11/9/24

Gerd Schumann: Patrice Lumumba

Rezensent: Thomas Barth

Gerd Schumann: Patrice Lumumba, Papyrossa Verlag, Köln 2024, 135 Seiten, 12,00 Euro

Patrice Lumumba war der erste freigewählte Premier der 1960 befreiten belgischen Kolonie Kongo, damals und noch mehr heute eine Schatzkammer an bedeutenden Rohstoffen: Coltan, Kobalt, Uran, Kupfer. Lumumbas immense historische Bedeutung ist hierzulande weitgehend unbekannt, was der Kolonialismus-Experte Gerd Schumann mit seiner Biographie des großen Staatsmannes ändern will.

Die Handels- und Ausbeutungsnetze des Kolonialismus gingen den Medien- und Kommunikationsnetzen der heutigen Digitalkultur voraus und sind ihr ökonomisch, politisch und technologisch verbunden. Rassistische Propaganda und Desinformation über koloniale Verbrechen flankieren bis heute die Ausplünderung des Südens („Dritte Welt“) durch den Westen (die „liberalen Demokratien“) medial.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir in unserem Mediensystem und auch in unserer historischen Literatur sehr viel über die Verfehlungen und Verbrechen nichtwestlicher Länder hören. Vorzugsweise trifft die Kritik solche Länder, die sich dem Westen widersetzten, besonders wenn sie sich selbst auch noch „sozialistisch“ nennen oder nannten. Sehr viel weniger hören wir über Untaten westlicher Länder, wobei derzeit immerhin Verbrechen der Kolonialzeit im Gespräch sind, etwa der deutsche Völkermord an Nama und Herero. Dabei wird jedoch regelmäßig die Frage ausgeklammert, warum die in den 1960er Jahren von der europäischen Kolonialherrschaft befreiten Länder insbesondere Afrikas trotz ihres Reichtums an Plantagen und Bodenschätzen fast alle dennoch seit über 60 Jahren in bitterer Armut verharren.

Eine platt-rassistische Weltsicht führt dies auf Defizite nicht-weißer Menschen zurück, die zu dumm oder zu faul sind, ihre Länder selbst zu regieren; westliche Mainstream-Ökonomen unterfüttern diese Ideologie mit windigen Theorien von einem „Rohstoff-Fluch“, der die an Naturschätzen reichen Länder angeblich quasi gesetzmäßig in Korruption und Armut stürzt. Beide blenden natürlich aus, dass die alten Kolonialmächte sich mit Zähnen und Klauen an ihre Privilegien klammern, also mit Intrigen, Bestechung, Erpressung, Terrorismus, Attentaten und Massenmorden. All dies versteckt man hinter einem Schirm von Propaganda, die in wechselnder Gestalt die Mär von der Zivilisation fortschreibt, die der Weiße den Farbigen gönnerhaft zuteil werden lässt, etwa als „Entwicklungshilfe“ (siehe die Kritik von Felwine Sarr).

Schatzkammer und Armenhaus Kongo

Dies gilt besonders für den gewaltigen Kongo, die Schatzkammer Afrikas, aber zugleich ein von Gewalt zerrüttetes Armenhaus. Das Wissen unserer Kultureliten über den Kongo endet oft bei Bismarcks Afrika-Konferenz 1885 und den vom belgischen König Leopold begangenen „Kongo-Gräueln“, einem der grausamsten Völkermorde der Geschichte. Vielen offenbar unbekannt ist die Ermordung von Patrice Lumumba durch westliche Schergen 1961, die unmittelbar zur weiteren und bis heute andauernden Ausbeutung und Verarmung des Landes führte: Siehe etwa die kürzlich ausgestrahlte Scobel-Sendung „Aufbruch Afrika“, die afrikanische Verelendung sehr bequem auf korrupte lokale Despoten zurückführte; es fehlte jedoch die Frage, ob diese Diktatoren durch die alten Kolonialherren an die Macht gekommen sein könnten. Schumanns Buch leistet hier dringend benötigte Aufklärungsarbeit und erklärt, wie westliche Intrigen, Interventionen und Gewalttaten den Hoffnungsträger Lumumba durch willfährige Despoten ersetzten.

Lumumba versuchte das Unmögliche, als er den Kongo vom belgischen Kolonialsystem unabhängig machen und aus der kolonialen Herrschaft befreien wollte. „Eine Treibjagd westlicher Geheimdienste folgte und endete am 17. Januar 1961 tragisch in Kongo-Katanga: Mit der Ermordung des charismatischen Redners, Denkers und erklärten Panafrikaners war ein Epochenwechsel hin zu einem vereinten, freien Afrika vorerst gescheitert. Auch das geostrategisch bedeutende, rohstoffreiche Land am Kongo-Strom würde in neokolonialen Strukturen verharren.” (Verlagstext)

Gerd Schumann zu Lumumba

Einführend beschreibt Schumann im Vorwort wie er als junger Zeitzeuge die fehlenden Reaktionen der westdeutschen Öffentlichkeit auf die Ermordung von Patrice Lumumba im Januar 1961 erlebte, wie der ganze Kontinent als primitives Buschland, bewohnt von Wilden hingestellt wurde. Das Afrikabild hierzulande sei immer noch durch die Völkerschauen Hagenbecks und andere Kolonialausstellungen geprägt gewesen: „106 nichteuropäische Menschen werden fünfeinhalb Monate öffentlich vorgeführt, die Bevölkerung glotzt wie im Zoo… und der gütige weiße Mann bringt hoch zu Ross mit Tropenhelm und in weißer Uniform die europäische ‚Zivilisation‘ in Strohhüttendörfer.“ (S.8)

Doch die Völker im Süden wollten nicht mehr so wie ihre weiße Herrschaft und der Vietnamkrieg machte die Generation ’68 hellhörig für imperialistische Verbrechen, begangen von Weißen an farbigen Menschen. Da sei Patrice Lumumba jedoch längst tot gewesen, „der erste frei gewählte Premier Kongos ermordet, sein Körper zerstückelt und in einem Säurefass aufgelöst“ (ebd.) Einzelheiten und Verantwortliche kamen erst viel später ans Licht, teils erst nach der Jahrtausendwende. Bei einer feierlichen Zeremonie in Belgien wurden Lumumbas Nachfahren erst 2022 jene Goldzähne zurückgegeben, die sich der verantwortliche belgische Kolonialoffizier aus dem Mund des Toten gebrochen hatte. Anschließend hatte er dem afrikanischen Staatsmann auch noch einige Finger abgeschnitten -ein perverses Souvenier, das deutlich dokumentiert, wer in diesem Kontext die „Wilden“ waren. Im keineswegs allzu reuigen Belgien dachte niemand an Reparationszahlungen, an die Rückgabe geraubter Reichtümer, man tat so als sei „die Horrortat ein, vielleicht durchaus schändliches, aber doch ein Kavaliersdelikt gewesen.“ (ebd.)

Rückblick: Bismarck und die Kongo-Gräuel

Im ersten Kapitel „Belgisch-Kongo“ wird erzählt, wie mit der Berliner Konferenz 1885/86 eine Schreckensherrschaft des belgischen Königs Leopold II beginnt, der etwa die Hälfte der Bevölkerung des Kongo massakrierte (S.13).

Der ehrgeizige belgische König strebte wie bald darauf Kaiser Wilhelm II nach einem Imperium nach Vorbild der Briten und Franzosen. Er engagierte im Vorfeld der Aufteilung Afrikas schon 1878 den berühmten britischen Afrikaforscher Henry Morton Stanley, um seine gewaltige Kolonie mit Gewalt, List und Tücke zu unterwerfen. Der Brite vertrat später in Berlin die belgischen Belange und Bismarck hielt es für schlau, den Kongo an das kleine Königreich zu vergeben, um die Großmächte London und Paris zu schwächen. Stanley hatte bei einer Rundreise etwa 450 lokale „Häuptlinge“ gegen die buchstäblichen Glasperlen-“Geschenke“ ihre Kreuze unter ihnen völlig unverständliche Papierstücke setzen lassen. Mit diesen „Verträgen“ befanden sich Land und Menschen somit (aus europäischer Sicht) im Besitz des Belgiers.

Gönnerhafter Kolonialismus, der sich selbstgefällig im Gefühl eigener Überlegenheit sonnt, mag das als Beweis sehen, dass diese „Wilden“ dringend europäischer Führung bedurften; psychopathischer Rassismus, der das Ziel brutaler Ausbeutung sogar realistischer sieht, wird hier stolz den schlauen Weißen preisen, der den „Primitiven“ ihr Land abgaunert. Aus Sicht der Indigenen waren die Unterzeichnungen solcher „Verträge“ wohl eher ein absonderliches Ritual der bedrohlich mit überlegenen Schusswaffen auftretenden Kolonialisten. Ein Ritual, bei dem man aus höflicher Gastfreundlichkeit teilnahm, vielleicht auch, um die darauf drängenden martialischen Fremden schnell wieder loszuwerden. Dass derartige „Verträge“ der gewaltsamen Landnahme und Versklavung der indigenen Bevölkerung als Rechtfertigung dienen sollten, war lokalen Eliten eher nicht offengelegt worden.

Leopolds Kolonialfürst Stanley ließ dann „unter Einsatz massiver Gewalt und Unterdrückung“ (S.19) Eisenbahnen zur Ausbeutung des Kongo und seiner Bevölkerung bauen, ca. 20.000 Zwangsarbeiter wurden dabei zu Tode geschunden. Ziel war zunächst Elfenbein, später Kautschuk, den Belgien an die Automobil-Industrie verkaufte. Die „Kongogräuel“ dienten der Motorisierung der reichen weißen Eliten, etwa zehn Millionen Menschen wurden massakriert, um die Fronarbeit zu erzwingen; Abertausende wurden verstümmelt, meist durch Abschlagen der rechten Hand (S.28). Der Kolonialdiktator versechzigfachte von 1890 bis 1901 die Kautschukausbeute, bis seine Gräueltaten an die Öffentlichkeit kamen, unter anderem durch den Roman Heart of Darkness (1899) von Joseph Conrad. Dann verkaufte Leopold „seine“ Kolonie an die belgische Regierung, die jedoch die Ausbeutung kaum weniger brutal fortsetzte (S.30).

Patrice Lumumba als „neuer Hitler“

Im zweiten Kapitel, „Das ganze Afrika“ versucht Schumann eine biografische Annäherung an den kongolesischen Freiheitskämpfer Patrice Lumumba. Der charismatische junge Mann beherrschte neben Französisch vier einheimische Sprachen und gehörte zu einer winzig kleinen Schicht schwarzer Kolonialbediensteter. Vom Postschalterbeamten stieg er in zehn Jahren zum Assistenten eines Soziologen auf, der den Kongo erforschen wollte. Er wurde Mitglied einer belgischen liberalen Partei und wurde 1958 Mitgründer der ersten gesamtkongolesischen Partei MNC (Mouvement National Congolais, S.44). Im Kongo gab es zahlreiche weitere, lokale Befreiungsbestrebungen. Dort fand Lumumba Mitstreiter gegen die Belgier, von denen einige ihm später in den Rücken fallen sollten. Tschombe sollte später die Provinz Katanga abspalten, Kasavubu mit den Belgiern gegen ihn putschen, mit dem späteren Despoten Mobutu glaubte sich Lumumba sogar in Freundschaft verbunden (S.49). Zunächst wollten alle Parteien und Regionen die Belgier und ihr mit Gewalt und Unterdrückung betriebenes Kolonialregime loswerden.

Die Kolonie Belgisch Kongo war inzwischen strategisch wichtiger Rohstofflieferant, was westliche Interessen um so fanatischer an einer Vorherrschaft festhalten ließ. Kongo förderte 75 Prozent der Weltkobalterze, Kupfer, Silber und sogar das Uran für die ersten Atombomben der USA. Lumumba traf den ersten Präsidenten des 1958 befreiten Ghana, Kwame Nkrumah (1909-1972) und organisierte Proteste gegen die Kolonialherrschaft Belgiens, wurde inhaftiert. Mitte 1960, die Entkolonialisierung stand bevor, denunzierten belgische Autoritäten den keineswegs marxistischen Lumumba in einer antikommunistischen Rufmordkampagne aggressiv als neuen „Hitler“ (S.53), die propagandistische Gleichsetzung von Nazis und Kommunisten war schon damals eine gängige Propaganda-Methode, die sich im ideologischen Medien-Jargon als undifferenziertes Gerede von „den politischen Rändern“ bis heute fortsetzt. In Bezug auf den eher sozial-liberal einzuordnenden Aktivisten Lumumba sollte die Propaganda damals einen mörderischen Putsch vorbereiten.

In Verhandlungen vor der Entlassung aus der Kolonialdiktatur hatten die Belgier trickreich ihre Herrschaft über Land und Rohstoffe fortzuschreiben gewusst. Schumann beschreibt wie belgische Experten in Brüssel schlecht vorbereitete und falsch informierte kongolesische Delegationen über den Tisch zogen. Deren primäres Ziel war ohnehin eine politische Befreiung, vielleicht glaubte man, die unverschämten belgischen Ansprüche auf Rohstoffe und Privilegien in der souveränen Republik Kongo dann später immer noch zügeln zu können. Doch die Westmächte dachten nicht daran, dem Land wirklich Souveränität zu gönnen, geschweige denn künftig faire Preise für die ausgebeuteten Rohstoffe zu zahlen.

Eine dem Anspruch nach demokratische Wahl (unter belgischer Aufsicht) machte zunächst Lumumbas MNC zur stärksten Kraft und ihn zum Premier. Einer Entlassung der Kolonie in die hart erkämpfte Unabhängigkeit stand nun scheinbar nichts mehr im Wege. Am 30.Juni hielt der belgische König zur Amtsübergabe des Regierungsmandats eine salbungsvolle Rede, die angebliche Zivilisierungserfolge pries, welche die Afrikaner Belgien angeblich zu verdanken hätten, aber Kongogräuel, Rassismus und Ausbeutung verschwieg. Lumumba, den man trotz seiner Wahl zum Premierminister wohlweislich nicht als Redner vorgesehen hatte, ergriff dennoch das Wort und stellte in maßvoller Kritik klar, dass man dies anders bewertet. Kapitel 3, „Glanzstück des Antikolonialismus“ referiert über vier Seiten im von Schumann aus dem Französischen übersetzten Wortlaut die historische Rede Lumumbas am Tag der kongolesischen Unabhängigkeit, ein panafrikanisches Manifest für Freiheit und Menschenwürde.

Propaganda, Putsch und Bürgerkrieg nach Jakarta-Methode

Kapitel 4, „Das Ende der Hoffnung“ erzählt von der Intrige, die Lumumba durch einen Putsch des kolonial-kompatiblen Präsidenten Kasavubu und des von der CIA gestützten Oberst Mobutu, des späteren Diktators, entmachtet hatte. Zuvor ließ man die Rohstoff-Provinz Katanga gegen Lumumbas Regierung rebellieren, um das Land in Chaos zu stürzen. Die Regierungstruppen standen immer noch unter Führung belgischer Offiziere und einer von ihnen, General Emile Janssen, wiegelte sie gegen Lumumba auf.

Es kam zu Unruhen im Land, westliche Medien berichteten über Vergewaltigungen weißer Frauen durch schwarze Männer und Fluchtbewegungen der belgischen Einwohner des Kongo (S.78). Der Premier griff ein, setzte den belgischen Armeechef ab, ernannte Major Lulunda zu dessen Nachfolger und „seinen vermeintlichen Freund Mobutu“ zum Stabschef, obwohl bereits Gerüchte über dessen Kontakt zur CIA und belgischem Geheimdienst kursierten. Eine Entlassung der belgischen Armeeoffiziere lähmte Lumumbas Truppen, da sie ohne ausgebildete Führung orientierungslos waren. Dazu kam eine perfide Kampagne mit aufgebauschten Horromeldungen in westlichen Leitmedien, die das Chaos im Land schüren sollte:

„Die Heraufbeschwörung des größtmöglichen Tabubruchs ‚Schwarzer Mann – Weiße Frau‘ erzeugte eine Massenpsychose, die zum Exodus führte, und man könnte meinen, das Szenarium sei in einem Thinktank entwickelt worden.“ (S.79)

Schumann fällt auf, dass ähnliche Putschpläne später in Argentinien, Chile, Guatemala und Indonesien von der CIA umgesetzt wurden (S.74). Er kennt offensichtlich nicht das Buch „Die Jakarta-Methode“ von Vincent Bevins, der genau beschreibt, wie dieser immer wieder angewandte Plot funktioniert; eine breite propagandistische Ausschlachtung angeblicher Sexualverbrechen gehört fast immer dazu. Vom CIA-initierten und gesteuerten „Indonesian Genocide“ (5-10 Millionen Todesopfer) bis zur politischen Verfolgung des Wikileaks-Gründers Julian Assange wurden Gewaltmaßnahmen so propagandistisch „gerechtfertigt“ bzw. massenpsychologisch möglich gemacht. Auch im Kongo heizte man rücksichtslos Hass und Gewalt an.

Dazu kam (ebenfalls Teil der Jakarta-Methode) ein Wirtschaftskrieg, der die Exporte des Kongo sabotierte und Land wie Regierung in eine finanzielle Krise stürzte. Premier Lumumba wandte sich in Radioansprachen an sein Volk, protestierte gegen die angezettelte Sezession von Katanga. Der belgische König hatte persönlich dem Separatisten Tschombe gratuliert. Die Unruhen nahmen zu. Belgien evakuierte erst 30.000 Weiße und marschierte am 10.Juli 1960 (natürlich völlig völkerrechtswidrig) in die gerade erst „entlassene“ Kolonie ein, angeblich um belgische Bürger vor dem afrikanischen Chaos zu schützen. Hafenstädte wurden bombardiert und besetzt, Westkongo unter Kontrolle gebracht.

Die UNO half Lumumba nicht

Lumumba suchte Hilfe gegen den Überfall der Belgier bei der UNO, jedoch ohne großen Erfolg. UNO-Friedenstruppen griffen nicht gegen die belgischen Angreifer durch. Als Lumumba, der keineswegs dem Marxismus zuneigte, in seiner Not schließlich Hilfe auch bei der Sowjetunion suchte, sah der Westen buchstäblich rot. Chruschtschow hatte als einziger im Sicherheitsrat den Kongo unterstützt, US-Präsident Eisenhower hatte dagegen Gespräche mit Lumumba verweigert. Schumann zitiert Peter Scholl-Latour, der Lumumba seinerzeit persönlich interviewt hatte, der berichtete, wie die CIA einen Giftanschlag auf den Premierminister vorbereitete; 1982 enthüllte „Congo-Cables“ hätten später die von Scholl-Latour berichteten Mordpläne der CIA bestätigt (S.88).

Am 5.September 1960 putschten Kasavubu und Mobutu, doch das Parlament bestätigte den Premier zwei Tage später und erteilte Lumumba am 13.September Notstandsvollmachten. Ein weiterer Putsch entmachtete den Premier „mit Unterstützung der CIA“ endgültig (S.93). Vom gewaltsam erzwungenen Hausarrest aus gelang es Lumumba jedoch, Widerstand zu organisieren und während belgische Truppen Westkongo besetzten, blieb der Ostkongo zunächst in der Hand von Lumumbisten. Das Kapitel beschreibt drastisch, wie der Hoffnungsträger, der von Felwine Sarr in seinem Manifest „Afrotopia“ neben Nelson Mandela und Kwame Nkrumah gestellt wird (S.96), von geheimdienstlichen Verschwörern schließlich nach einer gescheiterten Flucht mittels lokaler Schergen vor laufender Kamera gedemütigt, gefoltert und ermordet wurde.

Die Ermordung von UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld

Der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld hatte Lumumba im Juli zu Beratungen in New York getroffen. Hammarskjöld hätte sich dabei distanziert gezeigt, später war die Zusammenarbeit mit UN-Truppen schwierig gewesen. Hammarskjöld hatte dennoch nach dem Putsch vergeblich für Lumumba plädiert (S.93). Er starb am 18.September 1961 beim mysteriösen Absturz, wie sich später herausstellte, Abschuss seines Flugzeugs durch Katanga-Söldner „wohl auch mit Billigung der CIA“ und der Briten (S.103). Man kann annehmen, dass er den Interessen jener entgegenstand, die ungehemmten Zugriff auf die Reichtümer Kongos, insbesondere auf das kriegswichtige Uran, wollten und dafür sogar über die Leichen bedeutender weißer Männer zu gehen bereit waren.

