10/1/25

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus?

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung. Brandes & Apsel, Frankfurt 2024, 199 S., 29,90 EUR

Rezension von Thomas Barth

Investigativ-Journalismus ist bedeutsam für das Selbstbild des Journalismus und der westlichen Gesellschaften, als Kampf um Wahrheit im Namen der Demokratie. Nur wenn das Wahlvolk auch über zweifelhafte Machenschaften der eigenen Regierungen und Mächtigen informiert ist, kann man von wirklich demokratischen Wahlen sprechen. Die Freiheit der Medien und damit der Wahlen wird regelmäßig in nicht-westlichen, autokratischen Ländern angezweifelt, von denen sich der Westen gerne abgrenzt. Umso schwerer wiegt Kritik an mangelhafter Freiheit unserer westlichen Medien, zumal wenn sie von renommierten Insidern kommt wie dem berühmten ARD-Mann Wolfgang Landgraeber. Er dokumentiert Manipulation, Überwachung und Verfolgung, denen unsere Medien seitens der Mächtigen ausgesetzt sind und schrieb selbst Mediengeschichte als Mitautor des Buches „Das RAF-Phantom. Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen brauchen“. Landgraeber beschreibt im vorliegenden Buch, wie er (und viele andere) während der Recherchen zu bzw. der Publikation von „Das RAF-Phantom“ Ziel von Bespitzelung, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen und Strafverfolgung wurden. Er schreckte bei Recherchen nie vor Spuren zurück, die in Richtung von Geheimdiensten auch des eigenen Landes führten, was viele Vertreter seiner Zunft zu sofortigem Verstummen bzw. zur Flucht in vernebelnde Narrative von angeblichen „Verschwörungstheorien“ geführt hätte. An zahlreichen weiteren, wenn auch meist weniger bedeutenden Enthüllungen werden staatliche Eingriffe in die Pressefreiheit dokumentiert, von denen Medienkonsumenten meist wenig oder gar nichts erfahren haben dürften.

Autor, Gastbeiträger und Hintergrund

Wolfgang Landgraeber studierte Sozialwissenschaften, Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik, war vielfach preisgekrönter Redakteur bei den seinerzeit bedeutsamen ARD-Polit-Magazinen „Monitor“ (1976-88, Grimme-Preis 1985) und „Panorama“ (1988-93), oft mit Rüstungs-, Militär- und Geheimdienstkritik (etwa „Die Zerstörung der RAF-Legende“, ARD 1992), in seinem mit Ekkehard Sieker und Gerhard Wisnewski verfassten Buch „Das RAF-Phantom. Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen brauchen“ wurde die offizielle Geschichte der Terrorgruppe „Rote Armee Fraktion“ in Frage gestellt: Ab der sog. „3.Generation der RAF“ (80er Jahre) sei sie als unterwandert bzw. von deutschen Behörden und verbündeten Geheimdiensten (CIA) instrumentalisiert zu betrachten; ihre Terroranschläge seien im Zusammenhang mit anderen infiltrierten Terrorgruppen und dem geheimen „Stay-Behind-Netzwerk“ der Nato zu sehen, aufgeflogen 1990 als „Gladio“-Skandal. Das Buch und das daran anschließende Nachfolgewerk „Operation RAF“ wurden Bestseller und sogar als Polit-Thriller „Das RAF-Phantom“ verfilmt –was leider zur Mystifizierung der Thematik beitrug. Viele Schlussfolgerungen und Verdachtsmomente erwiesen sich jedoch im weiteren Verlauf der Aufklärung von „Gladio“ als stichhaltig.Später beförderte die ARD Landgraeber zum WDR-Leiter für Kultur- und Naturdokumentationen; ferner war Landgraeber von 1982-2022 Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen. Seine Gastbeiträger sind die ebenfalls investigativ-sozialkritischen Dokumentarfilmer Peter Heller und Gert Monheim ( Ex-WDR-Redakteur).

Inhalt

Das Buch gliedert sich in Vorwort und 15 Kapitel in historischer Reihenfolge, die zumeist der Biografie Landgraebers folgen. Im Vorwort relativiert Landgraeber aktuelle Aufregungen um rechtsradikale Attacken auf Journalisten, die etwa von Demonstrationen gegen Migration berichten und dabei beleidigt, angespuckt und geschlagen wurden. Dies sei „alles schon mal dagewesen“, 1977 sei etwa ein WDR-Team mit einem angespitzten Baumstamm von Rechtsextremen angegriffen worden (S.7). In Demokratien müsse freier, unabhängiger Journalismus immer gegen Widerstand erkämpft werden. Landgraeber beginnt in Kapitel 1 historisch mit dem Kampf um eine Neuordnung von Presse und Rundfunk nach Nazidiktatur und gleichgeschalteten Medien: 1947 kam Augsteins „Spiegel“, 1950 die ARD. 1960 versuchte der damals bereits elf Jahre regierende CDU-Bundeskanzler Adenauer ein Privatfernsehen zu installieren, mit einem Unterhaltungschef namens Helmut Schreiber, der Hitler und Goebbels nahegestanden haben soll (S.13). SPD-geführte Bundesländer verhinderten dies zwar vor dem Bundesverfassungsgericht, aber Adenauer installierte stattdessen das CDU-nahe ZDF.

Kapitel 2 erörtert die (parteipolitische) Ausgewogenheit der Polit-Magazine: „Report München“ und „ZDF-Magazin“ auf CDU/CSU-Linie, „Kennzeichen D“ und „Monitor“ liberal, „Panorama“ SPD-nah -so war die politische Geometrie des Fernsehens austariert als Landgraeber 1976 bei „Monitor“ startete; dass manche Kollegen bei ARD und ZDF die Karriere ihrem roten oder schwarzen Parteibuch verdankten, war bekannt (S.146). Man kritisierte Bayerns CSU-Chef und Verteidigungsminister Franz Josef Strauss und seine Starfighter-Affäre (116 Piloten starben bei Abstürzen des mangelhaften Kampfjets der Bundeswehr): Eine „Frühform des Investigativjournalismus im Deutschen Fernsehen“ (S.23). Landgraeber erlebte dort einen Fall von Zensur, als „Monitor“ vom Chefredakteur Theo M.Loch (CDU) genötigt wurde, eine Atomkritikerin aus einem TV-Bericht über die Brokdorf-Demonstrationen zu entfernen; Loch wurde danach jedoch selbst schnell aus dem Amt geworfen, weil jemand recherchiert hatte, dass er bei Einstellung seine Mitgliedschaft in Hitlers Waffen-SS verschwiegen hatte (S.25).

Kapitel 3 „Selbst erlebte Beispiele staatlicher Eingriffe in die Medienfreiheit“ beschreibt drastisch, wie Landgraeber selbst Ziel von Strafverfolgung wurde, eine frühmorgendliche Razzia nebst Beschlagnahme von Recherche-Material erlebte, Hausdurchsuchungen auch bei seinen Co-Autoren Ekkehart Sieker und Gerhard Wisnewski sowie beim WDR, der Vorwurf: „Beihilfe zum Geheimnisverrat“. Dem Autorentrio gelang u.a. den Kronzeugen der Anklage gegen die RAF im Fall des Mordes am Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen zu interviewen; Siegfried Nonne , ein depressiver Drogenabhängiger, dementierte vor ihrer Kamera, je Mitglied oder Helfer der RAF gewesen zu sein, vielmehr hätten Agenten des hessischen Verfassungsschutzes ihn durch eine „verhüllte Morddrohung“ zu dem falschen Geständnis genötigt (S.33). Die Staatsanwaltschaft verteidigte ihre Ermittlungen gegen die Autoren vor der empörten Presse damit, Deckung durch die hessischen Innen- und Justizminister zu haben. Die Strafverfolgung wurde eingestellt. „Auch gegen den angeblichen Kronzeugen Siegfried Nonne wurde wegen Beihilfe zum Mord nicht weiter ermittelt. Er ist inzwischen verstorben.“ (S.34)

Auch Kapitel 4 dokumentiert, wie Mächtige in Staat, Politik und Rundfumkanstalten die Medienfreiheit behindern, im Kontext der Barschel –Affäre wurde etwa in die Wohnung Landgraebers eingebrochen, seine Akten durchwühlt (S.38); Parteipolitiker drangsalierten und zensierten kritische Sendungen. Kapitel 5 „Filmemacher unter dem Druck von Großkonzernen“ bringt die beiden Gastbeiträge: Peter Heller kritisiert den Fast-Food-Konzern McDonald’s der gegen eine Kampagne von Greenpeace klagte, die seinen Film „Dschungelburger“ verwendet hatte; Gert Monheim berichtete unter Attacken seitens CDU-Politikern über gefährliche Giftmülldeponien und Chemikalien der Unternehmen Bayer und BASF.

Kapitel 6 „Journalisten-Blocker“ erwähnt „die Enthüllungsplattform Wikileaks“ (nur ein einziges Mal im ganzen Buch, obgleich sie im investigativen Mediensektor eine immense Rolle spielt) im Fall der Schweizer Großbank Julius Bär; deren Whistleblower Rudolf Elmer konnte bei deutschsprachigen Medien nirgends Gehör finden mit seiner Enthüllung von Geldwäsche auf den Caymans, wurde von seinem Arbeitgeber und der Polizei verfolgt, saß unschuldig 220 Tage in U-Haft (S.85). Erst Wikileaks brachte seine Entlastung durch Publikation der geleakten Bank-Dokumente von Elmer; weitere Enthüllungen folgten in den „Suisse Secrets“-Leaks diverser Medien (nur nicht denen der Schweiz). Bank-, Firmen- und Militärgeheimnisse seien wichtige Hindernisse für freien Journalismus.

In den Kapitel 7-9 berichtet Landgraeber von eigenen Enthüllungserfolgen gegen Rüstungsfirmen, Biowaffen, Argentiniens Militärjunta (getarnt als Militärhistoriker Leutnant Landgraeber), um in Kapitel 10 zum „Abhörfall Günter Wallraff“ zu kommen. Herausragender Akteur seiner Zunft ist der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff, nachdem man sogar vom „Wallraffen“ spricht und damit besonders gewagtes Recherchieren meint: Undercover Einsätze, maskiert, mit falscher Biografie. Wallraff entlarvte deutschen Alltagsrassismus in der Rolle eines türkischen Gastarbeiters oder Schwarzafrikaners, deckte skrupellose Methoden der „Bild“-Zeitung auf –und wurde Ziel auch von illegalen Lauschangriffen. Ob Geheimdienste der „Bild“ gegen Wallraff halfen, bleibt unaufgeklärt; Wallraffs Kronzeuge für das Abhören, der „Bild“-Redakteur Heinz Willmann wurde vom Springer-Verlag gefeuert weil er auspackte, danach noch mehrfach von Unbekannten zusammengeschlagen und schließlich 1980 tot in seiner Wohnung aufgefunden. „’Natürliche Todesursache‘ stand im Obduktionsbericht. Wallraff hielt Willmanns Tod dagegen für Mord.“ (S.141) Kapitel 11 widmet sich Journalisten, „die sich kaufen lassen oder mit Geheimdiensten kungeln“, allen voran der „Quick“- und „Focus“-Reporter Wilhelm Dietl, der als Experte für Terrorismus und Geheimdienste auftrat, aber zugab, dass er lange auch im Sold des BND stand (S.149) und dessen dubiose Rolle schon im Buch „Das RAF-Phantom“ kritisiert wurde. BND-Mann Dietl kommentierte im Fernsehen auch Terrorakte der RAF, hinter denen Landgraeber et al. den BND vermuteten. Jahrelang bespitzelt wurde dagegen der unbestechliche Geheimdienst-Experte Erich Schmidt-Eenboom, was Landgraeber durch eigene Erfahrungen mit „Knacklauten“ im Telefon im Rahmen seiner eigenen „RAF-Phantom“-Recherchen unterstreicht (S.150).

