12/10/25

Bobineau, Gieg, Lowinger (Hg.): Handbuch Demokratische Republik Kongo

Julien Bobineau, Philipp Gieg, Timo Lowinger (Hg.): Handbuch Demokratische Republik Kongo. Geschichte, Politik, Gesellschaft, Kultur, Frank&Timme Verlag, Berlin 2024, 678 S., 148,00 Euro, ISBN 978-3-7329-0434-1

Rezension von Thomas Barth

Wenn jetzt bald wieder viele neue Mobiltelefone unter dem Weihnachtsbaum landen, keimt bei besser informierten Menschen hoffentlich ein schlechtes Gewissen auf: Man weiß, dass darin vermutlich billiges “Blut-Coltan” aus der Demokratischen Republik Kongo steckt, man erinnert sich an gelegentliche knappe Meldungen über dortige Verletzungen der Menschenrechte, Massaker und zu Tode geschundene Kinder-Sklavenarbeiter*innen.

Doch unser Wissen ist dürftig. Die DR Kongo ist trotz ihrer immensen Größe von 2,3 Millionen qkm, ihrer Bevölkerung von bald 150 Millionen Menschen und ihrer historischen wie wirtschaftlichen Bedeutung ein vernachlässigtes Thema. Die genozidalen Kongogräuel, die Ermordung des ersten Präsidenten Patrice Lumumba, die beiden Kongo-Kriege, der Zweite wird auch als “African Worldwar” bezeichnet, all das ist nur schemenhaft in unserem eurozentrischen Wissen vorhanden: nicht zufällig, denn Unwissen über den historischen Kolonialismus hilft heutigen Ausbeutern ihre neokolonialen Machtstrukturen zu verbergen. So berichten unsere Medien weit öfter von den dort lebenden Bonobo-Affen als von Geschichte, Bevölkerung und Politik des Landes.

Dabei war die brutale Ausbeutung der Kautschuk-Ressourcen des Kongo zentral für Autoindustrie und Motorisierung der (westlichen) Welt und damit für den Aufbau der reichen Industrienationen; diese Geschichte wiederholt sich derzeit bei der Plünderung der Coltan-Reserven für die Mobilisierung der Kommunikation der Welt und den Ausbau der Digitalisierung. Aus Belgisch-Kongo stammte auch das Uran für die ersten Atombomben der USA. Von außen dirigierte Putsche und Rebellengruppen, Überfälle von Nachbarländern und Kolonialmächten (Belgien, USA, Frankreich) überziehen das Land immer wieder mit Blutvergießen und Gräueltaten. Kein Wunder, dass die DR Kongo Zielland der größten UN-Friedensmissionen war, mit dem Einsatz von bislang etwa 20.000 Soldaten aus 40 Nationen. Das Aufblühen des ganzen Kontinents, das der senegalesische Kulturwissenchaftler Felwine Sarr sich in seinem „Afrotopia“ ausmalte, hängt zentral von einer Befriedung der DR Kongo ab, von einer Vertreibung der Mörder und Ausbeuter und einer dann endlich möglichen fairen Vergütung der unermesslichen Reichtümer der Kongoregion.

Das Handbuch Demokratische Republik Kongo bietet einen Überblick zu Geschichte, Politik, Gesellschaft und Kultur des facettenreichen Landes, der weit über das hinausgeht, was die übliche schnelle Internetsuche, Wikipedia und Chatbots anbieten. Diese Rezension fokussiert Abschnitte des enzyklopädischen Bandes, die Vergangenheitsbewältigung und Kolonialkritik zum Ziel haben.

Der Anspruch ist hoch: “Systematisch aufbereitete, gut verständliche Texte zur kongolesischen Geographie, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur schaffen ein vertieftes Verständnis für globale Verflechtungen, ihre historischen Ursprünge und die Auswirkungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei werden die verschiedenen Perspektiven auf die Demokratische Republik Kongo übersichtlich erfasst und miteinander in Beziehung gesetzt. Dieses differenzierte, interdisziplinäre Kaleidoskop umfasst unter anderem Beiträge zu Geo- und Demographie, zur Geschichte und zu Kriegen und Konflikten seit den 1990er Jahren, zum politischen System, zu Institutionen, Infrastruktur, Zivilgesellschaft und Außenbeziehungen sowie zu Medien, Bildungs- und Gesundheitssystem, Religionen, Frauenrechten, Sprachen, Sport, Kunst, Musik, Literatur, Film, Mode und den kulinarischen Kulturen des Landes.” (Verlagstext)

Für eine korrekt geschriebene Geschichte

In ihrem Vorwort macht Prof. Debora Kayembe, gebürtige Kongolesin und Rektorin der Universität Edinburgh, klar, dass sie die bisherige Darstellung der DR Kongo in deutschen oder westlichen Arbeiten insgesamt für zweifelhaft hält und pocht auf eine nunmehr “korrekt geschriebene” Geschichte, “ohne Fehlinformationen, mit der Wahrheit und nichts als der Wahrheit” (S.9). Besonders die engagierten und gut lesbaren Beiträge von Julien Bobineau machen klar, worum es dabei vordringlich geht: Um den immer noch bzw. immer wieder erneut verdrängten oder heruntergespielten Stellenwert der Kongogräuel von 1885-1908, das verklärte Bild des Kolonialverbrechers und Völkermörders König Leopold II..

Es geht auch um die kaum verminderten Kolonialverbrechen 1908-60, die brutale Ermordung des nach der Befreiung am 30.Juni 1960 ersten gewählten Präsidenten Patrice Lumumba (1925-1961), durch USA, Belgien und andere antikommunistische Akteure. Schon im Januar 1961, nachdem die westliche Presse Lumumba zum Kommunisten und “neuen Hitler” dämonisiert hatte, wurde seine Regierung terrorisiert. Schnell hatte man den Kongo völkerrechtswidrig überfallen, gegen Lumumba geputscht, ihn und seine Anhänger gejagt, gefoltert und ermordet.

Aber es geht auch um die Ära des Diktators Mobutu (1965-97), einer von der CIA finanzierten Marionette westlicher Industrie-Interessen, sowie um die zahllosen, meist von außen dirigierten “Bürgerkriege” zum Raub von Rohstoffen, die bis heute andauern und meist westlichen Firmen den Zugriff auf billiges Blut-Coltan sichern. Und es geht speziell um Belgiens Umgang mit der Kolonialvergangenheit, der in seiner Verlogenheit stellvertretend für den Umgang europäischer Kolonialstaaten mit ihren Verbrechen stehen kann.

Von Bismarck zur DDR-Lumumba-Solidarität

In ihrer Einleitung stellen die Herausgeber Bobineau, Gieg und Lowinger diese “Wissenslücken” der westlichen Welt, die eigentlich Teil einer andauernden Propaganda zur Vertuschung und Aufrechterhaltung imperialistischer Ausbeutung sind, in einen größeren Zusammenhang. Eine “früher unverhohlen rassistische”, immer noch eurozentrische Sichtweise auf Afrika als “das Geschichtslose” (Hegel) weigert sich, den Kontinent und insbesondere seine schwarzen Bewohner in den historischen Wissenschaften und der medialen Darstellung angemessen zu würdigen (S.13). Das Literaturangebot zur DR Kongo sei im deutschsprachigen Raum erstaunlich karg, das vorliegende Handbuch müsse diese Lücke dringend füllen. Schließlich habe Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-89) mit seiner Kongo-Konferenz 1884/85 maßgeblich zur Unterwerfung des Landes unter die blutige Herrschaft Leopold II. beigetragen. Die Kolonie Deutsch-Ostafrika, die auch das heutige Ruanda und Burundi umfasste, bildete die Ostgrenze des sogenannten “Freistaat Kongo” des Belgischen Königs.

Nach 1945 sei die Afrika-Politik von Ost- und Westdeutschland zu unterscheiden, besonders was die Ermordung von Patrice Lumumba betrifft: Lumumba habe im Kalten Krieg Blockneutralität proklamiert, was die westlichen “Verbündeten” (“allen voran Belgien, Frankreich und die USA”) als Chance für die verhasste Sowjetunion deuteten, an den strategischen Ressourcen wie Kupfer, Kobalt und Uran des Kongo zu partizipieren. Westliche Medien dämonisierten Lumumba daher, auch in der BRD, um seinen Sturz propagandistisch vorzubereiten. “Mit Unterstützung von kongolesischen Schattenmännern… gelang es ‘westlichen’ Geheimdiensten im September 1960, Lumumba abzusetzen und zu inhaftieren.” (S.16) Nach seiner brutalen Folterung und Hinrichtung beteiligten sich westliche Medien der BRD an der “Verklärung und Verschleierung der Todesumstände”.

In der sozialistischen DDR dagegen, die ihrerseits treu an der Seite der Sowjetunion stand, verehrte man Lumumba “als ermordeten Märtyrer”. Man benannte Straßen nach ihm und errichtete Statuen für die Symbolfigur afrikanischen Freiheitswillens. Zudem zählte die DDR (neben China und der UdSSR), so die Herausgeber weiter, zu den wenigen Unterstützern der sozialistischen Gegenregierung des Lumumbisten Antoine Gizenga, in Stanleyville (heute Kisangani). Deren viele Jahre lang gegen die Putschisten und Westmächte gehaltenes Gebiet übertraf zeitweise die Fläche Deutschlands.

Die CDU-geführte BRD hielt dagegen treu zu den USA und ihrem grausamen Diktator Mobutu, der zudem enge persönliche Beziehungen zum Landesherrn in Bayern, Franz-Joseph Strauß (CSU) pflegte (S.16); Partei-Stiftungen von CDU und CSU sind seit 1966 im Land aktiv. 2006 habe die EU unter deutscher Führung die Sicherung der Wahlen unterstützt, in denen sich der 2001 nach dem Tod seines Vaters an die Macht gelangte Kabila junior wählen ließ (sie gelten als manipuliert); von 2800 EUFOR-Soldaten waren 780 Deutsche (S.17). Das Interesse an dem in vieler Hinsicht bedeutenden Land DR Kongo sollte also gestärkt werden, auch weil die deutsche Industrie zu den Hauptnutznießern der unter zweifelhaften Umständen gewonnenen Rohstoffe Kongos zählt -das Land hat z.B. die größten Coltan-Reserven der Welt (S.76). Auf den deutschen Blut-Coltan-Skandal 2001 geht das Handbuch jedoch nicht ein; die global agierende Münchner Metallurgiefirma H.C.Starck, stellte dabei nach Protesten ihre Lieferketten von Kongo auf Australien um.

Demographie, Ressourcen, Gesundheit, Bildung

Im Oberkapitel “Grundlagen” mit Kapitel 2-5 (Geographie, Klima, Natürliche Ressourcen, Demographie) erfährt man, dass die genaue Größe der Bevölkerung der DR Kongo unbekannt ist. Schätzungen für 2018 schwanken zwischen 80 und 130 Millionen Menschen, was Tom De Herdt, Wim Marivoet und Benjamin Kanze Muhoza auf eine eigene demographische Schätzung von 96-97 Millionen präzisieren und aufgrund der hohen Wachstumsrate für 2030 eine Bevölkerung von 148-149 Millionen Menschen prognostizieren (S.99). Jules Masuku Ayikaba beziffert in Kap.4 „Natürliche Ressourcen“ den vermuteten Gesamtwert der abzubauenden Bodenschätze des Landes auf kaum vorstellbare 24.000 Milliarden US-Dollar; Haupteinnahmequelle sei derzeit Kobalt, wovon die Hälfte der bekannten Weltreserven in der DR Kongo liegen, die Coltan-Lagerstätten seien die größten der Welt, wie auch die Zahlen zur Gewinnung von Industriediamanten, dazu kommen Kupfer, Gold, Uran und vieles mehr (S.75ff.); neben eigenen Vorkommen von Erdöl und Erdgas verfüge das Land dank des Kongo-Beckens über gewaltige, aber kaum ausgeschöpfte Potentiale an Wasserkraft, die 13 Prozent der weltweiten und die Hälfte der afrikanischen hydroelektrischen Energiereserven ausmachen: An ca. 780 Standorten könnten etwa 2600 MW produziert werden, von denen derzeit aber nur drei Prozent genutzt würden und nur 15 Prozent der Menschen hätten überhaupt Zugang zum Stromnetz (S.72ff.). Grund für die geringe Beteiligung der Bevölkerung an den Erlösen der Ressourcen wäre ein Mangel an „ethisch handelnden Politiker*innen“ bei den Machthabern des Staates (S.79). Entsprechend katastrophal sieht aus, wie die Lebensbedingungen und -perspektiven der Bevölkerung von diesen Machthabern (im Dienste der ausländischen Plünderer des Reichtums und der Menschen) gestaltet werden.

Das Gesundheitssystem behandeln in Kapitel 25 Hypolite Muhindo-Mavoko, Arzt aus Kinshasa, und der Antwerpener Ebola-Experte Trésor Zola Matuvanga. Sie loben ausführlich den Ausbau von Krankenhäusern von 1920-1956 von 34 auf 293 medizinische Einrichtungen (S.464), ohne im Blick zu haben, wie jämmerlich diese Investitionen im Vergleich zum außer Landes geschafften Reichtum waren; Kindersterblichkeit, Malaria und multiresistente Tuberkulose plagen das Land, das wenigstens mit nur 1,2 Prozent eine niedrige HIV-Infektionsrate aufweist und 2015 für poliofrei zertifiziert wurde; elf Ebola-Epidemien hätten bei 3500 Fällen 2100 Todesopfer gefordert (S.468).

Das Bildungswesen stellt Yves-J. Lumingu Manzanza in Kap. 24 vor: Aus eher juristischer Perspektive nennt er vor allem Rechtsgrundlagen von der UN-Kinderrechtskonvention bis zu Regularien des Ministeriums in Kinshasa. Konfessionelle Schulen machen 70 Prozent des kläglich unterfinanzierten Schulwesens aus (S.453), wo meist Frontalunterricht gegeben wird (S.448); die Universitäten orientieren sich am Bologna-Prozess der EU (S.446), ohne dass wenigstens Erfolge in der Anerkennung kongolesischer Diplome im Ausland zu verzeichnen wären (S.458). Dass die Bologna-“Reformen” in der EU durch Industrie-Lobbies, besonders des deutschen Bertelsmann-Konzerns, durchgesetzt wurden, problematisiert Manzanza leider nicht; es ging z.B. in Deutschland v.a. darum, die Universitäten zu entdemokratisieren und die Schulen betriebswirtschaftlich zu disziplinieren, um Industrie-verwertbares Wissen anstelle von Bildung, Persönlichkeitsentwicklung und Kritikfähigkeit zu setzen (bzw. auch darum, dem Bertelsmann-Medienkonzern eine neoliberal privatisierte Bildung als Milliarden-Geschäftsfeld zu erobern, was Dank heftiger Proteste nicht vollständig gelang, vgl. Barth 2006, 2009; unsere derzeitige deutsche Bildungsmisere ist dennoch wohl zu einem Großteil den Bertelsmann-getriebenen „Bildungs-Reformen“ zuzuschreiben). Es ist nicht verwunderlich, dass in deutschen Medien ein Afrikabild verbreitet wird, dass neokoloniale Ausbeutung bemäntelt und vertuscht, wie etwa der ZDF-Wissenschafts-Talk Scobel (siehe unten).

Leopolds Gräueltaten: Verschwörung des Schweigens

„Der Kongo in der Geschichtsschreibung“ von Magha-A-Ngimba Charles Gimba analysiert die belgischen Reaktionen auf Kritik am Kolonialismus v.a. Leopold II., aber auch die Ersetzung Lumumbas durch Kabila. Die USA, so Gimba in seinem Text, sahen in Mobutu “eine antikommunistische Kraft in Afrika” und unterstützten den Diktator ungeachtet “schwerer Menschenrechtsverletzungen, politischer Unterdrückung, Misswirtschaft“ sowie eines pompösen Personenkults (S.113). Wie schon an den Kongogräueln von Leopold II. zeigten belgische Historiker jedoch “kein wirkliches Interesse” an Mobutu, so blieb der Blick der belgischen Öffentlichkeit auf den Kongo unverändert geprägt “von romantischen Schulerinnerungen, stereotypen Klischees” und Ignoranz (S.118f.). Belgische Behörden und Historiker übten eine komplizenhafte “Kultur der Geheimhaltung” oder sogar eine “Verschwörung des Schweigens”, so dass die Kongogräuel “ein Objekt ausländischer Empörung” blieben (S.126).

Erst der internationale Bestseller des US-Publizisten Adam Hochschild “King Leopolds Ghost” (1998) drang um die Jahrtausendwende auch bis in die belgische Öffentlichkeit durch (dt. “Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen”, 2000), verstärkt durch die darauf bezogene BBC-Dokumentation von Peter Bates “White King, Red Rubber, Black Death” (2004). Die schockierende, aber äußerst sehenswerte Doku von Bates beginnt mit jenen Bildern verstümmelter Kinder, die schon um 1900 eine Welle internationaler Proteste gegen die Kolonialverbrechen Leopold II. ausgelöst hatten, und dem Satz: „Bis zum Erscheinen Adolf Hitlers setzte Leopold II. die Maßstäbe für Gräueltaten.“ Derweil folgten andere Kolonialisten im kleineren Maßstab und unbeobachtet von einer ethisch bewegten Öffentlichkeit dem belgischen Beispiel der brutalen Kautschuk-Ausbeutung von Indigenen in Kolumbien.

Bates beschreibt, wie der Belgische König mit seinem berühmten Helfer Henry Morton Stanley den Kongo durch Betrug, Drohung und Erpressung formal an sich brachte: Die schwer bewaffnete Truppe von Stanley zog durch Dörfer und Städte und ließ Würdenträger betrügerische Verträge unterschreiben, aus denen man später einen Besitzanspruch auf Land und Menschen ableitete. Der wurde durchgesetzt, indem man Kautschuk in ungeheuren Mengen erpresste. Wer diese nicht lieferte wurde massakriert, Frauen und Kinder wurden in Geiselhaft genommen und sexuell ausgebeutet, was viele nicht überlebten. Bei Widerstand oder Protest wurden Dörfer niedergebrannt und alle Bewohner erschossen. Gegen die Gräueltaten, denen viele Millionen Menschen zum Opfer fielen, erhob sich schließlich internationaler Protest. 1908 übernahm daher der Staat Leopolds II. Privatkolonie und der Trauerzug des 1909 verstorbenen Monarchen wurde sogar ausgebuht, so Bates. Dann kamen die Schrecken des Ersten Weltkriegs und die Kolonialisten konnten die Kongogräuel vergessen machen und durch einen rückwirkenden Königskult ersetzen. Belgien verehrte seinen Leopold II. wieder und breitete Geheimhaltung und Schweigen über seine Verbrechen.