Kritisch zu hinterfragen ist vielleicht eine ansonsten sensationelle und in anderen Kongokriegs-Darstellungen fehlende Behauptung Gerd Schumanns hinsichtlich ihrer dürftigen Quellenlage. „Ein Bruder“ von Dag Hammarskjöld sei „mit der belgischen Krone verschwägert“ gewesen, hätte Aktienpakete des wichtigsten belgischen Rohstoff-Konzerns im Kongo besessen und war sogar „einer der Direktoren der Union Miniér“, so der Name des Konzerns (S.45). Dies sollte vielleicht die anfängliche Distanziertheit des UNO-Chefs zu Lumumba und die wirkungslose UNO-Friedensmission im Kongo erklären. Eine (zugegeben kurze) Netzrecherche zeigt jedoch nur einen Bruder von Hammarskjöld, jedoch keine Verbindung von ihm zur berüchtigten belgischen Union Miniér. Als Quelle nennt Schumann dafür nur ein Buch aus der DDR: Kurt Rückmann „Schlagzeile Mord. Fälle, die die Welt erregten“ (1964). Zu dieser Zeit, im tiefsten Kalten Krieg, wurden in der DDR jedoch gelegentlich auch Desinformationen über den kapitalistischen Gegner verbreitet. Andererseits waren DDR-Bürger bei anderen Weltereignissen auch besser informiert als Westdeutsche, etwa über den im Westen totgeschwiegenen „Indonesian Holocaust“. Im Fall der Verbindung Hammarskjöld – Union Miniér ist also weitere Nachforschung nötig.

BRICS, IWF, Che Guevara und Lumumba

Kapitel 5, „Che Guevara und Lumumba“, erzählt wie eine kleine kubanische Guerillagruppe unter Che Guevara vergeblich versuchte, für die Seite Lumumbas gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Putschisten, Separatisten und andere Komplizen der westlichen Kolonialverbrecher einzugreifen. Che Guevara hätte vom Anführer der Aufständischen Kabila nicht viel gehalten. Dieser sollte 1997 nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg schließlich den prowestlichen Despoten Mobutu ablösen, aber die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen (S.117).

Das abschließende Kapitel 6, „Der Kongo und wir“, beschwört die Nachhaltigkeit von Lumumbas Ideen und kritisiert den aktuellen Umgang des Nordens mit den Reichtümern und den Arbeitskräften des Südens -etwa den ausgebeuteten Kinderarbeitern, die bis heute für Hungerlöhne das Coltan für unsere Handys aus dem Boden kratzen müssen. Hoffnungsschimmer für das Land sieht Schumann in nicht-westlichen Bündnissen wie den BRICS und in China. Dessen Investitionspläne würden jedoch vom westlich dominierten IWF torpediert, der auf die 13 Milliarden Dollar Schulden pochte, die der prowestliche Despot Mobutu hinterlassen habe, bevor der Mobutu-Clan sich mit einem Privatvermögen von mindestens vier Milliarden Dollar in die Schweiz zurückzog.

„Die vormaligen Kolonialstaaten behaupten wie einst (der belgische König) Baudouin I bei seiner fatalen Rede 1960 in Elisabethville, der Kolonialismus sei nunmehr historisch. Sie selbst seien keine kolonialen Mächte mehr, sondern hätten dem globalen Süden die Unabhängigkeit gewährt. Wenn überhaupt seien die Verhältnisse ‚postkolonial‘. Im selben Atemzug bedienen sich ‚die Ehemaligen‘ weiter ungeniert in den nun ‚unabhängigen‘ Ländern… holen sich weiterhin die Reichtümer aus dem in Armut verharrenden Süden. Derweil häufen sie unvorstellbare Reichtümer an, die jeden Menschen erschaudern lassen, weil sich hinter der ungleichen Verteilung der Güter… ein unfassbares Maß an Unrecht verbirgt.“ (S.122)

Fazit

Die Biografie “Patrice Lumumba” hinterfragt unser oft selbstgefälliges Afrika-Bild durch die Dokumentation „postkolonialer“ Staatsverbrechen Belgiens, der USA und weiterer westlicher Länder. Die brutale Ermordung des großen Panafrikaners Lumumba wird in historischen und aktuellen Kontext gestellt und ihre Bedeutung für die andauernde Ausbeutung des Kontinents und insbesondere des Kongo durch westliche Konzerne engagiert und kritisch dargestellt. Das schmale Taschenbuch im Format eines Smartphones ist jedem zu empfehlen, der einen anderen als den Mainstream-Medien-Blick auf den Kolonialismus werfen möchte.

Der Autor

Gerd Schumann, geb. 1951, lebt und arbeitet als Autor und Journalist in Berlin und Mecklenburg, publizierte Reportagen und Hintergrundberichte vom Balkan, aus der Karibik und vom afrikanischen Kontinent. Zahlreiche Reportagen, Features für Hörfunk und Printmedien sowie Buchpublikationen, darunter in derselben Buchreihe „Basiswissen“: „Kolonialismus, Neokolonialismus, Rekolonisierung“ (2014). Die Buchreihe »Basiswissen« des politisch links einzuordnenden Papyrossa-Verlags bringt in handlichem Taschenbuch-Format leicht verständliche kritische Einführungen in Grundbegriffe aus Politik, Geschichte, Gesellschaft und Ökonomie.

Gerd Schumann: Patrice Lumumba, Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie, Pocketformat, Papyrossa Verlag, Köln 2024, 135 Seiten, € 12,00 [D] ISBN 978-3-89438-829-4 https://www.papyrossa.de/neuerscheinung-112

05/24/24

Theorien des digitalen Kapitalismus

Carstensen/Schaupp/Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus: Arbeit, Ökonomie, Politik, Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2023, 533 Seiten, 28,00 Euro (Leseprobe/Inhaltsverzeichnis)

Thomas Barth

Wie kann kritische Sozialwissenschaft den digitalen Kapitalismus, heute theoretisch fassen? Wie kann sie die Frage beantworten, ob sich der Kapitalismus angesichts der gegenwärtigen Digitalisierung grundlegend verändert? Der vorliegende Band gibt einen Einblick in theoretische Analysen, Zeitdiagnosen und Debatten eines digitalen Kapitalismus. Er bespricht entlang der Felder Arbeit, Ökonomie, Politik, Kultur und Subjekt die Formen und Auswirkungen des digitalen Kapitalismus. Eine integrative Theorie des digitalen Kapitalismus scheine zwar unmöglich, gleichwohl wolle man „Verbindungen der disparaten Ansätze“ ausleuchten (Backcover). Der Begriff „Kapitalismus“ deutet es an: Die meisten Autor:innen des unübersichtlichen Sammelbandes beziehen sich theoretisch auf Karl Marx oder wenigstens auf freudomarxistische Theoretiker, etwa auf Adorno oder Habermas.

Das Taschenbuch mit einem Umfang von 533 Seiten gliedert sich in vier Kapitel mit insgesamt 25 Unterkapiteln nebst Einleitung. Die Kapitel heißen: 1. „Arbeit“, 2. „Ökonomie“, 3. „Politik und Öffentlichkeit“ sowie 4. „Kultur und Subjekte“. Die Zuordnung der Beiträge ist dabei nicht immer einsichtig, etwa wenn die sehr lesenswerten Texte von Marisol Sandoval zu digitalen Genossenschaften und Felix Stalder zu Commons und Commoning nicht unter Ökonomie, sondern im dritten bzw. vierten Kapitel landen.

Progressive Perspektive auf Digitalisierung

Eine progressive Perspektive wird markiert durch Berichte über Arbeitskämpfe gegen Digitalkonzerne, deren unethische Geschäftspolitik, feministische Beiträge zum Thema Care und Digitales sowie ökologische Kritik –bei Thomas Barth (nicht identisch mit dem Rezensenten), auf dessen Text „Nachhaltigkeit im digitalen Kapitalismus“ jedoch niemand weiter eingeht. Oft wird auch versucht, Kulturkritik am digitalen Kapitalismus zu üben, politisch die Sache der (digital) Arbeitenden gegen die Seite des (Dotcom-) Kapitals zu vertreten oder marxistische Begriffe auf die Thematik der Digitalisierung anzuwenden.

Der Marxismus wurde oft tot gesagt, erweist sich aber langlebiger als erwartet. Der renommierte Suhrkamp-Wissenschaftsverlag brachte im Herbst 2023 diesen Sammelband überwiegend marxistischer Theoretiker:innen zum „Digitalen Kapitalismus“ heraus. Deren Beiträge sind fast alle politisch links, feministisch, ökologisch, marxistisch. Aber sie dokumentieren auch eine offenbar langjährige hartnäckige Weigerung vieler Marxist:innen, sich mit politischen Debatten rund um Informationsgesellschaft, Netzwerkkultur, Web2.0 und zuletzt „Digitalisierung“ auseinanderzusetzen. Erst mit der Plattformkritik scheint hier eine Debatte eingesetzt zu haben, der aber marxistische Perspektiven punktuell durchaus nützlich sind.

So entmystifiziert und kritisiert etwa Jamie Woodcock Dotcom-Konzerne und setzt im Text „Plattformarbeit“ (S.85-101) bei Nick Srniceks „Typologie der Plattformen“ an. Plattformen profitieren von Netzwerkeffekten und ihrer Tendenz zu Monopolisierung und kämen dem nahe, was Marx einen „Kaufmannskapitalisten“ nannte, der billig kaufe und teuer verkaufe (S.90). Auf einem abstrakten Niveau werden hehre PR-Selbstdarstellungen von Woodcock auf ein simples Profitmodell zurecht gestutzt, das nur als Trittbrettfahrer des Neoliberalismus seine Erfolge feierte:. Die Zunahme der Plattformarbeit sei Teil des neoliberalen „Wandels von Arbeit, Gesellschaft und Staat“ (S.93) mit grassierender Aushöhlung von Arbeitsrechten, Prekarisierung und Abwälzung von Risiken auf die Arbeitenden. Dabei würde etwa bei Amazon Mechanical Turk menschliche Arbeitskraft als „billigere Form von Software“ ausgebeutet (S.97). „Plattformen haben sich bisher als Laboratorium für das Kapital erwiesen, könnten aber auch ein Testfeld für neue Formen des Widerstands und der Organisation von Arbeitnehmer:innen darstellen.“ (S.101)

In diesem Sinne betont etwa Simon Schaupp die Möglichkeiten von Betriebsräten, bei Digitalisierung in Unternehmen Datenschutzgesetze für die Verteidigung von Arbeitnehmerrechten zu nutzen (S.334ff.); Tanja Carstensen widmet sich dem digitalen Ringen um Handlungsfähigkeit in Kämpfen, die um gender, race, class und ability geführt werden (S.404) und kritisiert mit Nancy Fraser die idealisierte Vorstellung von Öffentlichkeit nach Habermas (S.412); das Autorentrio Nachtwey/Truffer/Seidl kritisiert den „solutionistischen Geist des Kapitalismus“, aber ohne den Transhumanismus beim Namen zu nennen (S.458ff.); Helen Hester blickt zurück auf die Geschichte des Cyberfeminismus, der Beziehung von Frau und Technik vom Flechten und Weben über die feminisierte Schreibmaschine bis zum Cyberpunk-Genre (S.424ff.), seltsamerweise ohne dabei Donna Haraway zu erwähnen, obwohl sie sich auf deren Konzept vom situierten Wissen beruft (S.434); Jodi Dean ruft zum Kampf gegen den digitalen Neofeudalismus auf, der Arbeitende zu rechtlosen Bauern in einem „Game-of-Throne-Machtkampf“ (S.439) degradiert, beruft sich dabei auch auf den sozialistischen Ökonomen Yanis Varoufakis, den griechischen Ex-Finanzminister, dessen Europa-Wahlkampf-Auftritt in Deutschland jüngst verboten wurde -was man als Zeichen feudaler Willkür sehen könnte. Aus dem Wimmelbild kritischer Ansätze wichtige Argumentationsfiguren und Diskursarenen herauszufiltern ist verständlicherweise schwierig. Eine kritische Rezension muss einige Defizite des Sammelbandes benennen.

Digitalisierung und Informatisierung

Die Einleitung klärt zunächst die Begriffe Digitalisierung und Informatisierung, wobei letzere die Vergegenständlichung geistiger, regulierend-orientierender Tätigkeiten meint. In Zeichen oder Information erlange dabei nur ein Teil menschlicher Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissens „eine eigenständige Gestalt“. Andere Kommunikationspartner:innen müssten die vergegenständlichten Informationen dann wieder in ihr Wissen und ihre Erfahrungen einbetten. Diese kooperative „Arbeit an den Zeichen“ (Fn1) bediene sich auch unterschiedlicher Informationstechniken. Informatisierung meine in einem zweiten Sinn die „Materialisierung des Informationsgebrauchs“ (Fn2) in Informationssystemen. Es ginge hier um den organisierten und vergegenständlichten Umgang mit Informationen. Digitalisierung sei demgegenüber die Formalisierung, Reduktion und Integration von Information die in virtuellen Modellen gipfle, welche Tätigkeiten, Arbeit und der Herstellung von Technik vorausgehe (S.10).

Gleich die erste Fußnote der Einleitung verweist auf einen posthum erschienenen Band mit Schriften von Arne Raeithel (1943-96) „Selbstorganisation, Kooperation, Zeichenprozess“ (1998), die zweite auf den Beitrag von Andreas Boes und Tobias Kämpf, „Informatisierung und Informationsraum: Eine Theorie der digitalen Transformation“ (S.141-161), so als hätten diese Raeithels für das Thema des Sammelbandes einschlägige Arbeiten weiterentwickelt. Leider nehmen Boes und Kaempf keinen Bezug auf Raeithel und auch sonst keiner der Beiträge -die drei weiteren Texte der Herausgeber:innen inbegriffen.

Boes und Kämpf blicken in ihrem Beitrag auf die Informatisierung als zentrales Element der Produktivkräfte, aus „historischer Perspektive“ sogar als „Teil der conditio humana“ sowie auf Information als soziale Kategorie (S.143). Wir werden sehen, dass Arne Raeithel in den 1980er und –90er Jahren die Ehre hatte, diese drei „konzeptionellen Säulen“ nicht nur als grundlegend vorauszuahnen, sondern zumindest teilweise auch bereits tiefer und detaillierter auszuarbeiten als Boes und Kämpf in ihrem Text erkennen lassen. Sie monieren am Stand der Forschung, dass wegen der Marx’schen Fokussierung auf industrielle Handarbeit die „Sphäre der Kopfarbeit“ vernachlässigt wurde. Ihr „Konzept der Informatisierung“ will „an dieser analytischen Leerstelle“ ansetzen, doch die vermeintliche Leerstelle hätte sich durch Lektüre von Raeithel mehr als schließen lassen. Ihr historischer Rückblick auf Zeichensysteme bis Buchdruck (S.150ff.) bleibt deutlich hinter Raeithels Geschichte der „symbolischen Herstellung sozialer Kohärenz“ zurück, der Vor- und Frühgeschichte bis Ethnologie aufbietet (Raeithel 1998, S.189-208) vgl. Raeithel 1996.

Die multimediale Welt des heutigen WWW konnte Raeithel noch nicht kennen, doch der von Boes und Kämpf als Fazit ihrer Analyse präsentierte, von „Bild, Ton, Zeichen usw.“ (S.154) erfüllte „Informationsraum“ überzeugt nicht wirklich: Er sei sozialer Handlungsraum, durchdringe die Gesellschaft, „eröffne das Potenzial für einen egalitären Modus der gesellschaftlichen Produktion von Wissen“ (S.158). Dies sind heute Gemeinplätze oder schon lange fragwürdig gewordene Hoffnungen der „Kalifornischen Ideologie“ des Slicon Valley (Barth 1999). Die Raummetapher für das Internet stammt aus den 80er-Jahren, der Cyberspace, den die Matrix-Filme auf die Leinwand brachten. Sie ist seit einer guten Dekade als ein Ordnungsmodell des Internets in den Medienwissenschaften kanonisiert –Raummodelle: Cyberspace, Portal, Plattform (Bleicher 2010, S.46 ff.); heute sind die Raummodelle nur noch eines von einem Dutzend Ordnungsmodelle, von „Dispositiv“ bis „Suchmaschinen“ (Bleicher 2022, S.109 ff.) –hier scheinen den Marxisten schlicht wichtige Basiskenntnisse aus der einschlägigen Nachbarwissenschaft zu fehlen. Das ist schlecht, wenn man ein nur interdisziplinär fassbares Thema bearbeiten will.

Arne Raeithel und Mark Poster als vergessene Klassiker

Thomas Barth (der Rezensent, nicht der Beiträger zum Suhrkamp-Band) zeichnete 1995 im Exkurs „Marxistische Ansätze zur Informationsgesellschaft“ die marxistische Begriffsentwicklung zur Informatisierung u.a. beim US-Marxisten Mark Poster und beim marxistischen Psychologen Arne Raeithel nach (Barth 1997, S.79ff.). Poster entwickelte aus dem Marx’schen Begriff der „Produktionsverhältnisse“ unter Bezug auf postmoderne Theorie (Baudrillard, Foucault) seinen auf die kommende Informationsgesellschaft zugeschnittenen Begriff der „Informationsverhältnisse“ -aber keiner der Suhrkamp-Beiträge bezieht sich auf Poster. Am weitesten ausgearbeitet war die marxistische Analyse der Digitalisierung, die man damals noch Informatisierung nannte, m.W. jedoch bei Arne Raeithel.

Raeithel analysierte soziale Kommunikation als Form gesellschaftlicher Arbeit, basierend auf einem vergegenständlichten Begriff von Sprechhandlungen bzw. generell von Information als Trägerin einer symbolisch geteilten Welt (Raeithel 1989). Dies greift der zweiten „Säule“ der Konzeption von Boes und Kämpf vor, Informatisierung als soziales Verhältnis und gesellschaftlichen Prozess zu verstehen, wobei Raeithel mit „Zur Naturgeschichte der Zeichenprozesse – Drei Stufen der Entwicklung von Kommunikation und Denken“ (Raeithel 1998, S.243-255) auch die dritte „Säule“, die historische Perspektive auf die informatorische conditio humana vorwegnahm. Dabei schloss Raeithel, der zu den sehr frühen Anwendern von Computer und Internet zählte und selbst programmieren konnte, ausdrücklich „rechnergestützte“ Arbeit, d.h. Arbeit im digitalen Bereich, ein (Raeithel 1992).

Raeithels Ansatz gründete auf der sowjetischen kulturhistorischen Schule von Leontjew und Wygotsky, die im Stalinismus marginalisiert wurde. Er formulierte einen Arbeitsbegriff aus, der kognitive Tätigkeit an symbolischen Gegenständen ins Visier nahm. Der so gezeichnete Arbeitsprozess zielt auf Veränderungen von Können, Begriffen und Werkzeugen, also auf die sich entwickelnde Reproduktion der inneren und äußeren Verhältnisse der Subjekte (Raeithel 1998, S.35). Raeithel ging damit bereits nicht nur über die theoretische Analyse von Boes und Kaempf hinaus, sondern bewegte sich in Bereichen, die der vorliegende Sammelband eher defizitär im Kapitel „Kultur und Subjekte“ behandelt.

Regulierung digitaler Plattformen

Ulrich Dolata und Jan-Felix Schrape entwerfen in ihrem Beitrag „Politische Ökonomie und Regulierung digitaler Plattformen“ ein –zumindest für diesen Sammelband- überraschend unkritisches, teils fast affirmatives Bild der Plattformkonzerne. Aus Sicht der Organisations- und Innovationssoziologie verteidigen sie zunächst die US-Technologiekonzerne Amazon, Apple, Alphabet/Google und Meta/Facebook gegen die Vorhaltung, dort würde in einem „asset-light-Geschäftsmodell“ weitgehendes Outsourcing betrieben (S.346). Unklar bleibt dabei, warum sie Microsoft ausnehmen. Ihre analytische Teilung von „Plattformunternehmen als organisatorischer Kern“ und der „Plattform als sozialer Handlungsraum“ scheint die Unabhängigkeit besagter „Handlungsräume“ von den Konzernen zu betonen. Das spielt deren Management in die Hände, das die Freiheit ihrer Nutzer gegenüber eigener manipulativer Eingriffe herausstellt. Dolata und Schrape erwähnen zwar das Machtgefälle zwischen Nutzer:innen und Konzernen, haben aber wenig Einwände gegen konzernseitige „lückenlose Beobachtung“ des Nutzerverhaltens, dessen Daten „zunächst als Rohmaterial anfallen“ (S.349).

