in Karlsruhe und Oberassistent für Soziologie der Universität Basel, Sebastian Sevignani, Akademischer Rat für Soziologie der Schiller-Universität Jena. Weitere Beiträger:innen sind: Thomas Barth (mit dem Rezensenten weder identisch noch verwandt noch bekannt), Kean Birch, Andreas Boes, Florian Butollo, D. T. Cochrane, Jodi Dean, Ulrich Dolata, Emma Dowling, Marlen van den Ecker, Eran Fisher, Christian Fuchs, Helen Hester, Ursula Huws, Kylie Jarrett, Tobias Kämpf, Felix Maschewski, Oliver Nachtwey, Anna-Verena Nosthoff, Tilman Reitz, Sarah T. Roberts, Marisol Sandoval, Stefan Schmalz, Jan-Felix Schrape, Timo Seidl, Nick Srnicek, Philipp Staab, Felix Stalder, Johannes Truffer, Judy Wajcman, Jamie Woodcock.

Literatur

Barth, Thomas, Das inverse Panoptikum: Ein postmoderner Ansatz für die politische Informationsstruktur des Cyberspace, zuerst in: Informatik Forum, Nr.2 1996, S.68-71.

Barth, Thomas: Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft, Centaurus, Pfaffenweiler 1997.

Barth, Thomas: Die “Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace” und der Panoptismus der globalen Netze, in: Medienwissenschaft, Nr.4, 1999, S.402-407.

Bleicher, Joan Kristin: Internet, UVK (UTB), Konstanz 2010.

Bleicher, Joan Kristin: Grundwissen Internet, UVK (UTB), Konstanz 2022.

Carstensen, Tanja, Simon Schaupp und Sebastian Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus: Arbeit, Ökonomie, Politik, Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2023.

Poster, Mark: The Mode of Information: Poststructuralism and Social Context, Polity Press, Cambridge 1990.

Poster, Mark: The Second Media Age, Polity Press, Cambridge 1995.

Raeithel, Arne: Kommunikation als gegenständliche Tätigkeit, in: Knobloch, C. (Hg.): Kommunikation und Kognition, Nodus, Münster 1989, S.29-70.

Raeithel, Arne: Ein kulturhistorischer Blick auf rechnergestützte Arbeit, in: Wolfgang Coy et al. (Hg.): Sichtweisen der Informatik, vieweg, Wiesbaden 1992, S.125-139.

Raeithel, Arne: Selbstorganisation, Kooperation, Zeichenprozess: Arbeiten zu einer kulturwissenschaftlichen, anwendungsbezogenen Psychologie, Westdt.Vlg., Wiesbaden 1998.

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität, Suhrkamp, Berlin 2016.

Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus, Frankfurt/M. 2018.

-Siehe auch die etwas reißerische Polemik (der Kampf um Aufmerksamkeit ist hart) des Rezensenten auf Telepolis: Warum Marxisten die Digitalisierung nicht verstehen

03/7/24

Digitale Mündigkeit

Leena Simon

Computer sind komplex. Sie bis ins letzte Detail zu verstehen, grenzt an Unmöglichkeit. Doch wer Wert auf ein freies und selbstbestimmtes Leben legt, kommt um ein Mindestmaß an Computerverständnis nicht umhin. Denn die Digitalisierung würfelt unsere Gesellschaft ganz schön durcheinander. Damit wir für die technischen Entwicklungen als Gesellschaft Verantwortung übernehmen können, sollten wir unabhängig davon entscheidungsfähig sein. Um mündig zu sein ist es nicht nötig, alles immer und in jedem Augenblick perfekt zu machen. Digitale Mündigkeit bedeutet Verantwortung für das eigene Handeln im digitalen Raum selbst zu tragen.

Was ist digitale Mündigkeit?

„Mündigkeit“ ist zunächst ein Rechtsbegriff. Er bedeutet, dass ein Mensch verantwortlich für sein Leben ist. Historisch leitet er sich ab von altdeutsch Munt, der Bezeichnung für die Verantwortung des früheren Hausherren über seine Frau, Kinder und Gesinde. Mündig konnten damals nur Männer werden, nämlich dann, wenn sie aus der Munt des Vaters heraustraten und für ihr eigenes Leben Verantwortung übernahmen. Frauen gingen über von der Munt des Vaters in die Munt des Ehemannes. Heute ist Mündigkeit vor allem ein rechtlicher Status, der einem Menschen z.B. das Wahlrecht oder das Recht, die Ehe einzugehen, zuspricht.

Mündig sein bedeutet Verantwortung für das eigene Leben zu tragen.

Neben der rechtlichen Bedeutung gibt es auch eine philosophische Definition von Mündigkeit. Immanuel Kant griff den rechtlichen Begriff auf und wendete ihn auf eine ganze Gesellschaft an. Er vergleicht die Geschichte der Menschheit mit dem Heranreifen eines Kindes. Damit legte die Aufklärung die Grundlagen der modernen Demokratie.

Wir tragen also doppelte Verantwortung: Für unser eigenes Leben und für den Fortbestand unserer Gemeinschaft. Dieser Verantwortung müssen wir uns bewusst sein, vor allem dann, wenn wir uns im Internet bewegen. Denn wir tragen ebenfalls Verantwortung für den Fortbestand unserer Kommunikationsgemeinschaft..

Doch Kant warnte damals schon, dass es nicht möglich sei, ad hoc mündig zu werden, wenn man zuvor noch gar nicht frei war. Mündigkeit ist Übungssache. Auch in der digitalen Welt: Menschen werden mit unfreier und komplizierter Software konfrontiert, die ihnen gar nicht die Möglichkeit bietet, deren Funktionsweise zu studieren. Der Umgang mit dem Computer wird oft nur minimal und oberflächlich antrainiert und später nicht mehr hinterfragt.

Heimliche Entmündigung

Meist nehmen wir gar nicht mehr so deutlich wahr, wo und wie wir überall entmündigt werden. Wenn wir einen Kredit nicht erhalten, weil uns eine Datenbank (anhand der statistischen Eigenschaften unserer Nachbarn) als nicht zuverlässig eingestuft hat, oder einen Job nicht antreten dürfen, weil wir vermeintlich Asthmatiker sind (dabei hatten wir nur für den Vater die Medikamente gekauft): Wir kennen diese Gründe nicht und können daher nicht beurteilen, wie sehr die weltweite Datensammlung schon unseren Alltag beeinflusst. Wie soll man da noch Verantwortung für das eigene Leben übernehmen?

Die Filterblase

Um im großen Datendickicht den Überblick zu wahren, wird im Internet – auch zu unserem Nutzen – vieles für uns personalisiert. Beispielsweise die Suchergebnisse, werden von der Suchmaschine auf uns optimiert. Das ist praktisch, denn so findet man viel schneller das, was man wirklich sucht. Doch es ist auch problematisch, da wir meist nur stets das angezeigt bekommen, was wir schon kennen.

Eli Pariser nennt das die „Filterblase“. Treffer, die unsere Gewohnheiten angreifen, oder eine Gegenposition zu unserer Meinung darstellen, sehen wir immer seltener. Und so bewegen wir uns mehr und mehr in einer Umgebung, die nur scheinbar neutral die Realität darstellt: In Wirklichkeit befinden wir uns in einer Blase, die uns die eigene Weltvorstellung als allgemeingültig vorspielt. Und das ist Gift für einen freien Geist, der sich ständig hinterfragen und neu ausrichten können möchte. In Konflikten liegt großes Wachstumspotential, um das wir uns berauben, wenn wir vor lauter Bequemlichkeit andere Meinungen einfach ausblenden.