Kapitel 12 „Wenn Propagandalügen große Kriege auslösen“ arbeitet sich durch die Historie von Bismarck und Wilhelm Zwo zu Hitler und Vietnamkrieg; dann folgen die „Brutkastenlüge“ vom Ersten Golfkrieg und das „Märchen von den irakischen Massenvernichtungswaffen“ vom Zweiten Golfkrieg, um zu Putins (von Jelzin begonnenen) Tschetschenienkrieg zu kommen, dessen Wiederaufnahme durch vier tschetschenische Bombenanschläge mit Hunderten Opfern gerechtfertigt wurde –russische Geheimdienste, Militärs und Rüstungsfirmen kämen aber als Hintermänner in Betracht; danach geht es um die „Lüge von den Faschisten in der Ukraine, die Russland zum Verteidigungskrieg zwingen“ (S.176), ob diese Faschisten nicht existieren oder sie lediglich Putin nicht zum Krieg gezwungen haben, bleibt bei Landgraeber unklar; Soziale Medien würden Propaganda verbreiten, aber etwa die investigative Plattform „Bellingcat“ habe auch russische Fakenews bekämpft. Landgraeber holt dann weiter aus, um die Geschichte der „false flag“-Operationen zu erörtern; 1998 seien Dokumente der CIA und des US-Militärs ans Licht gekommen, die den Plan eines General Lemnitzer enthüllten, 1962 in der Kuba-Krise Terrorangriffe auf das eigene Land auszuführen; durch politische Morde, die den Kommunisten angehängt werden sollten, wollte man die US-Öffentlichkeit kriegsbereit gegen Kuba bomben, doch Präsident Kennedy lehnte dies ab (S.179ff.). Kapitel 13-15 beschreiben die „Medienfreiheit in Gefahr“ durch zunehmende Überwachung (unter knappem Verweis auf die Leaks von Edward Snowden sowie die „erkennungsdienstliche Behandlung bei uns Autoren des Buches Das RAF-Phantom“, S.185) und Gewalt, etwa Fußtritte in Berlin und Sachsen oder tödlichen Beschuss durch israelisches Militär im Libanon (S.190); abhelfen könnten heute jedoch auch Recherche-Netzwerke wie GN-STAT (Global Net Stop the Arms Trade) oder ICIJ (International Consortium of Investigatve Journalists) die gegen Waffenhandel und sonstige Wirtschafts- und Steuerkriminalität ermitteln (S.195).

Diskussion

Paradebeispiel für unerschrockenen Journalismus ist (nicht nur) für Landgraeber der berühmte Reporter Günter Wallraff . Der kettete sich z.B. 1974 todesmutig als „Fabrikarbeiter Hans Wallraff“ in Athen an und protestierte gegen die dortige Militär-Diktatur (vgl. Spoo/Wallraff S.67), und ist auch hier ein kämpferisches Vorbild. Auch Landgraeber beklagt sich zu Recht und wohlbegründet über zunehmende Gängelung der Medien, doch klaffen in seiner Darstellung doch auch einige Lücken. Sehr engagiert kritisiert Landgraeber verdeckte Krieg und Putsche, für die die CIA verantwortlich zu machen ist, in Guatemala, Iran, Chile. „Insgesamt waren es 211 Umstürze und verdeckte Krieg allein in Lateinamerika.“ (S.181) Doch scheint Landgraeber nie von der „Jakarta-Mehode“ gehört zu haben, nach der dieser Staatsterrorismus seit 1965 weltweit organisiert wird (vgl. Vincent Bevins 2023). Auch was die in diesem strategischen Zusammenhang in Europa aktiven „Gladio“-Strukturen angeht, ist Landgraeber wohl nicht mehr auf dem neuesten Stand, was seine Bücher und Dokumentarfilme zum „RAF-Phantom“ noch in Anspruch nehmen konnten (vgl. Ganser).

Was die juristische Seite des Journalismus angeht, lobt Landgraeber zwar die Entschärfung des für Enthüllungs-Reporter gefährlichen Paragrafen 353b StGB (Dienstgeheimnis/Beihilfe zum Geheimnisverrat) anno 2010 (S.35), übersieht jedoch die Verschärfung von 130 StGB (Volksverhetzung), die –freilich öffentlich kaum beachtet- am 20.10.2022 den Bundestag passierte: Sie stellt neben dem bisherigen Tatbestand des Anstachelns von Hass und Pogromen im Inland nunmehr auch „das öffentliche Billigen, Leugnen und gröbliche Verharmlosen“ von Völkermord und Kriegsverbrechen unter Strafe; laut dem Kritiker Stefan Luft zielt das Gesetz auf „das Leugnen von Verbrechen im Ukraine-Krieg“ worin der Strafrechtler Gerhard Strate die Gefahr einer gefährlich schwammigen „Gesinnungsjustiz“ sieht, die womöglich Gegenstimmen zu Nato-Narrativen über Russland disziplinieren soll -und damit einer dringend nötigen Entspannungspolitik entgegen steht (Luft S.312).

Ex-Gesundheitsminister Spahn bei zweifelhaften Geschäften anzuprangern mag politisch relevant sein (S.155), aber dafür übersieht Landgraeber das zweifelhafte mediale Agieren des damaligen CDU-Steuerexperten und heutigen Kanzlers Friedrich Merz im Sinne der Finanzkonzerne in der Finanzkrise 2008 (vgl. Barth 2009). Die wachsende Dominanz privater Medien als Blocker für Aufklärung und Medienfreiheit kommt ebenfalls zu kurz (vgl. Spoo 2006). Auch ein hochmotivierter Journalist kann zwar nicht alles wissen, aber einige Lücken Landgraebers verblüffen doch: Darf man heute noch über die abnehmende Glaubwürdigkeit unserer Qualitätsmedien räsonieren, ohne ein einziges Mal den Relotius-Skandal zu erwähnen? Kein ARD-Polit-Magazin oder Investigativ-Recherche-Netzwerk kam den massenhaften, vielfach mit Journalismus-Preisen überhäuften Lügen auf die Schliche, sondern der von Relotius unkollegial behandelte Ko-Autor einer Reportage, Juan Moreno (vgl. Moreno 2019). Oder den ARD-Framing-Skandal um die Manipulations-Expertin Elisabeth Wehling, die für ein fünfstelliges Honorar der ARD erklärte, wie sie ihre Zuschauer noch effektiver mit „Narrativen“ einwickeln kann? (Anstatt sie auf Basis sauberer Recherche mit ausgewogener Information zu versorgen.) Und wenn man zwar anhand des Geheimdienst-Experten Erich Schmidt-Eenboom die Verwicklung von Journalisten in Geheimdienste kritisiert, darf man dann aber dessen einschlägiges Buch verschweigen: „Geheimdienst, Politik und Medien. Meinungsmache UNDERCOVER“ (2004), wo über diese für Landgraebers Thema so fundamental wichtige Problematik doch umfassend aufgeklärt (!) wird?

Hat dieses verschwiegene Buch von Erich Schmidt-Eenboom womöglich ein in (fast) allen Medien tabuisiertes Thema zu deutlich behandelt: Dass besonders die westdeutsche Kulturszene und insbesondere Publizisten und Journalisten bereits seit den 1950er-Jahren Ziel korrumpierender CIA-Geldflüssen sind? (vgl. Saunders: CIA & Arts & Letters) Trotz immenser kulturhistorischer und politischer Bedeutung wird der CCF („Congress for Culturel Freedom“, manchmal auf „Conference“) nach Kräften beschwiegen, abgesehen von wenigen halbversteckten und kaum wahrgenommenen (siehe Landgraeber!) Feigenblatt-Artikeln, wie jenem im DLF, den hauptsächlich störte, die üppig mit CIA-Dollars, Kaviar und Luxushotelzimmern geschmierten Publizisten könnten nicht antikommunistisch genug gewesen sein („geldgierige wie ruhmsüchtige Lumpenkünstler und Lumpenintellektuelle, die sich das antikommunistische Mäntelchen lediglich aus Verkaufsgründen umhingen“ DLF). Der CIA schuf jedoch zum Zweck der Kontrolle und der Infiltration des westlichen Kulturbetriebs den CCF und viele namhafte Publizisten zogen in den intellektuellen Kampf gegen die Sowjets: Besonders effektiv waren die linksliberalen, sozialdemokratischen, sozialistischen Antikommunisten. Die meisten von ihnen hatten (angeblich) keine Ahnung, von wem ihr Geld wirklich kam, obwohl sie es sich hätten denken können. Mehrfach angeblich eingestellt, dürfen wir vermuten, dass dies Programm oder ähnliches weiterläuft, vermutlich inzwischen digitalisiert.

Wenn Landgraeber die Digitalisierung mit zunehmender Überwachung und Drangsalierung von Journalisten verbunden sieht (S.157), liegt er richtig, hätte aber genauer über die Verbindung des von ihm herbei zitierten Edward Snowden (S.183) mit Wikileaks recherchieren sollen; dessen Team hatte u.a. Snowdens Flucht ins russische Asyl organisiert. Insbesondere entgeht Landgraeber überhaupt die für Aufklärungs-Journalismus enorme Bedeutung von Wikileaks (WL), wenn er einzig die Julius-Bär-Enthüllung nennt; die wurden 2008 hierzulande aber kaum wahrgenommen. Wichtiger wären ohnehin WL-Enthüllungen zum Toll-Collect-Skandal und der Kaupting Bank gewesen, die während der Finanzkrise 2009 in Reykjavik eine Regierung stürzten. Erst am 5.April 2010 kam Wikileaks bekanntlich erstmals in die ARD-„Tagesschau“, mit kurzen Auszügen aus dem Video „Collateral Murder“, das WL-Gründer Julian Assange weltberühmt machte. Es zeigt den kaltblütigen Mord an Journalisten in Bagdad durch Beschuss aus einem US-Kampfhubschrauber und den hinterhältigen Angriff auf eine Familie mit kleinen Kindern, die den Opfern zu Hilfe kommen wollten: Bilder, die die Welt ähnlich erschütterten wie in den 1970ern das kleine von Napalm verbrannte Mädchen als Symbol der Brutalität des Vietnamkriegs.