Sie kritisieren den Ansatz von Shoshana Zuboff, weil deren „Überwachungskapitalismus“ bei der Entstehung dieser Daten fälschlich von „unbezahlter digitaler Arbeit“ der Nutzer ausgehe, obwohl es doch „viel trivialer“ um die „bereitwillige Offenlegung… alltäglichen Verhaltens“ ginge. Was den Nutzer:innen, die ihre „Datenspuren oft achtlos und im Vorbeigehen liefern“, entzogen wird seien wertlose Rohstoffe. Diese werden erst von den Konzernen durch „Aufbereitungs- und Veredelungsleistungen“ zur Ware erhoben. Die Konzerne erwerben damit offenbar nicht nur das ökonomische, sondern auch noch das moralische Recht, private Kommunikation als „handelbare Datensätze und personalisierte Werbemöglichkeiten“ zu Geld zu machen (S.358). Die Fixierung auf marxsche Wertlehre verstellt hier womöglich den Blick auf die Manipulation der Nutzer:innen, deren Daten nicht „achtlos im Vorbeigehen“, sondern in vorsätzlich süchtig machenden Strukturen produziert werden.

Beim Thema Regulierung sehen Dolata und Schrape die Plattformen unter „intensiver Beobachtung“ einer „politischen Öffentlichkeit“. Zivilgesellschaft und Journalisten hätten „Desinformationsdynamiken“ und „Verletzungen der Privatsphäre“ aufgedeckt –nebenbei bemerkt: in jenen Konzernaktivitäten, die Dolata und Schrape als „Veredelungsleistungen“ bezeichneten. Doch die Plattformkonzerne hätten auf die Kritik „durchaus reagiert –etwa mit Transparenzinitiativen sowie Versuchen einer institutionalisierten Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in ihre eigenen Regulierungsstrukturen“. (S.360) Beispiele nennen die Autoren nicht, daher kommt die Frage nicht auf, ob es sich dabei nur um die üblichen PR-Spektakel gehandelt haben könnte.

Felix Stalder: Plattform-Demokratie-Spektakel

Facebook wurde nach diversen Skandalen in den USA besonders das Ziel von öffentlicher Kritik. Senatsanhörungen brachten Konzernchef Zuckerberg persönlich ins Schwitzen (was sogar wörtlich stimmte: man konnte in der TV-Übertragung sehen, wie der CEO mit Schweißtropfen auf der Stirn sein Sakko ablegen musste). Dennoch bewertete Felix Stalder 2016 Facebooks Reformen der „eigenen Regelungsstruktur“ kritisch.

Facebook habe sich zwar 2009 selbst auferlegt, Änderungen der Geschäftsordnung einer Abstimmung vorzulegen, sobald 7000 Kommentare dazu abgegeben würden; doch das Quorum von 30 Prozent der User:innen wäre bis zur Abschaffung der Regel 2012 nie erreicht worden, auch weil die Konzern-Demokratie dazu neigte die Wahlurnen zu verstecken. Überhaupt hätten Anbieter wie Facebook sich bemüht „mit jeder Neuerung das Machtgefälle zwischen Nutzern und Betreibern“ zu verschärfen (Stalder 2016, S.217). Kannten Dolata und Schrape das Buch ihres Kollegen Stalder nicht?

Felix Stalder lieferte auch einen äußerst lesenswerten Beitrag zum hier besprochenen Suhrkamp-Band, der sein recht bekanntes Werk „Kultur der Digitalität“ von 2016 selbstkritisch hinterfragt. Stalders 2016 noch große Begeisterung für die digitale Allmende („Commons“) der Open-Source-Bewegung wurde inzwischen gedämpft. Der Neoliberalismus instrumentalisiere zunehmend Commons als Trostpflaster für soziale Raubzüge, etwa wenn mittels Crowdsourcing bezahlte Arbeit durch schlechtbezahlte Arbeit ersetzt würde.

Der Geist der freien Software mit Gnu-Public-Licence (GPL) würde von der Software-Industrie heute unterlaufen, indem ihre Dienstleistung über die Cloud angeboten würde –ohne den Quellcode der spezifisch angepassten GPL-Programme offenlegen zu müssen: Eine neue Form kapitalistischer Einhegung einer Allmende. Kombination mit firmeneigenem Code sei eine weitere Einhegung, etwa bei Googles dadurch nicht wirklich offenem Android-System. Kulturelles Commoning diene auf Plattformen der Kommerzialisierung von Nutzerdaten-Extraktion. Schlimmer noch:

„Aber die Einhegung findet nicht nur als Form des Datenextraktivismus statt, sondern auch durch vielfache Möglichkeiten des ‚nudging‘, das die aus Nutzer:innensicht nichtkommerzielle Tätigkeiten in für Plattformbetreiber kommerziell interessante Richtungen lenkt, mit allen problematischen Konsequenzen.“ Felix Stalder 2023, S.510

Kulturproduktion im Internet wird so hinter dem Rücken der User doch wieder für eine Kulturindustrie vereinnahmt. Da wir von der Frankfurter Schule gelernt haben, so Mark Poster 2003, wie verheerend sich die Kulturindustrie auf die Arbeiterklasse und andere demokratisierende Bewegungen auswirkt, sei es unsere Pflicht, die Möglichkeiten ihrer Technologie zu verstehen. Wir sollten lernen, wie sie bei der Konstruktion kultureller Formen eingesetzt werden können, die einer demokratischen Lebenswelt angemessener sind.

Habermas und Plattform-Kapitalismus

An den Adorno-Schüler Habermas knüpfen immerhin zwei Beiträge an: Nosthoff/Maschewski untersuchen mit einem brandneuen Habermas-Text „Plattformökonomische Öffentlichkeiten“, denen der Nestor der kommunikativen Vernunft „höchst ambivalente und möglicherweise disruptive Auswirkungen auf die politische Öffentlichkeit“ zuschrieb. Die Fragmentierung des Publikums in emotionalisierte Teilöffentlichkeiten, Fakenews, Donald Trump und Gereiztheit plagen uns: „Kommunikation und Kontrolle bilden so das dominante wie dialektische Signum der Social-Media-Plattformen: Wer die Strukturen der Kommunikation kontrolliert, definiert auch die Strukturen der öffentlichen Sphäre“ (S.371f.). Nicht, dass nicht schon vor dem Start des WWW, aus dem die Plattformen dann entsprangen, vor dem Zusammenfließen von panoptischer Kontrolle und Verhaltenssteuerung gewarnt worden wäre: Das von mir seit 1996 empfohlene Gegengift eines „Inversen Panoptismus“, einer Umkehrung der Kontrolltechnologie gegen die Machtzentren, scheint den akademischen Autoren wohl zu radikal (Barth 1996). Keiner wagt es auf den 533 Seiten, die hier profilierteste Anti-Plattform auch nur zu erwähnen –Wikileaks und ihren wegen „Geheimnisverrat“ seit fünf Jahren inhaftierten Gründer Julian Assange.

Der zweite Habermas-affine Text ist von Evan Fisher: „Algorithmen und das Selbst“ (S.514-532) und beschließt den Band. Er untersucht die Rolle des Wissens in der Ko-Konstituierung von Mensch und Maschine, wobei Plattformen als „epistemische Medien“ analysiert werden. Mit Friedrich Kittler sieht Fisher Medien als Kulturtechniken, die Wissen über das Selbst schaffen, und dem Selbst in der öffentlichen Sphäre Selbstreflexion erlauben, so Habermas. Dessen emanzipatorisches Erkenntnisinteresse leitet Fisher aus der Psychoanalyse her und verfolgt es bis in die heutige Medienwelt der Plattformen. Deren Algorithmen schaffen zwar Wissen über das Selbst, jedoch ohne Selbstreflexion wie die Psychoanalyse, die Habermas der kritischen Theorie zuordnet. So endet der Sammelband pessimistisch, wobei Fisher noch die Profit-Eigeninteressen der Plattformen unterschätzt und ihr User-Profiling als auf „quasi-freiwilliger“ Selbstbewertung sieht (S.528).

Andere Beiträge, wie jener von Felix Stalder belehren ihn jedoch eines Besseren und wenn alle versammelten Autoren den ganzen Band rezipieren und die Wissenslücken ihrer divergierenden Ansätze damit schließen würden, hätte die Debatte schon viel gewonnen. Es fehlten gleichwohl, wie in dieser Buchkritik ausgeführt, noch viele Erkenntnisse der Medienwissenschaft und aus den kritischen Diskursen der Netzkultur (-Wissenschaft). Etwa aus den Texten des -von keinem der Suhrkamp-Beiträge zitierten- Experten Geert Lovink, der es in den liberalen Niederlanden vom Aktivisten und Netzkritiker zum Professor für Kunst und Netzwerkkulturen brachte. Lovink sieht uns „In der Plattformfalle“ und plädiert seit Jahren für eine „Rückeroberung des Internets“, dabei warnt er spöttisch:

„Man sollte sich nicht in pedantischen Übungen verlieren, um akademische Territorien mit ihren Kanons und Methoden zu definieren und zu verteidigen… Wir sollten die momentane Leichtigkeit annehmen und uns über die Verwirrung unter jenen amüsieren, die versuchen, ‚Digitalisierung‘ zu kartieren.“ Lovink 2022, S.29

Nicht Marx, aber Marxisten ignorieren Technologie

Vor über 20 Jahren zeigte sich Mark Poster (1941-2012) erstaunt über das Ausmaß, in dem viele Marxisten dazu neigten, neue Technologien „fast vollständig zu ignorieren“. Diese nahmen an, dass der Kapitalismus den entstehenden Cyberspace, das Internet vollständig übernehmen würde. Poster fand das sehr überraschend, weil Marx doch stets darauf geachtet habe, die Art und Weise zu untersuchen, wie soziale Innovationen sowohl für bestehende Institutionen als auch in Richtung ihrer Infragestellung wirkten. Marx selber wäre sogar so weit gegangen, disruptiv-brutale Ereignisse wie die Zerstörung der indischen Baumwollindustrie durch britische Kolonialisten insofern zu begrüßen, als sie die historische Entwicklung zum Sozialismus fördern könnten. Das Misstrauen marxistischer Kritiker gegenüber dem Internet erschien Mark Poster daher übertrieben, besonders angesichts der Chancen progressiver Netzkultur in der Open-Source und Hacker-Szene. Sein Optimismus speiste sich aus dem, was damals als „Kalifornische Ideologie“ wegen Ignoranz gegenüber der sozialen Frage kritisiert und heute auch als Transhumanismus bezeichnet wird.

Es war die Zeit einer ersten Verbreitung von Unternehmens-Websites, gefolgt von Börsen-Hype und Dotcom-Crash 2001, als im Kampf um die Netzkultur noch vieles offen war. Für Marxisten war es damals jedoch schon offensichtlich, so Mark Poster, dass das Internet nur eine weitere Teufelei war, um die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer zu machen. Heute, nach der Durchsetzung des Plattform- oder Überwachungskapitalismus, müssen wir leider feststellen, dass die Pessimisten nicht völlig falsch lagen. Zwar hat sich die widerständige Netzkultur weiterhin gehalten, doch Dotcom-Konzerne stehen in der Öffentlichkeit und an den Börsen als Sieger da. Marxistische Kritik an der Plattform-Industrie leidet heute unter deren Ignoranz zwar nicht mehr gegenüber der Technologie selbst, aber gegenüber den sie betreffenden Diskursen. Technik- und Netzkritik, wie sie auf Netzphilosophie gepflegt wird, scheint in vielen Suhrkamp-Beiträgen leider eher unbekannt zu sein. Erst mit der Plattformkritik scheint hier eine Debatte eingesetzt zu haben, der aber marxistische Perspektiven punktuell durchaus nützlich sind.

Fazit

Leider kann der Sammelband trotz vieler herausragender Beiträge seine Versprechen nicht einlösen, vor allem nicht jenes, die „Verbindungen der disparaten Ansätze“ auszuleuchten. Schon die Gliederung in die Kapitel „Arbeit“, „Ökonomie“, „Politik und Öffentlichkeit“ sowie „Kultur und Subjekte“ überzeugte wohl nicht jeden. Abweichend davon benennen die Herausgeber:innen sie in den Titeln der Unterkapitel ihrer Einleitung „Produktivkraftentwicklung und Arbeit“, „Wertschöpfung und Ökonomie“, „Politische Regulation und Öffentlichkeit“ sowie „Kulturelle Regulation und Subjekte“. Zu Beginn der Einleitung findet sich zudem der noch weitgehender abweichende Vorschlag zur „Strukturierung des Feldes anhand der kapitalismustheoretischen Basiskategorien Produktivkraftentwicklung, Arbeit, Wertschöpfung, politische Regulation sowie Kultur und Subjekte“ (S.11).

Die nicht immer einsichtige Zuordnung der Beiträge zu diesen Kapiteln bzw. Kategorien sowie insbesondere das Fehlen editorischer Orientierungshilfen machen den Sammelband äußerst unübersichtlich. Am Ende des Buches findet sich lediglich eine Liste mit Textnachweisen für die sieben Beiträge, die keine Originalbeiträge sind. Es fehlen biographische Angaben zu den Autor:innen, Literaturlisten zu den Beiträgen, ein Schlagwort- oder wenigstens Namensregister. Es fehlt mithin alles, was der Leser gebraucht hätte, um wirklich Verbindungen der disparaten Ansätze ausleuchten zu können. Einen Überblick über die verwendete Literatur gewinnt man nur mühselig aus den weit über tausend Fußnoten. Bezugnahmen der Beiträge oder Autor:innen aufeinander sind seltene Ausnahmen, bleiben fast immer beim bloßen Namedropping -selbst bei der in den Leitmedien herumgereichten und daher schwer ignorierbaren Shoshana Zuboff. Die renommierte Havard-Professorin gehört mit ihrer Kritik des „Überwachungskapitalismus“ zu den am häufigsten zitierten Autor:innen im Sammelband, leider fast immer nur als inhaltsleerer Verweis auf das Problem der Überwachung (das damit oft als abgehandelt betrachtet wird). Eine lebendige Diskussionskultur, Diskurse und Debatten, für die es allein schon innerhalb der marxistischen Digitalisierungsforschung genügend Themenfelder gäbe, sucht man bislang offenbar weitgehend vergeblich.

Herausgeber:innen und Autor:innen des Sammelbandes

Die drei Herausgeber:innen, die selbst Beiträge liefern und gemeinsam die Einleitung verfassten, sind: Tanja Carstensen, Privatdozentin für Soziologie der LMU München und Koordinatorin des Forschungsverbunds Sorgetransformationen an der Universität Hamburg, Simon Schaupp, Gastprofessor am Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft am KIT in Karlsruhe und Oberassistent für Soziologie der Universität Basel, Sebastian Sevignani, Akademischer Rat für Soziologie der Schiller-Universität Jena. Weitere Beiträger:innen sind: Thomas Barth (mit dem Rezensenten weder identisch noch verwandt noch bekannt), Kean Birch, Andreas Boes, Florian Butollo, D. T. Cochrane, Jodi Dean, Ulrich Dolata, Emma Dowling, Marlen van den Ecker, Eran Fisher, Christian Fuchs, Helen Hester, Ursula Huws, Kylie Jarrett, Tobias Kämpf, Felix Maschewski, Oliver Nachtwey, Anna-Verena Nosthoff, Tilman Reitz, Sarah T. Roberts, Marisol Sandoval, Stefan Schmalz, Jan-Felix Schrape, Timo Seidl, Nick Srnicek, Philipp Staab, Felix Stalder, Johannes Truffer, Judy Wajcman, Jamie Woodcock.

Literatur

Barth, Thomas, Das inverse Panoptikum: Ein postmoderner Ansatz für die politische Informationsstruktur des Cyberspace, zuerst in: Informatik Forum, Nr.2 1996, S.68-71.

Barth, Thomas: Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft, Centaurus, Pfaffenweiler 1997.

Barth, Thomas: Die “Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace” und der Panoptismus der globalen Netze, in: Medienwissenschaft, Nr.4, 1999, S.402-407.

Bleicher, Joan Kristin: Internet, UVK (UTB), Konstanz 2010.

Bleicher, Joan Kristin: Grundwissen Internet, UVK (UTB), Konstanz 2022.

Carstensen, Tanja, Simon Schaupp und Sebastian Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus: Arbeit, Ökonomie, Politik, Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2023.

Poster, Mark: The Mode of Information: Poststructuralism and Social Context, Polity Press, Cambridge 1990.

Poster, Mark: The Second Media Age, Polity Press, Cambridge 1995.

Raeithel, Arne: Kommunikation als gegenständliche Tätigkeit, in: Knobloch, C. (Hg.): Kommunikation und Kognition, Nodus, Münster 1989, S.29-70.

Raeithel, Arne: Ein kulturhistorischer Blick auf rechnergestützte Arbeit, in: Wolfgang Coy et al. (Hg.): Sichtweisen der Informatik, vieweg, Wiesbaden 1992, S.125-139.

Raeithel, Arne: Selbstorganisation, Kooperation, Zeichenprozess: Arbeiten zu einer kulturwissenschaftlichen, anwendungsbezogenen Psychologie, Westdt.Vlg., Wiesbaden 1998.

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität, Suhrkamp, Berlin 2016.

Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus, Frankfurt/M. 2018.

-Siehe auch die etwas reißerische Polemik (der Kampf um Aufmerksamkeit ist hart) des Rezensenten auf Telepolis: Warum Marxisten die Digitalisierung nicht verstehen

03/14/24

Rezension Märzendorfer/Glasmeier: Eine Klavierzerlegung

Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier: smashed to pieces… Eine Klavierzerlegung / A Piano Dismantling, hg. v. Carsten Seiffarth, Textem Verlag, Hamburg 2023

Thomas Barth

Kunst und Philosophie suchen oft jenseits der Alltagswelt nach Erkenntnis: Wie Netzphilosoph Felix Stalder und Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein mit einer Performance zusammenhängen und was das mit Millenials, Snowflakes, Digital Natives und „Mr.Robot“ zu tun hat.

Der originelle Aktionskunstband funktioniert als Daumenkino im DIN-A-5-Format, das auf den rechten Seiten die De- bzw. umgekehrt Remontage des zerlegten Klaviers illustriert: Eine Performance von Claudia Märzendorfer. Die Bühne wird dabei statisch von oben aufgenommen, so dass man jeweils bis zu fünf Personen kommen, gehen und agieren sieht. Die ca. 75 Fotos zeigen die systematische Zerlegung des Instruments, bei der nur selten Schusswaffen, meist aber handelsübliche Werkzeuge, Schraubendreher, Zangen zum Einsatz kommen. Linker Hand finden sich begleitende und kommentierende Texte, insbesondere ein langer Essay von Michael Glasmeier, der den kunstgeschichtlichen Rahmen aufspannt –auch in englischer Übersetzung: „Das Buch markiert den Versuch, Kunstwerk und Bilddenken, Filmzeit und Lesezeit, Gegenwart und Geistesgeschichte in unmittelbaren Nachbarschaften reflektieren zu können.“ Prof. Glasmeier ist Kunsthistoriker, Lyriker und Ausstellungsmacher und befasst sich mit bildender Kunst, Musik, Sprache, Film, Fotografie sowie Komik, Subversion und Politik.

Neben der Bühne mit Motorroller und Klavier befindet sich, wie eingangs weitere Aufnahmen zeigen, eine seltsame Schreibmaschine auf einem Stapel Papier: Eine aus Tinten-Eis geformte Attrappe der vom Komponisten Arnold Schönberg erfundenen, aber nie gebauten „Notenschreibmaschine“, die langsam schmilzt und sich in die unter ihr aufgestapelten Notenblätter ergießt. Man ahnt: Es geht um Zeit, Musik, Mechanik und das Ringen des Menschen um Bedeutung in einer von Kultur überfluteten Welt.

In ihrem Videofilm smashed to pieces … (2018) zeigt die Wiener Künstlerin Claudia Märzendorfer die Zerlegung eines Klaviers in einem konzentrierten Live-Act, an dem acht Personen, Werkzeuge, ein Gewehr und ein Motorrad beteiligt sind. Im Gegensatz zu den zahlreichen Klavierzerstörungen – ein seit dem 19. Jahrhundert spezielles Sujet von Comedy bis zur Wiener Gruppe oder Fluxus – führt bei Märzendorfer der destruktive Akt zu stets neuen starken und überraschenden Bildfindungen und Tableaus.“ (Verlagstext)

Welt und Hand: Das Manual digitalisiert Sinnliches

Die Computertastatur, das magische Keyboard der Hacker, hat klangvolle Vorfahren in der Ahnenreihe der Tasteninstrumente. Orgel, Cembalo, das moderne Klavier digitalisierten Musik schon lange bevor Charles Babbage die erste Rechenmaschine montierte. Digitalisiert im weiten Sinne sind nach Felix Stalder Informationen, wenn sie mittels eines Systems diskreter Zeichen gespeichert werden (Stalder 2016, S.100): Bunte Scherben im Mosaik, Schriftzeichen oder eben Noten. Ab 1709, als der florentiner Instrumentenbauer Bartolomeo Cristofori (1655-1731) das Klavier erfand, werden den zarten Saiten der Muse die Noten virtuos eingehämmert. Als großbürgerliches Kulturmöbelstück, Prestige- und Kultobjekt besonders in Wien steht es, so meint Glasmeier, wie kein anderes Instrument für die KuK-Bourgeoisie und führt als Beleg Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin an. Deren Protagonistin rüttelte bekanntlich relativ vergeblich an den gesellschaftlichen Gitterstäben im bourgeoisen „Gefängnis ihres alternden Körpers“ -dem biopolitischen Dispositiv, dem das musisch-mechanische Dispositiv des Klavierkorpus zugeordnet ist (zit.n. Creutzburg S.37).