Verantwortungsbewusstsein

Gegen Personalisierung und heimliche Entmündigung können wir uns zunächst nicht wehren. Daher ist es besonders wichtig, sich diese Phänomene stets ins Bewusstsein zu rufen. Wer sich dabei erwischt, ein Google-Ergebnis unterbewusst als „neutrale Suche“ verbucht zu haben, ist schon einen Schritt weiter, als wer noch immer glaubt, sie sei tatsächlich neutral.

Der erste und wichtigste Schritt in die digitale Mündigkeit ist Verantwortungsbewusstsein. Verantwortung tragen bedeutet nicht, immer alles richtig zu machen, sondern die richtigen Fragen zu stellen und sich mit den Konsequenzen des eigenen Handelns zu konfrontieren. Machen Sie sich stets bewusst, wie viel Ihnen nicht bewusst ist und verhalten Sie sich entsprechend. Unterstützen und schützen Sie Strukturen, die Transparenz und Offenheit ermöglichen, und hinterfragen Sie Strukturen, die Ihnen vorschreiben wollen, was Sie tun oder denken sollen. Üben Sie sich in Eigenwilligkeit, wenn Ihnen Technik Vorschriften machen möchte. Besonders wichtig dabei: Üben Sie, auch Menschen oder Systeme zu hinterfragen, denen Sie vertrauen. Das ist besonders schwer, aber genau hier sind sie besonders leicht hinters Licht zu führen.

Leena Simon: Digitale Mündigkeit. Wie wir mit einer neuen Haltung die Welt retten können, 336 Seiten, Hardcover, 32,00 EUR, ISBN: 978-3-934636-49-1

Dieses Buch weist Wege in die digitale Mündigkeit und liefert das Rüstzeug zum kritischen Denken und Handeln. Denn mit Mut, Entschlossenheit und Übung können wir wieder mündig sein. Dann finden wir auch die Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit. Online bestellen oder mit der ISBN: 978-3-934636-49-1 im Buchhandel bestellen. Buchvorstellung im Blog von Digitalcourage.

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02/26/24

Rezension – Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet

Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet. Perspektiven der Medien- und Kommunikationswissenschaft, München 2022

Rezensiert von Thomas Barth

Für jüngere Generationen hat es das Fernsehen als dominierendes Leitmedium längst abgelöst: Das Internet ist als digitale Parallelwelt aus dem Alltag vieler Menschen nicht mehr wegzudenken. Bleicher legt den Fokus auf medienhistorische und ästhetische Aspekte der Angebotsstrukturen des Internets und macht damit plastisch, wie das Netz seine Sogwirkung auf die Nutzer stetig erhöhte. Sie scheut dabei auch vor politisch heiklen Aspekten wie der staatlichen Unterdrückung der Whistleblower-Plattform Wikileaks und der juristischen Verfolgung ihres Gründers Julian Assange nicht zurück, bleibt gerade dort aber lückenhaft.

Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher lehrt am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg. 2009 veröffentlichte sie mit „Poetik des Internets: Geschichte, Angebote und Ästhetik“ eine der ersten geisteswissenschaftlichen Gesamtdarstellungen der Netzmedien, 2010 folgte die Kurzfassung „Internet“, die ihre „Poetik“ straffte und systematisierte. Mit dem vorliegenden Band folgt eine stark erweiterte und aktualisierte Fassung. Ein Vorwort, zwölf Kapitel mit je eigenen Literaturlisten und ein Fazit geben eine umfassende Übersicht. Die Orientierung erleichtern ein Register sowie eine vorangestellte „Zeittafel zu Meilensteinen der Entwicklung des Internets“: Von Vannevar Bush’s Memex-Modell 1945, dem ArpaNet 1969 und TCP/IP 1978, über den Start des WWW 1991 und das Vorgehen von Behörden gegen Wikileaks 2010 bis zur Google-KI AlphaGo und TikTok 2016 sowie der Umstellung der Newsfeeds von Facebook auf die Bevorzugung von Beiträgen der Nutzer 2018. Kapitel 1 „Was Sie vorher wissen sollten“ verweist kurz auf die rasante Dynamik der Internetentwicklung, die viele Details schnell überholen und stetig weitere Forschung erfordern wird, sowie auf die brisanten politischen Dimensionen und wachsende Kritik an netzbezogenen Entwicklungen, die sich etwa bei Shoshana Zuboff und ihrer Streitschrift gegen den „Überwachungskapitalismus“ (2018) zeigen.

Kapitel 2 „Einführung in Theorien, Forschungsschwerpunkte und Methoden“ widmet Zuboff gleich den (nach dem basalen Technikbegriff) zweiten der didaktisch knappen „Gut zu wissen“-Kästen, die im Buch Wichtiges einprägsam markieren (S.21). Nach Prosumer-Kultur, Medialität und Privatheit zeigt das Kapitel Bezüge der Netzkultur zum Posthumanismus und betont Donna Haraways „Cyborg Manifesto“, das 1985 die Hybridisierung von Mensch und Maschinenwelten vorwegnahm (S.26). Über Baudrillards „Simulakrum“ (Blendwerk) -Kritik bis zu Politik-, Wirkungs- und Nutzungstheorien führt Bleicher in ihre Darstellung ein.

Kapitel 3 „Internet: Infrastruktur, Lebenswelt und Medium“ zeigt das Internet als Lebenswelt und Kulturraum, als Medium mit neuen Sozialen Medien, warnt vor dem Wegfall der bisherigen „Gatekeeper“-Funktion der Leitmedien, die der Verbreitung von Fake News den Boden bereite (S.44). Kapitel 4 „Technische, ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen“ beginnt bei den Netzwerkstrukturen des Internets vom Darknet über Onlinemonopole etwa von Alphabet (Google), Meta (Facebook) und Amazon (S.53). Unter Verweis auf Zuboff kritisiert Bleicher deren Geschäftsmodell des Datenhandels bis hin zum Verkauf von Facebook-Daten an die Skandalfirma Cambridge Analytica (S.58). Sie verweist auf Regulierungsbestrebungen sowie die „Amateur:innenkultur als Gegenbewegung zur Ökonomisierung“ (S.61).

Im Kapitel 5 „Historische Entwicklung des Internets“ finden wir eine (zumindest in der deutschen Medienwissenschaft) selten kritische Darstellung der Sozialen Medien, in der die öffentlich nahezu tabuisierte Whistleblower-Plattform Wikileaks gewürdigt wird:

„2006 erfolgte die Gründung der Enthüllungsplattform Wikileaks mit dem Ziel der Veröffentlichung von Dokumenten, die der staatlichen Geheimhaltung unterliegen. Diese Dokumente und Videos verdeutlichten den Machtmissbrauch und die Verletzung von Menschenrechten. Aufgrund von Regulierungen ist seit 2010 ein Datentransfer zu Wikileaks nicht mehr möglich. Der Mitbegründer Julian Assange wurde juristisch verfolgt und flüchtete in eine Botschaft, in der er 2019 festgenommen wurde und noch Anfang 2022 in der Abschiebehaft auf seine Auslieferung wartete.“ (S.79) (Hier ist die Autorin offenbar leitmedialer Falschdarstellung aufgesessen: Wikileaks war auch nach den US-Angriffen 2010, die es kurzfristig lahmlegten, weiterhin aktiv. Zahlreiche weitere Enthüllungen wurden jedoch medial totgeschwiegen, unten mehr dazu).