Landgraeber aber erwähnt „Collateral Murder“ nicht, obwohl diese historische Sternstunde des Enthüllungs-Journalismus durchaus in sein Kapitel über Tötungen von Reportern gepasst hätte. Weitere Leaks aus Militärdaten zu Kriegsverbrechen v.a. der USA in Irak und Afghanistan folgten bei WL (eigentlich in bester Landgraeber-Manier). Sie wurden begleitet von einer politischen Hetzjagd auf Assange, basierend auf falschen Beschuldigungen und der Konstruktion eines „Vergewaltigungsverdachts“ –eine Geheimdienst-Justizintrige, wie später zwar herauskam, aber durch fadenscheinige Nicht-Berichterstattung von unseren Medien bis heute verschleiert wird. All dies hätte einem Buch über Investivjournalismus sehr gut angestanden, aber Landgraeber unterliegt hier leider der Verdunkelungstaktik unserer Medien und übergeht eine Richtigstellung des jahrelangen medialen Rufmordes an seinem Enthüller-Kollegen Julian Assange; vgl. Nils Melzer (Jura-Professor und langjähriger UNO-Beauftragter für Folter), der 2021 eine weitgehend ahnungslose deutsche Öffentlichkeit über diese besonders heimtückische Intrige gegen den vielleicht bislang erfolgreichsten Enthüllungs-Journalisten umfassend aufklären (!) wollte. Melzer wurde aber medial derart totgeschwiegen bzw. angefeindet, dass seine akribischen Recherchen im „Fall Assange“ bis heute bislang nahezu unbekannt blieben.

Dies mag einerseits auf den Einfluss von Geheimdiensten auf unsere Medien, wie z.B. von Schmidt-Eenboom beschrieben zurückgehen; andererseits verdunkeln unsere Medien dabei auch ihre eigene Mitverantwortung. Denn der UNO-Folter-Experte Melzer begründet ausführlich, warum die von unseren Medien weitgehend kritiklos (Ausnahme vgl. etwa Rueger) transportierte Rufmord-Kampagne gegen Assange als Teil der an ihm verübten seelischen Folter zu bewerten ist (vgl. Melzer S.90ff.). Damit wäre auch jede ARD-Meldung zu Assange, die seinen Namen mit dem geheimdienstlich konstruierten „Vergewaltigungsverdacht“ verbindet, nicht nur Teil der politischen Verfolgung eines Journalistenkollegen, sondern sogar Teil der an ihm begangenen Folter (verständlich, dass man diese Kritik lieber totschweigen möchte). Ziel war aber nicht nur die psychische Zerstörung von Julian Assange, sondern auch die mediale Zerstörung von Wikileaks und die Neutralisierung seiner Enthüllungen (von denen viele der Öffentlichkeit auch unbekannt blieben): Es geht also bei Melzer um genau die Art von geheimdienstlicher Manipulation der Öffentlichkeit, die Landgraeber in seinem vorliegenden Buch angeprangert hat.

Fazit

Landgraeber sieht den kritischen Journalismus als unverzichtbare Säule der Demokratie und plädiert für mehr Mut, Unabhängigkeit und Aufklärung. Sein Buch dokumentiert die Einmischung staatlicher, politischer und wirtschaftlicher Akteure, um kritischen Journalismus zu verhindern -leider nur unter bestenfalls nebelhafter Andeutung des diesbezüglich bedeutsamsten Falles: Julian Assange und Wikileaks. Es richtet sich an Medienschaffende und alle, die sich für die Zukunft der demokratischen Meinungsbildung interessieren.

Wolfgang Landgraeber: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung, Brandes & Apsel (Frankfurt) 2024. 199 Seiten. ISBN 978-3-95558-376-7. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

Eine gekürzte Fassung dieser Rezension erschien auf socialnet 19.403 Zeichen, vgl. Landgraeber-Rezension von Arnold Schmieder, socialnet 20.12.2024 (Umfang 20.023 Zeichen), die nahezu alle kritischen Enthüllungen von Landgraeber ausspart, sich der Bedeutung von „Das RAF-Phantom“ scheinbar nicht bewusst ist und sich stattdessen über den Begriff „Aufklärung“ und der Philosophie Immanuel Kants verbreitet (nichts gegen Kant, aber hier wirkt das wie entpolitisierende Ablenkung vom regierungskritischen Kern der Arbeit Landgraebers).

Quellen

Barth, Thomas: Finanzmafia, Lobby und ihr medialer Nebelschirm, in: Elmar Altvater: Privatisierung und Korruption. Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S.75-81.

Bevins, Vincent: Die Jakarta Methode. Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt, Köln 2023.

Ganser, Daniele: NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, Zürich 2018 (14.Aufl., Original 2005).

Landgraeber, Wolfgang, Ekkehard Sieker, Gerhard Wisnewski: Das RAF-Phantom. Neue Ermittlungen in Sachen Terror, München 1992.

Landgraeber, Wolfgang: Kritischer Journalismus im Kampf um Aufklärung. Medienfreiheit in Zeiten von Manipulation, Überwachung und Verfolgung, Frankfurt/M. 2024.

Luft, Stefan: Deutschland und der Krieg, in: Sandra Kostner und Stefan Luft: Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, Frankfurt/M. 2023, S.309-329.

Melzer, Nils: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung, München 2021.

Moreno, Juan: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus, Berlin 2019.

Rueger, Gerd R.: Julian Assange – Die Zerstörung von Wikileaks, Hamburg 2011.

Saunders, Frances Stonor: The Cultural Cold War: The CIA and the World of Arts and Letters, New York 2000, (free PDF) Originally published in the United Kingdom under the title “Who Paid the Piper?“ by Granta Publications, 1999 (dt. Wer die Zeche zahlt)

Schmidt-Eenboom, Erich: Geheimdienst, Politik und Medien. Meinungsmache UNDERCOVER, Berlin 2004.

Spoo, Eckart, Günter Wallraff: Unser Faschismus nebenan. Erfahrungen bei Nato-Partnern, Reinbek 1982.

Spoo, Eckart: Pressekonzentration und Demokratie, in: Thomas Barth (Hg.), Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg 2006, S.23-48.

09/22/25

Die Reichweitenlüge

Instagram, TikTok und Co.

Leena Simon 09.09.2025 (von Digitalcourage.de)

Millionen Follower, null Wirkung: „Social Media“ verkauft uns ein volles Stadion – und schaltet dann das Mikro stumm.

Das riesige Fußballstadion ist vollbesetzt. Das Mikrofon liegt in Ihrer Hand. „Wenn Sie dort rein sprechen“ – so hat man es Ihnen immer wieder erklärt – „erreichen Sie besonders viele Menschen.“ In Wahrheit aber ist das Mikro nur für die Reihen eins bis drei freigeschaltet. Von den 80.000 Anwesenden hört Sie tatsächlich kaum jemand.

So funktioniert das bei allen sozialen Medien mit Algorithmus. Es gibt nur einen Unterschied: Sie merken nicht, dass Sie kaum jemand hört und denken, Sie hätten mordsmäßig viele Leute erreicht. Denn die Reichweitenlüge, ein Begriff, den unser Gründungsmitglied padeluun geprägt hat, ist tief in unseren Überzeugungen angelangt.

Follower sind nicht gleich Follower

In jeder Diskussion über die Probleme der giergetriebenen sozialen Medien kommt irgendwann das Reichweiten-Argument: Da sind halt alle und dort müsse man die Menschen abholen und man tue sich ja keinen Gefallen, wenn man im Fediverse in einer Nische hockt. Dabei passiert ein grundlegender Fehler: Man darf nämlich die Follower im Fediverse nicht mit jenen auf Instagram oder X gleichsetzen. Bei Letzteren sagt es nämlich gar nicht so viel aus, wie wir denken. Denn die eigenen Follower kriegen nicht alle eigenen Posts eingeblendet. Auch da entscheidet der Algorithmus mit. Deshalb spreche ich im Fediverse gerne von „Qualitätsfollowern“. Denn die kriegen ausnahmslos alle Nachrichten angezeigt. Vielleicht erklärt sich auch so, weshalb Digitalcourage dort mit viel weniger Boosts (so nennt man dort die Shares bzw. Retweets), so viel mehr Antworten erhält.

Als X noch Twitter hieß und Digitalcourage dort auch noch einen aktiven Account betrieb, haben wir das selbst erlebt: Während unsere Inhalte im Fediverse mit deutlich weniger Followern lebhaft geteilt und kommentiert wurden, versandeten die gleichen Beiträge unseres (damals) erheblich followerstärkeren Twitter-Accounts. Follower meldeten uns immer wieder: „Wir haben eure Posts gar nicht gesehen.“ Mit einem Viertel an Followern erhielten wir im Fediverse doppelt so viel Aufmerksamkeit. So viel zur angeblich ach so viel größeren Reichweite auf Twitter. Der Algorithmus hatte uns einfach ausgeblendet. Aber wie lässt sich das belegen oder sichtbar machen?
Was viele nicht bedenken: Wenn mir der Algorithmus bestimmte Inhalte zeigt, bedeutet das gleichzeitig, dass er mir andere unterschlägt.

Erfolg als Illusion

Außerdem sehen wir ja immer nur die wenigen Erfolgsstories, die von der manipulierten Öffentlichkeit profitieren. Wir blenden dann schnell aus, dass es sich um seltene Ausnahmen handelt – um die Überlebenden einer gigantischen Auslese. Was nach allgemeinem Erfolg aussieht, ist in Wahrheit nur der „Survivorship Bias“: Wir sehen die paar Accounts, die dank Algorithmen durch die Decke gehen, und vergessen die unzähligen, die im Schatten bleiben. Da wollen wir natürlich dazu gehören. Genau mit diesem Trick füttern uns die giergetriebenen sozialen Medien – sie zeigen uns die Stars, damit wir glauben, alle könnten so glänzen.

Unzumutbare Spielregeln

Das ist allerdings eine Lüge. Denn das Versprechen der großen Reichweite entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Scheinriese. Eine große Reichweite erreichen Sie dort nur dann, wenn Sie bereit sind, sich den Spielregeln der Plattformen zu unterwerfen:

  • Wenn sich Ihre Inhalte gut kommerzialisieren lassen, also seicht, gefällig und bloß nicht zu intelligent sind.
  • Wenn Sie bezahlen – Reichweite gegen Geld geht immer.
  • Wenn Sie Inhalte auf Klick-Format eindampfen, bunt bebildern und dauernd Content rauspusten.
  • Wenn Sie besonders pointiert, polarisierend oder wutträchtig posten.
  • Wenn Sie alles bis zur Unkenntlichkeit verkürzen, keine Links setzen und sich an einer unkonstruktiven Diskussionskultur beteiligen.
  • Und wenn es Sie nicht stört, in rechtsextremer Gesellschaft zu posten, deren Inhalte stets viel mehr Reichweite kriegen werden.

Für alle anderen ist die Reichweite sehr viel kleiner, als es den Anschein hat. Lange, differenzierte oder ausgewogene Inhalte lassen sich nicht gut monetarisieren – und werden oft einfach nicht angezeigt. Das angeblich so große Reichweitenpotential steht Ihnen dann schlicht nicht zur Verfügung.

Retorten-Reichweite

Hinzu kommt: Die hohen Nutzendenzahlen dieser Plattformen sind vor allem Potential – aber nicht Realität. Wer tatsächlich viele Menschen erreicht, entscheidet allein der Algorithmus. Und in diesen Zahlen stecken ohnehin massenhaft Bots, Karteileichen, Spam-Accounts und Trolle, die Hassnachrichten verbreiten. Die schöne große Bühne ist in Wahrheit vollgestopft mit Geisterpublikum.