Doch 1999 hatte der belgische Soziologe Ludo De Witte es geschafft, so Gimba, aus Archiven des Außenministeriums neue Dokumente zu erlangen und zum Buch “L’Assinat de Lumumba“ zu verarbeiten, erschienen im Jahr 2000 in Paris (dt. “Regierungsauftrag Mord. Der Tod Lumumbas und die Kongo-Krise” 2001). Das belgische Parlament sah sich daraufhin genötigt, eine Historikerkommission mit dem peinlichen Thema zu befassen. Ein Ablenkungsmanöver: Erst nach zwei Jahren, als die Wogen der Empörung über De Wittes Enthüllungen sich während des Wartens auf den Historiker-Bericht schon geglättet hatten, kam ein abwiegelndes Ergebnis. Belgische Behörden hätten lediglich eine “moralische Verantwortung” für die bestialische Ermordung Lumumbas in Katanga getragen (S.128). Dabei hatten belgische Geheimpolizisten den gedungenen Mördern nachweislich bei der Beseitigung von Lumumbas Leichnam geholfen. Man löste die sterblichen Überreste in Säure auf, damit sie nicht zum Ziel afrikanischer Heldenverehrung werden konnten. Zuvor hatte Gerard Soete, der belgische Vize-Generalinspektor der katangischen Polizei dem Toten in Serienkiller-Manier noch drei Finger amputiert und zwei Goldzähne herausgebrochen (vgl. Schumann S.102).

Jakarta-Methode und Kabilas Afrofaschismus

Ebenfalls mit der belgischen Vergangenheitsbewältigung befasst sich Bobineaus Beitrag “ Belgiens Umgang mit der Kolonialvergangenheit”. Bis 1999 hätten Königshaus und Regierung in Brüssel eine Beteiligung an der Ermordung Lumumbas bestritten, bis De Witte in seiner Studie dies wissenschaftlich nachweisen konnte. Öffentlichkeit, Medien, Schulen und Universitäten Belgiens wiesen “große Leerstellen bezüglich einer Aufarbeitung der belgischen Kolonialgeschichte” auf (S.211). Belgische Museen blieben kolonial-rassistischen Menschenbildern verhaften und seien noch weit von einer Restitutionsdebatte entfernt, wie sie in Paris 2018 etwa von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy angestoßen wurde; international habe Hochschild 1998 mit “King Leopolds Ghost”, wo Leopolds II. Kolonialherrschaft im Kongo als “Genozid” und “Holocaust” an 10 Millionen Afrikanern bezeichnet wurde, den Druck auf Belgien verstärkt, sich endlich seiner Vergangenheit zu stellen (S.214).

Nach den Thesen von Hochschild und den Enthüllungen De Wittes zum Lumumba-Mord hätten zwar zwei belgische Ministerpräsidenten eine historische Teilschuld am in Ruanda von der Hutu-Mehrheit an den Tutsi begangenen Genozid eingestanden; man hätte jedoch die Kolonialgeschichte außer Acht gelassen. In der deutschen Kolonie Rwanda-Urundi (1884-1916) wären die Tutsi von den Deutschen als Herren über die Hutu rassifiziert worden, was die Belgier nach Übernahme des Mandatsgebietes im Ersten Weltkrieg ab 1916 fortgeführt und verstärkt hätten (S.215). Was als zynische Machtpraxis der Kolonialherrscher die Ausbeutung v.a. der Hutu sicherte, führte zu deren Hass auf die Tutsi, der sich in Genoziden 1959 und 1994 entlud (S.216).

Leider übersieht Bobineau (wie auch Gimba) eine internationale Dimension der Ermordung von Lumumba und seiner Ersetzung durch Mobutu: Die von den USA im Kalten Krieg praktizierte „Jakarta-Methode“ eines von der CIA finanzierten und gesteuerten antikommunistischen Terrors. In Brasilien 1964, Indonesien 1965 und Chile 1971 wurden ebenfalls hoffnungsvolle Ansätze linker oder sozialistischer Staatsführer durch Putsche in Blut ertränkt und faschistische oder faschistoide Diktaturen installiert, wobei der „Indonesian Genocide“ mit 5-10 Millionen brutal massakrierten Todesopfern der Strategie den Namen gab (vgl. Bevins 2023). Mobutu bemäntelte in einer Art Afrofaschismus seine Diktatur, Personenkult und Ausbeutung mit volksnah gemeinter Afrikanisierung von Namen (etwa Kongo in Zaire), gegen die natürlich nichts einzuwenden wäre, wenn sie demokratisch organisiert wäre.

König, Anarchisten und Back Lives Matter

Julien Bobineau sieht am Ende, und man möchte ihm beipflichten, doch auch positive Ansätze für eine angemessene Erinnerungskultur, vor allem bei “Schriftsteller*innen, Künstler*innen und Musiker*innen, die sich in die Debatte einbringen” (S.219). Im pompösen Strandbad Ostende, erbaut mit Erlösen aus kolonialem Raubgut wie Elfenbein und Blut-Kautschuk, die Belgien zeitweise zur viertreichsten Nation der Welt gemacht hatten, steht ein protziges Reiterdenkmal des Kolonialverbrechers Leopold II. 2004 trennte die anarchistische Gruppe “De Stoete Ostendenoare” dem König eine Hand ab, um an dessen Gräueltaten zu erinnern. Die aufrüttelnde BBC-Doku von Bates (2004) hatte die Praxis massenhafter Verstümmelungen angeprangert, Bilder verstümmelter Frauen und Kinder, Haufen von geräucherten menschlichen Händen gezeigt und dies mit Filmaufnahmen aus einem Brüsseler Schokoladen-Geschäft kontrastiert, wo offenbar eine ekelerregende Spezialität tütenweise verkauft wurde: Schwarze Hände aus Schokolade.

Die Stadtverwaltung Ostende stellte nach dem Anschlag der Anarchisten eine zusätzlich Tafel auf, die nun auch auf die Untaten Leopold II. hinweist. Das bezeuge, so Bobineau, dass der Protest Wirkung zeige. In Brüssel habe 2018 der sozialistische Oberbürgermeister Philippe Close jahrelangen Demonstrationen nachgegeben und sogar einen Lumumba-Platz eingeweiht (S.220). Weitere Fortschritte hätten die antirassistischen Proteste der “Back Lives Matter”-Bewegung nach 2020 erbracht, Büsten und Statuen Leopold II. seien mit roter Farbe übergossen worden. Der aktuelle belgische König Philippe habe daraufhin am 30.Juni 2020, dem 60. Jahrestag der Unabhängigkeit der DR Kongo, in einem historischen Wendepunkt der Beziehungen dem in Kinshasa amtierenden Präsidenten Felix Tshisekedi “sein Bedauern für das im Kongo begangene koloniale Unrecht” ausgedrückt (S.221).

Doch Bobineau ist mit der belgischen Obrigkeit weiterhin unzufrieden und bemängelt, dass König Philippe beim Staatsbesuch 2022 in Kinshasa sich dann doch nicht explizit für die Kolonialverbrechen entschuldigte, wohl auch aus Angst vor möglichen Reparationsforderungen. Zuvor hatte Bobineau in Kapitel 9 bereits die Ära Belgisch-Kongo (1908-1960) besprochen, jener staatlichen Kolonie, die durch Kauf der Besitzungen des eigenen Königs Leopold II. durch Belgien entstand. Diese Verstaatlichung wurde nötig, nachdem durch Aufdeckung der Kongogräuel um das Jahr 1900 eine Welle internationaler Empörung vor allem durch die angelsächsische Welt schwappte, die auch als erste moderne humanitäre Bewegung gesehen wird. Bezüglich Leopold II. wurde erstmals international gefordert, ein Staatsoberhaupt für seine Menschheitsverbrechen vor Gericht zustellen und zu hängen (so die BBC-Doku 2004).

Nach 1908 betrieben, so Gobineau, Staat und König eine aufwendige Kolonialpropaganda, welche die Verbrechen leugnete, vertuschte und relativierte, v.a. indem sie rassistische Bilder über die barbarische Primitivität der Kongoles*innen “als naive Wilde mit kindlicher Seele inszenierte”, die dringend Erziehung durch das zivilisierte Belgien gebraucht hätten und weiterhin brauchen würden (S.175). Im Rahmen dieser Kampagne entstand z.B. das weltberühmte Comic “Tintin au Congo” des belgischen Autors Hergé (S.177), das bis heute auch in deutschen Kinderzimmern, Schulen und Öffentlichen Bibliotheken gelesen wird; es ist ein beliebter (und nur gelegentlich umstrittener) Tim-und-Struppi-Klassiker, der das Kongo-Bild der deutschen Medienkonsumenten leider nachhaltiger geprägt haben dürfte als Bates’ schockierende BBC-Doku, die leider viel zu selten gesendet wurde. Es ist anzufügen, dass auch Deutschland bislang nur ungenügend die Aufarbeitung von Kolonialverbrechen in Afrika betreibt (vgl. Barth 2024 Waterberg); unsere deutschen Medien nehmen oft eine paternalistische und unterschwellig rassistische Haltung ein, die selbst beim vorgeblich ethisch korrekten ZDF-Wissenschafts-Talk Scobel nachweisbar ist: Dort stand am 19.9.2024 die kamerunische Informatikerin Veye Tatah, Gründerin von Africa Positive, als einzige Afrikanerin einer deutschen „Experten-Runde“ gegenüber und sorgte für einen Beinahe-Eklat:

„Nach 45 Minuten weitgehend ungetrübter Selbstbeweihräucherung deutscher Entwicklungshilfe durch die drei weißen Deutschen platzte die Bombe: Besser wäre es, so Veye Tatah, die sogenannte Entwicklungshilfe überhaupt einzustellen und stattdessen solle der Westen lieber endlich faire Preise für die afrikanischen Rohstoffe bezahlen, „ohne Kriege in den afrikanischen Ländern anzufangen, um die Produkte ganz billig rauszuholen“. (45. Minute) An dieser Stelle blickte Rainer Thiele mit aufgerissenen Augen verunsichert zu Scobel, der ähnlich entsetzt wirkte. Dieses Thema, die Durchsetzung westlicher Interessen mit Gewalt, wollte man offensichtlich nicht erörtern. Thiele schien erleichtert, als Tatah dann fortfuhr über Gesundheit und andere Themen zu reden. Keiner ging auf die Kriege ein, die aus Veye Tatahs Sicht dem Westen bislang und bis heute die Ausplünderung Afrikas gesichert hatten.“ (Barth 2024 Scobel: Afrika als Schüler und Europa als Lehrmeister). So hatten Scobel bzw. das ZDF/3sat sich offensichtlich den Beitrag von Tatah nicht vorgestellt, deren Verein doch ausdrücklich dafür eintritt, Afrika eben nicht immer nur als Kriegs- und Krisengebiet darzustellen. Hatte man sie deshalb eingeladen? In eine Sendung, die endlich einmal die Gelegenheit geboten hätte etwas tiefer in die Diskussion der politischen Hintergründe afrikanischen Elends einzusteigen, westliche Hintermänner und Nutznießer*innen ans Licht zu zerren und Maßnahmen gegen deren Korruption und Menschenrechtsverbrechen zu fordern?

Die DR Kongo als Eldorado des Neoliberalismus

Neben den in dieser Rezension fokussierten Fragen der Kolonialkritik und Vergangenheitsbewältigung informiert das vorliegende Handbuch über viele weitere Aspekte der DR Kongo. Roos Haer und Lilli Banholzer stellen in Kapitel 13 “Konfliktakteure” die Regierungsarmee und ihre sieben wichtigsten Gegnergruppen vor (von 130 Rebellengruppen, die Zogg auf S.310 zählt). Benno Zogg erklärt in Kap.16 „Politisches System“, das Land sei als „gescheiterter Staat“ seit der Kolonialzeit leichte Beute der westlichen Interessen; machthabende „Eliten und ihre ausländischen Sponsoren bereicherten sich durch Kriegswirtschaft und Ressourcenausbeutung“ S.307). Der Kabila-Clan sei Profiteur des korrumpierten Landes, der unter Kabila junior zwei Jahrzehnte lang Banken, Hotels und Mobilfunkfirmen unter sich aufteilte (S.313). Der 2018 gewählte Präsident Félix Tshisekedi „trat sein Amt 2019 an unter Vorwürfen, mittels Wahlfälschung Präsident von Kabilas Gnaden zu sein.“ (S.309)

Der failed state DR Kongo, wie Zogg ihn beschreibt, ist ein Deregulations-Eldorado des Neoliberalismus: Die Reichen zahlen kaum Steuern, Konzerne tun und lassen, was sie wollen (plündern, ausbeuten, Kinder versklaven), ein völlig verarmter Staat wird durch Macht- und Patronage-Netze ersetzt; unterbezahlte Beamte, Polizei, Militärs pressen ihre Entlohnung der Bevölkerung ab, Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsysteme sind ausgeblutet, Lebensbedingungen und Lebenserwartung sind gnadenlos reduziert. Ständig beraubte Bauern geben eine langfristige Ernteplanung auf (S.317), Hunger treibt die Arbeiter zu unmenschlichen Bedingungen im Bergbau zu schuften (statt als klassische Sklaven als neoliberal-freie „Ich-Unternehmer“), wertvolle Minerale können zum Spottpreis eingesackt werden. Keine staatliche Behörde greift dem Räderwerk von Finanzmärkten, Industriekonzernen und Söldnertruppen in die Speichen: So stellen sich Neoliberale wohl eine ideale, (nach außen) „Offene Gesellschaft“ vor.

Kritik und Fazit

Im zwölften Kapitel, “Konfliktgeschichte”, versucht Wolfgang Schreiber den Ersten und Zweiten Kongo-Krieg (auch “Großer Afrikanischer Krieg” oder “African World War” genannt) darzustellen –auf 20 Seiten ein kaum lösbares Unterfangen. Besonders hier stört ein Manko des Handbuchs: Es fehlen meist orientierende Übersichtshilfen, um das komplexe Geschehen erfassen zu können: Personen- und Sachregister, Zeittafeln wichtiger Ereignisse und den Text illustrierende Karten, die leider nur im Kap. „Klima“ überreichlich vorhanden sind. Eine abschließende Lektüre der Druckfahnen durch alle Autor*innen hätte Widersprüche und Fehler, die bei so einem komplexen Wissensgebiet nicht ausbleiben, evtl. vermindern können. So variiert die angegebene Länge des Zweiten Kongo-Krieges zwischen zwei, drei, vier oder fünf Jahren (S.243, 281, 287, 353), die Zahl der im Kongo gesprochenen Sprachen von 215 bis 250 (S.434, 503), die Zahl der im Kongo gesprochenen Sprachen von 215 bis 250 (S.434, 503), die Universitätsstadt Lubumbashi liegt nicht westlich (S.368), sondern südöstlich von Kinshasa -und Kobalt gehört, obwohl dort als einziges Beispiel genannt, nicht zu den begehrten Seltenen Erden (S.197).

Das Handbuch zeichnet ein umfassendes Bild der DR Kongo und blickt dabei auch in Abgründe kolonialer Ausbeutung sowie ihrer tendenziellen Vertuschung in der westlichen Öffentlichkeit. Es informiert über (immer wieder) vergessene Kolonialverbrechen wie die Kongogräuel, die Ermordung Lumumbas, die Kongo-Kriege um Rohstoffe. Es zeigt auch Erfolge von Protestbewegungen bei der Aufklärung einer medial mit Klischees eingelullten Öffentlichkeit, die vom Unrecht auch gerade aktueller Ausbeutung abgelenkt werden soll.

(Anm. Der Autor dieser Rezension verzichtet auf Besitz und Benutzung eines Mobil-Telefons wegen Blut-Coltan, Überwachungsgefahr und aus Protest gegen die Seuche des Digitalzwangs.)

Autor*innen, Herausgeber und Hintergrund

Die drei Herausgeber sind: Julien Bobineau ist Gründer von D2 – Denkfabrik Diversität und habilitiert an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Fachbereich Interkulturelle Wirtschaftskommunikation. Philipp Gieg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Postdoktorand am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Europaforschung des Instituts für Politikwissenschaft und Soziologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Timo Lowinger ist Doktorand am Institut für Politikwissenschaft und Soziologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Dazu kommt ein internationales Team von 26 Autor*innen, meist aus deutschsprachigen Ländern, acht aus der DR Kongo fünf aus Belgien. Hintergrund ist das Fehlen aktueller Literatur zur DR Kongo im deutschsprachigen Raum. Das Forum Afrikazentrum und die Humanwissenschaften der Uni Würzburg sowie D2 – Denkfabrik Diversität waren an der Finanzierung des Buchprojekts beteiligt (S.22).

Quellen

Barth, Thomas: Bertelsmann -ein globales Medienimperium macht Politik. Expansion als Bildungsdienstleister und politische Einflussnahme, Anders-Verlag, Hamburg 2006.

Barth, Thomas: Professoren-Protest gegen 10 Jahre „Bologna-Prozess“, Telepolis 16. Juni 2009 , darin das Zitat: „Demokratie (wird) auf ein Voting-Spektakel reduziert, das sich medial nahtlos in die diversen Votings der Casting-Shows (bei RTL-Bertelsmann) einfügt.” Konrad P. Liessmann

Barth, Thomas: 68er-Statements: Das Elend der Universitäten -Humboldt in Bologna?, Telepolis 19. Juni 2009

Barth, Thomas: Kolonialverbrechen und deutsche Schuld: Schlacht am Waterberg, Telepolis 11. August 2024

Barth, Thomas: Scobel auf 3sat: Afrika als Schüler und Europa als Lehrmeister, Telepolis 30. November 2024

Barth, Thomas: Die Jakarta-Methode: Massenmorde unter falscher Flagge, Telepolis 11. März 2023

Bevins, Vincent: Die Jakarta-Methode: Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt, Papyrossa Verlag, Köln 2023.

Bobineau, Julien, Philipp Gieg, Timo Lowinger (Hg.): Handbuch Demokratische Republik Kongo. Geschichte, Politik, Gesellschaft, Kultur, Frank&Timme Verlag, Berlin 2024.

Habila, Helon: Ken Saro-Wiwa. Für die Ogoni und gegen Shell, in: in: Dialloh, Moustapha (Hg.): Visionäre Afrikas. Der Kontinent in ungewöhnlichen Portraits, Kaddu Verlag, o.O. 2022, S.29-38.

Ki-Zerbo, Joseph: Die Geschichte Schwarz-Afrikas, Fischer Verlag, 1981.

Riel, Aert van: Genozid, Basiswissen Politik, Papyrossa Verlag, Köln 2025.

Sarr, Felwine: Afrotopia, BPB (Bundeszentrale für Politische Bildung), Bonn 2020.

Schumann, Gerd: Patrice Lumumba, Basiswissen Politik, Papyrossa Verlag, Köln 2024.