Kapitel 6 zeigt „Ästhetik und Design des Internets“ Einflüsse von Medienkunst, Netzkunst und digitaler Bildästhetik, Webdesign, Seitenstruktur bis hin zu eingebundener Bewegtbildästhetik und Sound. Über Meme und Selfieästhetik, Mashup, Podcast und Online-Werbung zeigt Bleicher traditionelle Medieneinflüsse sowie neue Qualitäten der Netzmedien auf.

Ordnungsmodelle des Internets

Kapitel 7 „Ordnungsmodelle des Internets“ versucht das Kaleidoskop der Netzkultur zu systematisieren, wobei die technische Basis, Unternehmensstrukturen, Sortierungsprinzipien der Inhalte (Flow, Stream, Raster, Raum) sowie Navigations- und Distributionsmodelle dafür Ansatzpunkte liefern. Beginnend mit dem „Dispositiv Internet“, mit dem Knut Hickethier 1995 an Michel Foucaults Diskurstheorie anknüpfend die Angebotsstrukturen analysierte (S.110), über Hypertext und Hypermedia, die Distributionsmodelle der Plattformen bis zu den bedeutsamen Raummodellen.

Diese begannen mit dem Begriff des „Cyberspace“ aus William Gibsons SF-Roman „Neuromancer (1984), der eine „virtuelle Gegenwelt“ bezeichnete (S.119), die sich in von Avataren bevölkerten Online-Welten wie Second Life und den Kultur- und Spielräumen Sozialer Medien manifestiert.

Navigations- und Orientierungsangebote liefern Suchmaschinen, Spider, Crawler und Robots (Programme, die im Netz Inhalte, Quellen und Links erkennen und indizieren, S.126).

Die Kapitel 8-11 zeigen Angebotsschwerpunkte des Internet wie Information, Dokumentation, Wissen, Unterhaltung (Musikvideos, Comedy, Spiele, Sport, Pornografie), Kultur („Grenzgänge zwischen Fakten, Fiktion, Literatur, Theater, Kunst“) sowie den Angebotsschwerpunkt Werbung, PR, politische Kommunikation, Influencer:innen-Marketing. Dort warnt ein „Gut zu wissen“-Kasten vor Cookies und ihrem uns ausspionierenden Profiling: „Sie durchsuchen Festplatten der Nutzer:innen nach relevanten Daten über Interessen und Konsumverhalten. Auch Posts in sozialen Medien liefern Verhaltensdaten, die an werbetreibende Unternehmen verkauft werden (vgl. Zuboff).“ (S.175)

Kapitel 12 erörtert abschließend die „Nutzungs- und Wirkungspotenziale des Internets“ ausgehend von neuen Potentialen zur Nutzerpartizipation durch individuelle Medienproduktion im Internet. Die virtuelle Identitätskonstruktion im Netz erlaubt veränderliche Selbstkonzepte und als „posthumane Akteur:innen agieren und kommunizieren Bots, Trolle und Influencer:innen-Avatare“ (S.188). Ist das Internet der Öffentlichkeitsraum der digitalen Gesellschaft? Wenn ja, dann kein ungefährlicher: „Gezielte Desinformation etwa in Form von Fake News oder Verschwörungsmythen gilt als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Demokratie… Propagandistische, antidemokratische Bewegungen versuchen in sozialen Medien und Messengerdiensten wie Telegram durch gezielte Fake News (wie etwa kriminelle Aktivitäten von Flüchtlingen) die Demokratiefeindlichkeit der Bevölkerung zu fördern.“ (S.189) Auf der anderen Seite gibt es Ansätze zu E-Democracy und die „Weisheit der Masse“, die sich etwa bei Wikipedia entfaltet und im Sinne einer Informationsgesellschaft „den fast unbegrenzten Zugang ihrer Mitglieder zu Informations- und Wissensbeständen aller Art“ verspricht (S.194). Unter „Probleme der Globalisierung“ zeigt Bleicher die digitale Spaltung, die sozial benachteiligte Menschen, Länder und ganze Kontinente aus der Wissenskultur ausgrenzt; bezüglich der „Konflikt- und Problempotenziale des Internets“ warnt sie vor Wirklichkeitsverlust, Suchtverhalten, Manipulation, Urheberrechtsverletzungen, Datenhandel, Hass- und Onlinekriminalität. Sie beschreibt die politischen Probleme der Regulierung und verweist auf die Macht der digitalen Großunternehmen, Google lehne eine Regulierung etwa ab, neoliberale Politik habe deren Machtzuwachs gefördert: „Deregulierungen ermöglichten u.a. in Großbritannien und den USA die Ausweitung des digitalen Kapitalismus bei gleichzeitig wachsender sozialer Ungleichheit. Ideologien wie der Neoliberalismus erklären diese Ungleichheit durch individuelle anstelle von gesellschaftlicher Verantwortung.“ (S.199) Ökonomismus und eingeschränkte Regulierung zeitige nicht zuletzt auch Onlinekriminalität, was große Herausforderungen an die Medienethik bringe. Denn das Internet erweise sich als Katalysator gesellschaftlicher und kultureller Dynamik in der immer mehr dominierenden Digitalisierung unseres Lebens (S.205).

Diskussion

Joan Kristin Bleicher scheut wie schon in ihrer „Poetik des Internets“ nicht die Hybris, ein in rasanter Entwicklung prosperierendes Medienfeld in seiner Gesamtheit zu analysieren und übergeht auch kritische Themen nicht völlig. Eine breite Quellenrezeption geht zuweilen mit mangelnder Rezeptionstiefe einher, so scheint Bleichers Darstellung von Felix Stalders Theorie einer Kultur der Digitalität unzulässig verkürzend: Stalders Theorie sehe diese Kultur „auf Grundlage einer einheitlichen digitalen Speicherung“ (S.23). Stalder verwahrte sich jedoch in seinem Buch gerade gegen eine Fixierung der Perspektive auf die (digitalen) Technologien und Medien (siehe Rezension von T.Barth). Stalders Prinzip der Referenzialität, ein Kern der Kultur der Digitalität, mit Mashup und Remix als ästhetische Prinzipien, scheint Bleicher so sehr überzeugt zu haben, dass sie es gleich mit zwei „Gut zu wissen“-Textboxen zu „Mashup-Ästhetik“ würdigt (S.94, 104), aber ohne Referenz auf Stalder. Bleicher selbst zeigt Mashup virtuos auf Textebene durch Remix von Textschnipseln aus ihren beiden vorgängigen Internet-Monografien im vorliegenden Band. Der Hinweis etwa auf Donna Haraway „Die Neuerfindung der Natur“ fand sich in der „Poetik des Internets“ (Bleicher 2009) auf S.174 im Kapitel „Wirkungspotentiale“ unter Wissensgesellschaft; in „Internet“ (Bleicher 2010) taucht Haraway bereits im Eingangskapitel „Rahmenbedingungen und Funktionsweisen“ auf (S.10); in „Grundwissen Internet“ 2022 bringt es Haraway sogar auf eine „Gut zu wissen“-Box zu ihrem Cyborg-Manifesto im Kapitel „Theorien, Forschungsschwerpunkte und Methoden“ unter Posthumanismus (S.26) sowie auf eine Erwähnung im Kapitel „Infrastruktur, Lebenswelt und Medium“ unter Medientheorie (S.47). Besser lässt sich die von ihr beschriebene Mashup-Kombination von „Material zu neuen Bedeutungseinheiten“ (S.104) kaum demonstrieren.