Das mit der Reichweite ist eine große Lüge. Wir lassen uns von Zahlen blenden, die genau gar nichts aussagen. Am Ende bleiben von Gier getriebene soziale Medien das, was sie sind: Manipulationsmaschinen, die uns glauben machen wollen, wir sprächen ins volle Stadion – während sie heimlich die Lautsprecher nur für bestimmte Reihen anschalten.

Die Reichweite ist nicht groß. Sie ist frisiert: abhängig von der Gnade jener Konzerne, die davon profitieren, uns gegeneinander aufzuhetzen.

Ehrliche Reichweite gibts im Fediverse

Dann doch lieber ins Fediverse: Da sind zwar in absoluten Zahlen aktuell noch weniger Leute unterwegs. Doch eine Community, die ich mir dort aufgebaut habe, wird mir erhalten bleiben und es gibt keinen Algorithmus, der sich zwischen mich und meine Leser.innen stellt und meine Nachrichten verschwinden lässt, weil sie nicht hasserfüllt genug sind.

Leena Simon Beitrag zuerst erschienen auf Digitalcourage.de

https://digitalcourage.de/blog/2025/die-reichweitenluege

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Info-Material zu Digitalter Mündigkeit bei Digitalcourage

In unserer Wissensreihe kurz&mündig werden komplexe Themen auf wenigen Seiten im kleinen Format herunter gebrochen, so dass alle sie verstehen können. Immer nach dem Motto: Man muss nicht alles wissen, aber man sollte wissen, wovon man keine Ahnung hat. „kurz&mündig“ entsteht als Zusammenarbeit von Digitalcourage und Art d’Ameublement. Wir nennen sie manchmal scherzhaft „Pixi-Bücher für Erwachsene“.

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08/21/25

Peter Welchering: ARD & ZDF-Radikalreform-Bedarf – GEZ 5 Euro!

Thomas Barth

Den Freunden des Internet ist Peter Welchering ein Begriff, als Netzmedien-Fachredakteur begleitete er die Entwicklung des Internet und brachte es bis zum zum Presserat. Der altgediente SWR und DLF-Redakteur ist die kompetente Stimme der wöchentlichen Samstags-Sendung „Computer und Kommunikation“, war häufig auf Jahreskongressen des Chaos Computer Clubs vor Ort und berichtet seit Jahrzehnten gut informiert und unvoreingenommen. Er landete vor drei Tagen mit fundamentaler Kritik an den ÖRR (Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten) einen Paukenschlag in der Berliner Zeitung: Die ÖRR-Chefetagen streichen Luxusgehälter sowie üppige Pensionen ein und lassen immer weniger Geld übrig für die Programm-Produktion. Der ÖRR sei, so Welchering, ohne Radikalreform nicht überlebensfähig -und er liefert konkrete Lösungsvorschläge für die Rundfunkpolitik.

„Ich habe das mit einigen Rundfunkpolitikern diskutiert. Die zeigten sich dann jedes Mal erstaunt, weil ihnen die Hierarchen von ARD und ZDF doch immer anderes erzählen. Aber so richtig anpacken wollten sie das Problem der tickenden Zeitbombe namens ÖRR dann auch nicht. Sie fürchten, dass sie dann im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht mehr vorkämen oder sogar publizistisch fertiggemacht würden, wenn sie sich solche medienpolitischen Vorschläge öffentlich zu eigen machen würden. Man muss es sagen, wie es ist: Dort geht die Angst um.“ (Welchering, Berliner Zeitung 18.8.2025)

ÖRR: Immer schlechteres Programm, immer einseitiger in der Berichterstattung

Die ÖRR liefern, so Peter Welchering, immer schlechteres Programm. Sie werden immer einseitiger in der Berichterstattung und senden immer öfter schlecht oder gar nicht recherchiertes Material sowie sogar falsche Tatsachenbehauptungen (womit sie im Medien-Mainstream allerdings nicht allein dastehen, wie der Relotius-Skandal belegt). Und die ÖRR benötigen immer mehr Geld für ihre immer lausigeren Leistungen -kein Wunder, dass einem hart arbeitenden Fachredakteur da der Kragen platzte.

Vor allen Dingen müssen nach Ansicht von Welchering die Kosten für das fest angestellte Personal deutlich herunter, die würden allein beim SWR (Südwestrundfunk), wo der ÖRR-Journalist sich gut auskennt, gut 400 Mio. Euro verschlingen. Die Bezüge lägen dabei erheblich über den im öffentlichen Dienst gültigen Tarifen. Dazu tobt sich dort die Bürokratie bis ins Absurde aus: Bei vielen geschaffenen Planstellen erinnerten sich, so der Kritiker, „nicht einmal mehr die ebenfalls sehr hoch dotierten Hauptabteilungsleiter daran, weshalb die eigentlich mal eingerichtet wurden und was dort gearbeitet“ würde. Ob sich dort quasi-feudale Clanstrukturen, von den ÖRR gerne im Migrantenmilieu angeprangert, bei Stellenbesetzungen durchgesetzt haben, diskutiert Welchering zwar nicht. Aber den unverschämten Griff der Führungsetagen in die öffentlichen Kassen, die unser GEZ-Zwangsobulus immer praller auffüllen soll, dokumentiert der Kritiker akribisch:

„Wenn wir uns mal vor Augen führen, dass der SWR allein fast 2,5 Milliarden Euro Rückstellungen für Pensionen und ähnliche Verpflichtungen (Stand 31.12.2024) gebildet hat, die Spitzengehälter der Senderchefs im Jahr 2024 mehr als 4,5 Mio. Euro und die Gesamtaufwendungen für Löhne und Gehälter gute 400 Mio. betragen, kommen wir allein hier auf erkleckliche Einsparmöglichkeiten. Der Intendant Kai Gniffke erhält laut Südkurier 403.146 Euro im Jahr, Clemens Bratzler, Programmdirektor Information, 246.898 Euro. Die Programmdirektorin Anke Mai bringt es auf satte 242.158 Euro. Macht allein für die Programmdirektion eine knappe halbe Million. Und die Programmdirektoren werden noch komplettiert durch zwei Landessendedirektorinnen. Stefanie Schneider, für das SWR-Programm in Baden-Württemberg zuständig, ging 2024 mit 286.461 im Jahr nach Hause, ihr rheinland-pfälzisches Gegenstück Ulla Fiebig mit 252.780 Euro. (…) Und das kostet die Chefetage nur einer regionalen ARD-Anstalt. Insgesamt gibt es neun davon. Aus dem Rundfunkbeitrag finanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten zählen wir elf in Deutschland.“ (Welchering, Berliner Zeitung 18.8.2025)

GEZ 5 Euro pro Monat möglich

Das gehe preisgünstiger, analysiert Peter Welchering, und zwar durch eine radikale Zentralisierung der föderal zersplitterten Senderlandschaft vor allem der ARD: Wenn man bundesweit von einem nationalen Fernsehprogramm ausginge. Dieses sollte Regionalfenster in die Bundesländer eröffnen, sowie ein Informationsradio senden, einen Kulturkanal und einen Jugend-Kanal. Alles sollte auch mittels einer einzigen sendereigenen sozialen Plattformen namens Mediathek distribuiert werden. So käme man laut Welchering für Programmaufwand und Verwaltung auf deutlich weniger als eine Milliarde Euro jährlichen Finanzbedarf. Seine sensationelle Folgerung: Die Absenkung des Rundfunkbeitrages je nach Beitragsmodellen auf fünf oder weniger Euro pro Monat sei dann kein Problem.

„ARD und ZDF sind ein Fass ohne Boden geworden. Mehr als 1,5 Milliarden Euro hatte der Sender aus Rundfunkbeiträgen eingenommen. In Ziffern: 1.550.741.130,20 Euro. Eine stolze Summe – zumal für einen Regionalsender. Aber das Geld reichte nicht. Der SWR schloss das Jahr 2024 mit einem Fehlbetrag von gut 33 Millionen Euro ab. In Ziffern: 33.329.215,33 Euro. Die Senderchefs feierten sich trotzdem. Hans-Albert Stechl, der mächtige Vorsitzende des Verwaltungsrats und somit eigentlich Herr der Finanzen, wollte das Ergebnis denn auch schönreden.“ (Welchering, Berliner Zeitung 18.8.2025)

Schon vor einigen Jahren hatte Peter Welchering für das Intendantengehalt die Stufe B3 bis höchstens B6 vorgeschlagen, üppige Saläre, wie sie Oberbürgermeister größerer Städte oder ein Brigadegeneral der Bundeswehr bekommen. Und viele Geschäftsprozesse des ÖRR könnten massiv verschlankt sowie die Versorgung altgedienter Parteisoldaten anderen Institutionen überlassen werden, so Welchering. „Legionen von Mitarbeitern“ seien damit beschäftigt, Power-Point-Folien zu produzieren, nur damit die sich dann die überbezahlten Senderchefs untereinander zeigen. Warum? Laut Welcherings stellenweise auch etwas süffisanter Analyse allein, um damit ihren Arbeitstag „mehr oder weniger strukturiert verbringen“ zu dürfen.

Aber was geschieht mit den Milliarden für Pensionen und Ruhegehälter, die längst zugesagt sind? Welchering schlägt in seinem Artikel mit der bezeichnenden, nur leicht polemischen Überschrift „ARD und ZDF: In Zukunft nur noch Pensionsanstalten mit angeschlossenem Sendebetrieb?“ dafür eine „Bad Bank“ vor, so Telepolis. In sie sollen alle Immobilien, Finanzanlagen und Rückstellungen überführt werden. Diese Bad Bank bedient weiterhin die Pensionsansprüche, während die neue Anstalt unbelastet neu starten könnte. Rein finanztechnisch, so Welchering, sei das machbar -aber auch rundfunkpolitisch? Eher nicht. Die ÖRR werden diesen für sie hochnotpeinlichen Reformvorschlag verbissen totschweigen -in gewohnter Lückenpresse-Manier. Der Begriff „Lückenpresse“ stammt von Professor Ulrich Teusch, einer der raren Medienkritiker in unserer akademischen Welt, und wird bei Wikipedia tendenziös auf den Begriff „Lügenpresse“ weitergeleitet. Teusch kam unter dem Topos Lückenpresse zu dem Schluss, bei manipulativer Nachrichtengestaltung werde gezielt gewichtet, unterdrückt und bewertet; eine wichtige Erkenntnis, die Wikipedia tief unten auf der Personen-Site von Teusch versteckt und damit selbst ein Beispiel für genau diese Manipulationstechnik liefert (deren breite Anwendung maßgeblich zu den von Welchering monierten Qualitätsverlusten der ÖRR beitragen dürfte).

Hoffen wir, dass die ÖRR einen ihrer fähigsten Redakteure nicht für seinen kreativen kritischen Geist abstrafen und seine Sendezeiten reduzieren oder ein Blacklisting verhängen. Welchering steht freilich ohnehin kurz vor der Rente, sein ökonomischer Schaden wäre in diesem Fall wenigstens überschaubar.

12/6/24

Michel Foucault: Philosophie Diskurs Netz

Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie, Suhrkamp, Berlin 2024, 349 S.