Julien Bobineau, Philipp Gieg, Timo Lowinger (Hg.): Handbuch Demokratische Republik Kongo. Geschichte, Politik, Gesellschaft, Kultur, Frank&Timme Verlag, Berlin 2024, 678 S., 148,00 Euro, ISBN 978-3-7329-0434-1

10/3/25

Grenzpolizist Big Brother: Migrations-Management-KI

Die folgende Erläuterung der regierungseigenen Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) für KI im Einsatz gegen Migration (euphemistisch: „Migrationsmanagement“), erläutert einige Aspekte dieser Problematik. Seit 9/11 führen nicht nur die USA, sondern offenbar „der Westen“, also auch wir, einen „Krieg gegen den Terror“, der eine Einschränkung von Bürgerrechten beinhaltet. Kontrolliert wird dabei prinzipiell jeder von uns, speziell aber die Gruppe der sogenannten „Gefährder“, die sich offenbar insbesondere bei Migranten finden lässt; ihr Merkmal ist „eine nicht näher konkretisierbare Gefährlichkeit, die sich in der Zukunft ausbilden könnte. (…) Ziel ist hierbei, schwer bestimmbare konkrete Zeitpunkte und Formen eines terroristischen Anschlags zu kontrollieren und damit auch aufsteigende Ängste in der Bevölkerung zu reagieren.“ Siehe: „Gefährder“: Der Migranten-Minority Report.

Ängste der Bevölkerung sollen also „reagiert werden“ (nicht auf sie reagieren!); ein typischer Freudscher Versprecher, bei dem die wahre Intention entschlüpfte? Sollen unsere Ängste „reagiert werden“, also reaktiviert, abreagiert oder agitiert werden? Ängste helfen Machthabern, Bevölkerungen zu kontrollieren und in ihrem Sinne zu manipulieren. Ängste machen Menschen bereit zum Hass, zur Blindheit für vernünftige Lösungen, zur fanatischen Aufrüstung und Militarisierung. Andersartige, Andersfarbige, Migranten sind dafür die naheliegenden Sündenböcke, vor denen im Sinne reaktionärer und rechtsextremer Ideologien Angst geschürt werden soll. Wo Multi-Milliarden und Billionen für Rüstung (statt für die Menschen) ausgegeben werden, fällt auch für BigTech und KI einiges ab: Die gleich genannte Überwachungsfirma ANDURIL klingt nicht zufällig ähnlich wie Peter Thiels PALANTIR. Projekte zur Emotionserkennung, KI-Lügendetektoren und vorausschauender Polizeiarbeit (engl. predictive policing) laufen bereits.

Wie dabei KI gegen Migranten eingesetzt wird erläutert für die Bundesregierung das bpb im jetzt folgenden Text von Petra Molnar. KI dient dabei für Prognosen zum Migrationsgeschehen, für Grenz- und Fernüberwachung, für Identitäts- und biometrische Systeme, Gesichtserkennung, Asyl- und Visumsbearbeitung, für die Steuerung von „Alternativen zur Inhaftierung“, die auf ständige Überwachung hinauslaufen. KI bildet den digitalen Stacheldrahtverhau auf den künftigen „smart borders“, die sozial benachteiligten Migranten jene Freizügigkeit rauben, die wohlhabenden Touristen (einstweilen noch) offensteht. Das völkerrechtlich gebotene (!) Asylrecht bleibt dabei auf der Strecke, wenn automatisierte Entscheidungen mit digitalem racial Bias oder ähnlichem Unrecht fallen. (T.Barth) Folgender Text übernommen von bpb:

Künstliche Intelligenz im Migrationsmanagement: Chancen, Herausforderungen und Risiken

Petra Molnar (bpb) 04.09.2025 / 9 Minuten zu lesen

Weltweit wird künstliche Intelligenz zunehmend im Migrationsmanagement eingesetzt – auch in der EU und in Deutschland. Welche Entwicklungen, Chancen und Risiken gehen damit einher?

Überwachungsturm von Elbit Systems, Arizona, USA. Solche Überwachsungstürme entlang der Grenze zu Mexiko erkennen mithilfe von KI-Überwachung Bewegungen und sollen so dabei helfen, Personen in der Sonora-Wüste im Südwesten der USA abzufangen. (© Petra Molnar, Abbildungen fehlen hier aufgrund urheberrechtlicher Gründe)

Künstliche Intelligenz (KI)

verändert in rasanter Geschwindigkeit die Art und Weise, wie Regierungen Migration steuern und Grenzen kontrollieren. Von prognosebasierter Datenanalyse und Identitätsprüfung bis hin zu Grenzüberwachung und Asylentscheidungen – KI-Technologien werden zunehmend in die Infrastruktur der Migrationskontrolle in Europa und weltweit integriert. Dabei wird argumentiert, dass neue Technologien wie KI die Steuerungssysteme im Migrationsmanagement effizienter, sicherer und kostengünstiger machen können. Angesichts der aktuellen Entwicklungen im Bereich der digitalen Technologien bestehen jedoch auch ernsthafte Risiken für die Menschenrechte, die Privatsphäre und die Grundsätze des Asylrechts. Dieser Artikel basiert auf jahrelangen Forschungsarbeiten an verschiedenen Grenzen weltweit und gibt einen Überblick darüber, wie KI im Migrationsmanagement in Europa und weltweit eingesetzt wird. Wichtige Debatten über die Auswirkungen dieser Entwicklung auf Recht, Ethik und Gesellschaft werden dabei ebenfalls in den Blick genommen.

Wo und wie wird KI eingesetzt?

Weltweit und in der gesamten Europäischen Union (EU) wird KI mittlerweile in verschiedenen Phasen des Migrationsmanagements eingesetzt. Zu den wesentlichen Feldern gehören:

Grenzüberwachung: KI-gestützte Systeme werden zur Überwachung von Grenzen eingesetzt. Beispielsweise integriert das Europäische Grenzüberwachungssystem (Eurosur) Satellitenbilder, Drohnen und andere Sensordaten, die mit KI analysiert werden, um die Außengrenzen zu überwachen – insbesondere im Mittelmeerraum. An Landgrenzen und Flughäfen werden Algorithmen zur Gesichtserkennung und Objekterkennung eingesetzt, um Personen zu identifizieren, die irregulär einreisen oder als risikoreich gelten. In den Vereinigten Staaten stellen Unternehmen wie die US-amerikanische Firma Anduril autonome Überwachungstürme entlang der Südgrenze bereit, die mithilfe von KI-Überwachung Bewegungen erkennen und verfolgen und dabei helfen sollen, Personen in der Sonora-Wüste im Südwesten der USA abzufangen.

Identitäts- und biometrische Systeme: KI kann auch bei der Verarbeitung biometrischer Daten wie Fingerabdrücken, Iris-Scans und Gesichtsbildern zur Identitätsprüfung helfen. Eurodac, die EU-Datenbank, in der Fingerabdrücke von Asylbewerber:innen gespeichert werden, nutzt KI für einen effizienteren und genaueren Abgleich. In Deutschland hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine Software zur Erkennung von Sprachen und Dialekten getestet, die die Herkunft von Personen, die einen Asylantrag gestellt haben, feststellen soll. Der Einsatz dieser Software hatte in der Folge Debatten darüber ausgelöst, wie genau und fair solche Systeme und ihre Ergebnisse sind. Die deutsche Bundespolizei setzt an wichtigen Verkehrsknotenpunkten und Grenzen biometrische und Gesichtserkennungstechnologien ein, darunter auch prognostische Komponenten. Gleichzeitig helfen automatisierte Dokumentenprüfsysteme dabei, gefälschte Reisedokumente zu identifizieren.

Asyl- und Visumsbearbeitung: KI-Anwendungen werden zunehmend zur Prüfung von Visums- und Asylanträgen eingesetzt. Einige Länder wie Kanada verwenden Algorithmen zum automatisierten Vorsortieren von Visumanträgen, während die Vereinigten Staaten Risikobewertungsalgorithmen einsetzen, die die Daten der Antragstellenden analysieren, um potenzielle Betrugs- oder Sicherheitsrisiken vorherzusagen, und dafür auch Daten verwenden, die aus sozialen Medien gesammelt wurden. Diese Systeme versprechen zwar Effizienz, werfen jedoch Bedenken hinsichtlich algorithmischer Verzerrungen, ordnungsgemäßer Verfahren und des Rechts auf individuelle Beurteilung auf. In Deutschland setzt das BAMF maschinelle Übersetzungsprogramme ein, um das Dolmetschen von Anhörungen im Asylverfahren und die automatisierte Dokumentenprüfung zu unterstützen. Fragen hinsichtlich ihrer Genauigkeit und möglichen Auswirkungen auf Asylentscheidungen bleiben hier bisher offen.

Prognosen zum Migrationsgeschehen: Regierungen und internationale Behörden wie die EU-Grenzschutzagentur Frontex nutzen KI zur Analyse großer Datensätze – darunter Daten aus sozialen Medien und Klimadaten –, um Migrationsmuster vorherzusagen. Diese zukunftsprognostizierenden Analysen sollen Frühwarnsysteme und die Ressourcenplanung unterstützen. Allerdings sind diese Modelle zur Vorhersage von Migrationsbewegungen oft nicht transparent. Befürchtet wird hierbei, dass sie zu präventiven Grenzschließungen oder Kontrollmaßnahmen sowie zu Aktivitäten wie dem Abfangen von Schutzsuchenden und illegalen Zurückweisungen ( Pushbacks) führen können.

Fernüberwachung und ‚Alternativen‘ zur Inhaftierung: Elektronische Fußfesseln, GPS-fähige Smartphones und Ortungsgeräte sowie KI-gesteuerte Check-in-Systeme werden als Alternativen zur Inhaftierung von Einwanderer:innen beworben, sind jedoch oft mit einer ständigen Überwachung verbunden. Diese Technologien werden in den USA, Großbritannien und anderen Ländern eingesetzt und manchmal an private Unternehmen ausgelagert.

Wer entwickelt und fördert diese Systeme?

An der Entwicklung von KI im Migrationsmanagement sind sowohl staatliche als auch privatwirtschaftliche Akteure beteiligt. Große Technologieunternehmen, Rüstungsfirmen und KI-Startups entwickeln und vermarkten Anwendungen für Regierungen. In Europa unterstützt die EU-Grenzschutzagentur Frontex technologische Innovationen, während die Finanzierung aus regionalen Forschungsprogrammen wie Horizon 2020 und dem Fonds für innere Sicherheit (ISF) stammt. Insbesondere Deutschland hat über das BAMF und die Bundespolizei in Identitätsfeststellungen anhand biometrischer Merkmale, Sprachanalyse und automatisierte Systeme zur Dokumentenanalyse investiert. An mehreren von der EU finanzierten Pilotprojekten waren auch deutsche Partner:innen beteiligt, darunter Universitäten und Forschungsinstitute.

Maritime Überwachungsdrohne auf der DEFEA-Konferenz in Athen, einer internationalen Fachausstellung für Verteidigung und Sicherheit. (© Petra Molnar)

Staaten wie die USA, Kanada und Australien sind ebenfalls führend im Bereich des Einsatzes von KI an ihren Grenzen und arbeiten häufig mit Technologieunternehmen wie den US-amerikanischen Firmen Palantir und Anduril oder der israelischen Firma Elbit Systems zusammen. Das Interesse des privaten Sektors ist Teil eines wachsenden und lukrativen, mehrere Milliarden Euro schweren „Industriekomplexes“ im Bereich der Grenzsicherung, in dem private Gewinninteressen und öffentliche Sicherheitsinteressen einander ergänzen.

Internationale Organisationen – darunter die Internationale Organisation für Migration (IOM) und das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) – prüfen den Einsatz von KI-Anwendungen, um Menschen auf der Flucht zu registrieren, zu überwachen und Hilfsgüter zu verteilen, teilweise in Zusammenarbeit mit Partnern aus der Privatwirtschaft. Während diese Anwendungen als humanitäre Innovation dargestellt werden, werden gleichwohl oft sensible Daten unter ungleichen Machtverhältnissen gesammelt, die zwischen dem Globalen Norden und Süden oder zwischen Hilfsorganisationen und Menschen in Not bestehen.

Chancen und Versprechen

Akteur:innen, die den Einsatz von KI im Migrationsbereich befürworten, verweisen auf mehrere potenzielle Vorteile. So wird häufig Effizienz als einer der wichtigsten Treiber für den Einsatz von KI-Anwendungen genannt. Staaten, die KI einsetzen argumentieren, dass die Automatisierung von Routineaufgaben Rückstände bei der Bearbeitung von Asyl- und Visumsanträgen reduzieren, die Datenanalyse optimieren und die Koordination zwischen den Behörden verbessern kann. Ein weiterer wichtiger Treiber ist das Versprechen der Genauigkeit und die Tatsache, dass KI den biometrischen Abgleich und die Identitätsprüfung verbessern und damit Betrug und Verwaltungsfehler reduzieren kann. Im Kontext des derzeitigen Fokus auf Sicherheit, der die Politikgestaltung im Bereich des Migrationsmanagements prägt, zielen die KI-gestützte verbesserte Überwachung und Risikobewertung darauf ab, irreguläre Grenzübertritte oder gefälschte Dokumente aufzudecken. Schließlich ist auch die Vorhersagekraft der KI verlockend, da KI-gestützte Prognosen als Möglichkeit dargestellt werden, sich auf umfangreiche Migrationsbewegungen vorzubereiten, humanitäre Maßnahmen zu unterstützen und Ressourcen besser zu verteilen.

Mit solchen Vorteilen vor Augen werden von Staaten und der Privatwirtschaft Investitionen in KI begründet, mit dem Ziel sogenannter „intelligenter Grenzen“ (smart borders). Diese sollen sowohl sicher als auch technologisch fortschrittlich sein. In Deutschland werden solche Innovationen auch als Teil einer umfassenderen Digitalisierung des Migrationsmanagements angesehen, die mit den EU-Strategien für die digitale Transformation im Einklang steht.

Herausforderungen und Kritik

Trotz dieser Versprechen argumentieren Akteure aus der Zivilgesellschaft, Forschende und Betroffenen, dass der Einsatz von KI im Migrationsmanagement ernsthafte ethische und rechtliche Risiken birgt. Beispielsweise können KI-Systeme Diskriminierung und systemischen Rassismus verschärfen, da sie oft die Vorurteile in den Daten widerspiegeln, mit denen sie trainiert wurden. So ist etwa die Gesichtserkennung bei Menschen mit dunklerer Hautfarbe weniger genau, was das Risiko für Fehler bei ihrer Identifizierung erhöht. Risikobewertungssysteme können Angehörige bestimmter Nationalitäten oder ethnischer Gruppen unverhältnismäßig stark benachteiligen. Außerdem mangelt es erheblich an Transparenz bei der Entwicklung und dem Einsatz neuer Technologien. Bei vielen KI-Systemen weiß die Öffentlichkeit nur wenig darüber, wie sie ihre Entscheidungen treffen. Diese Undurchsichtigkeit untergräbt die Rechenschaftspflicht und macht es für Betroffene schwierig, schädliche Folgen anzufechten, wenn Fehler gemacht werden.

Hightech-Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Kos. (© Petra Molnar)

Auch die Rechte auf Privatsphäre und Datenschutz sind betroffen: Werden biometrische und personenbezogene Daten gesammelt, gespeichert und analysiert, birgt dies erhebliche Risiken für die Privatsphäre, insbesondere wenn es um sensible Daten von marginalisierten Gruppen wie Menschen auf der Flucht geht. Die unbefugte Weitergabe von Daten und Hackerangriffe sind ebenfalls reale Bedrohungen. Zudem können Menschen auf der Flucht, die sich in einer prekären Lage befinden, oft keine sinnvolle Einwilligung in die Erfassung und den Umgang mit ihren Daten geben.

Rechtlich gesehen können KI- und Überwachungstechnologien, die Menschen daran hindern in Sicherheit zu gelangen, das bestehende Recht auf Asyl untergraben. Automatisierte Entscheidungen können außerdem dazu führen, dass Schutz überproportional verweigert wird oder es aufgrund fehlerhafter Risikobewertungen zu vermehrten Inhaftierungen kommt. Rechtliche Risiken dieser Art stünden im Widerspruch zum geltenden Völkerrecht, das eine individuelle Prüfung von Asylgesuchen und das Non-Refoulement-Prinzip

beinhaltet. Auch ist oft unklar, wer für durch KI verursachte Schäden verantwortlich ist und haftbar gemacht werden kann – der Staat, ein Auftragnehmer, der Softwareentwickler oder die Person bei der Einwanderungsbehörde, die die Anwendung verwendet? Oft ist der Rechtsschutz in diesem neueren Bereich wenig ausgeprägt, was das Einlegen von Rechtsmitteln erschwert – insbesondere in Grenzgebieten, die bereits von intransparenten und ermessensabhängigen Entscheidungen geprägt sind.

Rechtliche Rahmenbedingungen und Kontrolle

Derzeit ist die globale Regulierung im Bereich der KI noch schwach, wobei Innovationen Vorrang vor rechtsbasierten Ansätzen für digitale Grenzkontrolltechnologien haben. Allerdings gelten mehrere internationale und regionale Rechtsinstrumente für den KI-Einsatz im Migrationsbereich. So schützt beispielsweise der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) das Recht auf Privatsphäre (Artikel 17) und das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 9). Diese Rechte müssen im Migrationskontext auch bei der Anwendung von Technologien gewahrt werden. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 verpflichtet die Staaten zudem, Zugang zu Asyl zu gewähren und verbietet die Zurückweisung in Gebiete, in denen den betroffenen Personen Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen (Artikel 33). Automatisierte Entscheidungen, die den Zugang zum Asylbegehren blockieren, können gegen diese Schutzbestimmungen verstoßen. Nach EU-Recht regelt die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) die Datenverarbeitung, einschließlich biometrischer Daten, und die EU-Grundrechtecharta garantiert das Recht auf Privatsphäre, Datenschutz und Nichtdiskriminierung. Vor kurzem hat die EU das Gesetz zur Regulierung künstlicher Intelligenz verabschiedet. Allerdings liegt hier nicht der Schutz der Rechte von Menschen auf der Flucht im Fokus.

Deutschland unterliegt als EU-Mitgliedstaat diesen rechtlichen Rahmenbedingungen, entwickelt jedoch auch eigene Durchführungsbestimmungen. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für die Rechte von Flüchtlingen und Migrant:innen einsetzen, haben mehr Transparenz hinsichtlich des Einsatzes von KI in der deutschen Migrationspolitik gefordert, darunter die Offenlegung von Verträgen und Folgenabschätzungen. Die Kontrolle in der Praxis bleibt jedoch begrenzt. Grenzgebiete unterliegen oft Notfall- oder Ausnahmeregelungen. Zudem können private Unternehmen Technologien durch Geschäftsgeheimnisse schützen. Unabhängige systematische Überprüfungen, Folgenabschätzungen und Kontrollmöglichkeiten sind jedoch für eine rechtskonforme Entwicklung und den Einsatz von Technologien an den Grenzen und zur Steuerung der Migration notwendig.

Ausblick

In einer von technologischem Fortschritt geprägten Welt, wird KI voraussichtlich eine immer wichtigere Rolle im Migrationsmanagement spielen. So werden beispielsweise das künftige Einreise-/Ausreisesystem (EES) der EU und das Europäische Reiseinformations- und -genehmigungssystem (ETIAS) KI für das Erstellen von Risikoprofilen und automatisierte Grenzkontrollen nutzen. Projekte zur Emotionserkennung, KI-Lügendetektoren und vorausschauender Polizeiarbeit wurden ebenfalls bereits getestet, allerdings auch weithin kritisiert.