Leider bleibt politisch Brisantes an wichtigen Punkten eher weichgezeichnet (vor allem verglichen mit Stalder), das Stichwort „Datenschutz“ fehlt im Register ebenso wie „Privatheit“ und „Propaganda“. Bleichers Darstellung von Wikileaks erweckt sogar den falschen Eindruck, die Plattform wäre 2010 „aufgrund von Regulierungen“ stillgelegt worden (S.79). Damals gab es Angriffe durch Geheimdienste auf Wikileaks, die aber nur zu zeitweise eingeschränkter Aktivität führten (vgl. Rueger 2011). In den Leitmedien wurden allerdings den medial gehypten Irak- und Afghanistan-Leaks folgende Enthüllungen verschwiegen. Auch die mediale Denunzierung von Assange lässt Bleicher aus, obgleich sie nach der Untersuchung von Nils Melzer (2021) als konstruierte Hetzkampagne gelten können: Der diffamierende „Vergewaltigungsverdacht“ gegen Assange erwies sich dem UNO-Experten Melzer nach als Justizintrige. Unscharf blieb auch der Cambrigde Analytica-Skandal: Bleicher erwähnt nicht, dass Donald Trump den Internet-Manipulationen zumindest teilweise seinen Wahlsieg 2016 verdanken dürfte. Auch Bleichers Verweise auf Zuboffs Überwachungskapitalismus sind ausbaufähig, dort liegt das Potential einer völlig neuen Palette von Ordnungsmodellen des Internets, die auf diverse und stetig wachsende Kontrollmöglichkeiten reflektieren.

Fazit

Das systematisch und didaktisch durchdachte Buch stellt zentrale Aspekte der Medialität des Internets umfassend dar. Im Fokus stehen Rahmenbedingungen, historische Entwicklung und Angebotsschwerpunkte, beleuchtet werden theoretische Fragen, Ästhetik, Nutzungs- und Wirkungspotenziale des Internets sowie Regulierungsansätze. Mit seinem einführenden Charakter richtet sich das Buch primär an Studierende der Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaften, aber auch an Interessierte anderer Fachrichtungen.

Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet. Perspektiven der Medien- und Kommunikationswissenschaft, utb, UVK Verlag, München 2022, 230 S., 26,90 Euro. ISBN: 9783825259099

Nils Melzer: Der Fall Assange. Geschichte einer Verfolgung, München 2021.

Gerd Rueger: Julian Assange -Die Zerstörung von Wikileaks, Hamburg 2011.

Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwchungskapitalismus, Frankfurt/NY 2018.

11/15/23

Brüssel: Aktivistischer Besuch

Petition gegen die Chatkontrolle überreicht

Konstantin Macher

Wir waren im Oktober mit Aktivist.innen der Kampagne „Stop Scanning Me“ aus 13 europäischen Ländern in Brüssel und haben Europaabgeordneten Unterschriften gegen die Chatkontrolle überreicht.

Stop Scanning Me-Kampagne

Im Rahmen der „Stop Scanning Me“-Kampagne (Übersetzt in etwa: Hört auf, mich zu scannen) hat unser europäischer Dachverband EDRi (European Digital Rights) die Reise von Freiwilligen aus ganz Europa zu einer Aktion im Europäischen Parlament ermöglicht. Drei Tage lang trafen sich Aktivist.innen aus Griechenland, Italien, der Tschechischen Republik, Österreich, Schweden, Finnland, Norwegen, Portugal, Dänemark, Rumänien, Deutschland, Spanien und Frankreich mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Wir sprachen über die Chatkontrolle (sogenannte CSA-Verordnung) und die schwerwiegenden Folgen, welche das vorgeschlagene Überwachungsgesetz für Menschen haben würde.

Zivilgesellschaft in Brüssel

Die Diskussionen im Oktober fanden vor dem Hintergrund der Veröffentlichung einer investigativen Recherche von europäischen Medienhäusern statt. Journalist.innen hatten aufgedeckt, dass Teile der Europäischen Kommission mit ihrem Gesetzesvorschlag zur Chatkontrolle Interessen einer KI-Lobby vertreten haben. Wenig später wurde außerdem bekannt, dass die für die Chatkontrolle zuständige EU-Innenkommissarin versucht hat, Druck auf kritische Regierungen auszuüben. Dafür soll sie Menschen anhand ihrer religiösen und politischen Ansichten auf Sozialen Medien gezielt mit Desinformation ins Visier genommen haben, um die öffentliche und politische Meinung in den Mitgliedstaaten zu manipulieren, in denen sich die Regierungen dem Gesetz widersetzen.

Angesichts dieser schockierenden Enthüllungen und vor der Abstimmung des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten (LIBE) des Europäischen Parlaments über den Chatkontrolle-Vorschlag war es besonders wichtig, der Zivilgesellschaft eine Stimme in Brüssel zu geben. Aus diesem Grund hat unser Dachverband EDRi einer Gruppe von Menschen ermöglicht, nach Brüssel zu kommen, um ihre Bedenken zu diesem Gesetz direkt mit ihren gewählten Abgeordneten zu diskutieren. Mit dabei waren sowohl erfahrene, als auch neue Aktivist.innen, die sich gemeinsam bei den Abgeordneten für den Schutz unserer Grundrechte eingesetzt haben.

Dabei gelang es unserer Gruppe, sich mit mehreren Dutzend Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu treffen. Viele der Abgeordneten zeigten sich alarmiert über die Risiken der Chatkontrolle und über die enthüllten Skandale der zuständigen Innenkommissarin Ylva Johansson.

Neben den Advocacy-Treffen, die wir mit den Abgeordneten des Europäischen Parlaments hatten, überreichten wir und die anderen Aktivist.innen die über 200.000 Unterschriften von Menschen, welche die Chatkontrolle ablehnen. Die Unterschriften wurden durch mehrere Petitionen gesammelt, z.B. in Europa von EDRi und in Deutschland von uns gemeinsam mit Campact. Darin bringen viele Menschen ihre Sorgen zur Gefahr durch die Chatkontrolle zum Ausdruck und fordern, Verschlüsselung zu schützen.
Zu den Abgeordneten, die die Unterschriften entgegennahmen und ihre Unterstützung für Verschlüsselung zum Ausdruck brachten, zählten Saskia Bricmont (Grüne/EFA), Patrick Breyer (Piratenpartei, Grüne/EFA), Tiemo Wolken (S&D) Birgit Sippel (S&D) und Alex Agius Saliba (S&D).

reblogged von https://digitalcourage.de/blog/2023/chatkontrolle-petition-bruessel

Mehr zur Chatkontrolle auf unserer Themenseite

10/12/23

Ideologiekritik: Neoliberalismus – Reimers „Der absurde Kapitalismus“

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Rezension von Thomas Barth

Kann der Marxismus heute noch zu einer Kritik der Netzgesellschaften beitragen? Jürgen-Michael Reimer meint ja und legt eine philosophisch-politökonomische Analyse der Absurdität unseres digitalisierten Kapitalismus vor. Bei Marx, Adorno und Camus sucht er nach Antworten für unsere Krise und deren Unsichtbarkeit in Medien, Netzen und Denken.

Bestellen wir die Apokalypse bei Amazon?

Immer wieder, so Reimer einleitend, tauche in Gesprächen über die Klimakrise ein absurder Gedanke auf: Wir könnten uns heute in unseren westlichen Gesellschaften zwar das Ende der bewohnbaren Welt vorstellen, nicht aber das Ende des Kapitalismus. Thema des Buchs ist folgerichtig die Absurdität unseres Wirtschaftssystems, insbesondere des heutigen neoliberalen Kapitalismus. Der habe sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertige, er habe ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus habe er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruhe, und in diesem Sinne sei er absurd. Dieser Kritikansatz ziele nicht auf ethische oder moralische Verfehlungen des Neoliberalismus, sondern auf seine Dysfunktionalität.