Rezension von Thomas Barth

Der Netzphilosoph Michel Foucault begann nicht erst mit seiner Theorie der Machtnetze in Netzstrukturen zu denken, wie das vorliegende Buch zeigt: Schon seine Diskursanalyse und Archäologie zielten auf das „Netz des philosophischen Diskurses“ als Teil eines Diskursuniversums. Denn Kultur sei ein Netz von Beziehungen, das Sprechakte und Diskurse, aber auch Objekte, Materialien und Institutionen zu einem Diskurs-Archiv verbinde. Der „fröhliche Positivist“ nahm lockere 50 Jahre den heute postulierten „material turn“ der Geisteswissenschaften vorweg. Alphabete, Bibliotheken, Buchdruck schufen demnach neue Netzwerke der Zirkulation der Diskurse, die sich, wie der 1966 von Foucault verfasste Text bereits andeutete, in Daten-, Computer- und Kommunikationsnetzen fortsetzen würden.

Ausgangspunkt ist eine nietzscheanische Philosophie der Zeitdiagnostik, und viele sagen ja auch, unsere Gesellschaft, unsere Kultur, unsere Zeit seien krank. Doch welchen Arzt können wir für sie rufen? Foucault erklärt uns: Den Philosophen. Denn schon seit Beginn der griechischen Philosophie laute deren Daseinsberechtigung „interpretieren und heilen“ (S.14). Dies überrascht, gilt Foucault doch als harscher Kritiker der Humanwissenschaften und Heilberufe, insbesondere der Kriminologie, Psychologie und Psychiatrie. In jungen Jahren selbst psychiatrisiert, entwickelte er eine Machttheorie, die neben Justiz und Strafvollzug besonders vordergründig wohlmeinende Zugriffe der Gesellschaft auf das Subjekt kritisiert. Dafür erarbeitete Foucault einen ganz eigenen methodisch-theoretischen Zugang über die (post-) strukturalistische Analyse gesellschaftlicher und kultureller Diskurse. Seine Konzepte sind heute ein fester Bestandteil unterschiedlichster Disziplinen und Ansätze in den Geisteswissenschaften, etwa Queer- und Genderstudies, Pädagogik, Pflege-, Sozial- und Medienwissenschaften, Disability Studies (Kammler/Parr 2007).

Autor und Hintergrund

Michel Foucault (1926-1984) lehrte ab 1970 am renommierten College de France in Paris, war sozialpolitisch engagiert und gilt heute zunehmend als einer der wichtigsten Denker des 20.Jahrhunderts. In Deutschland jahrzehntelang nur schleppend rezipiert, wird er heute in den meisten Geisteswissenschaften immer mehr wahrgenommen. Seine (Ideen-) Geschichten des Wahnsinns, der Medizin, des Gefängnisses sowie sein vierbändiges Werk „Sexualität und Wahrheit“ sind Meilensteine der Sozialphilosophie. Foucault lehnte jedoch disziplinäre Zuordnungen ebenso ab, wie Bekenntnisse zu Denkschulen oder –richtungen wie dem Poststrukturalismus oder der Postmoderne. Das vorliegende, schon 1966 verfasste Buch wurde von Foucault nie publiziert, posthume Publikationen hatte er testamentarisch untersagt. Seine Erben und Nachlassverwalter setzen sich seit Jahren darüber hinweg und im Suhrkampverlag erschienen diverse posthume Werke, etwa Sammlungen von transkribierten Tonbandmitschnitten seiner Vorlesungen. Das vorliegende Buchmanuskript fällt zwischen Foucaults bahnbrechendes Buch „Die Ordnung der Dinge“, das ihn international auch als Widersacher Sartres berühmt machte, und dessen Fortsetzung „Die Archäologie des Wissens“.

Aufbau und Inhalt

Ein Vorwort von Francois Ewald, editorische Anmerkungen, 15 Kapitel mit je eigenen Fuß- und Endnoten bilden den Kern des Textes. Ein Anhang mit Notizen Foucaults, die dem Text verbunden erschienen, und einer einordnenden und zusammenfassenden „Situierung“ durch Orazio Irrera und Daniele Lorenzini lassen den Leser an der editorischen Arbeit des anfangs elfköpfigen Redaktionskomitees (Daniel Defert verstarb während des Projekts) teilnehmen. Fußnoten dokumentieren Probleme mit dem Text, etwa die Ergänzung fehlender oder unleserlicher Wörter, sowie seltener falscher Angaben Foucaults, auch von ihm durchgestrichene Passagen werden hier dokumentiert und zeigen Varianten des Textes, die der Autor erwogen hatte. Die teilweise umfangreichen Endnoten der Kapitel liefern hilfreiche Anmerkungen der Herausgeber und erklären biographische, zeitgeschichtliche, theoretische Hintergründe.

1. Die Diagnose führt die Philosophie als diagnostisches Unternehmen ein, nach Nietzsche solle sie „Arzt der Cultur“ sein (S.17), könne aber nicht heilen, sondern nur „sagen, was ist“ (ebd.).

2. Jetzt erklärt das „Heute“ des Philosophen, der in der Triade des „Ich-Hier-Jetzt“ den Alltagsdiskurs überschreitet und sich von Literatur und Wissenschaft abgrenzt. Endnote 2 ordnet Foucaults Ansatz theoretisch zwischen Philosophie und Philologie ein (Roman Jakobson, de Saussure, Levi-Strauss, Althusser, Lacan, Husserl, Sartre, Merleau-Ponti, Todorov).

3. Der philosophische Diskurs und der wissenschaftliche Diskurs grenzt Philosophie von Wissenschaft ab, deren Erkenntnisse nicht so eng an das sprechende Subjekt gebunden seien. Für den Wahrheitsgehalt der Wissenschaft sei nur wichtig was gesagt würde, aber nicht wo, wann und von wem; Philosophie bedürfe des „Ich-Hier-Jetzt“, weshalb „von Descart bis Kant und von Kant bis Husserl das gleiche Projekt von Neuem begonnen“ (S.35) und „die Frage des Subjekts so hartnäckig“ (S.40) gestellt wurde.

4. Fiktion und Philosophie grenzt Philosophie von Literatur bzw. Fiktion ab, deren Werke zwar auch an das sprechende (zuweilen fiktive) Subjekt gebunden seien, aber nicht dazu bestimmt, wahr zu sein (S.52); Philosophie ziele vordringlich auf Wahrheit, Vernunft und insbesondere auf das Wesen des Subjekts (S.60).

5. Die Philosophie und der Alltag grenzt Philosophie vom Alltagsdiskurs ab, da sie eine kritische Funktion ausübe, alles „was stumm ist“ in eine Rede übertrage, zur „Kritik allen Wissens“ werde, zum „Diskurs aller anderen Diskurse“ (S.77).

6. Die Geburt des philosophischen Diskurses vertieft die These der Singularität des philosophischen Diskurses seit Descartes, auch anhand der neuen Diskursmodi seit Cervantes und Galilei: Literatur, Wissenschaft und Gott selbst hätten „anders zu sprechen“ begonnen (S.96), der philosophische Diskurs hätte den Anspruch erhoben, „durch die Wahrheit des Jetzt, das ihn trägt, zur Wahrheit zu gelangen“ (S.100).

7. Die allgemeine Anordnung des philosophischen Diskurses entwickelt dessen vier Grundaufgaben und Funktionen (Begründung, Interpretation, Kritik, Kommentar) und entlang dieser Hauptlinien das „gesamte Netz des philosophischen Diskurses“ (S.105); die alten metaphysischen Fragen nach Gott, Welt und Seele werden insofern neu beantwortet, als Gott nun optional würde, die zuvor beseelte Welt nur noch leerer Raum nebst relativer Zeit sei und von der unsterblichen Seele ein geistiges Prinzip, „ein reines Subjekt“ mit Innerlichkeit und Körper verbleibe (S.115), was man aber „nicht mit dem Ende der Metaphysik verwechseln“ dürfe (S.116); Kant habe Gott, Seele und Welt als Illusionen betrachtet und der Metaphysik eine neue Ontologie entgegengesetzt.

8. Die zwei Modelle des Diskurses zeigt zwei philosophische Serien von Wahlmöglichkeiten auf: 1. Enthüllung, Ursprung, Schein, Enzyklopädie sowie 2. Manifestation, Bedeutung, Unbewusstes, Gedächtnis; die jeweiligen Entscheidungen dekliniert Foucault anhand seiner vier Diskursfunktionen: So kann etwa die Funktion der Begründung des Diskurses durch eine Theorie der Enthüllung oder der Manifestation ausgeübt werden; Modell Eins begründet sich als Enthüllung der Wahrheit, interpretiert dies als Entdeckung ihres Ursprungs, kritisiert mittels einer Theorie des überwundenen Scheins und kommentiert den Logos der Welt in enzyklopädischer Form; Modell Zwei begründet sich als Manifestation der Wahrheit in den Phänomenen des Hier und Jetzt des Subjekts, das nicht nach deren Ursprung, sondern nach ihrer Bedeutung fragt und die Kritikfunktion gegen sein eigenes Unbewusstes richtet; kommentiert wird hier nicht mehr als Enzyklopädie der Wahrheit, sondern als Gedächtnis, das die „Versöhnung der Erfahrung mit dem, was in ihr fremd ist“ festhält, also das, was Foucault als „Ent-Entfremdung“ bezeichnet (S.139f.). Modell Eins steht für Philosophie, die sich auf dem Weg linearen Fortschritts zu universalen Wahrheiten und aufgeklärten Werten glaubt; Modell Zwei eröffnet in den „Beziehungen des Subjekts und der Geschichte ein unendliches Labyrinth“ und eine „unaufhörliche Unruhe“ (S.141f.).

9. Philosophie, Metaphysik, Ontologie erörtert die beiden Modelle in ihren Beziehungen zu Ontologie und Metaphysik; 1. die vorkantische Philosophie der Enthüllung als Metaphysik der Repräsentation und Ontologie innerhalb des Diskurses; 2. die nachkantische Philosophie der Manifestation als Anthropologie und Ontologie außerhalb des Diskurses; im 1. Modell enthüllt sich dem Subjekt des Philosophen die Existenz der Seele, deren Analyse „offenbart, dass Gott existiert, …der die Ordnung der Welt garantiert“ (S.155); im 2.Modell kann das Subjekt „nur als phänomenale Manifestation erscheinen… weit davon entfernt, auf eine tiefere Existenz zu verweisen“ entdeckt es nicht die Ordnung der Natur, sondern nur die Bedeutungen, die der Mensch ihr zuschreibt, entdeckt es „nur das Sein des Menschen, das über all die Dinge der Welt und die Ereignisse der Geschichte zum Ausdruck kommt“; dieser „anthropologische Zirkel“ führe zu zwei gegensätzlichen Philosophien: Der Positivismus sucht im biologischen, sozialen und psychologischen Sein des Menschen Aufschluss „über das Sein der Phänomene“; die anderen Philosophen wollen „das Sein der Endlichkeit von all den Bedingungen, die ihm auf der Ebene der Phänomene zugewiesen werden können, lösen“, um ein grundlegenderes Fundament zu finden. Diese Philosophen sehen sich selbst in ihrem Sein „zu einem Phänomen der Geschichte geworden“ (S.156f), das Sein der Geschichte wird sichtbar in philosophischen Diskursen, die sich selbst „unaufhörlich die Frage nach ihrem Verhältnis zur Geschichte“ stellen; erst die kantische Kritik brachte die „systematische Verschiebung der Elemente“ vom ersten zum zweiten Modell (S.158). Nun wurde deutlich, warum Foucault in seinem 7.Kapitel Kants Werk als „den Gravitationspunkt der gesamten abendländischen Philosophie“ sah (S.116).