In Jelineks Roman wird das strenge Regime einer auf Status und Konkurrenz angelegten Klavierausbildung drastisch beschrieben. Die Versuche der Protagonistin, sich von der dominanten Mutter zu befreien und ihre erotischen Fantasien auszuleben, bleiben im zähen Normengefüge einer verkrusteten Gesellschaft stecken. Die masochistischen Neigungen der Klavierspielerin werden von Jelinek mit der Strenge der Musikausbildung durch ihre Mutter in Verbindung gebracht und lesen sich wie ein früher Beitrag zur Erziehungsdebatte, die später das Buch Battle Hymn of the Tiger Mother (2011) der US-chinesischen Autorin Amy Chua auslösen sollte. Gerade die autoritäre Erziehung zur klassischen Musik (Klavier und Geige) habe der Tiger-Mutter ermöglicht, so Chua, ihren beiden Töchtern Leistungswillen einzupauken.

Chua lieferte der neoreaktionären NRx-Bewegung in den USA Munition für den Kulturkampf gegen die angeblich übermäßig verhätschelte „Generation Snowflake“ der Millenials, auch Gen Y oder Digital Natives genannt. Deren von der 68er-Bewegungen geprägte Hippie-Eltern hätten ihren Nachwuchs in Watte gepackt und ihm ständig dessen Einmaligkeit (wie eine Schneeflocke) trotz tatsächlicher Mittelmäßigkeit versichert. Die neoreaktionäre Alt-Right-Bewegung beruft sich auf Film und Buch „Fight Club“, wo so benannte Snowflakes brutal zu Kämpfern umerzogen werden. A.N.Smith sieht als Reaktion der Kabelsender auf Annahmen über die Persönlichkeiten, Vorlieben und Verhaltensweisen von Millenials bzw. Snowflakes die TV-Serie „Mr.Robot“. Bei Mr.Robot steht ein Digital Native als Hacker im Mittelpunkt, der sich -was als Antwort auf „Fight Club“ gelesen werden kann- trotz psychischer Probleme und Sensibilität zu wehren versteht. Im deutschen Kino setzte sich Oskar Roehlers Film Tod den Hippies! Es lebe der Punk! mit der Problematik auseinander.

Im deutschen Diskurs wurde Chua unter dem Topos einer „Rückkehr des Rohrstocks„, d.h. von Zucht und Ordnung in der Erziehung diskutiert und fand konservative wie leistungsorientierte Anhänger (Springer-Zeitung „Die Welt„). Wenn sich in Märzendorfers Performance aggressive Impulse gegen das Klavier richten, erfüllen sie den Wunsch nach biopolitischer Rebellion und stehen überdies in langer künstlerischer Tradition. Das Backcover zitiert Emerson zweisprachig nach Musil:

Ralph Waldo Emerson 1857

»Die Dinge, die durch den Dunst von gestern
so gewaltig erschienen – Eigentum, Klima,
Erziehung, persönliche Schönheit und anderes
mehr, haben ihre Verhältnisse merkwürdig
verändert. Alles, was wir für fest hielten,
schwankt u. klappert …«

“The facts which loomed so large in the fogs of
yesterday,—property, climate, breeding, personal
beauty, and the like, have strangely changed their
proportions. All that we reckoned settled shakes
and rattles …”

Ralph Waldo Emerson (zitiert von / quoted by Robert Musil)

Im April 1959 hätten, so Glasmeier, die skandalisierten Künstler der Wiener Gruppe daher durch Fechtmasken geschützt (und, wie der Rezensent anmerken möchte, als Burschenschaftler maskiert) mit Beilen ein Instrument zerlegt. Friedrich Achleitner fuhr dazu mit einem Motorroller auf die Bühne, was 2018 von der destruierenden Claudia Märzendorfer referenziert wurde: Die Wiener Künstlerin Nicole Six durfte bei dieser Klavierzertrümmerung auf der Vespa vorfahren und zückte, weil Künstler sich gerne gegenseitig übertreffen, ein Gewehr, um mit zwei Schüssen ins geöffnete Piano den Reigen der Gewalt zu eröffnen. Danach erfolgt die systematische Demontage, einer Vivisektion am Instrument gleich -womit die Performance gleich noch symbolisch das beliebteste Mediengenre nachstellt: Den Fernseh-Krimi: Ein Schuss, ein Schrei und alles Weitere nach der Obduktion, bis das Kleinbürgertum vor der Mattscheibe am Ende den Übeltäter in Handschellen vom Polizisten abgeführt sieht und mit zwei Lektionen in den süßen Schlaf sinken kann: Fürchte deinen Nächsten, er könnte ein Mörder sein, und nur die Staatsgewalt steht zwischen dir und dem Chaos. Chaos verbreiten gerne Künstler als Bürgerschreck, wie z.B. auch Fluxus. Fluxus, die Künstlergruppe, der auch Nam June Paik angehörte (der bei Netzphilosoph Felix Stalder als Nestor elektronischer Medienkunst herbei zitiert wird), sprach einst vom Kampf gegen die Bürgermusik.

Lustvolle Zerstörungsorgien treffen schon seit Stummfilmzeiten gerne das Klavier, Resonanzmöbel und absoluter Klangkörper. Neben seiner pompösen Bürgerlichkeit wäre so das Instrument für anarchische Zweckentfremdung prädestiniert „…zumal die immense Spannung, die vor allem beim Flügel auf die Saiten ausgeübt wird, es trotz seiner eher behäbigen Erscheinung ständig im übernervösen Zustand kurz vor dem Zerspringen hält.“ (S.42) Futuristen, Dadaisten und kreative Musiker wie John Cage hätten sich daran ausgetobt.

Und der destruierte Mechanismus der kulturgeschwängerten Bourgeoisie lässt sich im mechanischen Remix sogar wie ein sphärisches Netz verspinnen: US-Künstler Terry Fox löste in den 1970er- und 80er-Jahren Klaviersaiten aus dem Korpus, um damit sein Atelier, Museen und Kirchen zu bespannen, bespielen und zur Resonanz zu bringen. Seine gesponnene Sphärenmusik erinnert an andere, intellektuell-paranoide Netze, die der Konspirationskünstler Mark Lombardi mit Tinte auf Papier zeichnete: Organigramme von Politik, Geheimdiensten und Finanzwelt, deren düstere Partitur unsere Netzgesellschaften mit ihren Netzen der Macht erfüllt (wie wiederum Netzphilosoph Felix Stalder darlegt).

Die Künstlerin arbeitet „mit Installationen, Film als Skulptur, Fotografie, Zeichnung, Klang und Text. Ihre Arbeiten verfolgen eine konzeptuelle Strenge und werden häufig in Schwarz und Weiß ausgeführt. Märzendorfer arbeitet mit analogen Techniken im Digitalzeitalter, beschäftigt sich mit Archiven und macht ortsspezifische Installationen.“ (Wikipedia)

Märzendorfers Aktionen schaffen dagegen ihre eigene Welt und Glasmeiers Kommentar spannt den Bogen über Johann Sebastian Bach, Kaiser Franz Josef, und Samuel Beckett bis zum Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, den er zitiert: „Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.“ (S.94)

Die feinen Mechanismen von Märzendorfers dekonstruiertem Klavier blieben in diesem Sinne „allein als Metaphern einer schöpferischen Taktilität präsent, die nunmehr auch ohne den Umweg über die schon von Shakespear erotisierten Tastatur an die Plastizität des Korpus selbst delegiert ist: …Es ist eine Tastatur, ohne die gerade in diesen Hochzeiten der Digitalisierung… überhaupt nichts läuft… (S.30)

How oft when thou, my music, music play‘st
Upon that blessed wood whose motion sounds
With thy sweet fingers when thou gently sway’st
The wiry concord that mine ear confounds…
William Shakespear, 128.Sonett

Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier: smashed to pieces… Eine Klavierzerlegung / A Piano Dismantling, hg. v. Carsten Seiffarth, Campo Bd.5, Textem Verlag, Hamburg 2023, 176 S., 18,00 Euro, ISBN: 978-386485-295-4 (siehe auch gekürzte Rezension auf socialnet)

Creutzburg, Astrid: Gewalt und Macht: Hierarchiestrukturen in den Romanen Elfriede Jelineks, unveröffentlichte Magisterarbeit, Hamburg 1992

Anthony N. Smith: Pursuing „Generation Snowflake“: Mr. Robot and the USA Network’s Mission for Millennials. In: Television & New Media, 24. Juli 2018 abstract

Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016

02/26/24

Rezension – Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet

Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet. Perspektiven der Medien- und Kommunikationswissenschaft, München 2022

Rezensiert von Thomas Barth

Für jüngere Generationen hat es das Fernsehen als dominierendes Leitmedium längst abgelöst: Das Internet ist als digitale Parallelwelt aus dem Alltag vieler Menschen nicht mehr wegzudenken. Bleicher legt den Fokus auf medienhistorische und ästhetische Aspekte der Angebotsstrukturen des Internets und macht damit plastisch, wie das Netz seine Sogwirkung auf die Nutzer stetig erhöhte. Sie scheut dabei auch vor politisch heiklen Aspekten wie der staatlichen Unterdrückung der Whistleblower-Plattform Wikileaks und der juristischen Verfolgung ihres Gründers Julian Assange nicht zurück, bleibt gerade dort aber lückenhaft.

Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher lehrt am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg. 2009 veröffentlichte sie mit „Poetik des Internets: Geschichte, Angebote und Ästhetik“ eine der ersten geisteswissenschaftlichen Gesamtdarstellungen der Netzmedien, 2010 folgte die Kurzfassung „Internet“, die ihre „Poetik“ straffte und systematisierte. Mit dem vorliegenden Band folgt eine stark erweiterte und aktualisierte Fassung. Ein Vorwort, zwölf Kapitel mit je eigenen Literaturlisten und ein Fazit geben eine umfassende Übersicht. Die Orientierung erleichtern ein Register sowie eine vorangestellte „Zeittafel zu Meilensteinen der Entwicklung des Internets“: Von Vannevar Bush’s Memex-Modell 1945, dem ArpaNet 1969 und TCP/IP 1978, über den Start des WWW 1991 und das Vorgehen von Behörden gegen Wikileaks 2010 bis zur Google-KI AlphaGo und TikTok 2016 sowie der Umstellung der Newsfeeds von Facebook auf die Bevorzugung von Beiträgen der Nutzer 2018. Kapitel 1 „Was Sie vorher wissen sollten“ verweist kurz auf die rasante Dynamik der Internetentwicklung, die viele Details schnell überholen und stetig weitere Forschung erfordern wird, sowie auf die brisanten politischen Dimensionen und wachsende Kritik an netzbezogenen Entwicklungen, die sich etwa bei Shoshana Zuboff und ihrer Streitschrift gegen den „Überwachungskapitalismus“ (2018) zeigen.

Kapitel 2 „Einführung in Theorien, Forschungsschwerpunkte und Methoden“ widmet Zuboff gleich den (nach dem basalen Technikbegriff) zweiten der didaktisch knappen „Gut zu wissen“-Kästen, die im Buch Wichtiges einprägsam markieren (S.21). Nach Prosumer-Kultur, Medialität und Privatheit zeigt das Kapitel Bezüge der Netzkultur zum Posthumanismus und betont Donna Haraways „Cyborg Manifesto“, das 1985 die Hybridisierung von Mensch und Maschinenwelten vorwegnahm (S.26). Über Baudrillards „Simulakrum“ (Blendwerk) -Kritik bis zu Politik-, Wirkungs- und Nutzungstheorien führt Bleicher in ihre Darstellung ein.

Kapitel 3 „Internet: Infrastruktur, Lebenswelt und Medium“ zeigt das Internet als Lebenswelt und Kulturraum, als Medium mit neuen Sozialen Medien, warnt vor dem Wegfall der bisherigen „Gatekeeper“-Funktion der Leitmedien, die der Verbreitung von Fake News den Boden bereite (S.44). Kapitel 4 „Technische, ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen“ beginnt bei den Netzwerkstrukturen des Internets vom Darknet über Onlinemonopole etwa von Alphabet (Google), Meta (Facebook) und Amazon (S.53). Unter Verweis auf Zuboff kritisiert Bleicher deren Geschäftsmodell des Datenhandels bis hin zum Verkauf von Facebook-Daten an die Skandalfirma Cambridge Analytica (S.58). Sie verweist auf Regulierungsbestrebungen sowie die „Amateur:innenkultur als Gegenbewegung zur Ökonomisierung“ (S.61).

Im Kapitel 5 „Historische Entwicklung des Internets“ finden wir eine (zumindest in der deutschen Medienwissenschaft) selten kritische Darstellung der Sozialen Medien, in der die öffentlich nahezu tabuisierte Whistleblower-Plattform Wikileaks gewürdigt wird:

„2006 erfolgte die Gründung der Enthüllungsplattform Wikileaks mit dem Ziel der Veröffentlichung von Dokumenten, die der staatlichen Geheimhaltung unterliegen. Diese Dokumente und Videos verdeutlichten den Machtmissbrauch und die Verletzung von Menschenrechten. Aufgrund von Regulierungen ist seit 2010 ein Datentransfer zu Wikileaks nicht mehr möglich. Der Mitbegründer Julian Assange wurde juristisch verfolgt und flüchtete in eine Botschaft, in der er 2019 festgenommen wurde und noch Anfang 2022 in der Abschiebehaft auf seine Auslieferung wartete.“ (S.79) (Hier ist die Autorin offenbar leitmedialer Falschdarstellung aufgesessen: Wikileaks war auch nach den US-Angriffen 2010, die es kurzfristig lahmlegten, weiterhin aktiv. Zahlreiche weitere Enthüllungen wurden jedoch medial totgeschwiegen, unten mehr dazu).

Kapitel 6 zeigt „Ästhetik und Design des Internets“ Einflüsse von Medienkunst, Netzkunst und digitaler Bildästhetik, Webdesign, Seitenstruktur bis hin zu eingebundener Bewegtbildästhetik und Sound. Über Meme und Selfieästhetik, Mashup, Podcast und Online-Werbung zeigt Bleicher traditionelle Medieneinflüsse sowie neue Qualitäten der Netzmedien auf.

Ordnungsmodelle des Internets

Kapitel 7 „Ordnungsmodelle des Internets“ versucht das Kaleidoskop der Netzkultur zu systematisieren, wobei die technische Basis, Unternehmensstrukturen, Sortierungsprinzipien der Inhalte (Flow, Stream, Raster, Raum) sowie Navigations- und Distributionsmodelle dafür Ansatzpunkte liefern. Beginnend mit dem „Dispositiv Internet“, mit dem Knut Hickethier 1995 an Michel Foucaults Diskurstheorie anknüpfend die Angebotsstrukturen analysierte (S.110), über Hypertext und Hypermedia, die Distributionsmodelle der Plattformen bis zu den bedeutsamen Raummodellen.

Diese begannen mit dem Begriff des „Cyberspace“ aus William Gibsons SF-Roman „Neuromancer (1984), der eine „virtuelle Gegenwelt“ bezeichnete (S.119), die sich in von Avataren bevölkerten Online-Welten wie Second Life und den Kultur- und Spielräumen Sozialer Medien manifestiert.

Navigations- und Orientierungsangebote liefern Suchmaschinen, Spider, Crawler und Robots (Programme, die im Netz Inhalte, Quellen und Links erkennen und indizieren, S.126).

Die Kapitel 8-11 zeigen Angebotsschwerpunkte des Internet wie Information, Dokumentation, Wissen, Unterhaltung (Musikvideos, Comedy, Spiele, Sport, Pornografie), Kultur („Grenzgänge zwischen Fakten, Fiktion, Literatur, Theater, Kunst“) sowie den Angebotsschwerpunkt Werbung, PR, politische Kommunikation, Influencer:innen-Marketing. Dort warnt ein „Gut zu wissen“-Kasten vor Cookies und ihrem uns ausspionierenden Profiling: „Sie durchsuchen Festplatten der Nutzer:innen nach relevanten Daten über Interessen und Konsumverhalten. Auch Posts in sozialen Medien liefern Verhaltensdaten, die an werbetreibende Unternehmen verkauft werden (vgl. Zuboff).“ (S.175)

Kapitel 12 erörtert abschließend die „Nutzungs- und Wirkungspotenziale des Internets“ ausgehend von neuen Potentialen zur Nutzerpartizipation durch individuelle Medienproduktion im Internet. Die virtuelle Identitätskonstruktion im Netz erlaubt veränderliche Selbstkonzepte und als „posthumane Akteur:innen agieren und kommunizieren Bots, Trolle und Influencer:innen-Avatare“ (S.188). Ist das Internet der Öffentlichkeitsraum der digitalen Gesellschaft? Wenn ja, dann kein ungefährlicher: „Gezielte Desinformation etwa in Form von Fake News oder Verschwörungsmythen gilt als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Demokratie… Propagandistische, antidemokratische Bewegungen versuchen in sozialen Medien und Messengerdiensten wie Telegram durch gezielte Fake News (wie etwa kriminelle Aktivitäten von Flüchtlingen) die Demokratiefeindlichkeit der Bevölkerung zu fördern.“ (S.189) Auf der anderen Seite gibt es Ansätze zu E-Democracy und die „Weisheit der Masse“, die sich etwa bei Wikipedia entfaltet und im Sinne einer Informationsgesellschaft „den fast unbegrenzten Zugang ihrer Mitglieder zu Informations- und Wissensbeständen aller Art“ verspricht (S.194). Unter „Probleme der Globalisierung“ zeigt Bleicher die digitale Spaltung, die sozial benachteiligte Menschen, Länder und ganze Kontinente aus der Wissenskultur ausgrenzt; bezüglich der „Konflikt- und Problempotenziale des Internets“ warnt sie vor Wirklichkeitsverlust, Suchtverhalten, Manipulation, Urheberrechtsverletzungen, Datenhandel, Hass- und Onlinekriminalität. Sie beschreibt die politischen Probleme der Regulierung und verweist auf die Macht der digitalen Großunternehmen, Google lehne eine Regulierung etwa ab, neoliberale Politik habe deren Machtzuwachs gefördert: „Deregulierungen ermöglichten u.a. in Großbritannien und den USA die Ausweitung des digitalen Kapitalismus bei gleichzeitig wachsender sozialer Ungleichheit. Ideologien wie der Neoliberalismus erklären diese Ungleichheit durch individuelle anstelle von gesellschaftlicher Verantwortung.“ (S.199) Ökonomismus und eingeschränkte Regulierung zeitige nicht zuletzt auch Onlinekriminalität, was große Herausforderungen an die Medienethik bringe. Denn das Internet erweise sich als Katalysator gesellschaftlicher und kultureller Dynamik in der immer mehr dominierenden Digitalisierung unseres Lebens (S.205).

Diskussion

Joan Kristin Bleicher scheut wie schon in ihrer „Poetik des Internets“ nicht die Hybris, ein in rasanter Entwicklung prosperierendes Medienfeld in seiner Gesamtheit zu analysieren und übergeht auch kritische Themen nicht völlig. Eine breite Quellenrezeption geht zuweilen mit mangelnder Rezeptionstiefe einher, so scheint Bleichers Darstellung von Felix Stalders Theorie einer Kultur der Digitalität unzulässig verkürzend: Stalders Theorie sehe diese Kultur „auf Grundlage einer einheitlichen digitalen Speicherung“ (S.23). Stalder verwahrte sich jedoch in seinem Buch gerade gegen eine Fixierung der Perspektive auf die (digitalen) Technologien und Medien (siehe Rezension von T.Barth). Stalders Prinzip der Referenzialität, ein Kern der Kultur der Digitalität, mit Mashup und Remix als ästhetische Prinzipien, scheint Bleicher so sehr überzeugt zu haben, dass sie es gleich mit zwei „Gut zu wissen“-Textboxen zu „Mashup-Ästhetik“ würdigt (S.94, 104), aber ohne Referenz auf Stalder. Bleicher selbst zeigt Mashup virtuos auf Textebene durch Remix von Textschnipseln aus ihren beiden vorgängigen Internet-Monografien im vorliegenden Band. Der Hinweis etwa auf Donna Haraway „Die Neuerfindung der Natur“ fand sich in der „Poetik des Internets“ (Bleicher 2009) auf S.174 im Kapitel „Wirkungspotentiale“ unter Wissensgesellschaft; in „Internet“ (Bleicher 2010) taucht Haraway bereits im Eingangskapitel „Rahmenbedingungen und Funktionsweisen“ auf (S.10); in „Grundwissen Internet“ 2022 bringt es Haraway sogar auf eine „Gut zu wissen“-Box zu ihrem Cyborg-Manifesto im Kapitel „Theorien, Forschungsschwerpunkte und Methoden“ unter Posthumanismus (S.26) sowie auf eine Erwähnung im Kapitel „Infrastruktur, Lebenswelt und Medium“ unter Medientheorie (S.47). Besser lässt sich die von ihr beschriebene Mashup-Kombination von „Material zu neuen Bedeutungseinheiten“ (S.104) kaum demonstrieren.