Prof. em. Jürgen-Michael Reimer, studierte Sozialwissenschaften in Hamburg und Göttingen, lehrte „Human Ressource Management“ an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg und erweist sich im vorliegenden Buch als origineller Vertreter einer marxistischen Politökonomie auf der Höhe der Zeit was Digitalisierung, sogenannte „Soziale Medien“ und Plattformkonzerne wie Apple, Microsoft, Facebook, Google oder Amazon angeht.

Besagte Verheißungen, mit denen sich der neoliberale Kapitalismus rechtfertigt, erweisen sich Reimers Analyse als pure PR: Wohlstand für alle und Gerechtigkeit werden in absurder Weise konterkariert, Bildungs- und Gesundheitswesen ausgehungert, Natur und Klima verwüstet und selbst mit dem“ liberalen Markenkern“ der Freiheit ist es nicht weit her. Im Gegenteil, neoliberale Regime bedienen sich ausgiebig modernster digitalisierter Massenmanipulation: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen“ (S.93).

Es etabliere sich eine neoliberale „Marketinggesellschaft“, die auf großflächige Manipulation des Bewusstseins setze und uns mit kulturellen und affektiven Gütern abspeise. Digitale Plattformen stellen dabei etwa über Influencerinnen Märkte der Eitelkeiten und des Sozialprestige bereit, wo mit Selfies und Partnerbörsen um Aufmerksamkeit gebuhlt würde und Luxusgüter immer größeren Raum einnehmen. „So treffen zwei unvereinbare Imperative -Lohnverzicht und unbegrenzter Konsum- im Individuum aufeinander. Das große Paradox!“ (S.102) Ergebnis sei sich ausbreitende Entfremdung, die zunächst klassisch marxistisch erläutert und dann auf den Neoliberalismus bezogen wird: „Auch das Absurde lässt sich als Entfremdung deuten“ (S.108) Die „Auswüchse des auf Algorithmisierung beruhenden digitalen Kapitalismus“ sieht Reimer schon bei Horkheimer/Adorno und ihrer „Dialektik der Aufklärung“ vorausgeahnt.

Der neoliberale Kapitalismus hat sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertigt, er hat ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus hat er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruht. In diesem Sinne ist er absurd. Die in dem Essay entfaltete Kritik am Neoliberalismus ist funktionalistisch und macht diesen als interessengeleitete Ideologie kenntlich.“ (Klappentext, PapyRossa Verlag)

Die Entwicklung des Geistes des Kapitalismus in der vorindustriellen Zeit wird vom Reimer beginnend bei Aristoteles bis zu Marx, Weber und Sombart nachgezeichnet. Letzterer sah den Luxus als Bedingung der Entstehung des kapitalistischen Geistes, wobei mit Weber (protestantische) Askese als weitere Wurzel dazu gedacht werden muss. Die Vorgeschichte des Neoliberalismus wird in marxistischer Begrifflichkeit analysiert und als ihre Folge die Pervertierung heutiger Lebenswelt herausgearbeitet:

„Als seine zentralen Merkmale werden sowohl die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation als auch deren Ausuferung zu einer ‚gesellschaftlichen Grammatik‘ herausgestellt, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränkt.“ (Klappentext)

Neoliberalismus, Staatsverachtung und machtbesoffene Konzerne

Seit den 1970er und -80er Jahren trat der neoliberale Kapitalismus seinen Siegeszug an, da mit Überproduktion und Legitimationsverlusten Krisenerscheinungen zu überwinden waren. Diese wurden der Akkumulationslogik im Sinne des Nutzens einer kleinen Minderheit von Kapitaleignern immer gefährlicher. Bereits in der Ideologie des Kapitalismus verschleierte der Liberalismus die ökonomischen Kerninteressen dieser Minderheit mit dem hehren Wert der Freiheit. Die liberalen Wurzeln des Neoliberalismus zielen auf Marktfreiheit, die eine Reduktion staatlicher Macht ins Zentrum rückt. Milton Friedman habe vertreten, dass Freiheit da beginne, wo die Politik aufhöre. Hannah Arendt habe dem entschieden widersprochen, Freiheit sei der Sinn von Politik, den der neoliberal erstrebte „Minimalstaat“ (Hayek, Nozik) schwerlich einlösen könne.

Die Haupttugenden einer freiheitlichen Gesellschaft seien nach John Rawls, so Reimer, Wahrheit und Gerechtigkeit, wobei jeder gleiche Grundfreiheiten habe und wirtschaftliche Ungleichheit so zu gestalten sei, dass sie dem Gemeinwohl diene. Dem stehen die Doktrinen des Neoliberalismus entgegen, die ausgehend von der Mont Pèlerin Society (Hayek, Popper, Friedman u.a. 1947), 1973 in der Pinochet-Diktatur in Chile erstmals umgesetzt wurden. In USA und UK folgten Thatcher und Reagan diesem Beispiel und 1989 wurden im Washington Consensus die neoliberalen Leilinien festgelegt, an denen sich auch IWF, WTO und Weltbank orientiert hatten: Reduktion der Staatsquote, Steuersenkung, Privatisierung von Staatsbetrieben, Deregulierung vor allem der Finanzmärkte, Investorenschutz. Diese Doktrinen finden sich in Austeritätsprogrammen im Euroraum unter Stichworten wie Fiskalpakt, Schuldenbremse, Privatisierung. Neoliberaler Marktradikalismus und Antikollektivismus (wurzelnd in der antikommunistischen McCarthy-Bewegung der USA) laufen damit auf eine Schwächung des Staates hinaus, deren Hauptmethode die Privatisierung sei. Zu ihrer Rechtfertigung diene die Krise der Staatsfinanzen, deren Ursache nicht in neoliberalen Steuersenkungen gesehen, sondern als „Demokratieversagen“ umgedeutet werde.

Die unermüdliche Lobbyarbeit des neoliberalen Kapitals ziele hierzulande vor allem auf die Privatisierung von Post, Verkehr, Bildung, Gesundheit, Wohnen und Daseinsvorsorge. Der Ausverkauf des Staates erfolge auch durch ppp (public privat partnership -eine Erfindung der bereits vor der Jahrtausendwende zunehmend neoliberal agierenden Grünen in ihrer ersten Regierungsbeteiligung unter Schröder. Manipuliert werde durch subtiles deep lobbying, etwa mit der Platzierung von Leihbeamten aus Privatunternehmen in Ministerien (hier waren ebendiese Grünen ebenfalls federführend und schufen Querverbindungen von Großkapital und Ökopartei-Spitzenpolitiker:innen), staatlicher Beauftragung privater Berater, Formulierung von Gesetzen durch Anwaltskanzleien usw.

Die neoliberale Finanzialisierung der Märkte hätte etwa in Finanz- und Griechenlandkrise (2008 ff.) großes Unheil bewirkt, neoliberale Digitalisierung hätte unsere Daten in kognitive Güter verwandelt, Überwachung dabei die Freiheitsrechte ausgehöhlt (Zuboff) und Leitunternehmen wie Google, Apple, Facebook, Amazon wären inzwischen zu proprietären Märkten (in Privatbesitz) geworden. Der neoliberal regierte Staat habe die Besitzenden und Unternehmen „gepampert“, durch „mehrfache und deutliche Reduzierung des Spitzensteuersatzes der Einkommenssteuer. Die hätten sich durch immer weitergehende Steuervermeidung selbst der niedrigen Steuern bedankt, bis hin zu den „extremen Cum-Ex-Skandalen“, wo kriminelle Bereicherung die Staatskasse 10 bis 30 Milliarden Euro gekostet habe (S.80). Was den Autor zur Frage führt, wie lange wir uns den Kapitalismus noch leisten können.