Kant, dem –was Foucault nicht erwähnt– auch bedeutende Einsichten der Astrophysik zuzurechnen sind, etwa dass sich das Sonnensystem überhaupt entwickelt haben könnte, dass dies Milliarden Jahre gedauert haben könnte (Kants zeitgenössische Physiker bezifferten das Alter der Erde eher mit Zehntausenden von Jahren) sowie dass dies in einer Scheibenform geschah, standen die Erkenntnisfortschritte der Physik vor Augen, „während die Metaphysik endlos weiter dieselben Debatten führte“ (S.159); folgerichtig strebte Kant nach besserer Legitimation der Philosophie durch Suche nach Methoden und Formen der Erkenntnis: „Die Idee von einer Dialektik als Analyse der Bedingungen und Notwendigkeiten der Täuschung tritt an die Stelle der Idee einer Enzyklopädie der Wahrheit.“ (S.160)

Damit stehe Kants Werk „genau im Zentrum, im Gleichgewichtspunkt der gesamten abendländischen Philosophie“, womit Kant für den philosophischen Diskurs, „wie die Logiker sagen würden, eine neue Semantik gefunden“ habe (ebd.). Weiterentwicklungen sieht Foucault bei Fichte in der Lehre vom absoluten Ich mit reiner Subjektivität sowie in der Phänomenologie von Hegel bis Husserl, die transzendentale Subjektivität an den impliziten Horizont der empirischen Inhalte zu binden“ suche (S.167 Fn 12). Tatsächlich könne, so Foucault, der philosophische Diskurs nach der „Zerstörung der Metaphysik“ nur durch eine „Theorie der Repräsentation“ oder „mittels einer Analyse des Seins des Menschen eine Beziehung zum Sein haben.“ (S.165)

10. Beschreibung der Philosophie zeigt vier Haupttypen der Philosophiegeschichte als funktionale Elemente des philosophischen Diskurses und grenzt Foucaults eigenen Ansatz davon ab, der die Philosophiegeschichte in seiner funktionalen Beschreibung der Philosophie als Teil derselben einbezieht (S.185); die Philosophiegeschichte wendet sich als Teil des philosophischen Diskurses in der Funktion der Legitimation den Systemen zu, im Kommentar der Erfahrung, in der Kritik der Ideologie, in der Interpretation der Entzifferung einer Philosophie; für die Ideologisierung der Philosophie bedeutet dies, „dass die Philosophie tatsächlich… selbst eine Praxis darstellt und dass sie das Gesicht der Welt wirklich verändern kann, allerdings unter der Bedingung, dass sie demselben Diskursmodus angehört wie die politischen oder alltäglichen Aussagen.“ (S.183) Foucault geht es aber darum, den philosophischen Diskurs von außerhalb einzelner Werke zu analysieren (S.188).

11. Der neue Wandel fragt nach der Legitimation des Ansatz von Foucault selbst, die Philosophie als nur „eine Diskursform unter anderen“ (S.199) und verweist dabei auf die Krise der Philosophie, die, ihrer Gegenstände, Konzepte und Methoden beraubt, nur noch sich selbst in Frage stellen könne; mit Friedrich Nietzsche könne die Philosophie sich jedoch statt an der Wissenschaft an der Poesie orientieren, eine „Zersplitterung des philosophierenden Subjekts, seine multiple Existenz, seine Zerstreuung in alle Winde des Diskurses“ (S.216) lege nahe, „den Philosophen als reale Figur zu entlassen und aus seiner inhaltsleeren Identität eine Vielheit von Masken oder Gesichtern hervorgehen zu lassen“ (S.213), um von nun an „jeden Wahnsinn“ auch danach zu befragen „was er in seinem Abgrund an Philosophie aussagen kann“ (S.218).

12. Denken nach Nietzsche erörtert die postnietzscheanische Neuordnung der Diskurse; der logische Empirismus wolle aus dem philosophischen Diskurs alles als metaphysisch ausschließen, was nicht mit den Mitteln der Wissenschaft verifizierbar sei; eine politisch verstandene Philosophie wolle dagegen alles als metaphysisch verwerfen, was seinen Praxisbezug nur aus Kritik des Scheins oder des Impliziten herstelle und sich in Freiheit, Aktivität und Geschichte der Menschen involvieren (S.229f); postnietzscheanisch sei Husserls Phänomenologie aufgrund ihres radikalen Vorhabens, „zu den Sachen selbst zurückzukehren“, jedoch zugleich „die komplexeste, historisch überladenste Organisation, die man in den letzten drei Jahrhunderten aufkommen sah“ (S.240).

13. Das Archiv stellt die Frage nach der Sprache und postuliert die Konstituierung eines integralen Archivs als kultureller Form der Auswahl, Aufbewahrung und Zirkulation der Diskurse; der gegenwärtige Wandel unserer Kultur lässt sich anhand des Interesses an der Sprache charakterisieren, daran, dass formale Systeme, wie Sprachen, aus Symbolen mit Regeln bestehen (S.246), dass Literatur, Musik, Kunst sich entsprechend formaler Möglichkeiten entfalten, in einem neu organisierten Diskursuniversum; Kultur ist ein Netz von Beziehungen, das Sprechakte, Formen des Diskurses, Objekte, Materialien, Institutionen zu einem Diskurs-Archiv verbindet; es bildet ein System der Zwänge von Sprache und Geschichte, seine Gesetze untersucht die Disziplin der Archäologie (S.262).

14. Die Geschichte des Diskurs-Archivs verdeutlicht die Unmöglichkeit für jede Kultur, aus dem System ihres eigenen Diskurs-Archivs auszubrechen; die Archäologie als „Analyse des Diskurs-Archivs fungiert als eine Art immanente Ethnologie“ unserer Kultur, „dessen was als Bedingung, Element und Raum für alles dient, was wir sagen und denken können“ (267); Alphabete, Bibliotheken, Buchdruck schufen neue Netzwerke der Zirkulation der Diskurse, zahlreiche Brüche machen es unmöglich, „eine Gesamtgeschichte des Diskursarchivs“ zu schreiben (S.278); Endnote 15 konkretisiert durch Zitat aus Foucaults Buch „Die Archäologie des Wissens“: das Archiv umfasse also „ein privilegiertes Gebiet: gleichzeitig uns nahe, aber von unserer Aktualität abgehoben… es ist das, was uns außerhalb von uns begrenzt“ (S.281).

15 Der heutige Wandel beschließt das Buch mit der Einführung des Begriffs eines „integralen Archivs“, das unsere heutige Kultur von ihren Vorgängerinnen unterscheide; unsere Kultur habe sich die Aufgabe gestellt, „im Grunde alles vom Diskurs aufzubewahren“ (282); das Archiv dehne sich immer mehr aus, werde überhäuft, verliere seine Selektivität, es sei „anstatt der Ort der Rekonstruktion von Sprechakten zu sein, nur der Raum für die Aneinanderreihung von Diskursen… ein Netz neutraler Diskurse… Insofern ein Diskurs im Archiv gegeben ist, kann er durch Akte reaktiviert werden, die… dem ursprünglichen Akt absolut fremd sein können (Kommentare, Suche nach einem verborgenen Sinn, linguistische Analyse, Definition und Klassifizierung von Themen, Katalogisierung von Bildern und rhetorischen Figuren, Übersetzung in eine formale Sprache, Zerlegung im Hinblick auf eine statistische Auswertung…)“ (S.284f); die Diskursivität, durch die sich nunmehr die Erfahrung definiere, komme „immer nur dem Diskurs selbst zu“ (S.290); Fußnote a enthält eine offenbar verworfene Variante des letzten Kapitels, die verstärkt auf den Systembegriff setzt und sich abschließend auf Wittgenstein beruft (S.292).

Der Anhang enthält einige Notizen Foucaults, darunter recht instruktive Tabellen seines funktionalen Diskursmodells, und die „Situierung“ von Orazio Irrera und Daniele Lorenzini (S.305-345). Die beiden Editoren bescheinigen Foucault eine „entschieden originelle Antwort“ auf die seinerzeit heiß diskutierte Frage: „Was ist Philosophie?“ (S.309) und ordnen den Text in die damalige Debatte ein, die durch Foucaults Werk „Die Ordnung der Dinge“ befeuert wurde, unter anderem werden Sartre, Althusser, Merloth-Ponty, Derrida und Heidegger genannt. Foucault stelle im vorliegenden Buch die Philosophie als spezifische Art von Diskurs dar, der eine singuläre Beziehung zu seiner eigenen Aktualität unterhalte; der Mythos einer Geschichte, die aus tiefgründiger Bestimmung „von einem geheimen Ursprung zur Klarheit eines Horizonts verläuft“ könne verworfen werden (S.324); einen „blinden Fleck in der Foucaultschen Archäologie“ zeige zwar die Frage, von wo aus denn seine Diskursanalyse die in sich abgeschlossenen Diskursnetze von außen betrachten könne (S.336), doch er habe von Gaston Bachelard die Methode übernommen, Diskurse von ihren marginalisierten Rändern her zu analysieren; es ging Foucault „sein ganzes Leben lang“ darum, so ihr Schlusssatz, „seine eigene Kultur -und uns- in eine Falle zu locken, um die Möglichkeit zu eröffnen, anders zu denken und zu leben.“

Diskussion

Foucault habe wenig über Philosophie geschrieben, seine Themen seien nicht die der Philosophen: der Wahnsinn, das Krankenhaus, das Gefängnis, die Sexualität; so begann 1991 der Foucault-Kritiker Rudi Visker seine Abrechnung mit den Widersprüchen, in die sich Foucault mit seiner Kritik der Humanwissenschaften verwickelt habe. Das „Foucault-Lexikon“ des Wissenschaftstheoretikers Michael Ruoff kennt nur das Stichwort „Philosophie (praktizierte)“, für das es ganze vier Absätze übrig hat und Foucault so zitiert: „vielleicht ist Philosophie die allgemeinste kulturelle Form, in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist.“ Foucault habe die Bezeichnung „Philosoph“ 1970 deutlich abgelehnt, sie sei ein „Professorenberuf“; der späte Foucault, der eine Ethik der Sorge um sich selbst entwickelte, habe in der Philosophie aber jene Form des Denkens entdeckt, welche „die Bedingungen und Grenzen des Zugangs des Subjekts zur Wahrheit zu bestimmen versucht.“ (S.165f)

Das größte Hindernis für die deutsche Foucault-Rezeption war vermutlich die eloquente Polemik, die der staatstragende „Großdenker“ Jürgen Habermas 1985, also ein Jahr nach Foucaults Tod, mit „Der philosophische Diskurs der Moderne“ vorlegte; eine Abrechnung mit der französischen Postmoderne, als deren technokratische Ausgeburt er die Systemtheorie Niklas Luhmanns sah; insbesondere mit Foucaults Machttheorie geht Habermas hart ins Gericht, sucht Foucault in die Nähe des in Deutschland mehr als in Frankreich als Nazi-Philosophen gesehenen Heideggers zu rücken. Der Nachfolger Habermas‘ im Amt des Frankfurter Schuldirektors, Axel Honneth, ließ dort 2001 eine vielbeachtete „Foucault-Konferenz“ stattfinden, die eine differenziertere Sicht zeigte; in seinem Einführungstext zum Tagungsband scheint Honneth Abbitte für Habermas‘ Polemik leisten zu wollen, grenzt Foucault pointiert von Heidegger ab, stellt ihn in die Tradition des späten Wittgenstein. Foucaults Ziel sei die Subversion der gegebenen Gesellschaftsform gewesen, sein Werk habe in den Humanwissenschaften hergebrachte Begriffe des Sozialen, der Macht, des Wissens, des Subjekts tiefgreifend verändert. Foucault habe den „paradigmenbildenden Kern einer Disziplin, sei es die der Psychoanalyse, der Sexualwissenschaft oder der Kriminologie“ in seiner konstitutiven Evidenz entzaubert (S.17). Die Kritische Theorie seiner Frankfurter Schule, so Honneth, hätte bei unvoreingenommener Auseinandersetzung viel früher von den Einsichten Foucaults lernen können. 1988 hatte sich Honneth selbst noch polemisch an Foucault gerieben, dessen Machttheorie habe „am Ende zu einer systemtheoretisch reduzierten Version der Dialektik der Aufklärung verkümmern“ müssen (S.142).