Das ehemalige Flüchtlingslager auf Samos, Griechenland. (© Petra Molnar)

Wissenschaftler:innen und Menschenrechtsorganisationen fordern einen vorsorgenden Ansatz: gründliche Tests, um zu gewährleisten, dass Menschenrechte eingehalten werden, Transparenz und Kontrollmechanismen sowie eine breite öffentliche Debatte, bevor Technologien eingeführt werden. Einige Akteur:innen, darunter das Büro des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR), schlagen ein vorübergehendes Aussetzen bestimmter Migrationstechnologien vor, insbesondere in Hochrisikosituationen. Vor allem aber werden die künftigen Entwicklungen der KI im Bereich Migration und an den Grenzen nicht nur von rechtlichen Garantien und demokratischer Rechenschaftspflicht abhängen, sondern auch davon, dass die menschlichen Kosten dieser Technologien anerkannt werden. KI-Systeme sind keine abstrakten Werkzeuge. Sie wirken sich auf reale Menschen aus, die sich oft in prekären und unsicheren Situationen befinden. Es ist wichtig, die Erfahrungen und Rechte von Menschen auf der Flucht in Diskussionen über den Einsatz von KI einzubeziehen.

KI-Anwendungen für das Migrationsmanagement werfen tiefgreifende rechtliche, ethische und soziale Fragen auf. Wenn Regierungen neue Technologien einführen, gilt es sicherzustellen, dass Effizienz und Sicherheit mit Menschenrechten, Würde und Gerechtigkeit vereinbar bleiben. Im Mittelpunkt dieser Debatten stehen Menschen, nicht nur Datenpunkte. Transparente Regeln, eine strenge Kontrolle und die Verpflichtung zu einem menschenzentrierten Design, das auch das Fachwissen der betroffenen Individuen und Communities berücksichtigt, sollten jede zukünftige Nutzung von KI im Migrationsbereich leiten.

Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel

Fussnoten/Quellen/Literatur

Petra Molnar, The Walls Have Eyes: Surviving Migration in the Age of Artificial Intelligence (2024)

Petra Molnar im Gespräch mit Benjamin Etzold über „intelligente Grenzen“: „Keines dieser KI-gestützten Instrumente ist neutral. Sie dienen einem bestimmten Zweck – der Ausgrenzung.“ (2025)

Mirca Madianou, Technocolonialism: When Technology for Good is Harmful (2024)

OHCHR, Digital Border Governance: A Human Rights Based Approach (2023)

The Migration and Technology Monitor Project

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 4.0 – Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ veröffentlicht. Autor/-in: Petra Molnar für bpb.de. Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 und des/der Autors/-in teilen. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.

Originalpublikation: https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/migration-und-sicherheit/570377/kuenstliche-intelligenz-im-migrationsmanagement/

04/12/25

„Pall-Mall“-Prozess

Staaten wollen weiter hacken, aber mit Regeln

Constanze Kurz 11.04.2025

23 Staaten haben sich im Rahmen des „Pall-Mall“-Prozesses auf eine unverbindliche Vorschlagsliste geeinigt, um die Verbreitung von Schadsoftware wie Staatstrojanern und anderen Hacking-Werkzeugen einzudämmen. Experten bewerten die Ideenliste zwar positiv. Praktische Auswirkungen wird die Verabschiedung der Regeln aber nicht entfalten.

Dass Staatstrojaner um sich greifen, ist ein wachsendes Phänomen. Eine europäische diplomatische Initiative mit dem Namen Pall-Mall-Prozess, die von Großbritannien und Frankreich angestoßen wurde, widmet sich dem Problem. Das Ziel ist klar formuliert: Die „Verbreitung und unverantwortliche Nutzung kommerzieller Hacking-Werkzeuge“ wie Staatstrojaner soll bekämpft werden.

Vertreter von Staaten und internationalen Organisationen sowie von Industrie, Zivilgesellschaft und Wissenschaft entwickeln in dem Prozess einen „Verhaltenskodex“. Er ist allerdings freiwillig und vollkommen unverbindlich. Den Regeln sollen sich mitzeichnende Staaten freiwillig unterwerfen. Damit sollen die offenkundigen Probleme angegangen werden, die sich aus der Verbreitung kommerzieller Staatstrojaner und anderer Hacking-Werkzeugen ergeben. Er soll künftig auch weiteren Staaten angedient werden.

Vor einem Jahr traf sich die Pall-Mall-Initiative auf einer Konferenz in London und verabschiedete ein erstes Grundsatzpapier. 27 Staaten und internationale Organisationen haben die Erklärung unterschrieben, neben Großbritannien und Frankreich auch Deutschland und die Vereinigten Staaten.

Letzte Woche traf sich die Initiative erneut, diesmal in Paris. Dort haben sie eine zweite Version der Erklärung verabschiedet. Die neue Version wurde von 23 Staaten unterschrieben.

Wer mit Staatstrojanern ausspioniert wird

Das staatliche Hacken gefährdet die IT-Sicherheit insgesamt. Denn es basiert darauf, dass Sicherheitslücken ausgenutzt werden, um die Schadsoftware unbemerkt einschleusen zu können. Staaten, die solche Hacking-Werkzeuge kaufen oder einsetzen, investieren also hohe Beträge in eine Branche, die Unsicherheit und das Ausnutzen von Sicherheitslücken zum Geschäftsmodell gemacht hat.

Das Problem, das der Pall-Mall-Prozess angehen soll, ist also hausgemacht. Die Opfer der Staatstrojaner sind zwar überwiegend außerhalb Europas zu finden. Betroffen sind immer wieder auch Journalisten, Juristen und Aktivisten. Allerdings ist das Problem dennoch längst auch innerhalb der europäischen Grenzen angekommen. In Polen wurden schon 2019 Oppositionspolitiker mit dem Staatstrojaner Pegasus gehackt, was später polnische Staatsanwälte auf den Plan rief. 578 Menschen sollen in unserem Nachbarland in den Jahren 2017 bis 2023 mit Pegasus ausspioniert worden sein.

Die Hacking-Software Pegasus des israelischen Anbieters NSO Group soll zudem den Regierungschef und Verteidigungsminister von Spanien und das Umfeld des früheren britischen Regierungschefs Boris Johnson betroffen haben. Neue Recherchen zeigen, dass Spanien bisher insgesamt 21 Pegasus-Opfer zu verzeichnen hatte. Aber auch die Niederlande sind mit elf Pegasus-Spionageopfern, Frankreich mit sieben Hacking-Fällen und Belgien mit vier Opfern vertreten.

Von diesen Staaten haben sich nur Frankreich, Polen und die Niederlande den neuen Verhaltensvorschlägen des Pall-Mall-Prozesses angeschlossen. Spanien und Belgien hingegen nicht. Das Heimatland der NSO Group Israel fehlt ohnehin auf der Liste der Unterstützer.

Pegasus ist auch mitnichten der einzige Staatstrojaner, der große öffentliche Aufmerksamkeit und noch laufende gerichtliche Nachspiele erfahren hat. Auch die Predator-Staatstrojaner des europäischen Konkurrenten Intellexa waren oft in den Schlagzeilen. Zwar konnte nach der Berichterstattung ein erheblicher Rückgang der Predator-Aktivitäten verzeichnet werden, aber die dürften vor allem durch die beispiellosen Sanktionen der US-Regierung unter Joe Biden ausgelöst worden sein. Die Kunden von Predator – also staatliche Behörden – dürften nach der öffentlichen Berichterstattung und den Sanktionen deutlich höhere Preise serviert bekommen und teilweise ihre Zusammenarbeit mit dem Anbieter eingestellt haben. Die Geschäftstätigkeit von Intellexa wird vermutlich insgesamt stark beeinträchtigt sein.

Politische Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung von Hacking-Software wie die Einleitung des Pall-Mall-Prozesses spielten dabei nur eine untergeordnete Rolle, obwohl die Staatstrojaner-Anbieter darauf sicher mit Sorge blicken. Wirkliche Angst um ihr Geschäftsfeld ist jedoch nicht angebracht, da die Liste der Unterstützer viel zu klein ist.

Rechenschaftspflichten und Kontrolle

Das Pall-Mall-Papier legt Leitlinien fest und listet recht detailliert politische Instrumente auf, die den Staaten Optionen aufzeigen sollen, wie man mit Fragen der eigenen Entwicklung, der Verbreitung und unkontrollierten Ausbreitung, des Kaufs oder der eigenen Nutzung von Staatstrojanern und anderen Hacking-Werkzeugen umgehen sollte.

Schwerpunkte der Pall-Mall-Verhaltensvorschläge sind Accountability, was man mit Zurechenbarkeit und Rechenschaftspflicht übersetzen könnte, und Kontrolle in einem weiten Sinne. Beides soll sicherstellen, dass staatliches Hacking rechtlich bewertet und geprüft werden kann. Um einen verantwortungsbewussten Einsatz sicherzustellen, sollen „Grundsätze wie Rechtmäßigkeit, Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit“ gelten, die unter Beachtung des Völkerrechts, der Menschenrechte und unter der Maßgabe der Rahmenbedingungen der Vereinten Nationen (für verantwortungsbewusstes staatliches Handeln im Cyberspace von 2021) anzuwenden sind.

Politischer Instrumentenkasten

Vorgeschlagen ist dazu ein Kontrollregime bei der Ausfuhr von Staatstrojanern, das die Risiken einer unverantwortlichen Verwendung abschätzen und mindern soll. Die Regierungen sollen auch versuchen, Anreize für verantwortungsvolles Handeln in der gesamten Hacking-Branche setzen. Solche Anreize könnten etwa darin bestehen, dass Aufträge bevorzugt an solche Staatstrojaner-Anbieter vergeben werden, die sich zur „Achtung der Rechtsstaatlichkeit und des geltenden Völkerrechts, einschließlich der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ bekennen. Wenn Anbieter das nicht tun, soll ihnen mit dem Ausschluss von Regierungsaufträgen signalisiert werden, dass eine öffentliche Auftragsvergabe mit „illegalen oder unverantwortlichen Aktivitäten“ unvereinbar und inakzeptabel ist.

Zudem könnten für Vertreter von in Ungnade gefallenen Staatstrojaner-Anbietern politische Instrumente in Stellung gebracht werden, etwa Strafverfahren, finanzielle Sanktionen oder Reisebeschränkungen. Das solle auch für Konkurrenten ein Zeichen setzen.

Zugleich soll Staatstrojaner-Opfern geholfen werden, empfiehlt das Pall-Mall-Papier. Wer einem hohen Risiko ausgesetzt sei, von Staatstrojanern ins Visier genommen zu werden, der könnte sensibilisiert und beraten werden, beispielsweise „Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und Regierungsbeamte“.

Im Pall-Mall-Prozess geht es aber nicht darum, der Nutzung der Staatstrojaner gänzlich einzudämmen. Das steht in dem Prozess außer Frage, da ein rechtmäßiger Einsatz für legitime Zwecke als Möglichkeit angenommen wird. Allerdings wird der wachsende Markt klar als Bedrohung erkannt und zwar „für die Sicherheit, die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und die Stabilität des Cyberspace“. Diese Bedrohungen „werden in den kommenden Jahren voraussichtlich zunehmen“, heißt es in dem Dokument.

Dahinter kommt bei den sogenannten Stakeholdern die klare Erkenntnis zum Vorschein, dass es ein massives und wachsendes Problem mit Staatstrojanern gibt. Ein Großteil der europäischen Länder – auch Deutschland – bringt durch das aktualisierte Dokument zum Ausdruck, dass sie das Problem angehen wollen. Das Ergebnis kann aber wegen der Unverbindlichkeit nur als Symbolpolitik eingeordnet werden.

Die Finanziers der Branche sind ja auch die Staaten, die den Pall-Mall-Prozess in Gang gesetzt haben. Sie sind als Verursacher des wachsenden Marktes der Hacking-Anbieter die wichtigsten Akteure, die zur praktischen Eindämmung der Staatstrojaner beitragen könnten. Ein paar mehr freiwillige Vorschläge für Kontrollmechanismen und rechtliche Regeln und das Erinnern an Menschenrechte dürften hier lange nicht ausreichend sein. Das Risiko bleibt also groß, dass in einigen Jahren ein noch größeren Anbieter-Markt existieren wird.

Gefahr für die IT-Sicherheit bleibt bestehen

Sven Herpig vom unabhängigen Verein interface bewertet die freiwilligen Verhaltensregeln des Pall-Mall-Prozesses als „ersten Schritt zur weiteren Konkretisierung“ grundsätzlich positiv. Er sagt jedoch: „Praktische, operative Auswirkungen erwarte ich mir von der Verabschiedung der Regeln nicht direkt.“ Grund für die geringe „normative Bedeutung“ sei vor allem, dass bisher mit 23 Staaten nur so wenige Unterstützer mitgezeichnet hätten.

Alexandra Paulus von der Stiftung Wissenschaft und Politik sieht den Pall-Mall-Prozess als „eine der spannendsten aktuell laufenden Cyberdiplomatie-Initiativen“. Sie bewertet den Vorteil vor allem darin, dass die Initiative so gestaltet sei, dass es ein „klar umgrenztes Thema“ gäbe.

Ob aber diese Verhaltensregeln eine Eindämmung der kommerziellen Hacking-Branche bewirken können, sieht Herpig skeptisch: „Langfristig könnte es als normativer Rahmen dienen, den Staaten nutzen, um sie einzudämmen.“ Dazu brauche es staatlichen Willen und entsprechende rechtliche Regeln, betont Herpig. „Und das in vielen Staaten, vor allem auch diejenigen, wie Israel oder Russland, die diese Verhaltensregeln bisher noch nicht mitgezeichnet haben.“

Auch Alexandra Paulus beantwortet die Frage danach, ob die Regeln eine Eindämmung bewirken können, eher zurückhaltend. Man müsse sich klarmachen, dass sich das verabschiedete Dokument an Staaten richte. „Um den Markt wirklich zu beeinflussen“, sei entscheidend, welche Regeln die Staaten für die Branche aufstellten. Das könne entweder eine „harte Regulierung, etwa Exportkontrollen“, sein oder „weiche Anreizsysteme, zum Beispiel Regeln für die öffentliche Beschaffung“ der Hacking-Werkzeuge. Zudem könnten Staaten Regeln für die eigene Nutzung von kommerzieller Hacking-Software aufstellen, „zum Beispiel eine unabhängige Aufsichts-Institution“. Die Frage sei, ob „Staaten das Dokument zum Anlass nehmen, tatsächlich ihre Politik zu verändern“.

Die Wissenschaftlerin sieht die Verhaltensregeln als Puzzleteile und sagt: „Wenn sie zusammengefügt werden, können sie einen großen Einfluss auf den Markt haben.“ Am wirkmächtigsten seien Exportkontrollen und Sanktionen. Auch andere Instrumente könnten wirken: die Staatstrojaner-Anbieter besser zu kennen sowie Regeln und Aufsichtsgremien für die staatliche Nutzung. „Würden die unterzeichnenden Staaten diese Instrumente flächendeckend ausrollen, wären wir schon ein großes Stück weiter“, sagt Paulus.

Das bisherige Ergebnis des Pall-Mall-Prozesses sei auch ein „Selbsteingeständnis der Staaten, dass sie eigentlich an der ‚Misere‘ schuld sind“, sagt Herpig, der bei interface den Bereich „Cybersicherheitspolitik und Resilienz“ leitet. Auch deswegen hätten nur so wenig Staaten unterzeichnet. In der Praxis werde sich „kurz- bis mittelfristig vermutlich rein gar nichts ändern“.

Das bisherige Ergebnis des Pall-Mall-Prozesses sei erst ein Anfang, betont Paulus von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Das „härteste Stück Arbeit“ stünde noch bevor, „nämlich ein Code of Practice für die Wirtschaft“. Sie sei gespannt, ob es gelingen wird, „mit den diversen Unternehmen des Ökosystems ins Gespräch zu kommen“.

Das dürfte schwierig werden. Denn es liegt in der Natur der Branche, nicht allzu transparent zu sein. Denn ein Gutteil der schattigen Zwischenhändler und der Kunden – also die staatlichen Käufer der Staatstrojaner – bestehen schließlich darauf. Aus Netzpolitik

Über die Autor:in constanze

Constanze Kurz ist promovierte Informatikerin, Autorin und Herausgeberin von Büchern, zuletzt Cyberwar. Ihre Kolumne „Aus dem Maschinenraum“ erschien von 2010 bis 2019 im Feuilleton der FAZ. Sie lebt in Berlin und ist ehrenamtlich Sprecherin des Chaos Computer Clubs. Sie war Sachverständige der Enquête-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Bundestags. Sie erhielt den Toleranz-Preis für Zivilcourage und die Theodor-Heuss-Medaille.

Kontakt: E-Mail (OpenPGP)

04/9/25

Predictive Policing

Predictive Policing: Großbritannien will berechnen, wer zum Mörder wird

09.04.2025 Martin Schwarzbeck (Netzpolitik)

Die britische Regierung lässt an einem Programm forschen, das vorhersagen soll, ob eine Person zum Mörder wird. Für die Studie führen Forscher:innen persönliche Daten von hunderttausenden Menschen zusammen – unter anderem, ob sie Opfer häuslicher Gewalt wurden und an welchen psychischen Erkrankungen sie leiden.

Die britische Regierung will Mörder finden, noch bevor sie zur Tat schreiten. Dazu entwickelt eine Forschungsgruppe ein System, das zahlreiche persönliche – und zum Teil sehr intime – Informationen zusammenführt und daraus die Wahrscheinlichkeit berechnet, dass die Person eine andere tötet. Das geht aus geheimen Dokumenten hervor, die die Nichtregierungsorganisation State Watch mit einer Reihe von Anfragen nach dem britischen Informationsfreiheitsgesetz erhielt.

In die Vorhersage fließen beispielsweise Daten dazu ein, in welchem Alter ein Mensch erstmals zum Opfer wurde, beispielsweise von häuslicher Gewalt. Dass Opfer mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu Tätern werden, ist lange bekannt. Mit dem Mordvorhersagesystem werden nun aber sämtliche Opfer zu Verdächtigen. Außerdem erhebt das System Angaben zur psychischen Gesundheit, also beispielsweise, ob ein Mensch mit einer Sucht kämpft, ob er in der Vergangenheit selbstverletzendes Verhalten an den Tag gelegt hat oder gar einen Suizid versuchte.

Ebenfalls erhoben wird, in welchem Alter ein Mensch erstmals zum Zeugen einer Straftat wurde. All das fließt gemeinsam mit Daten zu kriminellen Vorstrafen, dem vollen Namen, dem Geburtsdatum, der ethnischen Zugehörigkeit und einer eindeutigen Identifikationsnummer in das Vorhersagesystem. Für dessen Training wurden die Daten von 100.000 bis 500.000 Menschen genutzt – ohne deren Zustimmung.