Die Legitimierung und Einhegung wirtschaftlicher Macht durch demokratischer Prozesse sei im Neoliberalismus nicht erwünscht (der Leser wird an die erste Anwendung neoliberaler Dogmen in der Pinochet-Diktatur erinnert). Sogar die Märkte selbst gerieten bei digitalen Plattformkonzernen in das Eigentum des Kapitals. Folge sei eine Entmachtung der Arbeitnehmerseite im Wirtschaftsprozess, eine Senkung der Lohnquote im BIP und die Demokratisierung betrieblicher Entscheidungen „steht nicht einmal zur Diskussion“ (S.94).

Der Industriekapitalismus brachte bedeutende Treiber der Produktivitätssteigerung wie Arbeitsteilung, Massenproduktion und technische Innovationen, aber auch eine industrielle Reservearmee von Arbeitslosen. Deren Verdammung zur „unfreiwilligen Askese“ der Elendsviertel diene zur Disziplinierung der Arbeiterschaft. Diese Drohkulisse zeige sich bis heute im Neoliberalismus, etwa in der Programmatik des „Forderns und Förderns“ bei Hartz IV, die Verwerfungen des Arbeitsmarktes der Eigenverantwortung des undisziplinierten Subjekts zuschreibe. Global komme in einer Privatisierung der Macht (vgl. Krysmanski) es zugleich zum Übergang einer geopolitischen zu einer geoökonomischen Ordnung, deren neoliberales Finanzregime von OECD, IWF, WTO und Weltbank unter dem Schlagwort einer „global governance“ den Charakter einer „vierten, monetativen Gewalt“ annehme (S.47). Angesichts globaler Macht ist die Demokratie in Gefahr (vgl. Barth) und auch durch bis in die intimsten Bereiche der Lebenswelt vordringende digitale Technologien sind die Menschen heute einer absurden gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesetzt, deren Lebensperspektive sich für die Mehrheit auf ein zunehmend prekäreres muddling through beschränke (S.99). Absurd in einer Gesellschaft die unsagbaren Reichtum produziert, sich selbst für rational hält und Freiheit und Individuum zu ihren höchsten Zielen erklärt.

Soziale Medien, Propaganda, Konformismus

Eine vom Liberalismus proklamierte Freiheit werde für die meisten Menschen zur zynischen Illusion, die sich nur die oberen 20 Prozent in der steiler werdenden Einkommenspyramide noch wirklich finanzieren können. Menschliches Leben würde vielmehr zwischen wachsender Unfreiheit im digitalisierten Arbeitsleben, Konsumismus und unfreiwilliger Askese des Prekariats zerrieben. Der neoliberal gepriesene Wettbewerb bringe am Ende auf dem Markt nur wenige Sieger hervor: The winner takes all. Ein absurder Effekt, weil der Wettbewerb so seine eigenen Voraussetzungen zerstört. Besonders absurd sei der Glaube, der Markt könne die Gesellschaft mit heute öffentlichen Gütern versorgen. Der Markt habe keine Lösungen in den Krisen der Umwelt, der Pandemie, der Energieversorgung oder des Ukrainekrieges erbracht. (S.75) Bei Privatisierungen sei die Effizienzsteigerung nicht eingelöst worden, Leistungen wurden teurer, die Versorgung schlechter und in der öffentlichen Infrastruktur sei hierzulande ein Investitionsstau von 450 Milliarden Euro zu verzeichnen. Der neoliberale „Schlanke Staat“ sei in Wahrheit ein Ausverkauf des Staates zu Ramschpreisen gewesen. Staatliche Behörden sind zwar für Umweltschutz, Bildung, Gesundheitswesen zuständig, aber der Medien, Parteien und Öffentlichkeit dominierende Neoliberalismus untergrabe mit seiner Forderung nach dem Rückzug des Staates seine eigenen Grundlagen.

Ein absurder Trick des Neoliberalismus sei seine Selbstdarstellung als Verteidiger der Freiheit bezüglich tatsächlicher Machtausübung: „Neoliberale Argumentationen schweigen in der Regel die Macht des Kapitals tot, eine für Ideologien typische Form selektiver Wahrnehmung. Neoliberale Manager bzw. Kapitaleigner bestreiten häufig, Macht auszuüben. Sie geben vor, mit ihren Entscheidungen der invisible hand des Marktes zu folgen.“ (S.91)

Unseren Gehorsam sichern sich neoliberale Regime auch durch (zunehmend digitalisierte) Erziehung und Propaganda vor allem durch Mobilisierung von Voreingenommenheit: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen.“ (S.93)

Camus, das Absurde und die liberale „Freiheit“

„Die Vorstellungen zur Absurdität sind dem literarischen und philosophischen Werk von Albert Camus entlehnt. Bei ihm führt das Absurde, die Begegnung des sinnsuchenden Menschen mit einer sinnlosen Welt, nicht in eine hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr bietet das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“ (Klappentext)

Die manipulative Macht der neoliberale Ideologen veranlasst auch jene Menschen, die im Neoliberalismus benachteiligt werden, zu einer unbewussten und freiwilligen Unterwerfung. Die Entfremdung der Menschen wachse im digitalen Kapitalismus, den der Neoliberalismus entlang der Dogmen des Washington Consensus durchsetze. Im so durch wachsende Entfremdung immer absurderen Dasein der Menschen kann der Neoliberalismus die von ihm aufgerissene Lücke der Sinngebung nicht füllen. Mit dem existenzialistischen Philosophen und Schriftsteller Albert Camus könne man sich nur durch Bewusstmachung des Absurden auf Freiheit, Leidenschaft und Auflehnung besinnen, um die absurden Auswüchse des Neoliberalismus in demokratischen Prozessen zu thematisieren und einzuhegen.

Dies führe nach Camus jedoch nicht, so Reimer, in hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr biete das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Reimer will der Auflehnung ein Ziel geben und macht deshalb den Neoliberalismus als interessengeleitete Ideologie kenntlich. Deren zentralen Merkmale wären die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation sowie deren Ausuferung zu einer „gesellschaftlichen Grammatik“, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränken würde.

Eine Abkehr vom absurden Neoliberalismus wäre nur durch ergebnisoffene demokratische Diskurse möglich: „Dieser Diskurs darf aber nicht den Meinungsmachern im Dienst des Kapitals überlassen bleiben. Auf dem Weg dahin dürften sich Versuche lohnen, die absurden Auswüchse des Neoliberalismus zu thematisieren und einzuhegen.“ (Schlusssätze S.119)

Reimer ist nicht der erste Altmarxist, der auch beim französischen Existenzialismus nach Antworten suchte. Bereits Wolfgang Fritz Haug befasste sich in seiner Doktorarbeit „Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden“ (1965) mit existenzialistischer Gesellschaftskritik, deren Kreisen um das Absurde er ebenfalls in der Entfremdung und Vereinzelung begründet fand. Seine Kritik am Kult leerer Freiheit bei Sartre, aber insbesondere bei Camus war, dass dieser sich, in elitärer Ferne zur Gesellschaft, eher darin gefiel, „das Absurde“ auszuhalten, als aktiv gegen die kapitalistische Entfremdung vorzugehen. Haug zitiert Hannah Arendt, die Camus Fatalismus und Schicksalsergebenheit zuschrieb (Haug 1991, S.40f., S.190f.), eine Einschätzung, die selbst konservative Philosophiehistoriker bis heute teilen (vgl. etwa Steenblock 2002, S.326f.). Reimers funktionalistische Kritik an Neoliberalismus und digitalem Kapitalismus wird dadurch jedoch nicht geschmälert. (Thomas Barth)

Quellen:

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Barth, Thomas: Controlling statt Demokratie? In: ders. Hg.: Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S.101-111.