Die von Suhrkamp als „kleine Sensation“ gefeierte Publikation des Diskurs der Philosophie zeigt das ungebrochene Interesse einer immer noch wachsenden Leserschaft an einem Denker, der gegenwärtige Machtregime mit seiner Kritik ins Mark traf und viele Menschen zum Widerstand motivierte. Das Buch, das der „Philosoph mit der Maske“ seinen zeitgenössischen Lesern offenbar vorenthalten wollte, ist unter anderem eine tiefgreifende Begründung seiner Ablehnung jeglicher „Großtheorien“, mit denen „Großdenker“ wie Habermas auf die universale Geltung westlicher Werte und ihrer globalen Normativität pochen. Foucault verweist demgegenüber auf die Verstrickung des erkennenden Subjekts in das Labyrinth seiner eigenen und der Geschichte der Philosophie, der allgemeinsten kulturellen Form, „in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist“. Die vermeintlich ewigen Werte westlicher Aufklärung, ihrer liberalen Demokratien –die er keineswegs ablehnt, sondern nur deren Unwilligkeit zu Analyse und Selbstkritik eigener Machtstrukturen–, verblassen für Foucault hinter „dem Ereignis“, das man vielleicht heute mit den Namen Guantanamo oder Belmarsh (wo man Julian Assange gefangen hielt) bezeichnen könnte.

Fazit

Das nicht einfache, aber elegant formulierte Buch stellt Foucaults Diskursanalyse der Philosophie in die Traditionen Kants und Nietzsches. Michel Foucault scheut sich nicht, die Philosophie im Sinne seines den Strukturalismus weit überschreitenden Ansatzes komplett neu zu denken. Mit seiner auf eine Gegenwartsdiagnostik zielenden Argumentation richtet sich das Buch an Studierende der Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch an Interessierte anderer Fachrichtungen.

Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 349 S., 34,00 Euro. ISBN: 978-3-518-58811-6

Verlagswerbung zum Buch: Was ist Philosophie? Und welche Rolle spielt sie in der Gegenwartsgesellschaft? Zwischen Juli und Oktober 1966, einige Monate nachdem er durch das Erscheinen von Die Ordnung der Dinge schlagartig zum neuen Star der Philosophie aufgestiegen war, gab Michel Foucault in einem sorgfältig durchkomponierten Manuskript seine Antwort auf diese bis heute viel diskutierten Fragen. Im Gegensatz zu denjenigen, die entweder das Wesen der Philosophie enthüllen oder sie gleich für tot erklären wollen, begreift Foucault sie als einen Diskurs, dessen Ökonomie im Vergleich mit anderen Diskursen – wissenschaftlichen, literarischen, alltäglichen, religiösen – herausgearbeitet werden muss. Der Diskurs der Philosophie schlägt somit eine neue Art und Weise der Philosophiegeschichtsschreibung vor, die von der reinen Kommentierung der großen Denker wegführt. Nietzsche nimmt allerdings einen besonderen Platz ein, da er eine neue Epoche einleitet, in der die Philosophie zur Gegenwartsdiagnose wird: Von nun an ist es ihre Aufgabe, einer Gesellschaft zu erklären, was ihr Zeitalter ausmacht. Nirgendwo hat Michel Foucault die Ambitionen seines intellektuellen Programms so deutlich gemacht wie in diesem Werk, das fast 60 Jahre nach seiner Niederschrift nun erstmals veröffentlicht wird. Eine kleine Sensation!

Literatur

Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, Suhrkamp Verlag

Honneth, Axel: Foucault und Adorno: Zwei Formen einer Kritik der Moderne, in: Peter Kemper (Hg.): „Postmoderne“ oder der Kampf um die Zukunft. Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988, Fischer Verlag, S.127-144

Honneth, Axel u. Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt/M. 2003, Suhrkamp Verlag

Kammler, Clemens und Rolf Parr: Foucault in den Kulturwissenschaften: Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007, Synchron Verlag

Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1974, Suhrkamp Verlag

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, Suhrkamp Verlag

Foucault, Michel: Der Diskurs der Philosophie, Berlin 2024, Suhrkamp Verlag

Visker, Rudi: „Foucault“: Genealogie als Kritik, München 1991, UTB W.Fink Verlag

04/22/24
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TikTok, AfD & Jugendschutz

TikTok ist derzeit im Fokus der Kritik -doch andere „Social Media“-Firmen sind nicht anders.

Thomas Barth

TikTok, die chinesische Kurzfilm-App mit sehr jungem Publikum, hat für Aufsehen und Kontroversen gesorgt. Wollten Marxisten einst „die Verhältnisse zum Tanzen bringen“, scheint dies TikTok zu gelingen: Immer mehr Politiker machen sich dort beim hilflosen Versuch einer Anbiederung bei der Jugend lächerlich -teils tatsächlich tanzend. ZDF-Politclown Oliver Welke amüsierte sich über SPD-Kanzler Scholz auf TikTok, wo dessen Aktentasche mehr Charisma habe als der Kanzler selbst. In Welkes Satire-TikTok (so nennt man auch die einzelnen Kurzvideos) spuckt Scholzens Tasche dabei plötzlich Cum-Ex-Akten aus und erinnert an des Kanzlers Verstrickung in diverse Finanzskandale um Warburg Bank, Bilderberger und den CumEx/CumCum-Steuerbetrug in Milliardenhöhe. Und damit hatte Welke die Medienästhetik von TikTok besser begriffen als das Social-Media-PR-Team im Kanzleramt: Es geht zentral um überraschende, manchmal schockierende visuelle Wendungen, Transformationen und Effekte (so Isabell Otto).

TikTok ist mit 120 Milliarden Dollar Umsatz und Milliarden Nutzern weltweit heute als einziger Global Player auf dem Social-Media-Markt kein Unternehmen aus den USA. Unter westlichen Strategen schwenkt man derzeit, auch unter dem Eindruck wachsender finanzieller Stärke Pekings, von Dominanz im Finanzsektor zurück zur klassischen Geopolitik. Doch die chinesische App hat selbst in den USA, im Mutterland der digitalen Plattformen, beachtliche 170 Millionen User, meist Teens und Twens. Ein beeindruckender Erfolg, aber über 90 Prozent der TikTok-Nutzer in den USA nutzen weiterhin YouTube (Google), 80 Prozent Instagram und 68 Prozent Facebook, beide von Zuckerbergs Meta-Konzern.

TikTok & Jugendschutz

TikTok hat für Kontroversen über den vernachlässigten Jugendschutz gesorgt und auch als jüngst Berichte über eine Dominanz rechtspopulistischer Inhalte der AfD die Runde machten. Man sieht darin eine Erklärung für den überraschenden Erfolg der AfD bei (vorwiegend männlichen) Jungwählern in Umfragen und Wahlen. In den USA gibt es Verbote und US-Behörden drängen den chinesische Mutterkonzern ByteDance zum Verkauf der App, die mit Milliarden Nutzern heute als einziger Global Player auf dem Social-Media-Markt keine US-Firma ist. Die auch bei uns laut gewordenen Anklagen reichen von Spionage bis zur Erzeugung von Abhängigkeit, Depression und Suizidneigung der jungen Nutzer -Probleme, die auch bei anderen Social Media Plattformen verzeichnet wurden. Facebook hatte diverse Skandale, habe die französischen Gelbwesten in eine Filterblase gelockt (Breljak/Mühlhoff 2019), spioniere seine Nutzer aus, manipuliere ihre Gefühle, Meinungen und sogar Wahlentscheidungen (O’Neil 2017). Auch bei Instagram sah man die Jugend in Gefahr, Suchteffekte und etwa das Triggern von Anorexie bei jungen Mädchen. Seit dem Start von Instagram sei in Miami z.B. die besonders gefährliche Schönheits-OP Butt-Lift um 200 Prozent häufiger geworden. Warum ist das so?

Die allgegenwärtigen Smartphones lassen Bilder schneller, variabler und professioneller entstehen und durch die Sozialen Medien sind sie fast beliebig zu verbreiten. Dies verändert unsere Kommunikation, weil Menschen sich dadurch mit Bildern genauso selbstverständlich austauschen können wie zuvor nur über Sprache. Der in den Kulturwissenschaften seit Jahren proklamierte „Iconic Turn“ ist gesellschaftliche Realität geworden.

Viel westliche Kritik konzentriert sich auf den Algorithmus von TikTok, der – angeblich im Gegensatz zu anderen Social-Media-Plattformen – die Verbraucher gezielt ansprechen und ihr Engagementverhalten beeinflussen würde (Smith 2021; Kosters/Gstrein 2024, p.125); Jorinde Schulz hat jedoch schon 2019 beschrieben, wie andere Plattformen, z.B. Facebook, LinkedIn, Airbnb, seit Langem genau dies ebenfalls tun. Instagram galt zeitweise als größte Jugendgefährdung: Die „Welt der Schönen und Reichen“, die Omi beim Friseur in Frauenmagazinen konsumiert, kommt mit Instagram für die Enkelin aufs Smartphone -als Mitmach-App. 2010 gegründet erreichte Instagram nach nur einem Jahr 10 Millionen User und wurde von Marc Zuckerberg für eine Milliarde Dollar zur Foto-App von Facebook gemacht. Schnell hatte „Insta“ mehr User als Facebook. Das iPhone mit seiner Kamera lieferte die Bildqualität, Instagram die schlanke Technik, um das Social Network-Prinzip Zuckerbergs vom Laptop aufs Handy zu bringen. Beide Plattformen ködern gezielt den Narzissmus ihrer User, insbesondere den Drang von Menschen „anderen zu zeigen, wer und wie sie sind“ und beide arbeiten wie TikTok mit suchtfördernden Psychotricks, Profiling und gezielter Werbung. Der Iconic Turn frisst seine Kinder digital.

Literatur

Barth, Thomas und Roland Alton-Scheidl: Wem gehören die Beziehungen im Netz? Über Individualisierung, Ökonomie und Herrschaft im Web2.0, in: Ries, M./H.Fraueneder/K.Mairitsch (Hg.): dating.21: Liebesorganisation und Verabredungskulturen, Transcript, Bielefeld 2007, S.225-242.