Statewatch nennt das geheime Projekt der britischen Regierung erschreckend und dystopisch. Bislang dient es Forschungszwecken, den Unterlagen zufolge ist jedoch geplant, es in die Praxis zu bringen. The Guardian schreibt, dass es vom Büro des Premierministers in Auftrag gegeben wurde, als Rishi Sunak von den Konservativen an der Macht war.

Ein ähnliches Tool, das Vorhersagen macht, wie wahrscheinlich ein Straftäter oder eine Straftäterin rückfällig werden, ist in Großbritannien bereits im Einsatz. Richter nutzen diese Vorhersagen beispielsweise, um zu entscheiden, wann eine Person aus dem Gefängnis entlassen wird. Dabei sind die Prognosen für Schwarze Menschen deutlich fehleranfälliger.

Laut Sofia Lyall, einer Forscherin von Statewatch, wird das Mordvorhersagesystem die strukturelle Diskriminierung, die dem Strafrechtssystem zugrunde liegt, noch weiter verschärfen. Neben rassistisch diskriminierten Menschen würden damit wohl auch einkommensschwächere Gruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit zu potenziellen Mördern erklärt. Die Verwendung der sensiblen Daten zum Training des Modells hält sie für höchst besorgniserregend.

erschienen bei Netzpolitik

Über die Autor:in

Martin Schwarzbeck

Martin ist seit 2024 Redakteur bei netzpolitik.org. Er hat Soziologie studiert, als Journalist für zahlreiche Medien gearbeitet, von ARD bis taz, und war zuletzt lange Redakteur bei Berliner Stadtmagazinen, wo er oft Digitalthemen aufgegriffen hat. Martin interessiert sich für Machtstrukturen und die Beziehungen zwischen Menschen und Staaten und Menschen und Konzernen. Ein Fokus dabei sind Techniken und Systeme der Überwachung, egal ob von Staatsorganen oder Unternehmen.

Kontakt: E-Mail (OpenPGP), Mastodon

03/14/24

Rezension Märzendorfer/Glasmeier: Eine Klavierzerlegung

Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier: smashed to pieces… Eine Klavierzerlegung / A Piano Dismantling, hg. v. Carsten Seiffarth, Textem Verlag, Hamburg 2023

Thomas Barth

Kunst und Philosophie suchen oft jenseits der Alltagswelt nach Erkenntnis: Wie Netzphilosoph Felix Stalder und Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein mit einer Performance zusammenhängen und was das mit Millenials, Snowflakes, Digital Natives und „Mr.Robot“ zu tun hat.

Der originelle Aktionskunstband funktioniert als Daumenkino im DIN-A-5-Format, das auf den rechten Seiten die De- bzw. umgekehrt Remontage des zerlegten Klaviers illustriert: Eine Performance von Claudia Märzendorfer. Die Bühne wird dabei statisch von oben aufgenommen, so dass man jeweils bis zu fünf Personen kommen, gehen und agieren sieht. Die ca. 75 Fotos zeigen die systematische Zerlegung des Instruments, bei der nur selten Schusswaffen, meist aber handelsübliche Werkzeuge, Schraubendreher, Zangen zum Einsatz kommen. Linker Hand finden sich begleitende und kommentierende Texte, insbesondere ein langer Essay von Michael Glasmeier, der den kunstgeschichtlichen Rahmen aufspannt –auch in englischer Übersetzung: „Das Buch markiert den Versuch, Kunstwerk und Bilddenken, Filmzeit und Lesezeit, Gegenwart und Geistesgeschichte in unmittelbaren Nachbarschaften reflektieren zu können.“ Prof. Glasmeier ist Kunsthistoriker, Lyriker und Ausstellungsmacher und befasst sich mit bildender Kunst, Musik, Sprache, Film, Fotografie sowie Komik, Subversion und Politik.

Neben der Bühne mit Motorroller und Klavier befindet sich, wie eingangs weitere Aufnahmen zeigen, eine seltsame Schreibmaschine auf einem Stapel Papier: Eine aus Tinten-Eis geformte Attrappe der vom Komponisten Arnold Schönberg erfundenen, aber nie gebauten „Notenschreibmaschine“, die langsam schmilzt und sich in die unter ihr aufgestapelten Notenblätter ergießt. Man ahnt: Es geht um Zeit, Musik, Mechanik und das Ringen des Menschen um Bedeutung in einer von Kultur überfluteten Welt.

In ihrem Videofilm smashed to pieces … (2018) zeigt die Wiener Künstlerin Claudia Märzendorfer die Zerlegung eines Klaviers in einem konzentrierten Live-Act, an dem acht Personen, Werkzeuge, ein Gewehr und ein Motorrad beteiligt sind. Im Gegensatz zu den zahlreichen Klavierzerstörungen – ein seit dem 19. Jahrhundert spezielles Sujet von Comedy bis zur Wiener Gruppe oder Fluxus – führt bei Märzendorfer der destruktive Akt zu stets neuen starken und überraschenden Bildfindungen und Tableaus.“ (Verlagstext)

Welt und Hand: Das Manual digitalisiert Sinnliches

Die Computertastatur, das magische Keyboard der Hacker, hat klangvolle Vorfahren in der Ahnenreihe der Tasteninstrumente. Orgel, Cembalo, das moderne Klavier digitalisierten Musik schon lange bevor Charles Babbage die erste Rechenmaschine montierte. Digitalisiert im weiten Sinne sind nach Felix Stalder Informationen, wenn sie mittels eines Systems diskreter Zeichen gespeichert werden (Stalder 2016, S.100): Bunte Scherben im Mosaik, Schriftzeichen oder eben Noten. Ab 1709, als der florentiner Instrumentenbauer Bartolomeo Cristofori (1655-1731) das Klavier erfand, werden den zarten Saiten der Muse die Noten virtuos eingehämmert. Als großbürgerliches Kulturmöbelstück, Prestige- und Kultobjekt besonders in Wien steht es, so meint Glasmeier, wie kein anderes Instrument für die KuK-Bourgeoisie und führt als Beleg Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin an. Deren Protagonistin rüttelte bekanntlich relativ vergeblich an den gesellschaftlichen Gitterstäben im bourgeoisen „Gefängnis ihres alternden Körpers“ -dem biopolitischen Dispositiv, dem das musisch-mechanische Dispositiv des Klavierkorpus zugeordnet ist (zit.n. Creutzburg S.37).

In Jelineks Roman wird das strenge Regime einer auf Status und Konkurrenz angelegten Klavierausbildung drastisch beschrieben. Die Versuche der Protagonistin, sich von der dominanten Mutter zu befreien und ihre erotischen Fantasien auszuleben, bleiben im zähen Normengefüge einer verkrusteten Gesellschaft stecken. Die masochistischen Neigungen der Klavierspielerin werden von Jelinek mit der Strenge der Musikausbildung durch ihre Mutter in Verbindung gebracht und lesen sich wie ein früher Beitrag zur Erziehungsdebatte, die später das Buch Battle Hymn of the Tiger Mother (2011) der US-chinesischen Autorin Amy Chua auslösen sollte. Gerade die autoritäre Erziehung zur klassischen Musik (Klavier und Geige) habe der Tiger-Mutter ermöglicht, so Chua, ihren beiden Töchtern Leistungswillen einzupauken.

Chua lieferte der neoreaktionären NRx-Bewegung in den USA Munition für den Kulturkampf gegen die angeblich übermäßig verhätschelte „Generation Snowflake“ der Millenials, auch Gen Y oder Digital Natives genannt. Deren von der 68er-Bewegungen geprägte Hippie-Eltern hätten ihren Nachwuchs in Watte gepackt und ihm ständig dessen Einmaligkeit (wie eine Schneeflocke) trotz tatsächlicher Mittelmäßigkeit versichert. Die neoreaktionäre Alt-Right-Bewegung beruft sich auf Film und Buch „Fight Club“, wo so benannte Snowflakes brutal zu Kämpfern umerzogen werden. A.N.Smith sieht als Reaktion der Kabelsender auf Annahmen über die Persönlichkeiten, Vorlieben und Verhaltensweisen von Millenials bzw. Snowflakes die TV-Serie „Mr.Robot“. Bei Mr.Robot steht ein Digital Native als Hacker im Mittelpunkt, der sich -was als Antwort auf „Fight Club“ gelesen werden kann- trotz psychischer Probleme und Sensibilität zu wehren versteht. Im deutschen Kino setzte sich Oskar Roehlers Film Tod den Hippies! Es lebe der Punk! mit der Problematik auseinander.

Im deutschen Diskurs wurde Chua unter dem Topos einer „Rückkehr des Rohrstocks„, d.h. von Zucht und Ordnung in der Erziehung diskutiert und fand konservative wie leistungsorientierte Anhänger (Springer-Zeitung „Die Welt„). Wenn sich in Märzendorfers Performance aggressive Impulse gegen das Klavier richten, erfüllen sie den Wunsch nach biopolitischer Rebellion und stehen überdies in langer künstlerischer Tradition. Das Backcover zitiert Emerson zweisprachig nach Musil:

Ralph Waldo Emerson 1857

»Die Dinge, die durch den Dunst von gestern
so gewaltig erschienen – Eigentum, Klima,
Erziehung, persönliche Schönheit und anderes
mehr, haben ihre Verhältnisse merkwürdig
verändert. Alles, was wir für fest hielten,
schwankt u. klappert …«

“The facts which loomed so large in the fogs of
yesterday,—property, climate, breeding, personal
beauty, and the like, have strangely changed their
proportions. All that we reckoned settled shakes
and rattles …”

Ralph Waldo Emerson (zitiert von / quoted by Robert Musil)

Im April 1959 hätten, so Glasmeier, die skandalisierten Künstler der Wiener Gruppe daher durch Fechtmasken geschützt (und, wie der Rezensent anmerken möchte, als Burschenschaftler maskiert) mit Beilen ein Instrument zerlegt. Friedrich Achleitner fuhr dazu mit einem Motorroller auf die Bühne, was 2018 von der destruierenden Claudia Märzendorfer referenziert wurde: Die Wiener Künstlerin Nicole Six durfte bei dieser Klavierzertrümmerung auf der Vespa vorfahren und zückte, weil Künstler sich gerne gegenseitig übertreffen, ein Gewehr, um mit zwei Schüssen ins geöffnete Piano den Reigen der Gewalt zu eröffnen. Danach erfolgt die systematische Demontage, einer Vivisektion am Instrument gleich -womit die Performance gleich noch symbolisch das beliebteste Mediengenre nachstellt: Den Fernseh-Krimi: Ein Schuss, ein Schrei und alles Weitere nach der Obduktion, bis das Kleinbürgertum vor der Mattscheibe am Ende den Übeltäter in Handschellen vom Polizisten abgeführt sieht und mit zwei Lektionen in den süßen Schlaf sinken kann: Fürchte deinen Nächsten, er könnte ein Mörder sein, und nur die Staatsgewalt steht zwischen dir und dem Chaos. Chaos verbreiten gerne Künstler als Bürgerschreck, wie z.B. auch Fluxus. Fluxus, die Künstlergruppe, der auch Nam June Paik angehörte (der bei Netzphilosoph Felix Stalder als Nestor elektronischer Medienkunst herbei zitiert wird), sprach einst vom Kampf gegen die Bürgermusik.

Lustvolle Zerstörungsorgien treffen schon seit Stummfilmzeiten gerne das Klavier, Resonanzmöbel und absoluter Klangkörper. Neben seiner pompösen Bürgerlichkeit wäre so das Instrument für anarchische Zweckentfremdung prädestiniert „…zumal die immense Spannung, die vor allem beim Flügel auf die Saiten ausgeübt wird, es trotz seiner eher behäbigen Erscheinung ständig im übernervösen Zustand kurz vor dem Zerspringen hält.“ (S.42) Futuristen, Dadaisten und kreative Musiker wie John Cage hätten sich daran ausgetobt.

Und der destruierte Mechanismus der kulturgeschwängerten Bourgeoisie lässt sich im mechanischen Remix sogar wie ein sphärisches Netz verspinnen: US-Künstler Terry Fox löste in den 1970er- und 80er-Jahren Klaviersaiten aus dem Korpus, um damit sein Atelier, Museen und Kirchen zu bespannen, bespielen und zur Resonanz zu bringen. Seine gesponnene Sphärenmusik erinnert an andere, intellektuell-paranoide Netze, die der Konspirationskünstler Mark Lombardi mit Tinte auf Papier zeichnete: Organigramme von Politik, Geheimdiensten und Finanzwelt, deren düstere Partitur unsere Netzgesellschaften mit ihren Netzen der Macht erfüllt (wie wiederum Netzphilosoph Felix Stalder darlegt).

Die Künstlerin arbeitet „mit Installationen, Film als Skulptur, Fotografie, Zeichnung, Klang und Text. Ihre Arbeiten verfolgen eine konzeptuelle Strenge und werden häufig in Schwarz und Weiß ausgeführt. Märzendorfer arbeitet mit analogen Techniken im Digitalzeitalter, beschäftigt sich mit Archiven und macht ortsspezifische Installationen.“ (Wikipedia)

Märzendorfers Aktionen schaffen dagegen ihre eigene Welt und Glasmeiers Kommentar spannt den Bogen über Johann Sebastian Bach, Kaiser Franz Josef, und Samuel Beckett bis zum Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, den er zitiert: „Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.“ (S.94)

Die feinen Mechanismen von Märzendorfers dekonstruiertem Klavier blieben in diesem Sinne „allein als Metaphern einer schöpferischen Taktilität präsent, die nunmehr auch ohne den Umweg über die schon von Shakespear erotisierten Tastatur an die Plastizität des Korpus selbst delegiert ist: …Es ist eine Tastatur, ohne die gerade in diesen Hochzeiten der Digitalisierung… überhaupt nichts läuft… (S.30)

How oft when thou, my music, music play‘st
Upon that blessed wood whose motion sounds
With thy sweet fingers when thou gently sway’st
The wiry concord that mine ear confounds…
William Shakespear, 128.Sonett

Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier: smashed to pieces… Eine Klavierzerlegung / A Piano Dismantling, hg. v. Carsten Seiffarth, Campo Bd.5, Textem Verlag, Hamburg 2023, 176 S., 18,00 Euro, ISBN: 978-386485-295-4 (siehe auch gekürzte Rezension auf socialnet)

Creutzburg, Astrid: Gewalt und Macht: Hierarchiestrukturen in den Romanen Elfriede Jelineks, unveröffentlichte Magisterarbeit, Hamburg 1992

Anthony N. Smith: Pursuing „Generation Snowflake“: Mr. Robot and the USA Network’s Mission for Millennials. In: Television & New Media, 24. Juli 2018 abstract

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016

12/25/21

Pankaj Mishra: Freundliche Fanatiker

Thomas Barth

Es ist eine klarsichtige Analyse der politischen Irrwege unserer Zeit – jenseits der eurozentrischen Perspektive: Pankaj Mishra untersucht in seinem neuen Buch „Freundliche Fanatiker: Über das ideologische Nachleben des Imperialismus“ die Auswirkungen des Imperialismus auf die heutige Welt und wie imperialistische Ideen und Strukturen weiterhin in verschiedenen Formen fortbestehen. Die „freundlichen Fanatiker“ sind liberal-rechtspopulistische Neoimperialisten wie etwa der Rechtsintellektuelle Niall Ferguson, die den Untergang des Abendlandes beschwören, weil dem Westen angeblich die nötige Aggressivität fehle, seine wohlverdiente globale Vormachtstellung zu halten.

Dies sei aus neoimperialer Sicht auch Schuld der degenerierten Netzkultur der Digital Natives. Die seien kriegsuntüchtige Faulenzer, die erschlafft vor ihren Bildschirmen chillen, statt tapfer zu den Waffen zu greifen, wie noch ihre wackeren Großväter. Mishras Kritik: Diese neoimperialen Ideologen betreiben Geschichtsfälschung, blenden aktuelle wie historische Verbrechen des Westens systematisch aus und stehen in rassistischer und faschistischer Tradition. Sie hätten den politischen Rechtsruck westlicher Länder herbeigeredet, der Trump, den Brexit und rechtsextreme Regierungsbeteiligungen etwa in Wien, Warschau und Rom erst möglich machte.

Der bekannte Schriftsteller und Publizist kritisiert die selbstzufriedenen Gedankengebäude des Westens und zeigt, dass der Mythos vom angeblich überlegenen Westen bis heute kaum hinterfragt wird. Erst in jüngerer Zeit dringen Stimmen aus dem Süden mit ihrer diesbezüglichen Kritik in unsere Debatten vor. Etwa der senegalesische Kulturökonom Felwine Sarr mit „Afrotopia“ oder eben der indische Buchautor Pankaj Mishra, der für seine Kolonialismus-Kritik „Aus den Ruinen des Empires“ den Leipziger Buchpreis erhielt, mit „Das Zeitalter des Zorns“ einen internationalen Bestseller landete und durch seine Liberalismus-Kritik „Freundliche Fanatiker“ aktuell erneut die Wut konservativer Feuilletons auf sich zog. Im vorliegenden Essayband schaut Mishra besonders auf die USA und Großbritannien als die Mächte, die seit dem 19. und 20. Jahrhundert Vorreiter im Bestreben waren, einen rassistisch geprägten, wie Mishra sagt, „imperialistisch gesinnten Liberalismus“ durchzusetzen – mit verheerenden Folgen, wie die Gegenwart zeigt.

Böse Zwillinge: Imperialismus und Liberalismus

Mishra analysiert die historischen und ideologischen Wurzeln des Imperialismus und zeigt auf, wie sie bis heute in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen präsent sind: Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus werden in der Erzählung vom demokratischen Aufstieg vertuscht. Simple, von Ressentiments geprägte Welterklärungen werden zum Mainstream. Mishra beleuchtet so die Rolle von liberalem Fanatismus und Extremismus in diesem Kontext und argumentiert, dass diese Ideologien oft aus imperialistischen Denkmustern entstehen, die westliche Werte für sich reklamieren, aber auch auf rassistische und antisemitische Wurzeln zurückzuführen sind.