Leider bleibt politisch Brisantes an wichtigen Punkten eher weichgezeichnet (vor allem verglichen mit Stalder), das Stichwort „Datenschutz“ fehlt im Register ebenso wie „Privatheit“ und „Propaganda“. Bleichers Darstellung von Wikileaks erweckt sogar den falschen Eindruck, die Plattform wäre 2010 „aufgrund von Regulierungen“ stillgelegt worden (S.79). Damals gab es Angriffe durch Geheimdienste auf Wikileaks, die aber nur zu zeitweise eingeschränkter Aktivität führten (vgl. Rueger 2011). In den Leitmedien wurden allerdings den medial gehypten Irak- und Afghanistan-Leaks folgende Enthüllungen verschwiegen. Auch die mediale Denunzierung von Assange lässt Bleicher aus, obgleich sie nach der Untersuchung von Nils Melzer (2021) als konstruierte Hetzkampagne gelten können: Der diffamierende „Vergewaltigungsverdacht“ gegen Assange erwies sich dem UNO-Experten Melzer nach als Justizintrige. Unscharf blieb auch der Cambrigde Analytica-Skandal: Bleicher erwähnt nicht, dass Donald Trump den Internet-Manipulationen zumindest teilweise seinen Wahlsieg 2016 verdanken dürfte. Auch Bleichers Verweise auf Zuboffs Überwachungskapitalismus sind ausbaufähig, dort liegt das Potential einer völlig neuen Palette von Ordnungsmodellen des Internets, die auf diverse und stetig wachsende Kontrollmöglichkeiten reflektieren.

Fazit

Das systematisch und didaktisch durchdachte Buch stellt zentrale Aspekte der Medialität des Internets umfassend dar. Im Fokus stehen Rahmenbedingungen, historische Entwicklung und Angebotsschwerpunkte, beleuchtet werden theoretische Fragen, Ästhetik, Nutzungs- und Wirkungspotenziale des Internets sowie Regulierungsansätze. Mit seinem einführenden Charakter richtet sich das Buch primär an Studierende der Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaften, aber auch an Interessierte anderer Fachrichtungen.

Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet. Perspektiven der Medien- und Kommunikationswissenschaft, utb, UVK Verlag, München 2022, 230 S., 26,90 Euro. ISBN: 9783825259099

Nils Melzer: Der Fall Assange. Geschichte einer Verfolgung, München 2021.

Gerd Rueger: Julian Assange -Die Zerstörung von Wikileaks, Hamburg 2011.

Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwchungskapitalismus, Frankfurt/NY 2018.

10/12/23

Ideologiekritik: Neoliberalismus – Reimers „Der absurde Kapitalismus“

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Rezension von Thomas Barth

Kann der Marxismus heute noch zu einer Kritik der Netzgesellschaften beitragen? Jürgen-Michael Reimer meint ja und legt eine philosophisch-politökonomische Analyse der Absurdität unseres digitalisierten Kapitalismus vor. Bei Marx, Adorno und Camus sucht er nach Antworten für unsere Krise und deren Unsichtbarkeit in Medien, Netzen und Denken.

Bestellen wir die Apokalypse bei Amazon?

Immer wieder, so Reimer einleitend, tauche in Gesprächen über die Klimakrise ein absurder Gedanke auf: Wir könnten uns heute in unseren westlichen Gesellschaften zwar das Ende der bewohnbaren Welt vorstellen, nicht aber das Ende des Kapitalismus. Thema des Buchs ist folgerichtig die Absurdität unseres Wirtschaftssystems, insbesondere des heutigen neoliberalen Kapitalismus. Der habe sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertige, er habe ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus habe er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruhe, und in diesem Sinne sei er absurd. Dieser Kritikansatz ziele nicht auf ethische oder moralische Verfehlungen des Neoliberalismus, sondern auf seine Dysfunktionalität.

Prof. em. Jürgen-Michael Reimer, studierte Sozialwissenschaften in Hamburg und Göttingen, lehrte „Human Ressource Management“ an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg und erweist sich im vorliegenden Buch als origineller Vertreter einer marxistischen Politökonomie auf der Höhe der Zeit was Digitalisierung, sogenannte „Soziale Medien“ und Plattformkonzerne wie Apple, Microsoft, Facebook, Google oder Amazon angeht.

Besagte Verheißungen, mit denen sich der neoliberale Kapitalismus rechtfertigt, erweisen sich Reimers Analyse als pure PR: Wohlstand für alle und Gerechtigkeit werden in absurder Weise konterkariert, Bildungs- und Gesundheitswesen ausgehungert, Natur und Klima verwüstet und selbst mit dem“ liberalen Markenkern“ der Freiheit ist es nicht weit her. Im Gegenteil, neoliberale Regime bedienen sich ausgiebig modernster digitalisierter Massenmanipulation: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen“ (S.93).

Es etabliere sich eine neoliberale „Marketinggesellschaft“, die auf großflächige Manipulation des Bewusstseins setze und uns mit kulturellen und affektiven Gütern abspeise. Digitale Plattformen stellen dabei etwa über Influencerinnen Märkte der Eitelkeiten und des Sozialprestige bereit, wo mit Selfies und Partnerbörsen um Aufmerksamkeit gebuhlt würde und Luxusgüter immer größeren Raum einnehmen. „So treffen zwei unvereinbare Imperative -Lohnverzicht und unbegrenzter Konsum- im Individuum aufeinander. Das große Paradox!“ (S.102) Ergebnis sei sich ausbreitende Entfremdung, die zunächst klassisch marxistisch erläutert und dann auf den Neoliberalismus bezogen wird: „Auch das Absurde lässt sich als Entfremdung deuten“ (S.108) Die „Auswüchse des auf Algorithmisierung beruhenden digitalen Kapitalismus“ sieht Reimer schon bei Horkheimer/Adorno und ihrer „Dialektik der Aufklärung“ vorausgeahnt.

Der neoliberale Kapitalismus hat sich nicht nur als unfähig erwiesen, die Verheißungen zu erfüllen, mit denen er sich rechtfertigt, er hat ihre Erfüllung sogar verhindert. Darüber hinaus hat er daran mitgewirkt, die Voraussetzungen zu zerstören, auf denen er beruht. In diesem Sinne ist er absurd. Die in dem Essay entfaltete Kritik am Neoliberalismus ist funktionalistisch und macht diesen als interessengeleitete Ideologie kenntlich.“ (Klappentext, PapyRossa Verlag)

Die Entwicklung des Geistes des Kapitalismus in der vorindustriellen Zeit wird vom Reimer beginnend bei Aristoteles bis zu Marx, Weber und Sombart nachgezeichnet. Letzterer sah den Luxus als Bedingung der Entstehung des kapitalistischen Geistes, wobei mit Weber (protestantische) Askese als weitere Wurzel dazu gedacht werden muss. Die Vorgeschichte des Neoliberalismus wird in marxistischer Begrifflichkeit analysiert und als ihre Folge die Pervertierung heutiger Lebenswelt herausgearbeitet:

„Als seine zentralen Merkmale werden sowohl die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation als auch deren Ausuferung zu einer ‚gesellschaftlichen Grammatik‘ herausgestellt, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränkt.“ (Klappentext)

Neoliberalismus, Staatsverachtung und machtbesoffene Konzerne

Seit den 1970er und -80er Jahren trat der neoliberale Kapitalismus seinen Siegeszug an, da mit Überproduktion und Legitimationsverlusten Krisenerscheinungen zu überwinden waren. Diese wurden der Akkumulationslogik im Sinne des Nutzens einer kleinen Minderheit von Kapitaleignern immer gefährlicher. Bereits in der Ideologie des Kapitalismus verschleierte der Liberalismus die ökonomischen Kerninteressen dieser Minderheit mit dem hehren Wert der Freiheit. Die liberalen Wurzeln des Neoliberalismus zielen auf Marktfreiheit, die eine Reduktion staatlicher Macht ins Zentrum rückt. Milton Friedman habe vertreten, dass Freiheit da beginne, wo die Politik aufhöre. Hannah Arendt habe dem entschieden widersprochen, Freiheit sei der Sinn von Politik, den der neoliberal erstrebte „Minimalstaat“ (Hayek, Nozik) schwerlich einlösen könne.

Die Haupttugenden einer freiheitlichen Gesellschaft seien nach John Rawls, so Reimer, Wahrheit und Gerechtigkeit, wobei jeder gleiche Grundfreiheiten habe und wirtschaftliche Ungleichheit so zu gestalten sei, dass sie dem Gemeinwohl diene. Dem stehen die Doktrinen des Neoliberalismus entgegen, die ausgehend von der Mont Pèlerin Society (Hayek, Popper, Friedman u.a. 1947), 1973 in der Pinochet-Diktatur in Chile erstmals umgesetzt wurden. In USA und UK folgten Thatcher und Reagan diesem Beispiel und 1989 wurden im Washington Consensus die neoliberalen Leilinien festgelegt, an denen sich auch IWF, WTO und Weltbank orientiert hatten: Reduktion der Staatsquote, Steuersenkung, Privatisierung von Staatsbetrieben, Deregulierung vor allem der Finanzmärkte, Investorenschutz. Diese Doktrinen finden sich in Austeritätsprogrammen im Euroraum unter Stichworten wie Fiskalpakt, Schuldenbremse, Privatisierung. Neoliberaler Marktradikalismus und Antikollektivismus (wurzelnd in der antikommunistischen McCarthy-Bewegung der USA) laufen damit auf eine Schwächung des Staates hinaus, deren Hauptmethode die Privatisierung sei. Zu ihrer Rechtfertigung diene die Krise der Staatsfinanzen, deren Ursache nicht in neoliberalen Steuersenkungen gesehen, sondern als „Demokratieversagen“ umgedeutet werde.

Die unermüdliche Lobbyarbeit des neoliberalen Kapitals ziele hierzulande vor allem auf die Privatisierung von Post, Verkehr, Bildung, Gesundheit, Wohnen und Daseinsvorsorge. Der Ausverkauf des Staates erfolge auch durch ppp (public privat partnership -eine Erfindung der bereits vor der Jahrtausendwende zunehmend neoliberal agierenden Grünen in ihrer ersten Regierungsbeteiligung unter Schröder. Manipuliert werde durch subtiles deep lobbying, etwa mit der Platzierung von Leihbeamten aus Privatunternehmen in Ministerien (hier waren ebendiese Grünen ebenfalls federführend und schufen Querverbindungen von Großkapital und Ökopartei-Spitzenpolitiker:innen), staatlicher Beauftragung privater Berater, Formulierung von Gesetzen durch Anwaltskanzleien usw.

Die neoliberale Finanzialisierung der Märkte hätte etwa in Finanz- und Griechenlandkrise (2008 ff.) großes Unheil bewirkt, neoliberale Digitalisierung hätte unsere Daten in kognitive Güter verwandelt, Überwachung dabei die Freiheitsrechte ausgehöhlt (Zuboff) und Leitunternehmen wie Google, Apple, Facebook, Amazon wären inzwischen zu proprietären Märkten (in Privatbesitz) geworden. Der neoliberal regierte Staat habe die Besitzenden und Unternehmen „gepampert“, durch „mehrfache und deutliche Reduzierung des Spitzensteuersatzes der Einkommenssteuer. Die hätten sich durch immer weitergehende Steuervermeidung selbst der niedrigen Steuern bedankt, bis hin zu den „extremen Cum-Ex-Skandalen“, wo kriminelle Bereicherung die Staatskasse 10 bis 30 Milliarden Euro gekostet habe (S.80). Was den Autor zur Frage führt, wie lange wir uns den Kapitalismus noch leisten können.

Die Legitimierung und Einhegung wirtschaftlicher Macht durch demokratischer Prozesse sei im Neoliberalismus nicht erwünscht (der Leser wird an die erste Anwendung neoliberaler Dogmen in der Pinochet-Diktatur erinnert). Sogar die Märkte selbst gerieten bei digitalen Plattformkonzernen in das Eigentum des Kapitals. Folge sei eine Entmachtung der Arbeitnehmerseite im Wirtschaftsprozess, eine Senkung der Lohnquote im BIP und die Demokratisierung betrieblicher Entscheidungen „steht nicht einmal zur Diskussion“ (S.94).

Der Industriekapitalismus brachte bedeutende Treiber der Produktivitätssteigerung wie Arbeitsteilung, Massenproduktion und technische Innovationen, aber auch eine industrielle Reservearmee von Arbeitslosen. Deren Verdammung zur „unfreiwilligen Askese“ der Elendsviertel diene zur Disziplinierung der Arbeiterschaft. Diese Drohkulisse zeige sich bis heute im Neoliberalismus, etwa in der Programmatik des „Forderns und Förderns“ bei Hartz IV, die Verwerfungen des Arbeitsmarktes der Eigenverantwortung des undisziplinierten Subjekts zuschreibe. Global komme in einer Privatisierung der Macht (vgl. Krysmanski) es zugleich zum Übergang einer geopolitischen zu einer geoökonomischen Ordnung, deren neoliberales Finanzregime von OECD, IWF, WTO und Weltbank unter dem Schlagwort einer „global governance“ den Charakter einer „vierten, monetativen Gewalt“ annehme (S.47). Angesichts globaler Macht ist die Demokratie in Gefahr (vgl. Barth) und auch durch bis in die intimsten Bereiche der Lebenswelt vordringende digitale Technologien sind die Menschen heute einer absurden gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesetzt, deren Lebensperspektive sich für die Mehrheit auf ein zunehmend prekäreres muddling through beschränke (S.99). Absurd in einer Gesellschaft die unsagbaren Reichtum produziert, sich selbst für rational hält und Freiheit und Individuum zu ihren höchsten Zielen erklärt.

Soziale Medien, Propaganda, Konformismus

Eine vom Liberalismus proklamierte Freiheit werde für die meisten Menschen zur zynischen Illusion, die sich nur die oberen 20 Prozent in der steiler werdenden Einkommenspyramide noch wirklich finanzieren können. Menschliches Leben würde vielmehr zwischen wachsender Unfreiheit im digitalisierten Arbeitsleben, Konsumismus und unfreiwilliger Askese des Prekariats zerrieben. Der neoliberal gepriesene Wettbewerb bringe am Ende auf dem Markt nur wenige Sieger hervor: The winner takes all. Ein absurder Effekt, weil der Wettbewerb so seine eigenen Voraussetzungen zerstört. Besonders absurd sei der Glaube, der Markt könne die Gesellschaft mit heute öffentlichen Gütern versorgen. Der Markt habe keine Lösungen in den Krisen der Umwelt, der Pandemie, der Energieversorgung oder des Ukrainekrieges erbracht. (S.75) Bei Privatisierungen sei die Effizienzsteigerung nicht eingelöst worden, Leistungen wurden teurer, die Versorgung schlechter und in der öffentlichen Infrastruktur sei hierzulande ein Investitionsstau von 450 Milliarden Euro zu verzeichnen. Der neoliberale „Schlanke Staat“ sei in Wahrheit ein Ausverkauf des Staates zu Ramschpreisen gewesen. Staatliche Behörden sind zwar für Umweltschutz, Bildung, Gesundheitswesen zuständig, aber der Medien, Parteien und Öffentlichkeit dominierende Neoliberalismus untergrabe mit seiner Forderung nach dem Rückzug des Staates seine eigenen Grundlagen.

Ein absurder Trick des Neoliberalismus sei seine Selbstdarstellung als Verteidiger der Freiheit bezüglich tatsächlicher Machtausübung: „Neoliberale Argumentationen schweigen in der Regel die Macht des Kapitals tot, eine für Ideologien typische Form selektiver Wahrnehmung. Neoliberale Manager bzw. Kapitaleigner bestreiten häufig, Macht auszuüben. Sie geben vor, mit ihren Entscheidungen der invisible hand des Marktes zu folgen.“ (S.91)

Unseren Gehorsam sichern sich neoliberale Regime auch durch (zunehmend digitalisierte) Erziehung und Propaganda vor allem durch Mobilisierung von Voreingenommenheit: „Diese manipulative Macht kommt in besonderem Maße auch digitalen Netzen zu. Sie schöpfen -bemerkt oder unbemerkt- Humandaten ihrer Nutzer ab, die wiederum verwendet werden, um individuell und gezielt Informationsströme zu steuern. Die Machthaber der Informationsgesellschaft sind global operierende private Konzerne, denen es gelingt, sich staatlicher Regulierung -und auch Besteuerung- weitgehend zu entziehen.“ (S.93)

Camus, das Absurde und die liberale „Freiheit“

„Die Vorstellungen zur Absurdität sind dem literarischen und philosophischen Werk von Albert Camus entlehnt. Bei ihm führt das Absurde, die Begegnung des sinnsuchenden Menschen mit einer sinnlosen Welt, nicht in eine hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr bietet das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“ (Klappentext)

Die manipulative Macht der neoliberale Ideologen veranlasst auch jene Menschen, die im Neoliberalismus benachteiligt werden, zu einer unbewussten und freiwilligen Unterwerfung. Die Entfremdung der Menschen wachse im digitalen Kapitalismus, den der Neoliberalismus entlang der Dogmen des Washington Consensus durchsetze. Im so durch wachsende Entfremdung immer absurderen Dasein der Menschen kann der Neoliberalismus die von ihm aufgerissene Lücke der Sinngebung nicht füllen. Mit dem existenzialistischen Philosophen und Schriftsteller Albert Camus könne man sich nur durch Bewusstmachung des Absurden auf Freiheit, Leidenschaft und Auflehnung besinnen, um die absurden Auswüchse des Neoliberalismus in demokratischen Prozessen zu thematisieren und einzuhegen.

Dies führe nach Camus jedoch nicht, so Reimer, in hoffnungslose Schicksalsergebenheit, vielmehr biete das Bewusstwerden des Absurden dem Menschen die Chance, sich aufzulehnen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Reimer will der Auflehnung ein Ziel geben und macht deshalb den Neoliberalismus als interessengeleitete Ideologie kenntlich. Deren zentralen Merkmale wären die Verschiebung der wirtschaftlichen Grundlogik von einer Versorgungslogik zu einer solchen der unbegrenzten Kapitalakkumulation sowie deren Ausuferung zu einer „gesellschaftlichen Grammatik“, die mehr und mehr alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchtränken würde.

Eine Abkehr vom absurden Neoliberalismus wäre nur durch ergebnisoffene demokratische Diskurse möglich: „Dieser Diskurs darf aber nicht den Meinungsmachern im Dienst des Kapitals überlassen bleiben. Auf dem Weg dahin dürften sich Versuche lohnen, die absurden Auswüchse des Neoliberalismus zu thematisieren und einzuhegen.“ (Schlusssätze S.119)

Reimer ist nicht der erste Altmarxist, der auch beim französischen Existenzialismus nach Antworten suchte. Bereits Wolfgang Fritz Haug befasste sich in seiner Doktorarbeit „Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden“ (1965) mit existenzialistischer Gesellschaftskritik, deren Kreisen um das Absurde er ebenfalls in der Entfremdung und Vereinzelung begründet fand. Seine Kritik am Kult leerer Freiheit bei Sartre, aber insbesondere bei Camus war, dass dieser sich, in elitärer Ferne zur Gesellschaft, eher darin gefiel, „das Absurde“ auszuhalten, als aktiv gegen die kapitalistische Entfremdung vorzugehen. Haug zitiert Hannah Arendt, die Camus Fatalismus und Schicksalsergebenheit zuschrieb (Haug 1991, S.40f., S.190f.), eine Einschätzung, die selbst konservative Philosophiehistoriker bis heute teilen (vgl. etwa Steenblock 2002, S.326f.). Reimers funktionalistische Kritik an Neoliberalismus und digitalem Kapitalismus wird dadurch jedoch nicht geschmälert. (Thomas Barth)

Quellen:

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. Köln 2023, PapyRossa, 123 Seiten, 16,00 Euro.