Haug, Wolfgang Fritz: Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden, 3.Aufl., Argument-Verlag, Hamburg 1991 (Or.1966).
Krysmanski, Hans Jürgen: Die Privatisierung der Macht, in: Altvater, Elmar u.a.: Privatisierung und Korruption: Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S.25-37.
Steenblock, Volker: Kleine Philosophiegeschichte, Stuttgart 2002.

08/30/23
Total vernetzt - Nur wer sich anschließt wird nicht ausgeschlossen.

Rezension: Braches-Chyrek u.a. (Hg.): Handbuch Kindheit, Technik & das Digitale

Thomas Barth
Was bedeuten die rasanten medialen und digitalen Transformationen für das Leben von Kindern? Diese Frage wurde „in der deutschsprachigen Kindheitsforschung bislang wenig untersucht“ (Klappentext). Das Handbuch thematisiert zentrale Zusammenhänge und interdisziplinäre Diskurse über Gesellschaft, Technik und Kindheit mit dem Ziel, emanzipatorische Bildungs- und Lernprozesse zu fördern.
Die Herausgeber*innen kommen aus den Bereichen Pädagogik, Sozialpädagogik und Soziologie, ebenso die meisten der insgesamt 26 Beiträger*innen unter denen acht aus Digitalisierungs- oder Medienwissenschaften stammen. Charlotte Röhner und Heinz Sünker, beide emiritiert, sind Nestor*innen der deutschen Kindheitsforschung, Sünker ist zudem Adorno-Experte und sein Blick auf das Digitale geprägt von der Kritischen Theorie der freudomarxistischen Frankfurter Schule. Überwiegend aus dieser kritischen Perspektive diskutiert der erste von vier Teilen des Bandes „Technik und Gesellschaft“, also die sozialen, kulturellen, pädagogischen und politischen Folgen der Digitalisierung. „Welche neuen Zugriffsmöglichkeiten auf kindliche Subjektivität ergeben sich aus der Techniknutzung und welche Widerstandspotentiale (Adorno, Erziehung zur Mündigkeit)? Welche veränderten Konzeptualisierungsansätze von Kindheitspolitik ergeben sich?“ (Verlagstext).
Soziale Aufgaben wie Wert schätzen, Bindung schaffen, Trennung verarbeiten, Grenzen setzen, Identität und Autonomie gewinnen, sie alle unterliegen durch allgegenwärtige Digitalmedien neuen Risiken, etwa prekärer Datensicherheit, leicht zugänglichen jugendgefährdenden Inhalten oder Cybermobbing. Doch das Handbuch thematisiert auch neue Chancen der Digitalmedien. Im zweiten Teil „Digitalisierung und Mediatisierung von Kindheit“ wird die Sozialisation und Kinder als Akteur*innen thematisiert. Der dritte Teil „Digitales Konstruieren, Spielen und Handeln“ legt den Fokus auf die früher meist negativ bewerteten Computer-, Video- und heute auch Online-Spiele, sucht nach kreativen Potentialen, warnt aber auch, etwa vor unreflektiertem Konsum gewalthaltiger Spiele. Der letzte Teil „Digitalisierung und digitale Bildung in Institutionen“ nimmt Probleme und Lösungsansätze in Kitas und Schulen des Elementar- und Primarbereichs in den Blick.
Technologie, Adoption und Pflegefamilien
Prof. Rita Braches-Chyrek war 2010 Mitherausgeberin des Bandes „Kindheit in Pflegefamilien“, doch dieser Aspekt der Kindheitsforschung klingt im vorliegenden Handbuch nur in zwei Beiträgen an: 1. Die Afrikanistin Konstanze N‘Guessan streift mit „Verwandtschaft und Kindheit im Zeitalter assistierter Reproduktion – Einblicke in die ethnographische Erforschung des doing family“ das Thema Adoption und Islam. 2. Der Beitrag „Beobachtung der Beobachteten: Technologie, Schutz und Fürsorge an einem Tag im Leben von Jasmine“ von Rachel Thomson und Ester McGeeney, berichtet aus einer „alternativen Erziehungseinrichtung für Jugendliche, die keinen Zugang zur Regelschule haben“; sie beobachten dort den Medienalltag der fünfzehnjährigen Mutter Jasmine, die in einer Pflegefamilie untergebracht ist (s.u.2.).
1. Verwandtschaft, Kindheit und Technologie
Der Beitrag von N‘Guessan ist der einzige des Bandes, der nicht von digitalen Medien handelt -dafür aber biotechnologische Bezüge zum Transhumanismus aufweist, indem dessen Biologismus auf den Boden der sozialen, kulturellen und psychologischen Tatsachen zurückgeholt wird. Im Fokus stehen medizinische Technologien der assistierten Reproduktion und die kulturelle Herstellung von Verwandtschaft und Familie in verschiedenen Kulturen. Ihre Ausgangsfragen sind: „Was ist Familie und wer gehört dazu? Welche Dimensionen hat Eltern-Sein und wie wird Abstammung kulturell konzeptualisiert?“ Solche Fragen stellt die Ethnologie der „New Kinship Studies“, die seit den 1980er-Jahren die Verwandtschaftsforschung „von der Biologie befreit, die durch euroamerikanische Prägung entstanden sei.“
Verwandtschaft wird und wurde immer kulturell gemacht -und dieser Entstehungsprozess oft mit Biologismen wie „Blut ist dicker als Wasser“ verborgen, was oft schon den Status von Adoptivkindern kompliziert habe. Neue Reproduktionstechniken (NRT) lassen die biologische Simplifizierung heute vielerorts ins Schwimmen geraten. Denn es sind dabei nicht nur zwei, sondern bis zu fünf Personen im engeren Kreis einer konstruierbaren Elternschaft vorhanden: Mutter, Vater, Eispenderin, Samenspender und Leihmutter. Dazu kämen im weiteren Umfeld noch diverse Medizintechniker*innen, die etwa mit ihren Händen unter dem Mikroskop die Eizelle besamen. „NRT und Adoption konstituieren einen Möglichkeitsraum, auf den sich unterschiedlichste Akteur*innen in ihren Überlegungen und Praxen beziehen. Durch die Linse der NRT lässt sich Verwandtschaft als Ergebnis von Handlungen verstehen.“
Konstanze N‘Guessan erläutert an diversen afrikanischen und islamischen Kulturen Praktiken des Verwandt-Machens -und ist mit dieser interkulturellen Perspektive in diesem Handbuch einmalig. Wir erfahren von einem „Unfruchtbarkeitsgürtel“ in Zentral- und Südafrika, wo NRT trotz der hohen Kosten stark gefragt sind und auf andere als die euroamerikanischen Verwandtschafts-Praktiken treffen. In matrinlinearen Gesellschaften, etwa den Macao in Mozambik, können Vaterpflichten und -privilegien auf den Mutterbruder übergehen; in anderen Kulturen gibt es die „Geist- oder Frauenheirat“, wo Vater- bzw. Schwangerschaft durch Zahlung eines Brautpreises auf einen Ahnen oder eine Frau übertragen werden.