„Eine lautstarke Beschwörung der Aufklärung oder eines anderen historisch und auf ewig festgelegten Wesenskerns Europas wirkt zunehmend wie das Symptom einer intellektuellen Rückständigkeit oder einer kulturellen Abwehrhaltung. Das multiethnische Europa ist eine unverrückbare Tatsache und benötigt daher eine stärker auf Inklusion bedachte, ergebnisoffenere Identität.“ Mishra S.61

Damit stellt sich Mishra gegen alle von rechtspopulistisch-konservativer Seite betriebenen Restriktionen europäischer Einwanderungs- bzw. Migrationspolitik. Diese berufe sich gerne auf den nationalistischen Juristen und Staatstheoretiker Carl Schmitt, der behauptet habe, die „Kraft einer Demokratie“ zeige sich darin, das Fremde, „die Homogenität bedrohende“ fernzuhalten oder zu beseitigen (Mishra S.51). Ob Schmitt mit diesen Behauptungen den von ihm unterstützten Nazi-Faschismus und dessen Massenmorde rechtfertigen wollte, diskutiert Mishra nicht. Schmitt, der als „Kronjurist“ des Nazi-Faschismus gilt, machte unter Hitler Karriere und rechtfertigte Diktatur und Massenmorde; der Zentralbegriff des nationalsozialistischen Staatsrechts sei „Führertum“, so Schmitt, und unerlässliche Voraussetzung dafür sei die „rassische“ Gleichheit von Führer und Gefolge (Wikipedia). Obwohl in seiner Karriere vor 1933 auch von jüdischen Kollegen gefördert, wandelte sich Schmitt nach Hitlers Machtergreifung zum fanatischen Antisemiten, der die Nazi-Rassegesetze juristisch legitimierte. Mishra stellt fest, dass heutige Rechtextremisten vom Front National in Paris, über die FPÖ in Wien bis zur British National Party „ihren ursprünglichen Antisemitismus“ neu verpackt hätten und nun Muslime „statt der Juden beschuldigen, heimlich nach der Weltherrschaft zu streben“ (S.52).

Die wahren Feinde der Demokratie aber sind jene, meint Mishra, die angeblich ihre Werte verteidigen: Dies zeige der in den USA tief verwurzelte Rassismus ebenso wie die Angst dortiger Machteliten vor islamistischen oder lateinamerikanischen Invasoren. Mit konkreten Beispielen hält Mishra den Westeliten einen Spiegel vor und macht sichtbar, wie brüchig das Fundament ist, auf dem unsere westliche Welt steht: Eine freiheitliche Demokratie, in der Gleichheit und Menschenwürde verwirklicht sind, ist noch lange nicht erreicht und wenn unsere Medien Parlamentswahlen westlicher Machtart als allein seligmachenden Weg zu einer Mitbestimmung der Bevölkerung hinstellen, wird dies oft als liberal-koloniale Herrschaftsattitüde gesehen. Mishra weigert sich aus gutem Grund, die im westlichen Medien-Mainstream kolportierte Mär von Indien als „größter Demokratie der Welt“ zu bestätigen, attackiert den aktuell wiedergewählten Präsidenten Indiens, Narendra Modi und dessen neoliberalen Hindu-Suprematismus. Mishra kritisiert auch die neokoloniale Ignoranz des Nordens, die Modi huldigt, und verweist auf den Erzliberalen O’Brian:

„Als Conor Cruise O’Brian in den 1960er Jahren Afrika und Asien besuchte, fiel ihm auf, dass viele Menschen in den früheren Kolonien ‚von dem Wort „Liberalismus“ angewidert waren‘. Sie sahen darin ‚eine beschönigende Maske, die eine zutiefst habgierige Gesellschaft vor der von ihr ausgeraubten Welt aufsetzt.“ (Mishra 2021, S.113)

Liberale „Bland Fanatics“

O’Brian habe nicht verstanden, warum man den Liberalismus für eine Ideologie der Reichen hielt, weil sie genau die Regeln zu universellen Werten erhob, die Entstehung und Fortbestand des Kapitalismus begünstigen. Mishra beschreibt, wie kolonialer Rassismus, Unmenschlichkeit und Überlegenheitskult in liberalen Ideologien gedeiht und spätestens mit Tony Blairs „New Labour“ auf ehemals sozialistisch oder wenigstens sozial gestimmte Politik übergreifen konnte. Die Idee der Republik, des Parlamentarismus selbst wurde dadurch zunehmend unglaubwürdiger:

„Die französische und die US-amerikanische Republik, die allen Menschen demokratische Rechte versprachen, setzten zugleich eine globale Hierarchie durch, in der die Rechte einigen wenigen vorbehalten blieben und allen übrigen vorenthalten wurden.“ (Mishra 2021, S.178)

Dabei stand auch die rassisch begründete Ausschließung von Anfang an „im Zentrum des liberalen Universalismus“. Von Nixon über Reagan und Trump, von Thatcher über Blair und den Brexiteer Boris Johnson, verfolgt Mishra die immer extremer werdende Ideologie westlicher Herrschaftseliten. Sein Programm ist die Enthüllung der verborgenen Schattenseiten einer von westlichen Medien sorgfältig glorifizierten Machtelite:

„Die freundlichen Fanatiker bemühten sich sehr, ihre parfümierte Vorstellung angloamerikanischer Überlegenheit vor der anrüchigen Vergangenheit des Völkermords, der Sklaverei und des Rassismus -wie auch vor dem Gestank der Korruption in den Wirtschaftsunternehmen- zu schützen…“ (Mishra 2021, S.24)

Dabei ist „Freundliche Fanatiker“ noch eine eher freundliche Übersetzung, denn der Originaltitel „Bland Fanatics“, hebt im Wort „Bland“ noch andere Seiten hervor: zwar milde, höflich, einschmeichelnd, aber auch kühl, ironisch -die listige Arroganz des Kolonialisten schwingt deutlicher mit als im Deutschen.

Als ersten Vertreter der bland fanatics knöpft sich Mishra den Kennedy-Biografen und bekennenden Bilderberg-Conférencier Niall Ferguson vor. Man ahnt, warum Ferguson den Unmut des indischen Kritikers erregte: Die Inder etwa verdanken laut Ferguson dem Britischen Empire ihre Freiheit, Demokratie und die englische Sprache; die USA sollten endlich diesem Beispiel folgen und sich stolz zu ihrem Imperialismus bekennen (Mishra S.30). In Fergusons Buch „Das verleugnete Imperium. Chancen und Risiken amerikanischer Macht“ werden als Schwächen westlicher Macht Feministinnen, Adipöse und Digital Natives genannt. Der Feminismus sei schuld am demographischen Niedergang Europas und daran, „dass Mädchen nicht mehr mit Puppen spielen“, die Amerikaner seien übergewichtig und die Europäer degenerierte Faulenzer, die sich endlos dem „Gaming, Chatten und Chillen mit ihren iPods“ hingeben würden (Mishra S.35).

Wie sein Gönner Kissinger sieht Ferguson in den Chinesen die kommende Macht, natürlich nur, weil sie angeblich den westlichen Imperialismus kopieren; seinen ökonomischen Aufstieg verdankt China bei Ferguson selbstverständlich nicht der klugen Kombination von Marxismus und Kapitalismus, sondern dem sich in Peking angeblich ausbreitenden Protestantismus. Der ist nach dem deutschnationalen Soziologie-Klassiker Max Weber mit seiner protestantischen Arbeitsethik die Wurzel eines „Geist des Kapitalismus“. Mishra kommentiert:

„Der wieder aufgewärmte Weberianismus -Indiz für Fergusons nostalgische Sehnsucht nach den Gewissheiten des Sommers 1914- verwandelt sich in eine weitere Klage über die westliche Zivilisation, deren Niedergang sich an der Tatsache zeige, dass die Kirchen leer und die Steuern auf Vermögen und Einkommen hoch seien… während ‚Imperium‘ zu ‚einem schmutzigen Wort geworden‘ sei.“ Mishra S.44

Bei uns würden Christliche Union und neoliberale FDP dieser Klage wohl einmütig zustimmen, stehen Religion bei den einen und Steuersenkung bei beiden weit oben auf der Agenda. Unverblümter Neoimperialismus wäre jedoch noch nicht gesellschaftsfähig und fremdenfeindliche Ressentiments werden noch den Rechtsextremisten allein zugeschrieben.

Neben fleißigen Chinesen machen Ferguson auch die vermehrungsfreudigen Araber große Sorgen um die westliche Vormachtstellung in der Welt. Besonders Europa ist nach dieser ebenso paranoiden wie rassistischen Weltsicht in großer Gefahr, schon sehr bald von Moslems überrannt zu werden. Mishra zitiert die auch von deutschen Rechtspopulisten und Rassisten oft erhobene Behauptung, dass

„eine junge muslimische Gesellschaft südlich und östlich des Mittelmeers bereitsteht, ein vergreistes Europa zu kolonisieren“ (Mishra S.46, Ferguson zitierend)

Der von der BBC hofierte schottische Historiker Ferguson strebe penetrant nach einer Reinwaschung nebst Rivival des Imperialismus. Mishra zeigt auf, wie Ferguson dabei in Fußstapfen von Nazi-Befürwortern und Rassisten wie T.L.Stoddard tritt, der in den USA der 1920er Jahre mit faschistoiden Bestsellern die Angst vor Schwarzen schürte.

Die Verteilung der Rassen nach T. L. Stoddard, schematisierende Karte aus The Rising Tide of Color

Stoddard gilt, was Mishra nicht erwähnt, laut Wikipedia als wichtiger Stichwortgeber des deutschen Nationalsozialismus. Nicht nur dämonisierte er Juden als „eigene Bastard-Rasse“ und verleumdete sie als „Gefahr für die europäische Zivilisation“: In seinem Buch The Revolt Against Civilization. The Menace of the Under Man (1922; dt. Der Kulturumsturz. Die Drohung des Untermenschen, 1925) identifizierte er den Bolschewismus mit einem rassisch definierten Judentum und dieses wiederum mit dem „Untermenschen“. Der Nazi-Ideologe Alfred Rosenberg griff diese hetzerischen Behauptungen Stoddards in Der Mythus des 20. Jahrhunderts auf, und machte damit das zynische Unwort „Untermensch“ zum nationalsozialistischen Schlagwort. Stoddards Weltkarte der „Verteilung der Rassen“ erinnert nicht zufällig an ähnliche, aber von Rassen auf Kulturen umgeschwenkte Karten des Havard-Professors Samuel Huntington. Auch dieser US-Ideologe schürt in seiner „unheilverkündenden Großtheorie“ von einem angeblich tobenden „Kampf der Kulturen“ Rassenängste (Mishra S.28). Huntington begann seine Karriere als Berater beim rassistischen Apartheid-Regime von Pieter Willem Botha in Südafrikas Geheimdienst Civil Cooperation Bureau, das zahlreiche Verbrechen an Apartheidsgegnern verübte – und bezeichnete 1960 die Gesellschaft Südafrikas zur Zeit der Apartheid als eine „zufriedene Gesellschaft“ (Wikipedia). Später setzte er seine Arbeit in den USA fort und war Mitgründer und Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift Foreign Policy, die eine große Stütze des „verleugneten“ Imperiums der USA ist.

Ferguson bemüht sich, den Imperialismus für seine angeblichen Bemühungen um Handelsfreiheit und sogar zur Abschaffung der Sklaverei zu preisen (Mishra S.12). Ob diese durch oder nicht eher gegen die Imperialisten abgeschafft wurde, dürfte zumindest strittig sein, ergänzt der Rezensent, unstrittig dagegen, dass die Hauptimperialisten durch Sklavenhandel und -ausbeutung reich wurden. Die verkrampft-feindselige Haltung heutiger Westeliten gegenüber anderen Kulturen wurzele, so Mishra, in solch dunklen Ideologien und ziele weiterhin auf skrupellosen Machterhalt ab.

Das habe auch Folgen für das politische Klima der angelsächsischen „liberalen Demokratien“ selbst. Mit der Entfernung von Denkmälern für Sklavenhändler sei es dort nicht getan. Es müssten auch Geschichts- und Schulbücher endlich umgeschrieben werden, damit das dort „neumodische“ Sozialstaatsdenken nicht länger dämonisiert werden könne. Voraussetzung dafür sei, dass man dort „nachhaltig mit der Sklaverei, dem Imperialismus und dem rassistischen Kapitalismus abrechnet. Sie waren es, die einigen Leuten in Großbritannien und den USA gewaltigen Reichtum und einzigartige Macht bescherten, die große Mehrheit der Weltbevölkerung jedoch in einen brutalen Kampf gegen Mangel und Entwürdigung stürzten.“ (Mishra S.295)

Pankaj Mishras neues Buch bietet eine kritische Perspektive auf die globalen Auswirkungen des Imperialismus und regt dazu an, über die historischen Kontinuitäten in der heutigen Welt nachzudenken. So entstand der Neoliberalismus aus der Angst der Weißen um ihre Vorherrschaft. Und der westliche Liberalismus ist gar nicht so liberal, denn er definiert die eigene Kultur als die maßgebliche und brandmarkt andere Entwürfe als rückständig oder autoritär.

Mishra, Pankaj: Freundliche Fanatiker: Über das ideologische Nachleben des Imperialismus, Frankfurt/M. 2021, S.Fischer Verlag, 304 Seiten, 24,00 Euro

(Aktualisiert Juli 2024)

04/28/21

Summa technologiae: Der Internet-Kritiker Stanislaw Lem

Gerd Peter Tellurio

In den 2000er Jahren wurde Stanislaw Lem (1921-2006), Autor des weltberühmten Romans Solaris zum Kritiker des Internets und der Informationsgesellschaft – die von ihm vor allem in der Summa technologiae prognostiziert worden waren. Vor allem dort erörterte Lem das Verhältnis von Mensch und Computer sowie die Veränderung von Kultur und Gesellschaft vor dem Hintergrund einer Energie- und Informationskrise, der „Megabit-Bombe“ (vgl. Hennings 1983, S.82). Er vertritt eine biologistische Wahrheits- und Erkenntnislehre, die das Leben auf unserem Planeten als Zeugen beruft.

Erkenntnisse -das sind wahre Informationen. Die Evolution ist eine milliardenjährige Zucht solcher mit konstruktiven Absichten gesammelten und überprüften Informationen.“ (Summa, S.V)

Die Summa technologiae ist ein Buch von Lem, das 1964 erstmals veröffentlicht wurde, und es brachte Lem endlich auch Anerkennung als Wissenschaftler, wie Jarzebski berichtet (1986, S.26). Die Summa wurde 1976 von Friedrich Griese ins Deutsche übersetzt und die BRD-Ausgabe erschien 1976 im Insel-Verlag und 1981 als Taschenbuch bei Suhrkamp. Die DDR-Ausgabe erschien 1980 im Verlag Volk und Welt, Berlin. Erst im Jahr 2013 (!) erschien eine englische Ausgabe an der Universität von Minnesota -Grund für die Missachtung des großen polnischen Autors war vermutlich Lems Konflikt mit der Gilde der US-Autoren der SF (unten mehr dazu).

Der Titel des Werkes bezieht sich auf die großen „Summen“ der Theologie: Summa theologica von Thomas von Aquin bzw. Summa Theologiae von Albertus Magnus. „Technologie“ wird von Lem als die Gesamtheit der materiellen Grundlagen unserer Zivilisation und Kultur verstanden. Der Autor nähert sich seinem Thema auf philosophische Weise. Er will aufzeigen, was wir überhaupt von Wissenschaft und Technik erhoffen dürfen. Die oft im Zusammenhang mit diesem Werk erwähnten Voraussagen Lems zur „virtuellen Realität“ sind eigentlich nur Nebenprodukte. Für die tatsächliche informationstechnische Entwicklung dürften diese Voraussagen – mangels früherer englischer Übersetzung des Werks – ohne große Wirkung geblieben sein.

Prognosen der Digitalität, KI und Informationsgesellschaft

Bei den einschlägigen Prognosen finden wir vor allem die von Lem „Phantomatik“ genannte Virtuelle Realität, was später VR-Brille oder eyephones (Lem 2002, S.63) heißen sollte nannte Lem 1964 „Gegenauge“. Ihn interessierte die Möglichkeit, künstliche Welten zu schaffen, die sich nicht mehr von der natürlichen Realität unterscheiden lassen -William Gibson verfolgte diese Idee in Neuromancer weiter (der Matrix-Vorlage).

Lem prognostizierte auch die Künstliche Intelligenz, die er als „Intellektronik“ bezeichnet, und die durch „Informationszüchtung“ entstehen sollte. Heutige „selbstlernende Algorithmen“ sind erst ein schwacher Vorgeschmack von Lems an der biologischen Evolution orientierten Methode. Die führte ihn bis zu einer in westdeutschen TFA-Debatten (Technikfolgen-Abschätzung) 1981 diskutierten „Ethosphäre“, die unethisches Verhalten (von Menschen!) kybernetisch unterbinden sollte (Hennings 1983, S.7). Wichtig in der Summa technologiae ist die Ausweitung des Begriffs „Technologie“. „Technologien“ sind gemäß Lem „die Verfahren der Verwirklichung von Zielen, die sich die Gesellschaft gesetzt hat, aber auch solcher, die niemand im Auge hatte, als man ans Werk ging“. Als „Effektoren“ in solchen Verfahren kommen nicht nur einfache Werkzeuge und Apparate (Hammer, Schreibmaschine usw.) und rückgekoppelte Systeme (Computer, Tier, Mensch) in Frage, sondern auch sich selbst verändernde Systeme (z. B. eine lebende Tierart) oder sogar Systeme mit noch höherem Freiheitsgrad, bei denen die Auswahl oder sogar Erschaffung des Materials, mit dem das System sich selbst aufbaut, möglich ist -heutige KI kommt dem langsam näher. Mit dem Ausloten prinzipiell möglicher Technologieentwicklung geht es Lem eher um eine Metatheorie technischer Evolution als um die althergebrachte Futurologie.

Netz-Hype, Fakenews und Kritik

Dann kam die große Netz-Hype und Mahner wurden vergessen. Doch Stanislaw Lem glaubte den Netzvisionären nicht, die freudig eine totale Information beschworen und deren Segen priesen. Lem sah die Rolle der Nutzer weniger rosig, weil diese zu „Informationsnomaden“ würden, die nur sinnlos von Stimulus zu Stimulus hüpften. Es erweise sich als immer schwieriger, so Lem über das Internet, unterschiedliche Quellen und Sichtweisen zusammenzubringen, um ein rundes, vollständiges Wissensbild einer Sache zu erhalten. Weise Worte, lange vor der Fakenews-Hysterie der sogenannten „Sozialen Medien“ Facebook & Co.

Lem gilt als brillanter Visionär und Utopist, der zahlreiche komplexe Technologien Jahrzehnte vor ihrer tatsächlichen Entwicklung prognostizierte. So schrieb er bereits in den 1960er und -70er Jahren über Themen wie Nanotechnologie, neuronale Netze und virtuelle Realität. Ein wiederkehrendes Thema sind philosophische und ethische Aspekte und Probleme technischer Entwicklungen, wie etwa der künstlichen Intelligenz, menschenähnlicher Roboter oder der Gentechnik. In zahlreichen seiner Werke setzte er Satire und humoristische Mittel ein, wobei er oft hintergründig das auf Technikgläubigkeit und Wissenschaft beruhende menschliche Überlegenheitsdenken als Hybris entlarvte. Einige seiner Werke tragen auch düstere und pessimistische Züge in Bezug auf die langfristige Überlebensfähigkeit der Menschheit. Häufig thematisierte er Kommunikationsversuche von Menschen mit außerirdischen Intelligenzen, die er etwa in einem seiner bekanntesten Romane, Solaris, als großes Scheitern verarbeitete. (Wikipedia)

Die Lem – Philip K. Dick -Kontroverse

1973 wurde Lem die Ehrenmitgliedschaft der Science Fiction and Fantasy Writers of America (SFWA) verliehen, aber diese wurde ihm schon 1976 wieder entzogen. Den Rauswurf des polnischen Starautors hatten verschiedene amerikanische SF-Autoren, darunter Philip José Farmer, gefordert. Sie waren einerseits über Lems kritische Haltung gegenüber einem großen Teil der westlichen Science Fiction empört. Aber zudem waren unter ihnen laut Ursula K. LeGuin „kalte Krieger“, die fanden, dass ein Mann, der hinter dem Eisernen Vorhang lebe und sich über amerikanische SF kritisch äußere, eine Kommunisten-Ratte sein müsse, der in der SFWA nichts zu suchen habe.