Barth, Thomas: Controlling statt Demokratie? In: ders. Hg.: Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S.101-111.

Haug, Wolfgang Fritz: Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden, 3.Aufl., Argument-Verlag, Hamburg 1991 (Or.1966).
Krysmanski, Hans Jürgen: Die Privatisierung der Macht, in: Altvater, Elmar u.a.: Privatisierung und Korruption: Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S.25-37.
Steenblock, Volker: Kleine Philosophiegeschichte, Stuttgart 2002.

08/30/23
Total vernetzt - Nur wer sich anschließt wird nicht ausgeschlossen.

Rezension: Braches-Chyrek u.a. (Hg.): Handbuch Kindheit, Technik & das Digitale

Thomas Barth
Was bedeuten die rasanten medialen und digitalen Transformationen für das Leben von Kindern? Diese Frage wurde „in der deutschsprachigen Kindheitsforschung bislang wenig untersucht“ (Klappentext). Das Handbuch thematisiert zentrale Zusammenhänge und interdisziplinäre Diskurse über Gesellschaft, Technik und Kindheit mit dem Ziel, emanzipatorische Bildungs- und Lernprozesse zu fördern.
Die Herausgeber*innen kommen aus den Bereichen Pädagogik, Sozialpädagogik und Soziologie, ebenso die meisten der insgesamt 26 Beiträger*innen unter denen acht aus Digitalisierungs- oder Medienwissenschaften stammen. Charlotte Röhner und Heinz Sünker, beide emiritiert, sind Nestor*innen der deutschen Kindheitsforschung, Sünker ist zudem Adorno-Experte und sein Blick auf das Digitale geprägt von der Kritischen Theorie der freudomarxistischen Frankfurter Schule. Überwiegend aus dieser kritischen Perspektive diskutiert der erste von vier Teilen des Bandes „Technik und Gesellschaft“, also die sozialen, kulturellen, pädagogischen und politischen Folgen der Digitalisierung. „Welche neuen Zugriffsmöglichkeiten auf kindliche Subjektivität ergeben sich aus der Techniknutzung und welche Widerstandspotentiale (Adorno, Erziehung zur Mündigkeit)? Welche veränderten Konzeptualisierungsansätze von Kindheitspolitik ergeben sich?“ (Verlagstext).
Soziale Aufgaben wie Wert schätzen, Bindung schaffen, Trennung verarbeiten, Grenzen setzen, Identität und Autonomie gewinnen, sie alle unterliegen durch allgegenwärtige Digitalmedien neuen Risiken, etwa prekärer Datensicherheit, leicht zugänglichen jugendgefährdenden Inhalten oder Cybermobbing. Doch das Handbuch thematisiert auch neue Chancen der Digitalmedien. Im zweiten Teil „Digitalisierung und Mediatisierung von Kindheit“ wird die Sozialisation und Kinder als Akteur*innen thematisiert. Der dritte Teil „Digitales Konstruieren, Spielen und Handeln“ legt den Fokus auf die früher meist negativ bewerteten Computer-, Video- und heute auch Online-Spiele, sucht nach kreativen Potentialen, warnt aber auch, etwa vor unreflektiertem Konsum gewalthaltiger Spiele. Der letzte Teil „Digitalisierung und digitale Bildung in Institutionen“ nimmt Probleme und Lösungsansätze in Kitas und Schulen des Elementar- und Primarbereichs in den Blick.
Technologie, Adoption und Pflegefamilien
Prof. Rita Braches-Chyrek war 2010 Mitherausgeberin des Bandes „Kindheit in Pflegefamilien“, doch dieser Aspekt der Kindheitsforschung klingt im vorliegenden Handbuch nur in zwei Beiträgen an: 1. Die Afrikanistin Konstanze N‘Guessan streift mit „Verwandtschaft und Kindheit im Zeitalter assistierter Reproduktion – Einblicke in die ethnographische Erforschung des doing family“ das Thema Adoption und Islam. 2. Der Beitrag „Beobachtung der Beobachteten: Technologie, Schutz und Fürsorge an einem Tag im Leben von Jasmine“ von Rachel Thomson und Ester McGeeney, berichtet aus einer „alternativen Erziehungseinrichtung für Jugendliche, die keinen Zugang zur Regelschule haben“; sie beobachten dort den Medienalltag der fünfzehnjährigen Mutter Jasmine, die in einer Pflegefamilie untergebracht ist (s.u.2.).
1. Verwandtschaft, Kindheit und Technologie
Der Beitrag von N‘Guessan ist der einzige des Bandes, der nicht von digitalen Medien handelt -dafür aber biotechnologische Bezüge zum Transhumanismus aufweist, indem dessen Biologismus auf den Boden der sozialen, kulturellen und psychologischen Tatsachen zurückgeholt wird. Im Fokus stehen medizinische Technologien der assistierten Reproduktion und die kulturelle Herstellung von Verwandtschaft und Familie in verschiedenen Kulturen. Ihre Ausgangsfragen sind: „Was ist Familie und wer gehört dazu? Welche Dimensionen hat Eltern-Sein und wie wird Abstammung kulturell konzeptualisiert?“ Solche Fragen stellt die Ethnologie der „New Kinship Studies“, die seit den 1980er-Jahren die Verwandtschaftsforschung „von der Biologie befreit, die durch euroamerikanische Prägung entstanden sei.“
Verwandtschaft wird und wurde immer kulturell gemacht -und dieser Entstehungsprozess oft mit Biologismen wie „Blut ist dicker als Wasser“ verborgen, was oft schon den Status von Adoptivkindern kompliziert habe. Neue Reproduktionstechniken (NRT) lassen die biologische Simplifizierung heute vielerorts ins Schwimmen geraten. Denn es sind dabei nicht nur zwei, sondern bis zu fünf Personen im engeren Kreis einer konstruierbaren Elternschaft vorhanden: Mutter, Vater, Eispenderin, Samenspender und Leihmutter. Dazu kämen im weiteren Umfeld noch diverse Medizintechniker*innen, die etwa mit ihren Händen unter dem Mikroskop die Eizelle besamen. „NRT und Adoption konstituieren einen Möglichkeitsraum, auf den sich unterschiedlichste Akteur*innen in ihren Überlegungen und Praxen beziehen. Durch die Linse der NRT lässt sich Verwandtschaft als Ergebnis von Handlungen verstehen.“
Konstanze N‘Guessan erläutert an diversen afrikanischen und islamischen Kulturen Praktiken des Verwandt-Machens -und ist mit dieser interkulturellen Perspektive in diesem Handbuch einmalig. Wir erfahren von einem „Unfruchtbarkeitsgürtel“ in Zentral- und Südafrika, wo NRT trotz der hohen Kosten stark gefragt sind und auf andere als die euroamerikanischen Verwandtschafts-Praktiken treffen. In matrinlinearen Gesellschaften, etwa den Macao in Mozambik, können Vaterpflichten und -privilegien auf den Mutterbruder übergehen; in anderen Kulturen gibt es die „Geist- oder Frauenheirat“, wo Vater- bzw. Schwangerschaft durch Zahlung eines Brautpreises auf einen Ahnen oder eine Frau übertragen werden.
In islamischen Kulturen ist entscheidend, ob diese schiitisch oder sunnitisch sind: Bei Sunniten kann schon die Adoption verboten sein, im weniger restriktiven Schiismus bleiben Adoptivkinder zumindest von der patrilinearen Erbfolge ausgeschlossen; seit einer permissiven Fatwa von Ayatolla Khomeini sind in Iran und Libanon NRT-Kinder erlaubt und Adoptierten gleichgestellt. „Die Frage, wie ‚fremde‘ Kinder durch soziale Praktiken und diskursive Rahmungen der Familie zugehörig gemacht werden stellt sich nicht nur bei NRT-Kindern, sondern immer“, so N‘Guessan, denn Verwandtschaft sei eine „biologisch wie sozial unterdeterminierte, gestaltungsoffene wie gestaltungsnotwendige soziale Ordnung“. Damit stellt sie sich dem reaktionär-neoliberalen Mythos von der biologistisch verabsolutierten bourgeoisen Familie ebenso entgegen, wie dies mit breiterer Perspektive der afrikanische Ökonom und Kulturwissenschaftler Felwine Sarr in seinem Manifest Afrotopia tat.
2.Technologie, Schutz und Fürsorge
Thomson und McGeeney stehen mit ihrem britischen „Kinderalltagsprojekt“ in der Tradition materialistisch-feministischer Methodologie, die ihre Forschungstätigkeit eingehend selbstkritisch reflektiert und nach Möglichkeiten „nachhaltigerer Sorge-Relationalitäten“ sucht:
„Die digitalen Medien haben ganz eigene Möglichkeiten geschaffen, die auch neue Arten von erzieherischer Führung erfordern und neue Gebiet ethischer Untersuchungen eröffnen. (…) Junge Menschen in staatlicher Obhut wurden als eine besondere Risikogruppe identifiziert, einschließlich des Risikos in Bezug auf digitale Kulturen… besonders in den Bereichen Adoption und Pflegefamilien kämpfen Sozialarbeiter*innen darum, die Kinder vor der Aufnahme oder der Fortsetzung von Kontakten mit ihren leiblichen Eltern zu bewahren, wenn diese gerichtlich eingeschränkt worden war.“
Digitale Medien, besonders das allgegenwärtige Smartphone, erschweren diese Aufgabe, denn Kinder und Jugendliche verstehen es, sich der Kontrolle zu entziehen. Im Fall der einen Tag wissenschaftlich beobachteten Jasmine wird klar, dass auch sie und ihre Mitschüler*innen die ihnen auferlegten Regeln für den Mediengebrauch zu unterlaufen wissen: „Die ‚Ein-Tag-im-Leben-Methode‘ hat uns diese Art der dichten, affektiven Geometrien einfangen lassen.“ Die Forscher*innen erfahren, wie vermutlich Instagram und Snapchat von minderjährigen Müttern verwendet werden, um Babyfotos zu posten -schon deren Aufnahme wird von der Einrichtung eigentlich untersagt.
Die Konfliktsituation wird von Thomson und McGeeney aus beiden Perspektiven reflektiert: Die Schutzbefohlenen müssen einerseits „beobachtet, überwacht, geschützt und zensiert werden“, andererseits gibt es auch eine „Kinderöffentlichkeit“ mit „den Imperativen: gesehen werden, sichtbar sein, teilhaben in/an einer digitalen Kultur“. Die Autor*innen stellen fest, dass in dieser neuen Kultur „neue Arten der Subjektivität“ entstehen. „Im Kontext einer Aufmerksamkeitsökonomie können wir das Bedürfnis junger Menschen, gekannt und gesehen zu werden, nicht einfach ignorieren“. Jugendliche Medienpraxis unreflektiert „unterdrücken“ zu wollen, halten die beiden Forscher*innen „für irregehend“.
Der emanzipative Ansatz ist bei Thomson und McGeeney deutlich, doch bei der Reflexion des „Neuen“ an der „neuen Subjektivität“ ist noch Luft nach oben. Denken wir an eine 1950er-Jahre-Werbung für Dosen-Ananas: „Toast Hawaii! Da werden Ihre Nachbarn staunen!“ Foodporn auf Instagram posten ist vielleicht nur überkommene Subjektivierung in digitalisierter Werbeästhetik, die kunstvolle Beleuchtung und Belichtung von damals wird heute durch einen das Foto farblich aufpeppenden digitalen „Filter“ ersetzt.
Fazit
Die emanzipatorische Haltung ist löblich, doch leider gelingt der Transfer der Medienkritik von Adorno ff. auf die Digitalisierung durch die Bank nur ungenügend. Die zweifelhafte Referenz von Heidegger als Paten der Technikkritik überzeugt ebenso wenig wie der gelegentliche, hilflos wirkende Verweis auf neueste Ansätze wie Shoshana Zuboffs „Überwachungskapitalismus“. Dabei wäre bei Kenntnis der kritischen Diskurse zu Computer- und Internetkultur gar nicht nötig, das Rad neu zu erfinden: Der Adorno-Experte Mark Poster etwa kombiniert seit 30 Jahren Freudomarxismus mit postmodernen Ansätzen, etwa den Heidegger implizit weiterführenden Theorien von Michel Foucault, bei seiner Digitalmedienkritik.
Den meisten Beiträgen scheinen auch tiefer gehende Kenntnisse der technologischen und politischen Hintergründe der Digitalisierung zu fehlen, mit den beiden Ausnahmen des Professors für Digital Humanities (Sussex) David M. Berry und des Diplom-Informatikers Marius Melzer, der beim Chaos Computer Club ein Schülerprojekt betreibt. Bei Melzer bleibt die Warnung vor Manipulation im Internet nicht vage, sondern er führt konkret die wohl dramatischste Auseinandersetzung auf diesem Gebiet an:
„Das Beispiel Julian Assange zeigt dies deutlich: Die nach heutigem Wissensstand fingierten Vergewaltigungsvorwürfe (Melzer 2020) führten dazu, dass die vorhergegangene Wikileaks-Veröffentlichung „Collateral Murder“, die zeigte wie US-Soldaten im Irakkrieg lachend aus einem Hubschrauber auf Zivilisten und Journalisten feuerten, in Vergessenheit geriet.“ (S.114)
Die mit nur einem Satz allzu sparsame Erwähnung dieser digitalen Medienschlacht um die (nicht nur Medien-) Geschichte schreibende Enthüllungsplattform Wikileaks brachte einen gravierenden Fehler: In der Literaturliste wurde beim Quellennachweis der Vorname von N.Melzer offenbar zu M.Melzer fehlkorrigiert. Man nahm wohl ein Selbstzitat von Marius Melzer an und kannte nicht den wirklich zitierten weltberühmten Autor Nils Melzer, den UNO-Folterbeauftragten und Schweizer Professor für Völkerrecht. Nils Melzer hatte die gegenwärtige Folter des Wikileaks-Gründers Julian Assange angeprangert, den er als Opfer einer perfiden Intrige sieht. Er hatte in schockierenden Artikeln und seinem Buch „Der Fall Assange“ detailliert enthüllt, wie mutmaßlich Geheimdienste die Regierungen der USA und Großbritanniens sowie die schwedische Justiz den politisch verfolgten Assange als Vergewaltiger abgestempelt hatten. Diese Fakten wurden in westlichen Medien jedoch weitgehend vertuscht, was den Irrtum von Verlag, Lektoren und Korrekturat begründen dürfte. Somit wird dieses Handbuch selbst zu einem Beispiel gelungener Medienmanipulation im Digitalzeitalter.

Rita Braches-Chyrek, Jo Moran-Ellis, Charlotte Röhner, Heinz Sünker (Hrsg.): Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2021. 422 S., 69,90 Euro.

12/25/21

Pankaj Mishra: Freundliche Fanatiker

Thomas Barth

Es ist eine klarsichtige Analyse der politischen Irrwege unserer Zeit – jenseits der eurozentrischen Perspektive: Pankaj Mishra untersucht in seinem neuen Buch „Freundliche Fanatiker: Über das ideologische Nachleben des Imperialismus“ die Auswirkungen des Imperialismus auf die heutige Welt und wie imperialistische Ideen und Strukturen weiterhin in verschiedenen Formen fortbestehen. Die „freundlichen Fanatiker“ sind liberal-rechtspopulistische Neoimperialisten wie etwa der Rechtsintellektuelle Niall Ferguson, die den Untergang des Abendlandes beschwören, weil dem Westen angeblich die nötige Aggressivität fehle, seine wohlverdiente globale Vormachtstellung zu halten.

Dies sei aus neoimperialer Sicht auch Schuld der degenerierten Netzkultur der Digital Natives. Die seien kriegsuntüchtige Faulenzer, die erschlafft vor ihren Bildschirmen chillen, statt tapfer zu den Waffen zu greifen, wie noch ihre wackeren Großväter. Mishras Kritik: Diese neoimperialen Ideologen betreiben Geschichtsfälschung, blenden aktuelle wie historische Verbrechen des Westens systematisch aus und stehen in rassistischer und faschistischer Tradition. Sie hätten den politischen Rechtsruck westlicher Länder herbeigeredet, der Trump, den Brexit und rechtsextreme Regierungsbeteiligungen etwa in Wien, Warschau und Rom erst möglich machte.

Der bekannte Schriftsteller und Publizist kritisiert die selbstzufriedenen Gedankengebäude des Westens und zeigt, dass der Mythos vom angeblich überlegenen Westen bis heute kaum hinterfragt wird. Erst in jüngerer Zeit dringen Stimmen aus dem Süden mit ihrer diesbezüglichen Kritik in unsere Debatten vor. Etwa der senegalesische Kulturökonom Felwine Sarr mit „Afrotopia“ oder eben der indische Buchautor Pankaj Mishra, der für seine Kolonialismus-Kritik „Aus den Ruinen des Empires“ den Leipziger Buchpreis erhielt, mit „Das Zeitalter des Zorns“ einen internationalen Bestseller landete und durch seine Liberalismus-Kritik „Freundliche Fanatiker“ aktuell erneut die Wut konservativer Feuilletons auf sich zog. Im vorliegenden Essayband schaut Mishra besonders auf die USA und Großbritannien als die Mächte, die seit dem 19. und 20. Jahrhundert Vorreiter im Bestreben waren, einen rassistisch geprägten, wie Mishra sagt, „imperialistisch gesinnten Liberalismus“ durchzusetzen – mit verheerenden Folgen, wie die Gegenwart zeigt.

Böse Zwillinge: Imperialismus und Liberalismus

Mishra analysiert die historischen und ideologischen Wurzeln des Imperialismus und zeigt auf, wie sie bis heute in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen präsent sind: Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus werden in der Erzählung vom demokratischen Aufstieg vertuscht. Simple, von Ressentiments geprägte Welterklärungen werden zum Mainstream. Mishra beleuchtet so die Rolle von liberalem Fanatismus und Extremismus in diesem Kontext und argumentiert, dass diese Ideologien oft aus imperialistischen Denkmustern entstehen, die westliche Werte für sich reklamieren, aber auch auf rassistische und antisemitische Wurzeln zurückzuführen sind.

„Eine lautstarke Beschwörung der Aufklärung oder eines anderen historisch und auf ewig festgelegten Wesenskerns Europas wirkt zunehmend wie das Symptom einer intellektuellen Rückständigkeit oder einer kulturellen Abwehrhaltung. Das multiethnische Europa ist eine unverrückbare Tatsache und benötigt daher eine stärker auf Inklusion bedachte, ergebnisoffenere Identität.“ Mishra S.61

Damit stellt sich Mishra gegen alle von rechtspopulistisch-konservativer Seite betriebenen Restriktionen europäischer Einwanderungs- bzw. Migrationspolitik. Diese berufe sich gerne auf den nationalistischen Juristen und Staatstheoretiker Carl Schmitt, der behauptet habe, die „Kraft einer Demokratie“ zeige sich darin, das Fremde, „die Homogenität bedrohende“ fernzuhalten oder zu beseitigen (Mishra S.51). Ob Schmitt mit diesen Behauptungen den von ihm unterstützten Nazi-Faschismus und dessen Massenmorde rechtfertigen wollte, diskutiert Mishra nicht. Schmitt, der als „Kronjurist“ des Nazi-Faschismus gilt, machte unter Hitler Karriere und rechtfertigte Diktatur und Massenmorde; der Zentralbegriff des nationalsozialistischen Staatsrechts sei „Führertum“, so Schmitt, und unerlässliche Voraussetzung dafür sei die „rassische“ Gleichheit von Führer und Gefolge (Wikipedia). Obwohl in seiner Karriere vor 1933 auch von jüdischen Kollegen gefördert, wandelte sich Schmitt nach Hitlers Machtergreifung zum fanatischen Antisemiten, der die Nazi-Rassegesetze juristisch legitimierte. Mishra stellt fest, dass heutige Rechtextremisten vom Front National in Paris, über die FPÖ in Wien bis zur British National Party „ihren ursprünglichen Antisemitismus“ neu verpackt hätten und nun Muslime „statt der Juden beschuldigen, heimlich nach der Weltherrschaft zu streben“ (S.52).