In islamischen Kulturen ist entscheidend, ob diese schiitisch oder sunnitisch sind: Bei Sunniten kann schon die Adoption verboten sein, im weniger restriktiven Schiismus bleiben Adoptivkinder zumindest von der patrilinearen Erbfolge ausgeschlossen; seit einer permissiven Fatwa von Ayatolla Khomeini sind in Iran und Libanon NRT-Kinder erlaubt und Adoptierten gleichgestellt. „Die Frage, wie ‚fremde‘ Kinder durch soziale Praktiken und diskursive Rahmungen der Familie zugehörig gemacht werden stellt sich nicht nur bei NRT-Kindern, sondern immer“, so N‘Guessan, denn Verwandtschaft sei eine „biologisch wie sozial unterdeterminierte, gestaltungsoffene wie gestaltungsnotwendige soziale Ordnung“. Damit stellt sie sich dem reaktionär-neoliberalen Mythos von der biologistisch verabsolutierten bourgeoisen Familie ebenso entgegen, wie dies mit breiterer Perspektive der afrikanische Ökonom und Kulturwissenschaftler Felwine Sarr in seinem Manifest Afrotopia tat.
2.Technologie, Schutz und Fürsorge
Thomson und McGeeney stehen mit ihrem britischen „Kinderalltagsprojekt“ in der Tradition materialistisch-feministischer Methodologie, die ihre Forschungstätigkeit eingehend selbstkritisch reflektiert und nach Möglichkeiten „nachhaltigerer Sorge-Relationalitäten“ sucht:
„Die digitalen Medien haben ganz eigene Möglichkeiten geschaffen, die auch neue Arten von erzieherischer Führung erfordern und neue Gebiet ethischer Untersuchungen eröffnen. (…) Junge Menschen in staatlicher Obhut wurden als eine besondere Risikogruppe identifiziert, einschließlich des Risikos in Bezug auf digitale Kulturen… besonders in den Bereichen Adoption und Pflegefamilien kämpfen Sozialarbeiter*innen darum, die Kinder vor der Aufnahme oder der Fortsetzung von Kontakten mit ihren leiblichen Eltern zu bewahren, wenn diese gerichtlich eingeschränkt worden war.“
Digitale Medien, besonders das allgegenwärtige Smartphone, erschweren diese Aufgabe, denn Kinder und Jugendliche verstehen es, sich der Kontrolle zu entziehen. Im Fall der einen Tag wissenschaftlich beobachteten Jasmine wird klar, dass auch sie und ihre Mitschüler*innen die ihnen auferlegten Regeln für den Mediengebrauch zu unterlaufen wissen: „Die ‚Ein-Tag-im-Leben-Methode‘ hat uns diese Art der dichten, affektiven Geometrien einfangen lassen.“ Die Forscher*innen erfahren, wie vermutlich Instagram und Snapchat von minderjährigen Müttern verwendet werden, um Babyfotos zu posten -schon deren Aufnahme wird von der Einrichtung eigentlich untersagt.
Die Konfliktsituation wird von Thomson und McGeeney aus beiden Perspektiven reflektiert: Die Schutzbefohlenen müssen einerseits „beobachtet, überwacht, geschützt und zensiert werden“, andererseits gibt es auch eine „Kinderöffentlichkeit“ mit „den Imperativen: gesehen werden, sichtbar sein, teilhaben in/an einer digitalen Kultur“. Die Autor*innen stellen fest, dass in dieser neuen Kultur „neue Arten der Subjektivität“ entstehen. „Im Kontext einer Aufmerksamkeitsökonomie können wir das Bedürfnis junger Menschen, gekannt und gesehen zu werden, nicht einfach ignorieren“. Jugendliche Medienpraxis unreflektiert „unterdrücken“ zu wollen, halten die beiden Forscher*innen „für irregehend“.
Der emanzipative Ansatz ist bei Thomson und McGeeney deutlich, doch bei der Reflexion des „Neuen“ an der „neuen Subjektivität“ ist noch Luft nach oben. Denken wir an eine 1950er-Jahre-Werbung für Dosen-Ananas: „Toast Hawaii! Da werden Ihre Nachbarn staunen!“ Foodporn auf Instagram posten ist vielleicht nur überkommene Subjektivierung in digitalisierter Werbeästhetik, die kunstvolle Beleuchtung und Belichtung von damals wird heute durch einen das Foto farblich aufpeppenden digitalen „Filter“ ersetzt.
Fazit
Die emanzipatorische Haltung ist löblich, doch leider gelingt der Transfer der Medienkritik von Adorno ff. auf die Digitalisierung durch die Bank nur ungenügend. Die zweifelhafte Referenz von Heidegger als Paten der Technikkritik überzeugt ebenso wenig wie der gelegentliche, hilflos wirkende Verweis auf neueste Ansätze wie Shoshana Zuboffs „Überwachungskapitalismus“. Dabei wäre bei Kenntnis der kritischen Diskurse zu Computer- und Internetkultur gar nicht nötig, das Rad neu zu erfinden: Der Adorno-Experte Mark Poster etwa kombiniert seit 30 Jahren Freudomarxismus mit postmodernen Ansätzen, etwa den Heidegger implizit weiterführenden Theorien von Michel Foucault, bei seiner Digitalmedienkritik.
Den meisten Beiträgen scheinen auch tiefer gehende Kenntnisse der technologischen und politischen Hintergründe der Digitalisierung zu fehlen, mit den beiden Ausnahmen des Professors für Digital Humanities (Sussex) David M. Berry und des Diplom-Informatikers Marius Melzer, der beim Chaos Computer Club ein Schülerprojekt betreibt. Bei Melzer bleibt die Warnung vor Manipulation im Internet nicht vage, sondern er führt konkret die wohl dramatischste Auseinandersetzung auf diesem Gebiet an:
„Das Beispiel Julian Assange zeigt dies deutlich: Die nach heutigem Wissensstand fingierten Vergewaltigungsvorwürfe (Melzer 2020) führten dazu, dass die vorhergegangene Wikileaks-Veröffentlichung „Collateral Murder“, die zeigte wie US-Soldaten im Irakkrieg lachend aus einem Hubschrauber auf Zivilisten und Journalisten feuerten, in Vergessenheit geriet.“ (S.114)
Die mit nur einem Satz allzu sparsame Erwähnung dieser digitalen Medienschlacht um die (nicht nur Medien-) Geschichte schreibende Enthüllungsplattform Wikileaks brachte einen gravierenden Fehler: In der Literaturliste wurde beim Quellennachweis der Vorname von N.Melzer offenbar zu M.Melzer fehlkorrigiert. Man nahm wohl ein Selbstzitat von Marius Melzer an und kannte nicht den wirklich zitierten weltberühmten Autor Nils Melzer, den UNO-Folterbeauftragten und Schweizer Professor für Völkerrecht. Nils Melzer hatte die gegenwärtige Folter des Wikileaks-Gründers Julian Assange angeprangert, den er als Opfer einer perfiden Intrige sieht. Er hatte in schockierenden Artikeln und seinem Buch „Der Fall Assange“ detailliert enthüllt, wie mutmaßlich Geheimdienste die Regierungen der USA und Großbritanniens sowie die schwedische Justiz den politisch verfolgten Assange als Vergewaltiger abgestempelt hatten. Diese Fakten wurden in westlichen Medien jedoch weitgehend vertuscht, was den Irrtum von Verlag, Lektoren und Korrekturat begründen dürfte. Somit wird dieses Handbuch selbst zu einem Beispiel gelungener Medienmanipulation im Digitalzeitalter.

Rita Braches-Chyrek, Jo Moran-Ellis, Charlotte Röhner, Heinz Sünker (Hrsg.): Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2021. 422 S., 69,90 Euro.