There was a sizable contingent of Cold Warrior members who felt that a man who lived behind the iron curtain and was rude about American science fiction must be a Commie rat who had no business in the SFWA.“ Ursula K. LeGuin

Die Nestorin der feministischen SF, Ursula K. LeGuin, trat danach unter Protest aus der SFWA aus. Ein weiteres Argument für den Entzug der Ehrenmitgliedschaft war technischer Natur; die Ehrenmitgliedschaft sollte nicht an Autoren verliehen werden, die als zahlendes Mitglied in Frage kamen. Dieses Argument brachte laut seinem Biographen Lawrence Sutin der auch von mir hochgeschätzte SF-Hippie Philip K. Dick (Blade Runner) vor, der Lem für Schwierigkeiten bei den Honorarzahlungen für die polnische Ausgabe seines Romans Ubik verantwortlich machte -wofür es allerdings außer der bei P.K.Dick immer wieder beobachtbaren Paranoia keine Erklärung gibt. Dick hatte sich immerhin dafür ausgesprochen, Lem als zahlendes Mitglied zuzulassen. Eine solche Mitgliedschaft wurde Lem dann auch angeboten, der lehnte sie jedoch ab. Der Kalte Krieg forderte seine Opfer nicht nur an den zahllosen unsichtbaren und sichtbaren Fronten, sondern auch in der SF-Literatur.

Stanislaw Lem wurde 1921 in Lwow, Polen, geboren. Neben zahlreichen belletristischen Werken verfasste er theoretische Schriften über Science Fiction und über Gebiete der angewandten Philosophie und der Kybernetik. Sein Schaffen umfasst inzwischen 28 Werke, deren Gesamtauflage fast 8 Millionen Exemplare erreichte. Übersetzungen erschienen in 27 Sprachen, unter anderem in Japan, England, Russland, Amerika, Schweden, Italien, Holland und Frankreich. Sein Hauptinteresse galt der Science Fiction als literarische Gattung. Er starb 2006 in Krakau.

Stanislaw Lem, Summa technologiae, Suhrkamp, Frankf./M., 1976 (poln.Or.1964).

Stanislaw Lem, Die Technologie-Falle, Suhrkamp, Frankf./M., 2002 (poln.Or.1995).

R.-D. Hennings u.a. (Hrsg.), Informations- und Kommunikations-Strukturen der Zukunft: Ein Workshop mit Stanislaw Lem, W.Fink, München 1983.

Jerzy Jarzebski, Zufall und Ordnung: Zum Werk Stanislaw Lems, Suhrkamp, Frankf./M., 1986.

10/2/20

„Gefährder“: Der Migranten-Minority Report

In der Verfilmung „Minority Report“ einer Dystopie des SF-Autors P.K.Dick werden Menschen nicht mehr nur für Verbrechen bestraft, die sie begangen haben, sondern auch für solche die sie begehen werden (nach Ansicht der Sicherheitsbehörden). Dies widerspricht den Grundsätzen des Rechtsstaates und der Bürgerrechte, wird aber immer mehr zur Realität -spätestens seit den 9/11-Anschlägen, die 2001 drei Türme des WTC in New York zerstörten (nicht nur zwei, wie in neueren Dokumentationen oft wahrheitswidrig suggeriert). Die folgende Erläuterung der regierungseigenen Bundeszentrale für politische Bildung für den (noch nicht legal definierten) Begriff „Gefährder“, bislang nur ein „polizeilicher Arbeitsbegriff“, erläutert einige Aspekte dieser Problematik. Seit 9/11 führen nicht nur die USA, sondern offenbar „der Westen“, also auch wir, einen „Krieg gegen den Terror“, der eine Einschränkung von Bürgerrechten beinhaltet. Kontrolliert wird dabei offenbar insbesondere bei Migranten, „eine nicht näher konkretisierbare Gefährlichkeit, die sich in der Zukunft ausbilden könnte. (…) Ziel ist hierbei, schwer bestimmbare konkrete Zeitpunkte und Formen eines terroristischen Anschlags zu kontrollieren und damit auch aufsteigende Ängste in der Bevölkerung zu reagieren.“ (So das bpb im jetzt folgenden Text, Anmerkung: ist es nur Zufall, dass in diesem Satz ein „auf“ zu fehlen scheint? T.Barth)

Migration und Sicherheit: „Gefährder“ Gefährder – dieser Begriff taucht in aktuellen sicherheitspolitischen Debatten immer wieder auf. Doch wer ist damit eigentlich gemeint?

Autoren/-innen: Daniela Hunold, Jan Raudszus für bpb.de (Bundeszentrale für politische Bildung)

13.01.2020 / 6 Minuten zu lesen

Ein Mann trägt eine elektronische Fußfessel (Symbolbild -aus urheberrechtl.Gründen hier entfallen). Gefährdern kann das Tragen einer elektronischen Fußfessel angeordnet und somit ihre Bewegungen überwacht werden.

Der Begriff des Gefährders ist innerhalb der letzten Jahre zu einer festen Größe im Sprachgebrauch der Sicherheitsbehörden avanciert.[1] Er findet z.B. als Bezeichnung für Personen Verwendung, von denen eine islamistisch motivierte Terrorgefahr ausgeht. Der Begriff erstreckt sich aber auch auf andere Phänomenbereiche der politisch motivierten Kriminalität. Der Gefährderbegriff ist allerdings nicht legal definiert. Er ist also nicht als Rechtsbegriff im Gesetz verankert. Vielmehr handelt es sich um einen polizeilichen Arbeitsbegriff[2], der insbesondere im Zusammenhang mit Terrorismus wird. 2004 wurde der Begriff des Gefährders durch die Arbeitsgemeinschaft der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamtes folgendermaßen definiert:

„Ein Gefährder ist eine Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen wird.[3]

Hierbei sind vor allem besonders schwerwiegende Straftaten angesprochen, die sich gegen staatliche Interessen oder das Leben von Menschen richten. In der Regel sind mit der Definition Personen gemeint, bei denen die Behörden annehmen, dass diese extremistische Mitglieder des militanten Spektrums des jeweiligen Phänomenbereichs sind. Aufgrund von sicherheitsbehördlichen Erkenntnissen können sie als Gefährder eingestuft werden, auch wenn keine beweiskräftigen Tatsachen für eine zukünftige Straftat vorliegen.

Neben der Einstufung als Gefährder gibt es außerdem die Einstufung als „relevante Person“. Dabei handelt es sich um Personen, die nach Einschätzung der Polizeibehörden innerhalb des extremistischen bzw. terroristischen Spektrums eine Rolle als Führungsperson, Logistiker oder „Akteur“ einnehmen. Von diesen Personen wird daher davon ausgegangen, dass sie sich an einer der oben genannten Straftaten beteiligen bzw. diese unterstützen würden. Es kann sich auch um eine bedeutende Kontakt- oder Begleitperson eines Gefährders, Beschuldigten oder Verdächtigen einer politisch motivierten Straftat handeln. [4]

Zahl der Gefährder

Die Zahl der Gefährder wird von keiner offiziellen Stelle regelmäßig veröffentlicht und ist zum Beispiel auch nicht Teil des Bundesverfassungsschutzberichts. Aufschluss geben v.a. Anfragen der Parteien im Deutschen Bundestag und Abfragen der Presse beim Bundeskriminalamt (BKA).

Danach verteilen sich die aktuellen Zahlen der Gefährder und relevanten Personen wie folgt:

Das BKA listet 679 Personen als Gefährder und 509 Personen als relevante Personen im Bereich der politisch-motivierten Kriminalität mit religiösem Hintergrund – dabei dürfte es sich ausschließlich um Mitglieder der islamistischen Szene handeln (Stand: 01.11.2019).

Im Phänomenbereich Rechtsextremismus liegen die Zahlen bei 46 Gefährdern bzw. 126 relevanten Personen (Stand: 25.11.2019). Die wenigsten Gefährder und relevanten Personen listet das BKA im Bereich der politisch-motivierten Kriminalität – links -. Hier ist die Rede von fünf Gefährdern und 85 relevanten Personen (Stand: 15.10.2019). Der Bereich der sogenannten Ausländischen Ideologie (u.a. die kurdische Arbeiterpartei PKK) schlägt mit 21 Gefährdern bzw. 50 relevanten Personen zu Buche. [5]

Einstufung und Radar-iTE

Die Einstufung einer Person als Gefährder oder relevante Person erfolgt durch die Polizeien der Länder oder das BKA. Die Behörden bauen ihre Entscheidung dabei auf vorliegenden Informationen auf. [6] Das bedeutet auch, dass die Entscheidung zur Einstufung nach den Maßgaben des jeweiligen Bundeslandes geschieht. Um eine Vereinheitlichung herbeizuführen und eine höhere Genauigkeit der Gefährdungseinschätzung einer Person zu gewährleisten, wurde 2016/2017 vom BKA in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie der Universität Konstanz für den Bereich des islamistischen Terrorismus das Risikobewertungsinstrument Radar-iTEeingeführt. Basierend auf biografischen Informationen, die das Verhalten einer Person priorisieren und nicht etwa die Gesinnung oder Religiosität einer Person, erstellen Sachbearbeiter eine Bewertung mit drei verschiedenen Ausprägungen: hohes Risiko, auffälliges und moderates Risiko. Nach Bewertung des BKA wird der Einschätzungsprozess damit transparent und überprüfbar. [7] Gleichzeitig erlaubt Radar-iTE eine Priorisierung vorzunehmen und damit auch bei begrenzten Ressourcen polizeiliche Maßnahmen fokussierter einzusetzen.

Maßnahmen

Die ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der von Gefährdern und relevanten Personen ausgehenden Gefahr unterscheiden sich nach Bundesland, den dortigen gesetzlichen und dienstlichen Regelungen und nach dem betroffenen Individuum. Behörden äußern sich normalerweise nicht dazu, welche Maßnahmen sie jeweils ergreifen. Zu den möglichen Maßnahmen gehören Gefährderansprachen und verschiedene Formen der Informationsbeschaffung, zum Beispiel durch (punktuelle oder dauerhafte) Observation. Auch kann bei Gefährdern das Tragen einer elektronischen Fußfessel angeordnet und somit ihre Bewegungen überwacht werden.

Kritik des Begriffs

Die Anwendung des Begriffs, also die Einstufung einer Person als Gefährder, ist umstritten, da sie vor allem auf Annahmen und Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden beruht, sich daraus aber intensivierte polizeiliche Maßnahmen und erweiterte Befugnisse ergeben. So wurden mit der Verabschiedung des neuen Polizeiaufgabengesetzes in Bayern im Jahr 2018 die polizeilichen Befugnisse gegen eine als Gefährder eingestufte Person deutlich ausgeweitet.

Viele Bundesländer streben die Abschiebung von Gefährdern an, sofern diese ausländische Staatsangehörige sind. Im Jahr 2018 wurden insgesamt 52 Gefährder und andere Personen aus der islamistischen Szene ausgewiesen.[8] Seit 2017 wird dazu u.a. die Möglichkeit des § 58a AufenthG genutzt. 2019 hat das Bundesverwaltungsgericht auf der Grundlage eines hängigen Falls in Bremen entschieden, dass nach dieser Bestimmung eine Abschiebungsanordnung erlassen werden kann „auf der Grundlage einer hinreichenden zuverlässigen Tatsachengrundlage einer vom Ausländer ausgehende Bedrohungssituation im Sinne eines beachtlichen Risikos“, welches sich jederzeit aktualisieren und dann in eine konkrete Gefahr umschlagen könne. Eine bereits vorhandene konkrete Gefahr im Sinne des Polizeirechts ist dafür aber ausdrücklich nicht notwendig.[9]

Mit der Einführung und Anwendung des Gefährderbegriffes verdeutlicht sich eine Verschiebung des sicherheitsbehördlichen Fokus von konkreten, strafbaren Handlungen oder einem konkreten Verdacht auf Verhaltensweisen, die „nicht in den Bereich der Strafbarkeit (auch im Vorbereitungs- oder Versuchsstadium)“ fallen.[10] Vielmehr gewinnt die Bewertung der Bedrohung – für die Indizien ausreichend sein können – durch das „kriminelle Potential“ an Gewicht, also eine nicht näher konkretisierbare Gefährlichkeit, die sich in der Zukunft ausbilden könnte. Dementsprechend gelten auch andere Beurteilungsmaßstäbe und Eingriffsschwellen, die sich eher an einer abstrakten anstatt an einer konkreten Gefahr orientieren.

Die beschriebene Vorverlagerung des Zeitpunktes staatlicher Interventionen in einen Bereich, in dem noch kein strafrechtlich relevantes Handeln konkret bestimmbar oder vorhersagbar ist, zeichnet sich spätestens seit den Terroranschlägen im September 2001 ab. So führen z.B. die nach 9/11 verabschiedeten Anti-Terror-Gesetze

zu einer Vorverlagerung von Strafbarkeit und Erweiterung des Sicherheitsbegriffs zur vorbeugenden Sicherheitsgewährleistung. Weniger das Erreichen eines Zustandes der Sicherheit ist hier handlungsleitend, sondern die Annahme verschiedener Unsicherheitszustände. Ziel ist hierbei, schwer bestimmbare konkrete Zeitpunkte und Formen eines terroristischen Anschlags zu kontrollieren und damit auch aufsteigende Ängste in der Bevölkerung zu reagieren. Im Rahmen des Vorsorge-Paradigmas sind Vorverlagerungen somit oftmals mit der „zu bekämpfenden terroristischen Gefährdungslage begründet, bei der sich noch nicht hinreichend konkret ablesen lässt, wie, wann und wo sich diese Gefahr realisieren wird“.[11]

Dieser Artikel ist Teil des bpb-Kurzdossiers Migration und Sicherheit.

Fussnoten

  1. Wegner, M. & Hunold, D. (2017): Die Transformation der Sicherheitsarchitektur – die Gefährdergesetze im Lichte des Vorsorge-Paradigmas. KriPoZ (6), S. 367-375.

Fußnote  [2] Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages (2017): Sachstand Legaldefinition des Begriffes „Gefährder“. WD 3 – 3000 – 046/17. Externer Link: https://www.bundestag.de/resource/blob/503066/8755d9ab3e2051bfa76cc514be96041f/wd-3-046-17-pdf-data.pdf (Zugriff: 9.8.2019).

  1. Fußnote  [3] BT-Drs. 18/7151. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Christine Buchholz, Annette Groth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Drucksache 18/6959 – Sogenannte islamistische Gefährder. Externer Link: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/071/1807151.pdf (Zugriff: 9.8.2019).
  1. Fußnote  [4] Bundeskriminalamt: Politisch motivierte Kriminalität. Externer Link: https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/PMK/pmk.html (Zugriff: 9.8.2019).
  1. Fußnote  [5] Diese Aufstellung beruht auf einer journalistischen Abfrage der Zahlen beim BKA, die auf Twitter veröffentlich wurde (Externer Link: https://twitter.com/FlorianFlade/status/1199697804886712323?s=20). Die Herkunft der Daten wurde durch Rücksprache mit dem Journalisten am 27.11.2019 bestätigt.
  1. Fußnote  [6] Bundeskriminalamt: Politisch motivierte Kriminalität. Externer Link: https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/PMK/pmk.html (Zugriff: 9.8.2019).
  1. Fußnote  [7] Bundeskriminalamt (2017): Presseinformation: Neues Instrument zur Risikobewertung von potentiellen Gewaltstraftätern. 2. Februar. Externer Link: https://www.bka.de/DE/Presse/Listenseite_Pressemitteilungen/2017/Presse2017/170202_Radar.html (Zugriff: 9.8.2019).
  1. Fußnote  [8] Tagesspiegel (2019): Weiterhin um die 400 islamistische Gefährder in Deutschland. 6. März. Externer Link: https://www.tagesspiegel.de/politik/terrorgefahr-weiterhin-um-die-400-islamistische-gefaehrder-in-deutschland/24070206.html (Zugriff 11.11.19)
  1. Fußnote  [9] Bundesverwaltungsgericht (2017): Beschluss vom 13.07.2017 – BVerwG 1 VR 3.17. Externer Link: https://www.bverwg.de/130717B1VR3.17.0 (Zugriff 11.11.19)
  1. Fußnote  [10] Schwarz, K.-A. (2017): Sachverständige Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und der SPD für ein Gesetz zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes (BT-Drs. 18/11163). Deutscher Bundestag. Ausschussdrucksache 18(4)806 G. Externer Link: https://www.bundestag.de/resource/blob/498694/76f82280dcc2c6f16722b181cada3b34/18-4-806-G-data.pdf (Zugriff: 16.12.2019).
  1. Fußnote  [11] Wegner, M. & Hunold, D. (2017): Die Transformation der Sicherheitsarchitektur – die Gefährdergesetze im Lichte des Vorsorge-Paradigmas. KriPoZ (6), S. 367-375, S. 327f.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht. Autoren/-innen: Daniela Hunold, Jan Raudszus für bpb.de. Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und der Autoren/-innen teilen. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.

Originaltext hier

04/28/20

Smart Borders: „Intelligente“ Schengenraum-Außengrenzen

Smart Borders – intelligente Außengrenzen des Schengenraums?

Goetz Herrmann, (für bpb) 13.01.2020 / 4 Minuten zu lesen

Offen und sicher sollen sie sein. Sie sollen die Zirkulation von Waren, Kapital und Personen ermöglichen, gleichzeitig aber irreguläre Bewegungen verhindern. Ein Beitrag über Grenzen als „Filter“ und Konzepte ihrer Digitalisierung.

Scanner des Smart Borders Grenzkontrollsystems am Flughafen Frankfurt/Main. Das Smart Borders Package soll ein besseres Management der Außengrenzen der EU ermöglichen. (© dpa)

Was sind Smart Borders?

Unter Smart Borders – intelligenten Grenzen – wird ein Bündel an Maßnahmen und Technologien zur Überwachung der Grenzen des Schengenraumes verstanden. Das 2013 auf den Weg gebrachte Smart Borders Package soll aus Sicht der Europäischen Kommission (EK) ein besseres Management der Außengrenzen ermöglichen, effektiver Interner Link: irregulärer Migration entgegenwirken und einen „Beitrag zur Bekämpfung von Terrorismus und schwerer Kriminalität“ Zur Auflösung der Fußnote[1] leisten. Dazu werden Informationen über Nicht-EU-Bürger_innen (Drittstaatangehörige) gesammelt. Gleichzeitig sollen Grenzübertritte schneller vonstattengehen. Eine zentrale Rolle spielen dabei Informationssysteme wie das „Einreise-/Ausreisesystem“ (Entry-Exit-System, EES), die zu einer Automatisierung der Grenzkontrollen beitragen sollen. In diesen Datenbanken können große Mengen an Informationen zusammengefasst werden, auf die Behörden in ganz Europa Zugriff haben.