Die wahren Feinde der Demokratie aber sind jene, meint Mishra, die angeblich ihre Werte verteidigen: Dies zeige der in den USA tief verwurzelte Rassismus ebenso wie die Angst dortiger Machteliten vor islamistischen oder lateinamerikanischen Invasoren. Mit konkreten Beispielen hält Mishra den Westeliten einen Spiegel vor und macht sichtbar, wie brüchig das Fundament ist, auf dem unsere westliche Welt steht: Eine freiheitliche Demokratie, in der Gleichheit und Menschenwürde verwirklicht sind, ist noch lange nicht erreicht und wenn unsere Medien Parlamentswahlen westlicher Machtart als allein seligmachenden Weg zu einer Mitbestimmung der Bevölkerung hinstellen, wird dies oft als liberal-koloniale Herrschaftsattitüde gesehen. Mishra weigert sich aus gutem Grund, die im westlichen Medien-Mainstream kolportierte Mär von Indien als „größter Demokratie der Welt“ zu bestätigen, attackiert den aktuell wiedergewählten Präsidenten Indiens, Narendra Modi und dessen neoliberalen Hindu-Suprematismus. Mishra kritisiert auch die neokoloniale Ignoranz des Nordens, die Modi huldigt, und verweist auf den Erzliberalen O’Brian:

„Als Conor Cruise O’Brian in den 1960er Jahren Afrika und Asien besuchte, fiel ihm auf, dass viele Menschen in den früheren Kolonien ‚von dem Wort „Liberalismus“ angewidert waren‘. Sie sahen darin ‚eine beschönigende Maske, die eine zutiefst habgierige Gesellschaft vor der von ihr ausgeraubten Welt aufsetzt.“ (Mishra 2021, S.113)

Liberale „Bland Fanatics“

O’Brian habe nicht verstanden, warum man den Liberalismus für eine Ideologie der Reichen hielt, weil sie genau die Regeln zu universellen Werten erhob, die Entstehung und Fortbestand des Kapitalismus begünstigen. Mishra beschreibt, wie kolonialer Rassismus, Unmenschlichkeit und Überlegenheitskult in liberalen Ideologien gedeiht und spätestens mit Tony Blairs „New Labour“ auf ehemals sozialistisch oder wenigstens sozial gestimmte Politik übergreifen konnte. Die Idee der Republik, des Parlamentarismus selbst wurde dadurch zunehmend unglaubwürdiger:

„Die französische und die US-amerikanische Republik, die allen Menschen demokratische Rechte versprachen, setzten zugleich eine globale Hierarchie durch, in der die Rechte einigen wenigen vorbehalten blieben und allen übrigen vorenthalten wurden.“ (Mishra 2021, S.178)

Dabei stand auch die rassisch begründete Ausschließung von Anfang an „im Zentrum des liberalen Universalismus“. Von Nixon über Reagan und Trump, von Thatcher über Blair und den Brexiteer Boris Johnson, verfolgt Mishra die immer extremer werdende Ideologie westlicher Herrschaftseliten. Sein Programm ist die Enthüllung der verborgenen Schattenseiten einer von westlichen Medien sorgfältig glorifizierten Machtelite:

„Die freundlichen Fanatiker bemühten sich sehr, ihre parfümierte Vorstellung angloamerikanischer Überlegenheit vor der anrüchigen Vergangenheit des Völkermords, der Sklaverei und des Rassismus -wie auch vor dem Gestank der Korruption in den Wirtschaftsunternehmen- zu schützen…“ (Mishra 2021, S.24)

Dabei ist „Freundliche Fanatiker“ noch eine eher freundliche Übersetzung, denn der Originaltitel „Bland Fanatics“, hebt im Wort „Bland“ noch andere Seiten hervor: zwar milde, höflich, einschmeichelnd, aber auch kühl, ironisch -die listige Arroganz des Kolonialisten schwingt deutlicher mit als im Deutschen.

Als ersten Vertreter der bland fanatics knöpft sich Mishra den Kennedy-Biografen und bekennenden Bilderberg-Conférencier Niall Ferguson vor. Man ahnt, warum Ferguson den Unmut des indischen Kritikers erregte: Die Inder etwa verdanken laut Ferguson dem Britischen Empire ihre Freiheit, Demokratie und die englische Sprache; die USA sollten endlich diesem Beispiel folgen und sich stolz zu ihrem Imperialismus bekennen (Mishra S.30). In Fergusons Buch „Das verleugnete Imperium. Chancen und Risiken amerikanischer Macht“ werden als Schwächen westlicher Macht Feministinnen, Adipöse und Digital Natives genannt. Der Feminismus sei schuld am demographischen Niedergang Europas und daran, „dass Mädchen nicht mehr mit Puppen spielen“, die Amerikaner seien übergewichtig und die Europäer degenerierte Faulenzer, die sich endlos dem „Gaming, Chatten und Chillen mit ihren iPods“ hingeben würden (Mishra S.35).

Wie sein Gönner Kissinger sieht Ferguson in den Chinesen die kommende Macht, natürlich nur, weil sie angeblich den westlichen Imperialismus kopieren; seinen ökonomischen Aufstieg verdankt China bei Ferguson selbstverständlich nicht der klugen Kombination von Marxismus und Kapitalismus, sondern dem sich in Peking angeblich ausbreitenden Protestantismus. Der ist nach dem deutschnationalen Soziologie-Klassiker Max Weber mit seiner protestantischen Arbeitsethik die Wurzel eines „Geist des Kapitalismus“. Mishra kommentiert:

„Der wieder aufgewärmte Weberianismus -Indiz für Fergusons nostalgische Sehnsucht nach den Gewissheiten des Sommers 1914- verwandelt sich in eine weitere Klage über die westliche Zivilisation, deren Niedergang sich an der Tatsache zeige, dass die Kirchen leer und die Steuern auf Vermögen und Einkommen hoch seien… während ‚Imperium‘ zu ‚einem schmutzigen Wort geworden‘ sei.“ Mishra S.44

Bei uns würden Christliche Union und neoliberale FDP dieser Klage wohl einmütig zustimmen, stehen Religion bei den einen und Steuersenkung bei beiden weit oben auf der Agenda. Unverblümter Neoimperialismus wäre jedoch noch nicht gesellschaftsfähig und fremdenfeindliche Ressentiments werden noch den Rechtsextremisten allein zugeschrieben.

Neben fleißigen Chinesen machen Ferguson auch die vermehrungsfreudigen Araber große Sorgen um die westliche Vormachtstellung in der Welt. Besonders Europa ist nach dieser ebenso paranoiden wie rassistischen Weltsicht in großer Gefahr, schon sehr bald von Moslems überrannt zu werden. Mishra zitiert die auch von deutschen Rechtspopulisten und Rassisten oft erhobene Behauptung, dass

„eine junge muslimische Gesellschaft südlich und östlich des Mittelmeers bereitsteht, ein vergreistes Europa zu kolonisieren“ (Mishra S.46, Ferguson zitierend)

Der von der BBC hofierte schottische Historiker Ferguson strebe penetrant nach einer Reinwaschung nebst Rivival des Imperialismus. Mishra zeigt auf, wie Ferguson dabei in Fußstapfen von Nazi-Befürwortern und Rassisten wie T.L.Stoddard tritt, der in den USA der 1920er Jahre mit faschistoiden Bestsellern die Angst vor Schwarzen schürte.

Die Verteilung der Rassen nach T. L. Stoddard, schematisierende Karte aus The Rising Tide of Color

Stoddard gilt, was Mishra nicht erwähnt, laut Wikipedia als wichtiger Stichwortgeber des deutschen Nationalsozialismus. Nicht nur dämonisierte er Juden als „eigene Bastard-Rasse“ und verleumdete sie als „Gefahr für die europäische Zivilisation“: In seinem Buch The Revolt Against Civilization. The Menace of the Under Man (1922; dt. Der Kulturumsturz. Die Drohung des Untermenschen, 1925) identifizierte er den Bolschewismus mit einem rassisch definierten Judentum und dieses wiederum mit dem „Untermenschen“. Der Nazi-Ideologe Alfred Rosenberg griff diese hetzerischen Behauptungen Stoddards in Der Mythus des 20. Jahrhunderts auf, und machte damit das zynische Unwort „Untermensch“ zum nationalsozialistischen Schlagwort. Stoddards Weltkarte der „Verteilung der Rassen“ erinnert nicht zufällig an ähnliche, aber von Rassen auf Kulturen umgeschwenkte Karten des Havard-Professors Samuel Huntington. Auch dieser US-Ideologe schürt in seiner „unheilverkündenden Großtheorie“ von einem angeblich tobenden „Kampf der Kulturen“ Rassenängste (Mishra S.28). Huntington begann seine Karriere als Berater beim rassistischen Apartheid-Regime von Pieter Willem Botha in Südafrikas Geheimdienst Civil Cooperation Bureau, das zahlreiche Verbrechen an Apartheidsgegnern verübte – und bezeichnete 1960 die Gesellschaft Südafrikas zur Zeit der Apartheid als eine „zufriedene Gesellschaft“ (Wikipedia). Später setzte er seine Arbeit in den USA fort und war Mitgründer und Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift Foreign Policy, die eine große Stütze des „verleugneten“ Imperiums der USA ist.

Ferguson bemüht sich, den Imperialismus für seine angeblichen Bemühungen um Handelsfreiheit und sogar zur Abschaffung der Sklaverei zu preisen (Mishra S.12). Ob diese durch oder nicht eher gegen die Imperialisten abgeschafft wurde, dürfte zumindest strittig sein, ergänzt der Rezensent, unstrittig dagegen, dass die Hauptimperialisten durch Sklavenhandel und -ausbeutung reich wurden. Die verkrampft-feindselige Haltung heutiger Westeliten gegenüber anderen Kulturen wurzele, so Mishra, in solch dunklen Ideologien und ziele weiterhin auf skrupellosen Machterhalt ab.

Das habe auch Folgen für das politische Klima der angelsächsischen „liberalen Demokratien“ selbst. Mit der Entfernung von Denkmälern für Sklavenhändler sei es dort nicht getan. Es müssten auch Geschichts- und Schulbücher endlich umgeschrieben werden, damit das dort „neumodische“ Sozialstaatsdenken nicht länger dämonisiert werden könne. Voraussetzung dafür sei, dass man dort „nachhaltig mit der Sklaverei, dem Imperialismus und dem rassistischen Kapitalismus abrechnet. Sie waren es, die einigen Leuten in Großbritannien und den USA gewaltigen Reichtum und einzigartige Macht bescherten, die große Mehrheit der Weltbevölkerung jedoch in einen brutalen Kampf gegen Mangel und Entwürdigung stürzten.“ (Mishra S.295)

Pankaj Mishras neues Buch bietet eine kritische Perspektive auf die globalen Auswirkungen des Imperialismus und regt dazu an, über die historischen Kontinuitäten in der heutigen Welt nachzudenken. So entstand der Neoliberalismus aus der Angst der Weißen um ihre Vorherrschaft. Und der westliche Liberalismus ist gar nicht so liberal, denn er definiert die eigene Kultur als die maßgebliche und brandmarkt andere Entwürfe als rückständig oder autoritär.

Mishra, Pankaj: Freundliche Fanatiker: Über das ideologische Nachleben des Imperialismus, Frankfurt/M. 2021, S.Fischer Verlag, 304 Seiten, 24,00 Euro

(Aktualisiert Juli 2024)

12/15/20

Geert Lovink:  Digitaler Nihilismus

Thomas Barth

Die Netzphilosophie erkundet philosophische Seiten der Netze, der Praxis ihrer Nutzung und der erst im Entstehen begriffenen Netzwissenschaften. Deren Vorreiter ist Geert Lovink, ein bekannter Medientheoretiker und Aktivist, der in den Niederlanden zum Professor seines eigenen Institutes werden konnte, des INC (Institute of Network Cultures).

Sein Buch „Digitaler Nihilismus“ ist ein provokanter Exkurs durch die Netzkultur und ihre Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, der besonders die dunklen Seiten der digitalen Revolution ins Visier nimmt. Lovink stellt die Frage, ob diese Revolution tatsächlich die utopischen Versprechungen erfüllen konnte, die ihr oft zugeschrieben wurden. Seine Antwort fällt pessimistisch aus, wie schon der Buchtitel ahnen lässt: “Digitaler Nihilismus: Thesen zur dunklen Seite der Plattformen”.

Lovink flaniert durch Diskurse über unsere von Plattform-Konzernen dominierten Netzmedienwelt, Texte von Aktivisten, Künstlern, Theoretikern. Dabei argumentiert Lovink, dass die omnipräsente Nutzung digitaler Medien zu Sinnleere und Orientierungslosigkeit führt, die er als „digitalen Nihilismus“ bezeichnet. Dieser Sinnverlust kann in einer Vielzahl von Formen auftreten, von Langeweile, über Abstumpfung und Einsamkeit bis hin zu ausgeprägtem Zynismus gegenüber der Welt um uns herum. Lovinks zentrale These ist, dass der Nihilismus im digitalen Raum durch die Erschöpfung und Enttäuschung der Nutzer entsteht, die mit der Realität der digitalen Plattformen konfrontiert werden.

Lovink zeigt auf, wie die permanente Vernetzung und digitalisierte Kommunikation unser Denken und Handeln prägen und dabei eine Entfremdung von der Realität bewirken. Er analysiert, wie Algorithmen und künstliche Intelligenz unseren Alltag steuern und dabei Verschwörungstheorien, Fake News und Filterblasen begünstigen. Dabei geht er auch auf die Bedeutung von Algorithmen, Künstlicher Intelligenz und Big Data für die Manipulation und Steuerung von Informationen ein.

Bernie Sanders, Hillary Clinton und die Memetik der Netze

Er referiert aus Konferenzbesuchen, Lektüren, etwa von Richard Dawkins, dem Erfinder des Begriffes “Mem”, das dieser als kulturelles Analogon zum biologischen Gen dachte, und Email-Wechseln, die er z.B. mit Morris Kolman führte. Kolman, der als unbezahlter Praktikant im Wahlkampf 2016 für Hillary Clinton arbeitete, wandte sich mit einem langen Exposé über Meme an Lovink. Später verfasste er seine B.A.-Thesis zum Thema Meme und Netzwerk-Neoliberalismus. Im Gegensatz zu Clintons innerparteilichem Konkurrenten um die Kandidatur, des Sozialisten Bernie Sanders, wollte Clinton nicht mit Memen werben: “Das Internet mag uns nicht” (S.188).

Leider verschweigen Lovink und vermutlich auch Kolman in seinen Thesen, mit welchen unfairen Methoden Clinton den bei der Jugend beliebteren Sanders aus dem Rennen warf. Am Ende gewann Trump, weil viele Jungwähler sich deshalb angewidert von der Wahl abwandten. Aber Hillary Clinton verlor auch, da mögen Kolman und Lovink gewissermaßen richtig liegen, weil, wie Lovink es formuliert, “das Internet” Trump “mochte”. Rechtsradikale Meme bestimmten einen schmutzigen Wahlkampf mit Beleidigungen, Fakenews und rassistischer Propaganda.

Kolman zufolge, referiert Lovink, wuchs die Macht der Meme mit dem “Netzwerk-Neoliberalismus”. Das neoliberale Subjekt steckt in einem auszehrenden Online-Milieu, das Produktion optimieren und Identitäten visualisieren will: “Man muss nur ihre Werbepräferenzen auf Facebook anschauen, um sie als einen Haufen fragmentierter Charaktereigenschaften zu sehen, eine zusammengestückelte Persönlichkeit.” (S.189) Dies schaffe ein ständiges Bedürfnis nach Verbindung und Abhängigkeit von sozialer Zustimmung, wobei zunehmend Aspekte des Lebens und der Identität an digitale Medien und Plattformen ausgelagert werden. In der Memkultur der Millenials herrsche daher “Egomanie, Hedonismus, Depression und Nihilismus”, zitiert Lovink die BA thesis des jungen Kolman, die damit eine Hauptquelle der Lovinkschen Kernthesen zu sein scheint.

Dann folgt ein Ausflug zu Norbert Wiener, dem Begründer der Kybernetik, der auch schon biologistische Vergleiche mit seinen Feedback-Regelkreisen liebte, und zum Electronik-Kunst-Festival “Ars Electronica” in Österreich von 1996, mit dem Motto “Zukunft der Evolution”, wo Lovink dem Mem-Begriff erstmals begegnet war. Über das Retrovirus HIV und das Computervirus, die beide in den 1980ern auftauchten, kommt Lovink dann zur Computerkritik des technikfeindlichen Unabombers und den Warnungen vor einer Rückkehr des Sozialdarwinismus von Richard Barbrook, eines frühen Internet-Visionärs. Nach weiteren Virus-Metaphern in Netzdiskursen meint Lovink: “Die kulturelle Mem-Suppe verweist noch einmal auf Kolman.” (S.196) Dieser hätte auf ein wichtiges Flusser-Zitat referiert: “Menschen gruppieren sich nicht mehr in Bezug auf Probleme, sondern eher in Bezug auf technische Bilder.” Für Kolman hätten technische Bilder, je mehr sie als soziales Bindeglied wirken, desto mehr die Rolle technischer Verbreitungsmedien für die Sozialisation verstärkt.

Netzkultur vom Faschismus wegsteuern

Für Lovink stellt sich angesichts der Wahl Trumps 2016 die Frage, wie wir unsere Netz- bzw. Memkultur “vom aktuellen, alles durchdringenden Faschismus” wegsteuern können (S.197). Er warnt jedoch vor Kontrollfantasien, die aus der  “memetischen Faszination” evolutionärer Macht entstehen, die er mit dem SF-Horrorfilm “Alien” illustriert: Dort bewunderte der böse Android Ash das tödliche Alien als “perfekten Organismus”, nicht behindert durch Ethik, Gewissen oder Moral.

Wohin die Absehung von Ethik führen kann, hatte Lovink bereits zuvor ausgiebig erörtert, im Kapitel “Von der Registrierung zur Auslöschung – Über technische Gewalt” (S.129-156). Beim “Technohumanismus” von Yuval Noah Harari sieht Lovink das Streben nach der “Optimierung einer Handvoll von Übermenschen”, anstelle der Gesundheitsversorgung der nutzlosen Menschenmassen. Er vergleicht dies mit dem Nazi-Faschismus und seiner Genozid-Politik, der in den bürokratisch wohlorganisierten Niederlanden während der deutschen Besetzung prozentual mehr Juden zum Opfer fielen als anderswo. Der Bildhauer Gerrit van der Veen habe mit seinem dagegen gerichteten Bombenanschlag auf das Staatsarchiv in Amsterdam 1943 immer Lovinks Fantasie angeregt (S.132). Der deutsche Autonome Detlef Hartmann habe mit “Die Alternative: Leben als Sabotage –zur Krise der technologischen Gewalt” (1981) das “post-utopische Dokument meiner Generation” vorgelegt, “sperrig eingeschoben zwischen Hippies und Yuppies, Disco und Punk, ist nie ins Englische übersetzt worden… Das Buch, voll von marxistischem Jargon, atmet die Bitterkeit seiner Zeit.” (S.133) Zwischen der Diskursanalyse von Michel Foucault und dem Kinderbuchautor Michael Ende sucht Lovink nach Sinn im Widerstand.

Der Widerstand gegen Vokszählungen in den 1980er-Jahren sei ein wichtiges Beispiel. Das Buch “Die restlose Erfassung: Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus” (1984) von Historiker Götz Aly und dem deutschen Autonomen Karl Heinz Roth ist für Lovink eine “wichtige historische Studie, die die Volkszählung und die Rolle der Statistik während der Nazizeit behandelt.” (S.139) IBM wird hier die Hilfe für die Nazi bei der Identifizierung von Juden für den Völkermord vorgehalten. 2001 erschien dann Edwin Blacks “monumentale Studie” zu “IBM und der Holocaust”, die Lovink ausführlicher referiert, um nach weiteren Gründen für und Ansätzen zum Widerstand beim Kölner Capulcu-Kollektiv anzukommen. Dessen Pamphlete riefen in der “Tradition luddistischer Widerstandsstrategien” zur zeitgemäßen digitalen Selbstverteidigung auf (S.152).

“Capulcu analysiert die ‘Innovationsoffensive’ als einen Motor, der den ewigen Zyklus Blase – Stagnation – Populismus – Krieg antreibt.” (S.153). Das Kölner Kollektiv rufe zum Angriff gegen Selbstoptimierung und Nudging-Logik auf, die einen beschränkten freien Willen voraussetzen und auf Manipulation setzen würden. Lovink beendet dieses dunkelste Kapitel seines Buches mit Slavoj Zizek und dem neomarxistischen Duo Hardt/Negri, wo er weitere Anregungen für Widerstand gegen den “digitalen Angriff” auf die Menschlichkeit sucht. Bei Hardt/Negri gibt es den Aufruf, “ins Herz der Technik” vorzustoßen, um sie gegen die herrschenden Kräfte zu richten, die diese Technik missbrauchen. Andererseit hätte Capulcu zum Widerstand gegen den ‘digitalen Angriff’ aufgerufen. Lovink schließt: “Was wir als nächstes machen müssen ist, die Debatte zu organisieren, uns über die vielfältigen Optionen militanten Kampfes gegen den Plattform-Nihilismus zu informieren und all diese Optionen auf den Tisch zu legen.” (S.156)

Es folgen Kapitel über Selfies und Narzissmus und die “Ästhetik des Gesichtslosen” hinter der Guy-Fawkes-Maske von Anonymous. Diese Bewegung sei “ein kollektives Kunstwerk, eine Performance des sozialen Potentials des Prekariats als vernetze  Klasse.” (S.185) Lovink lässt bei seiner Beschreibung die harte Strafverfolgung mit schweren Gefängnisstrafen auch für jugendliche Aktivisten dieser Bewegung vor allem in den USA unter den Tisch fallen und erklärt die Maskierung zur bevorzugten Taktik des benötigten Widerstands.