Der Kontext: Bordermanagement

Die Smart Borders Initiative der EU vollzieht sich vor dem Hintergrund eines weltweiten Transformationsprozesses von Grenzen. Dabei treten neben Modelle einer klassischen souveränen Grenzsicherungspolitik (Interner Link: manifest im Bild einer Mauer) Konzepte des Grenzmanagements. Diese streben an, Sicherheitsrisiken abzuwenden, gleichzeitig aber ein hohes Maß an Mobilität aufrechtzuerhalten. Zur Auflösung der Fußnote[2] Dies sei nötig, da eine prosperierende Gesellschaft auf ein hohes Maß an Mobilität und Zirkulation von Personen, Waren und Kapitel angewiesen sei. Aus dieser Offenheit gingen jedoch gleichzeitig Bedrohungen hervor, „da Terroristen und andere Kriminelle danach trachten, diese Freiheiten zu zerstörerischen und böswilligen Zwecken zu missbrauchen“. Zur Auflösung der Fußnote[3] Demnach müssten „Grenzen als Sortiermaschinen“ Zur Auflösung der Fußnote[4] oder wie eine „firewall“ Zur Auflösung der Fußnote[5] operieren und gefährliche Elemente aus dem komplexen Fluss transnationaler Zirkulation herausfiltern. Zur Auflösung der Fußnote[6] Grenz- und Sicherheitspolitik richten ihren Fokus also verstärkt auf transnationale Mobilität.

Die EU setzt mit ihrem Konzept des „integrierten Grenzmanagements“ auf die Zusammenarbeit mit Anrainerstaaten Zur Auflösung der Fußnote[7], etwa in Form von Mobilitätspartnerschaften Zur Auflösung der Fußnote[8], und den umfangreichen Informationsaustausch „zwischen Grenzschutzbehörden und anderen Strafverfolgungsbehörden“. Zur Auflösung der Fußnote[9] Dabei ruhen große Hoffnungen auf neuester Informations- und Kommunikationstechnologie.

Das Smart Borders Package

Das Smart Borders Package wurde erstmalig am 28. Februar 2013 von der damaligen EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström auf einer Pressekonferenz präsentiert. Dabei bezog sie sich auf Pläne der Kommission von 2008, worin bereits die Einführung eines Entry-Exit-Systems und die erleichterte Einreise für als vertrauenswürdig eingestufte und registrierte Vielreisende, das „Registered Traveller Programme“ (RTP), gefordert wurden. Gegen Letzteres regte sich v.a. im Europäischen Parlament Widerstand, sodass es 2016 zurückgezogen wurde. Im Oktober 2017 stimmten das Europäische Parlament und der Rat der EU einer modifizierten Version des Entry-Exit-Systems zu, das bis 2020 vollständig implementiert sein und rund 480 Millionen Euro kosten sollte. Zur Auflösung der Fußnote[10] Inzwischen wird mit einer operativen Inbetriebnahme im Jahr 2021 gerechnet. Zur Auflösung der Fußnote[11]

Datenbanken

Innenkommissarin Malmström präsentierte die im Smart Borders Package vorgeschlagenen Technologien als Grundstein für ein „offeneres“ und zugleich „sichereres“ Europa. Zur Auflösung der Fußnote[12] Das deutet bereits an, welche wichtige Rolle „einschlägigen Informationsinstrumenten“ Zur Auflösung der Fußnote[13] im Bereich des Grenzmanagements und der Sicherheitspolitik zugesprochen wird. Tatsächlich verfügt die EU über mehrere solcher „Informationssysteme“, die „zusammengenommen ein komplexes Muster einschlägiger Datenbanken“ Zur Auflösung der Fußnote[14] bilden. Die drei bisher wichtigsten sind das Interner Link: Schengener Informationssystem (SIS), worin u.a. Personen- und Sachfahndungen (z.B. gestohlene Fahrzeuge) eingetragen sind, das Visa Information System (VIS) mit Daten über erteilte Visa für Kurzzeitaufenthalte und Interner Link: EURODAC, eine Datenbank, in der Fingerabdrücke von Personen gesammelt werden, die einen Asylantrag gestellt haben oder ohne legalen Aufenthaltsstatus in einem Mitgliedstaat aufgegriffen wurden.

Das Entry-Exit-System soll diese Informationssysteme ergänzen. Darin sollen sowohl Drittstaatsangehörige erfasst werden, die sich für einen Kurzaufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten dürfen, als auch Personen, denen Einreise und Aufenthalt verweigert wurden. Zur Auflösung der Fußnote[15] Gespeichert werden Datum und Ort der Einreise sowie die Dauer des autorisierten Aufenthalts. Zur Auflösung der Fußnote[16] Die zentrale Speicherung dieser Informationen soll v.a. dabei helfen, eingereiste „Overstayer“ zu ermitteln, also Personen, die zwar mit einem gültigen Visum den Schengenraum betreten haben, aber ihn nach Ablauf des Visums nicht wieder verlassen. Zur Auflösung der Fußnote[17] Im Entry-Exit-System werden neben Kenndaten einer Person auch biometrische Informationen erfasst, in diesem Falle vier Fingerabdrücke und ein Gesichtsbild. Dies soll Dokumentenfälschungen erschweren. Entry-Exit-System und Visa Information System sollen auch miteinander verknüpft werden, also den direkten Zugriff auf die jeweiligen Daten ermöglichen.

Kritik

Wie effektiv die angestrebten Maßnahmen tatsächlich sein werden, ist schwer einzuschätzen, da „Interner Link: Sicherheit“ kaum messbar ist. Kritiker_innen bezweifeln, dass die Überwachung von Mobilität Terroranschläge wirksam verhindern kann, da nur wenige Attentäter_innen in der Vergangenheit von außerhalb des Schengenraums kamen oder im Zuge irregulärer Reisebewegungen unentdeckt nach Europa gelangt sind. Zur Auflösung der Fußnote[18] Der Großteil der Kritik an Bestrebungen zur Errichtung einer Smart Border bezieht sich jedoch auf Interner Link: datenschutzrechtliche Probleme. Diese entstehen aus der massenhaften Erhebung, Speicherung, Verarbeitung und dem Austausch von personenbezogenen Daten: So sah beispielsweise 2013 der Europäische Datenschutzbeauftragte Verstöße gegen Artikel 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und 8 (Schutz personenbezogener Daten) der EU-Grundrechtecharta. Zur Auflösung der Fußnote[19] Ebenso gilt die Vermengung von sicherheits- und migrationspolitischen Fragen als problematisch. Dass dies durch die neuen Technologien forciert wird, zeigt das Beispiel der Praxis des „cross-referencing“ von Datenbanken: Dadurch wird die ehemals auf Papierlisten geführte kleine Gruppe unerwünschter Personen – primär Terrorist_innen und Schwerkriminelle – mit der weitaus größeren Personengruppe in Verbindung gebracht, die wegen kleinerer Verstöße gegen Aufenthaltsrecht oder Visaüberschreitung erfasst wurden. Zur Auflösung der Fußnote[20]

Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers „Interner Link: Migration und Sicherheit„.

Bigo, Didier (2011): Freedom and speed in enlarged borderzones. In: Vicki Squire (Hg.): The contested politics of mobility. Borderzones and irregularity. London: Routledge (Routledge advances in international relations and global politics, 87), S. 31–50.

Bigo, Didier; Brouwer, Evelien Renate; Carrera, Sergio; Guild, Elspeth; Guittet, Emmanuel-P; Jeandesboz, Julien et al. (2015): The EU counter-terrorism policy responses to the attacks in Paris. Towards an EU security and liberty agenda. Brüssel (CEPS paper in liberty and security in Europe).

Broeders, Dennis; Hampshire, James (2013): Dreaming of Seamless Borders. ICTs and the Pre-Emptive Governance of Mobility in Europe. In: Journal of Ethnic and Migration Studies 39 (8), S. 1201–1218.

Europäische Kommission (EK) (2016a): Solidere und intelligentere Informationssysteme für das Grenzmanagement und mehr Sicherheit. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat. Brüssel.

Europäische Kommission (EK) (2016b): Proposal for a Regulation of the European Parliament and the Council: establishing an Entry/Exit System (EES) to register entry and exit data and refusal of entry data of third country nationals crossing the external borders of the Member States of the European Union and determining the conditions for access to the EES for law enforcement purposes and amending Regulation (EC) No 767/2008 and Regulation (EU) No 1077/2011. Brüssel.

Europäische Kommission (EK) (2008): Vorbereitung der nächsten Schritte für die Grenzverwaltung in der Europäischen Union. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Brüssel.

Europäisches Parlament (EP); Rat der Europäischen Union (Rat) (2017): Verordnung (EU) 2017/2226 des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates über ein Einreise-/Ausreisesystem (EES) vom 30. November 2017 zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten sowie der Einreiseverweigerungsdaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten und zur Festlegung der Bedingungen für den Zugang zum EES zu Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungszwecken und zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen sowie der Verordnungen (EG) Nr. 767/2008 und (EU) Nr. 1077/2011. In: Amtsblatt der Europäischen Union.

Herrmann, Goetz (2018): Reflexive Sicherheit, Freiheit und Grenzmanagement in der Europäischen Union. Die Reterritorialisierung emergenter Bedrohungsgefüge. Wiesbaden: Springer VS.

Lenz, Ramona (2010): Mobilitäten in Europa. Migration und Tourismus auf Kreta und Zypern im Kontext des europäischen Grenzregimes. Wiesbaden: Springer VS.

Mau, Steffen (2010): Grenzen als Sortiermaschinen. In: Welttrends. Zeitschrift für internationale Politik 71, S. 57-66.

Rat der Europäischen Union (Rat) (2010): Strategie für die innere Sicherheit der Europäischen Union. Auf dem Weg zu einem europäischen Sicherheitsmodell. Europäischer Rat; Europäische Union. Luxemburg.

Walters, William (2009): Europe’s Borders. In: Chris Rumford (Hg.): The SAGE Handbook of European Studies. Los Angeles, Calif.: SAGE, S. 485–505.

Fussnoten

Zur Erwähnung der Fußnote  [1]

EK (2016a), S. 14.

Zur Erwähnung der Fußnote  [2]

Vgl. Herrmann (2018), S. 227.

Zur Erwähnung der Fußnote  [3]

Rat (2010), S. 11.

Zur Erwähnung der Fußnote  [4]

Mau (2010).

Zur Erwähnung der Fußnote  [5]

Walters (2009), S. 492.

Zur Erwähnung der Fußnote  [6]

Vgl. Bigo (2011), S. 35.

Zur Erwähnung der Fußnote  [7]

Vgl. Rat (2010), S. 28.

Zur Erwähnung der Fußnote  [8]

Die Partnerstaaten erhalten dabei finanzielle Mittel oder Visaerleichterungen, wenn sie sich an den Grenzsicherungsmaßnahmen der EU beteiligen. Vgl. Lenz (2010).

Zur Erwähnung der Fußnote  [9]

Rat (2009), S. 56.

Zur Erwähnung der Fußnote  [10]

Vgl. EK (2016b), S. 6. Eine Zusammenfassung der Änderungen gegenüber dem Vorschlag von 2013 findet sich unter: Externer Link: http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-16-1249_en.htm (Zugriff: 18.6.2019).

Zur Erwähnung der Fußnote  [11]

Externer Link: https://ees.secunet.com/de/fakten-zum-entry-exit-system/ (Zugriff: 18.6.2019).

Zur Erwähnung der Fußnote  [12]

Vgl. Externer Link: http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-13-172_en.htm

Zur Erwähnung der Fußnote  [13]

EK (2016a), S. 2.

Zur Erwähnung der Fußnote  [14]

Ebd., S. 6.

Zur Erwähnung der Fußnote  [15]

Vgl. EP/Rat (2017), S. 21.

Zur Erwähnung der Fußnote  [16]

Vgl. EK (2008), S. 8.

Zur Erwähnung der Fußnote  [17]

Vgl. ebd., S. 5.

Zur Erwähnung der Fußnote  [18]

Vgl. Bigo et.al. (2015), S. 10.

Zur Erwähnung der Fußnote  [19]

Externer Link: https://edri.org/smart-borders-the-challenges-remain-a-year-after-its-adoption/

Zur Erwähnung der Fußnote  [20]

Vgl. Broeders/Hampshire (2013), S. 1208.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht. Autor/-in: Goetz Herrmann für bpb.de.
Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.

04/23/20

Graphic Novel-Rezension: Transgender Digitalkultur

Hermine Humboldt

Peer Jongeling: „Hattest du eigentlich schon die Operation?“, Berlin 2020.

Als 2016 der Kulturphilosoph Felix Stalder seine „Kultur der Digitalität“ entwarf, begann er seinen Ausflug ins 21.Jahrhundert mit dem ESC 2014, den die glamouröse Diva mit Bart, Conchita Wurst, souverän gegen alle sexistischen Anfeindungen gewann. Damals galt es ein Zeichen zu setzen für Diversität und das Recht des Individuums, sich selbst zu definieren. Ein Zeichen gegen das immer aggressivere Maulen und Pöbeln der Homophobie-geschüttelten Reaktionäre, der braunen Brüder und Nationalisten mit ihrem Geraune über angeblichen Kulturverfall, Dekadenz und ein drohendes „Gayropa“. Wenn Trump und Putin etwas verbindet -außer dubiosen Immoblien-Deals in Moskau-, dann wohl die Kunst, auf diesen dunklen Ängsten des Mainstreams ihre Propaganda-Tarantella zu spielen. Felix Stalder sieht hier die Wurzel einer Vielfalt feiernden „Kultur der Digitalität“, deren Netzmedien und Digitalkultur der Diversität nur technologisch zum Durchbruch verhalfen.

Was ist aber mit unserer Conchita und allen anderen Queer- und Trans-Menschen? Heteronormalos genießen die Kulturvielfalt auf Sofa, Smartphone usw., selbst im träge-konservativen ZDF-Krimi tummeln sich inzwischen einige homosexuelle, farbige oder sonst nicht „Normale“ in der hölzernen Handlung. Aber bis das ESC-Spektakel wirklich in der zwischenmenschlichen Alltagskultur Schule macht, ist noch ein langer Weg. Peer Jongeling geht ihn und widmet dem heißen Thema ein sozialkritisches Comic, umschifft dabei heikle Fallgruben. Es geht um Erotik und Körperlichkeit, doch die tonnenförmig an Pinguine erinnernden Figuren lassen auch bei Sexszenen kaum voyeuristische Blickweisen aufkommen. Und karikaturhaft-humoristische Pointen lockern die ernste Story auf.

Ein Himmel voller Gender-Sternchen

Immer noch regen sich manche KritikerInnen über Schreiber*innen auf, die diese oder jene Gender-Schreibweise bevorzugen, derweil haben reale Transgender ernstere Probleme: Anfeindungen, Diskriminierung, Outing, Kleiderkauf, Namensänderung bis hin zur Frage nach der operativen Geschlechtsumwandlung. „Ari, Lilly, Paul und Ray erzählen aus ihrem Leben als Transgender“, erklärt das grellrote Backcover, verziert mit blaugrün-floralen Ornamenten, aus denen sich menschliche Arme schlängeln. Autorin Peer Jongeling tritt einleitend selbst auf:

„Hallo ich bin Peer! In diesem Heft habe ich mehrere Kurzgeschichten zum Thema Transidentität zusammengefasst. Sie basieren auf wahren Gegebenheiten und verarbeiten sowohl Erfahrungen von Trans-Personen als auch persönliche Erlebnisse. Die Protagonisten sind frei erfunden und stellen keine echten Personen dar. Ebenso sind sie individuelle Charaktere und keine verallgemeinernde Repräsentation von transidenten Menschen. Tschüss und viel Spass.“

Die Story beginnt lehrbuchartig: „Mein Name ist Paul. Auf diesen Seiten werden ein paar wichtige Begriffe erklärt,“ verkündet eine der Hauptpersonen für die erste von zwei Doppelseiten mit Erklärungs-Sprechblasen, die aus quasi vom Einband her herüber wuchernden Pflanzen sprießen. Von „Transgender, Trans, Transident: Personen, die sich mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht identifizieren können.“ über „Misgendern: Als ein Geschlecht adressiert werden, welches nicht der Identität entspricht.“ und „Dysphorie: Das Unwohlsein mit dem eigenen Körper. Für Trans-Personen oft auf Geschlechtsmerkmale bezogen.“ bis zu „Passing: Trans-Menschen, die aussehen ‚wie‘ ihr angestrebtes Geschlecht. Kritisierter Begriff, da impliziert wird, dass sie nur so aussehen.“ So werden neun Genderbegriffe erklärt.

Dann geht es los -mit dem tränenreichen Outing: „Mama ich bin keine Frau und ich möchte ab jetzt als Mann leben. Ich bin Transgender.“ „Was ist denn Transgender?“ Beim folgenden „Shopping mit Lilly“ geht’s um den Kleiderkauf, wo neben unpassenden Größen auch andere KundInnen nerven: „Mama, was ist das da?“ – „Ich bin kein ‚Dasda‘, ich bin eine Frau.“ „Und wieso ist deine Stimme so tief?“ – „Das geht dich nichts an!“ Beim Bezahlen nörgelt der Kassierer über die Kreditkarte: „Da steht ein Männername drauf, Sie können nur mit ihrer eigenen Karte zahlen.“

Noch unangenehmer wird es für den männlichen Trans-Menschen bei der gynökologischen Untersuchung seiner zu Identität und Aussehen (noch?) nicht passenden Unterleibsorgane. Nicht viel einfacher ist die amtliche Vornamens- und Personenstandsänderung, bei der eine psychologische Begutachtung mit sehr intimen Fragen ansteht: „Und wie oft masturbieren Sie im Monat?“. Harmloser ist das Trans-Bettgeflüster und die Besuche von Party oder Fitness-Club. Ein pädagogisch wertvoller Einblick in die Mensch*innen hinter dem Gender-Sternchen, der z.B. die Frage aufwirft, ob die standardmäßig gestellte Frage nach dem Geschlecht seitens Behörden, Arbeitgebern, Firmen usw. noch zeitgemäß ist. Nach unserer „Rasse“ fragt uns schließlich auch keiner mehr (hoffentlich bleibt das auch so). Die Kultur der Digitalität braucht Diversität und Hybridisierung, die zuletzt auch unsere Körper erfasst. Vorsicht und Rücksicht sind dabei die wichtigsten Forderungen.

Peer Jongeling: „Hattest du eigentlich schon die Operation?“, Berlin: Jaja-Verlag 2020, 40 S., 11,00 Euro, https://www.jajaverlag.com/autoren/peer-jongeling/

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