Statt der versprochenen Befreiung und Selbstverwirklichung erlebten viele Nutzer zunehmend Kontrolle, Überwachung und Manipulation durch Techgiganten wie Google, Facebook und Amazon. Diese Unternehmen haben es geschafft, die ursprünglich dezentralen und offenen Strukturen des Internets zu monopolisieren und zu kommerzialisieren. Dies führt zu Entfremdung und Desillusionierung, sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene.

Für Lovink ist dies eine klare Warnung, die wir ernst nehmen müssen. Er plädiert dafür, dass wir uns bewusst werden müssen, dass die digitale Revolution nicht nur positive Entwicklungen mit sich bringt, sondern auch tiefgreifende Herausforderungen birgt, die wir angehen müssen. Dies erfordert ein Umdenken darüber, wie wir Technologie in unserer Gesellschaft einsetzen und wie wir sicherstellen können, dass sie zum Wohle aller eingesetzt wird.

Demokratie, Desinformation und Gemeinwohl

In seinem Buch problematisiert Lovink die Auswirkungen des digitalen Nihilismus auf Politik und Demokratie. Die Verbreitung von Desinformation und Propaganda im Internet hat zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft geführt, die die Demokratie gefährden kann. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Buches ist Lovinks Forderung nach einer Neugestaltung der digitalen Infrastruktur im Sinne des Gemeinwohls. Er plädiert für die Stärkung alternativer digitaler Plattformen, die auf demokratischen Prinzipien und der Freiheit der Nutzer basieren. Dazu gehören dezentrale Netzwerke, verschlüsselte Kommunikation und Open-Source-Software, die den Nutzern die Kontrolle über ihre Daten zurückgeben. Der Autor fordert eine Rückbesinnung auf menschliche Werte, kritisches Denken und eine aktive Auseinandersetzung mit der digitalen Welt.

Geert Lovinks Analyse stützt sich auf eine Vielzahl von Beispielen und Fallstudien aus der digitalen Praxis. Er zeigt auf, wie die kommerziellen Interessen der Tech-Firmen das Gemeinwohl und die demokratischen Prinzipien untergraben und zu einer Krise der digitalen Öffentlichkeit führen. Er warnt davor, dass die Ideale der digitalen Revolution, etwa Demokratisierung, Vernetzung und Informationsfreiheit zunehmend von kommerziellen Interessen und autoritären Strukturen untergraben werden. Dabei verweist er auch auf konkrete Lösungsansätze für eine alternative digitale Zukunft. Eine lesenswerte Lektüre für alle, die sich mit den Auswirkungen der digitalen Technologie kritisch auseinandersetzen wollen.

Lovink, Geert: Digitaler Nihilismus. Thesen zur dunklen Seite der Plattformen, transcript, Bielefeld 2019, 240 Seiten.

04/23/20

Graphic Novel-Rezension: Transgender Digitalkultur

Hermine Humboldt

Peer Jongeling: „Hattest du eigentlich schon die Operation?“, Berlin 2020.

Als 2016 der Kulturphilosoph Felix Stalder seine „Kultur der Digitalität“ entwarf, begann er seinen Ausflug ins 21.Jahrhundert mit dem ESC 2014, den die glamouröse Diva mit Bart, Conchita Wurst, souverän gegen alle sexistischen Anfeindungen gewann. Damals galt es ein Zeichen zu setzen für Diversität und das Recht des Individuums, sich selbst zu definieren. Ein Zeichen gegen das immer aggressivere Maulen und Pöbeln der Homophobie-geschüttelten Reaktionäre, der braunen Brüder und Nationalisten mit ihrem Geraune über angeblichen Kulturverfall, Dekadenz und ein drohendes „Gayropa“. Wenn Trump und Putin etwas verbindet -außer dubiosen Immoblien-Deals in Moskau-, dann wohl die Kunst, auf diesen dunklen Ängsten des Mainstreams ihre Propaganda-Tarantella zu spielen. Felix Stalder sieht hier die Wurzel einer Vielfalt feiernden „Kultur der Digitalität“, deren Netzmedien und Digitalkultur der Diversität nur technologisch zum Durchbruch verhalfen.

Was ist aber mit unserer Conchita und allen anderen Queer- und Trans-Menschen? Heteronormalos genießen die Kulturvielfalt auf Sofa, Smartphone usw., selbst im träge-konservativen ZDF-Krimi tummeln sich inzwischen einige homosexuelle, farbige oder sonst nicht „Normale“ in der hölzernen Handlung. Aber bis das ESC-Spektakel wirklich in der zwischenmenschlichen Alltagskultur Schule macht, ist noch ein langer Weg. Peer Jongeling geht ihn und widmet dem heißen Thema ein sozialkritisches Comic, umschifft dabei heikle Fallgruben. Es geht um Erotik und Körperlichkeit, doch die tonnenförmig an Pinguine erinnernden Figuren lassen auch bei Sexszenen kaum voyeuristische Blickweisen aufkommen. Und karikaturhaft-humoristische Pointen lockern die ernste Story auf.

Ein Himmel voller Gender-Sternchen

Immer noch regen sich manche KritikerInnen über Schreiber*innen auf, die diese oder jene Gender-Schreibweise bevorzugen, derweil haben reale Transgender ernstere Probleme: Anfeindungen, Diskriminierung, Outing, Kleiderkauf, Namensänderung bis hin zur Frage nach der operativen Geschlechtsumwandlung. „Ari, Lilly, Paul und Ray erzählen aus ihrem Leben als Transgender“, erklärt das grellrote Backcover, verziert mit blaugrün-floralen Ornamenten, aus denen sich menschliche Arme schlängeln. Autorin Peer Jongeling tritt einleitend selbst auf:

„Hallo ich bin Peer! In diesem Heft habe ich mehrere Kurzgeschichten zum Thema Transidentität zusammengefasst. Sie basieren auf wahren Gegebenheiten und verarbeiten sowohl Erfahrungen von Trans-Personen als auch persönliche Erlebnisse. Die Protagonisten sind frei erfunden und stellen keine echten Personen dar. Ebenso sind sie individuelle Charaktere und keine verallgemeinernde Repräsentation von transidenten Menschen. Tschüss und viel Spass.“

Die Story beginnt lehrbuchartig: „Mein Name ist Paul. Auf diesen Seiten werden ein paar wichtige Begriffe erklärt,“ verkündet eine der Hauptpersonen für die erste von zwei Doppelseiten mit Erklärungs-Sprechblasen, die aus quasi vom Einband her herüber wuchernden Pflanzen sprießen. Von „Transgender, Trans, Transident: Personen, die sich mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht identifizieren können.“ über „Misgendern: Als ein Geschlecht adressiert werden, welches nicht der Identität entspricht.“ und „Dysphorie: Das Unwohlsein mit dem eigenen Körper. Für Trans-Personen oft auf Geschlechtsmerkmale bezogen.“ bis zu „Passing: Trans-Menschen, die aussehen ‚wie‘ ihr angestrebtes Geschlecht. Kritisierter Begriff, da impliziert wird, dass sie nur so aussehen.“ So werden neun Genderbegriffe erklärt.

Dann geht es los -mit dem tränenreichen Outing: „Mama ich bin keine Frau und ich möchte ab jetzt als Mann leben. Ich bin Transgender.“ „Was ist denn Transgender?“ Beim folgenden „Shopping mit Lilly“ geht’s um den Kleiderkauf, wo neben unpassenden Größen auch andere KundInnen nerven: „Mama, was ist das da?“ – „Ich bin kein ‚Dasda‘, ich bin eine Frau.“ „Und wieso ist deine Stimme so tief?“ – „Das geht dich nichts an!“ Beim Bezahlen nörgelt der Kassierer über die Kreditkarte: „Da steht ein Männername drauf, Sie können nur mit ihrer eigenen Karte zahlen.“

Noch unangenehmer wird es für den männlichen Trans-Menschen bei der gynökologischen Untersuchung seiner zu Identität und Aussehen (noch?) nicht passenden Unterleibsorgane. Nicht viel einfacher ist die amtliche Vornamens- und Personenstandsänderung, bei der eine psychologische Begutachtung mit sehr intimen Fragen ansteht: „Und wie oft masturbieren Sie im Monat?“. Harmloser ist das Trans-Bettgeflüster und die Besuche von Party oder Fitness-Club. Ein pädagogisch wertvoller Einblick in die Mensch*innen hinter dem Gender-Sternchen, der z.B. die Frage aufwirft, ob die standardmäßig gestellte Frage nach dem Geschlecht seitens Behörden, Arbeitgebern, Firmen usw. noch zeitgemäß ist. Nach unserer „Rasse“ fragt uns schließlich auch keiner mehr (hoffentlich bleibt das auch so). Die Kultur der Digitalität braucht Diversität und Hybridisierung, die zuletzt auch unsere Körper erfasst. Vorsicht und Rücksicht sind dabei die wichtigsten Forderungen.

Peer Jongeling: „Hattest du eigentlich schon die Operation?“, Berlin: Jaja-Verlag 2020, 40 S., 11,00 Euro, https://www.jajaverlag.com/autoren/peer-jongeling/

www.peerjongeling.de

03/23/20

Graphic Novel-Rezension: Gen Z Subjekt Bewusstseinsstrom

Hermine Humboldt

Paulina Stulin: Bei mir zu Hause, Berlin 2020

Der Einband zeigt aus der Perspektive einer Taube das Dach des im Titel genannten Hauses. Des Daches, unter dem die Comicautorin lebt. Sie selbst sitzt mit einer Kaffeetasse im offenen Klappfenster und lässt ihren Geist die heutige Subjektivität erkunden -in den Bildern einer Graphic Novel, die ein Graphic Diary ist.

Der Ziegelstein von Comic-Book liegt 615 Seiten schwer in der Hand wie ein Lexikon. Oder wie der Ulysses von James Joyce. Dessen Erzählweise im Bewusstseinsstrom eifert das grafische Tagebuch von Paulina Stulin teilweise nach. Für eine Künstlerin ist es jedoch ein realistisch-bodenständiges Bewusstsein, das da in Bildern auf die Leserin einströmt. Oder ist das nur wieder eines der uns allen andressierten Klischees, gegen die Paulina tapfer ankämpft? Die verträumte Fantastin mit der Feder der Muse? Welcher Muse? Wohl weniger Thalia (Komödie) als Kalliope (Epos), am ehesten vielleicht doch Melpomene (Tragödie). Es geht weniger um Träume als um gelebte Politik der streitbaren Frau, um Rassismus, Kapitalismus und die sexistische Zurichtung von Frauen, um dümmliche Zeitgenossen, AfD-Propagandisten, auch den Kampf gegen die eigene Bequemlichkeit als relativ privilegierte Bohemienne, einen Kampf mit den Verlockungen fetter Speisen und schlanker Jünglinge. Dabei schont sich die Autorin nicht, es ist keine Chronik verlogener Selfies, die eitel Sonnenschein vorspiegeln sollen.

Augen Blicke Perspektiven

Der Einband zeigt, vielleicht aus der Perspektive einer auf einem Erker hockenden Taube, das Dach des im Titel genannten Hauses, des Hauses, unter dem die Comicautorin lebt. Sie selbst sitzt in schwarzer Jeans und gleichfarbigem Trägerhemd mit der Kaffeetasse im offenen Klappfenster. Weniger verträumt als energisch schaut sie über die mit vier- bis fünfstöckigen Mietshäusern bebaute Straße hinweg in einen hellblauen Himmel, den ein kleiner Möwenschwarm bevölkert. Das dachziegelrote Backcover beantwortet die selbst gestellte Frage: „Wie fühlt es sich an, in den späten Zehnerjahren des 21.Jahrhunderts auf der Welt zu sein? Auf diese Frage gibt es 7 Milliarden Antworten. Eine davon ist dieses Comic.

Lässt frau unter einigem Kraftaufwand die gut 600 Seiten als Daumenkino noch einmal passieren, überwiegen Schwarz und dunkle gedeckte Farben, unterbrochen von hellen Passagen mit viel nackter Haut und einigen rot-orangenen Einsprengseln von Lagerfeuerromantik, Party oder Drogenrausch. Obwohl mich anfangs die Normalität, um nicht zu sagen Banalität der Ereignisse leicht irritierte, hat mich die Story schnell gepackt, ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen. Das erste Bild zeigt das schöne braune Auge der Künstlerin, einen weiblichen Blick, sehr offen, vielleicht staunend, vielleicht nachdenklich. Frau blättert um und sieht, was sie sieht: Eine Taube auf einem Mauervorsprung durch das Dachfenster ihrer Studentinnenbude. Darunter: Ihr Gesicht ab Nase abwärts, eine Zigarette in sexy geschwungenen Lippen wird entzündet. Nächste Seite: Ihr Blick auf den Rauch der zur Zimmerdecke strömt. Ihr Finger schnippt Glut in den Aschenbecher. Dann ihre Augen, diesmal als Augenpaar, mit müdem Blick, desillusioniert.

Nächste Seite: Die Rauchende sitzt auf dem Bett, jetzt trauriger, fast verzweifelter Blick. Sie zieht. Rauch steigt auf. Nächste Seite: Ein Bärtiger, ebenfalls traurig rauchend. Acht schweigende Seiten, wir ahnen dass die beiden Gegenübersitzenden Probleme haben. Er spricht zuerst: „Komisch, ich hätte nicht gedacht, dass es so abgeklärt mit uns zu Ende geht.“ Aha. Wir sind in einer Trennungsszene. Die zieht sich über acht Seiten, mit einigen Sprechblasen voller Vorwürfe, aber es bleibt bei einer Vernunfttrennung. Dann vier Seiten sie allein beim schmollen, Musikhören, putzen, Joga, am Computer. Dann 17 Seiten schwarzer Tönung: Sie trifft ihn abends wieder beim Imbiss, diesmal wird der Streit lauter, endet in gemeinsamem Schweigen. Nächster Morgen: Sonnenaufgang über den Dächern von Darmstadt, sieben Seiten Stadtlandschaft, dann sind wir beim Titelbild des Bandes, etwas verschobener Bildausschnitt, und verstehen nun den entschlossenen Blick der Kaffeetrinkerin: Es muss sich etwas ändern. Aber erst wird Bilanz gezogen: „Dreizehn Jahre wohne ich nun schon hier. Meine Höhle in der Höhe. Mein Elfenbeinturm. Hier ist der sicherste Ort der Welt.“ Von dem aus sich Paulina ins Leben stürzt.

Politik Argumente Schwächen

Die Bilder entfalten Sogwirkung. Sie trifft Freunde, schleppt sich Lover ab, nimmt Drogen, OP nach Fahrradunfall, Urlaub in Spanien mit Exibitionist am Strand und Magic Mushrooms, heiße Diskussionen auf Parties, bei denen sie mit ihren Ansichten aneckt, als „Linksradikale“ angebrüllt wird. Bei solchen Partie-Polit-Diskussionen offenbart Paulina Stulin leider argumentative Schwächen, die wohl zeigen, dass sie sich -obwohl erklärte Linke- sich nicht wirklich aus linken Medien informiert. Was sie vorbringt ist ein durch linke Sichtweise gefilterter Mainstream, der dort gegen einen rechtsgefilterten Mainstream steht: Es entsteht eine inhaltlich flache Debatte adressatlosen Moralisierens, die als Minimalkonsens nur die Gefahr des Neofaschismus kennt. Kritik an westlichen Herrschenden, ob politische oder ökonomische Machteliten, wird dadurch wie in orwellscher Big-Brother-Hirnwäsche unmöglich gemacht. Ein Dialog der Protagonistin mit einem Party-Normalo:

„Pauli, du willst mit doch jetzt nicht erzählen, dass du ernsthaft glaubst, dass wir ganz Syrien nach Deutschland holen können!“ „Was willst du sonst machen, wenn Menschen versuchen, die Grenzen zu passieren? Sie abknallen?“ „Ich will gar nichts!“ (Der Typ schreit mit wutverzerrtem Gesicht.) „Also ja?“ (Paulina guckt erst mit offenem Mund, fängt dann an zu weinen.) „“Na sehr schön, jetzt leg noch ein paar Tränen drauf, um mir reinzudrücken, wie fies und gemein ich bin… Du geilst dich doch grad nur an deiner eigenen Betroffenheit auf, sonst nichts!“ (Andere Partygäste intervenieren, man fühlt sich im Vergnügen unangenehm belästigt.) „Ey, ihr beiden, macht euch mal locker!“ Paulina verlässt die Party, geht einsam und frustriert nach Hause (S.447-58).

Paulina hat leider das Scheinargument „Wir können doch nicht alle ins Land lassen“ nicht als solches erkannt: Aus „wir können nicht alle“ folgt nicht logisch, dass wir die ein oder zwei Millionen, die jetzt noch kommen könnten, draußen lassen müssen. Aus: „Du kannst ja nicht die ganze Luft in diesem Raum einatmen“ folgt schließlich auch nicht, dass du jetzt ersticken musst. Außerdem: Diese zwei Millionen könnten wir relativ leicht aufnehmen und integrieren -eine linke Umverteilungspolitik nebst Reichen- und Erbschaftssteuern und neu geschaffenen Arbeitsplätzen vorausgesetzt. Auch so etwas zu fordern fällt Paulina nicht ein -trotzdem wird sie vom „Party-Normalo“ als „linksradikale“ Ideologin angepöbelt.

Auf die Frage nach den Fluchtursachen besagter Syrer kommt Paulina auch nicht, also auf die von Westmachthabern, -Geheimdiensten, -Konzernen überall angezettelten Kriege, Bürgerkriege und Wirtschaftskriege -wie etwa in Irak, Venezuela, hier: Syrien, wo die ersten Unruhen gegen Assad von Außen gesteuert waren. Es waren nur in unseren Leitmedien ein paar Jugendliche allein, die Assad mit Graffiti ärgerten, verschwiegen werden immer wieder gewaltsame Terrorakte gegen Polizisten, die Gegengewalt provozieren sollten. Warum? Um den Nato-Staaten einen Kriegsgrund zu liefern, um die Abramowitz-Doktrin der USA umzusetzen, eine Hauptaufgabe der CIA. Nachlesbar wäre das in Medienkritik an unserem Mainstream, in der Enthüllung seiner Propaganda (z.B.MH17), in Geschichtsbüchern nicht westregime-treuer Historiker wie Daniele Ganser.

Aber all das wird täglich totgeschwiegen eben vom Medien-Mainstream, den Paulina überwiegend zu konsumieren scheint -also hat sie z.B. auch ökonomisches Unrecht oder  WikiLeaks und Julian Assange  eher nicht auf ihrem Schirm… Bücherlesen gehört laut ihrem Graphic Diary leider eher nicht zu ihren Aktivitäten und linke Politblogs wohl auch eher nicht -die Mainstream-Medien-Hypnose, von der Nobelpreisträger Harold Pinter in seiner Nobelspeech sprach, wirkt eben auch auf viele Menschen, die mit dem Herzen links stehen. Sie werden desinformiert, verwirrt und von wirksamer Politik nachhaltig abgelenkt. Darum sind die Machtverhältnisse bei uns so, wie sie sind.

Da bleibt Paulina mangels Argumenten oft nur der Gefühlsausbruch, aber oft auch die herzerfrischende Aktion: Auf der Straße, es ist wohl gerade Wahlkampfzeit, greift sich Paulina am AfD-Stand alle Broschüren und rennt weg, sie fetzt AfD-Aufkleber von Laternenmasten. Sie brüskiert auch bourgeoise Bürgerinitiativler, die Unterschriften für eine Umgehungsstraße sammeln, reißt ihnen die Liste mit schon gesammelten Namen weg und zerfetzt sie: Umgehungsstraßen produzieren nur neuen Autoverkehr! Baut lieber Verkehrsberuhigungen und fördert den ÖPNV!

Großstädtischer Alltag, mit Arbeit, Leute treffen, Einsamkeit, Fressorgien, gefolgt von Diät und Abspecken, Demos für Solidarität mit Flüchtlingen und gegen die Klimaverbrechen unserer Zeit. Ein ganz normales Leben eben. In einem empfehlenswerten Comic.

Paulina Stulin: Bei mir zu Hause, Berlin: Jaja-Verlag 2020, 615 S., 35,00 Euro