Carstensen, Tanja: Ringen um Handlungsfähigkeit im digitalen Kapitalismus, in: Carstensen, T./S.Schaupp/S.Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus. Arbeit, Ökonomie, Politik und Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M., 2023, S.402-420.

Dean, Jodi: Neofeudalisierung: Die innere Logik des kommunikativen Kapitalismus, in: Carstensen, T./S.Schaupp/S.Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus. Arbeit, Ökonomie, Politik und Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M., 2023, S.439-457.

Kosters, Lisa und Oskar J. Gstrein: TikTok and Transparency Obligations in the EU Digital Services Act (DSA) – A Scoping Review, Zeitschrift für Europarechtliche Studien – ZEuS 1/2024, p.110-145.

Löchel, Elfriede: Subjekt und Medium in der digitalen Welt, in: Grabska, K. u.a. (Hg.): Virtuelle Berührung – zersplitterte Realität. Zur Psychoanalyse von Digitalisierung und Internetkultur, Psychosozial-Verlag, Gießen 2023, S.39-64.

Mühlhoff, R./A.Breljak: Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? in: Mühlhoff, R./A.Breljak/J.Slaby (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft, Transcript, Bielefeld 2019, S.7-36.

O’Neil, Cathy: Angriff der Algorithmen. Wie sie Wahlen manipulieren, Berufschancen zerstören und unsere Gesundheit gefährden, Hanser, München 2017.

Otto, Isabell: TikTok. Ästhetik, Ökonomie und Mikropolitik überraschender Transformationen, Wagenbach, Berlin 2023.

Pletz, Hendrik: Diesseits der Bilder: Der Videorekorder und die Geschichte medialen Wissens um 1980, Neofelis, Berlin 2020.

Schmalz, Stefan: Varianten des digitalen Kapitalismus: China und USA im Vergleich, in: Carstensen, T./S.Schaupp/S.Sevignani (Hg.): Theorien des digitalen Kapitalismus. Arbeit, Ökonomie, Politik und Subjekt, Suhrkamp, Frankfurt/M., 2023, S.285-305.

Schulz, Jorinde: Klicklust und Verfügbarkeitszwang: Techno-affektive Gefüge einer neuen digitalen Hörigkeit, in: Mühlhoff, R./A.Breljak/J.Slaby (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft, Transcript, Bielefeld 2019, S.131- 153.

Smith, Ben: How TikTok Reads Your Mind, New York Times 05.12.2021.

02/26/24

Rezension – Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet

Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet. Perspektiven der Medien- und Kommunikationswissenschaft, München 2022

Rezensiert von Thomas Barth

Für jüngere Generationen hat es das Fernsehen als dominierendes Leitmedium längst abgelöst: Das Internet ist als digitale Parallelwelt aus dem Alltag vieler Menschen nicht mehr wegzudenken. Bleicher legt den Fokus auf medienhistorische und ästhetische Aspekte der Angebotsstrukturen des Internets und macht damit plastisch, wie das Netz seine Sogwirkung auf die Nutzer stetig erhöhte. Sie scheut dabei auch vor politisch heiklen Aspekten wie der staatlichen Unterdrückung der Whistleblower-Plattform Wikileaks und der juristischen Verfolgung ihres Gründers Julian Assange nicht zurück, bleibt gerade dort aber lückenhaft.

Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher lehrt am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg. 2009 veröffentlichte sie mit „Poetik des Internets: Geschichte, Angebote und Ästhetik“ eine der ersten geisteswissenschaftlichen Gesamtdarstellungen der Netzmedien, 2010 folgte die Kurzfassung „Internet“, die ihre „Poetik“ straffte und systematisierte. Mit dem vorliegenden Band folgt eine stark erweiterte und aktualisierte Fassung. Ein Vorwort, zwölf Kapitel mit je eigenen Literaturlisten und ein Fazit geben eine umfassende Übersicht. Die Orientierung erleichtern ein Register sowie eine vorangestellte „Zeittafel zu Meilensteinen der Entwicklung des Internets“: Von Vannevar Bush’s Memex-Modell 1945, dem ArpaNet 1969 und TCP/IP 1978, über den Start des WWW 1991 und das Vorgehen von Behörden gegen Wikileaks 2010 bis zur Google-KI AlphaGo und TikTok 2016 sowie der Umstellung der Newsfeeds von Facebook auf die Bevorzugung von Beiträgen der Nutzer 2018. Kapitel 1 „Was Sie vorher wissen sollten“ verweist kurz auf die rasante Dynamik der Internetentwicklung, die viele Details schnell überholen und stetig weitere Forschung erfordern wird, sowie auf die brisanten politischen Dimensionen und wachsende Kritik an netzbezogenen Entwicklungen, die sich etwa bei Shoshana Zuboff und ihrer Streitschrift gegen den „Überwachungskapitalismus“ (2018) zeigen.

Kapitel 2 „Einführung in Theorien, Forschungsschwerpunkte und Methoden“ widmet Zuboff gleich den (nach dem basalen Technikbegriff) zweiten der didaktisch knappen „Gut zu wissen“-Kästen, die im Buch Wichtiges einprägsam markieren (S.21). Nach Prosumer-Kultur, Medialität und Privatheit zeigt das Kapitel Bezüge der Netzkultur zum Posthumanismus und betont Donna Haraways „Cyborg Manifesto“, das 1985 die Hybridisierung von Mensch und Maschinenwelten vorwegnahm (S.26). Über Baudrillards „Simulakrum“ (Blendwerk) -Kritik bis zu Politik-, Wirkungs- und Nutzungstheorien führt Bleicher in ihre Darstellung ein.

Kapitel 3 „Internet: Infrastruktur, Lebenswelt und Medium“ zeigt das Internet als Lebenswelt und Kulturraum, als Medium mit neuen Sozialen Medien, warnt vor dem Wegfall der bisherigen „Gatekeeper“-Funktion der Leitmedien, die der Verbreitung von Fake News den Boden bereite (S.44). Kapitel 4 „Technische, ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen“ beginnt bei den Netzwerkstrukturen des Internets vom Darknet über Onlinemonopole etwa von Alphabet (Google), Meta (Facebook) und Amazon (S.53). Unter Verweis auf Zuboff kritisiert Bleicher deren Geschäftsmodell des Datenhandels bis hin zum Verkauf von Facebook-Daten an die Skandalfirma Cambridge Analytica (S.58). Sie verweist auf Regulierungsbestrebungen sowie die „Amateur:innenkultur als Gegenbewegung zur Ökonomisierung“ (S.61).

Im Kapitel 5 „Historische Entwicklung des Internets“ finden wir eine (zumindest in der deutschen Medienwissenschaft) selten kritische Darstellung der Sozialen Medien, in der die öffentlich nahezu tabuisierte Whistleblower-Plattform Wikileaks gewürdigt wird:

„2006 erfolgte die Gründung der Enthüllungsplattform Wikileaks mit dem Ziel der Veröffentlichung von Dokumenten, die der staatlichen Geheimhaltung unterliegen. Diese Dokumente und Videos verdeutlichten den Machtmissbrauch und die Verletzung von Menschenrechten. Aufgrund von Regulierungen ist seit 2010 ein Datentransfer zu Wikileaks nicht mehr möglich. Der Mitbegründer Julian Assange wurde juristisch verfolgt und flüchtete in eine Botschaft, in der er 2019 festgenommen wurde und noch Anfang 2022 in der Abschiebehaft auf seine Auslieferung wartete.“ (S.79) (Hier ist die Autorin offenbar leitmedialer Falschdarstellung aufgesessen: Wikileaks war auch nach den US-Angriffen 2010, die es kurzfristig lahmlegten, weiterhin aktiv. Zahlreiche weitere Enthüllungen wurden jedoch medial totgeschwiegen, unten mehr dazu).

Kapitel 6 zeigt „Ästhetik und Design des Internets“ Einflüsse von Medienkunst, Netzkunst und digitaler Bildästhetik, Webdesign, Seitenstruktur bis hin zu eingebundener Bewegtbildästhetik und Sound. Über Meme und Selfieästhetik, Mashup, Podcast und Online-Werbung zeigt Bleicher traditionelle Medieneinflüsse sowie neue Qualitäten der Netzmedien auf.

Ordnungsmodelle des Internets

Kapitel 7 „Ordnungsmodelle des Internets“ versucht das Kaleidoskop der Netzkultur zu systematisieren, wobei die technische Basis, Unternehmensstrukturen, Sortierungsprinzipien der Inhalte (Flow, Stream, Raster, Raum) sowie Navigations- und Distributionsmodelle dafür Ansatzpunkte liefern. Beginnend mit dem „Dispositiv Internet“, mit dem Knut Hickethier 1995 an Michel Foucaults Diskurstheorie anknüpfend die Angebotsstrukturen analysierte (S.110), über Hypertext und Hypermedia, die Distributionsmodelle der Plattformen bis zu den bedeutsamen Raummodellen.

Diese begannen mit dem Begriff des „Cyberspace“ aus William Gibsons SF-Roman „Neuromancer (1984), der eine „virtuelle Gegenwelt“ bezeichnete (S.119), die sich in von Avataren bevölkerten Online-Welten wie Second Life und den Kultur- und Spielräumen Sozialer Medien manifestiert.

Navigations- und Orientierungsangebote liefern Suchmaschinen, Spider, Crawler und Robots (Programme, die im Netz Inhalte, Quellen und Links erkennen und indizieren, S.126).

Die Kapitel 8-11 zeigen Angebotsschwerpunkte des Internet wie Information, Dokumentation, Wissen, Unterhaltung (Musikvideos, Comedy, Spiele, Sport, Pornografie), Kultur („Grenzgänge zwischen Fakten, Fiktion, Literatur, Theater, Kunst“) sowie den Angebotsschwerpunkt Werbung, PR, politische Kommunikation, Influencer:innen-Marketing. Dort warnt ein „Gut zu wissen“-Kasten vor Cookies und ihrem uns ausspionierenden Profiling: „Sie durchsuchen Festplatten der Nutzer:innen nach relevanten Daten über Interessen und Konsumverhalten. Auch Posts in sozialen Medien liefern Verhaltensdaten, die an werbetreibende Unternehmen verkauft werden (vgl. Zuboff).“ (S.175)

Kapitel 12 erörtert abschließend die „Nutzungs- und Wirkungspotenziale des Internets“ ausgehend von neuen Potentialen zur Nutzerpartizipation durch individuelle Medienproduktion im Internet. Die virtuelle Identitätskonstruktion im Netz erlaubt veränderliche Selbstkonzepte und als „posthumane Akteur:innen agieren und kommunizieren Bots, Trolle und Influencer:innen-Avatare“ (S.188). Ist das Internet der Öffentlichkeitsraum der digitalen Gesellschaft? Wenn ja, dann kein ungefährlicher: „Gezielte Desinformation etwa in Form von Fake News oder Verschwörungsmythen gilt als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Demokratie… Propagandistische, antidemokratische Bewegungen versuchen in sozialen Medien und Messengerdiensten wie Telegram durch gezielte Fake News (wie etwa kriminelle Aktivitäten von Flüchtlingen) die Demokratiefeindlichkeit der Bevölkerung zu fördern.“ (S.189) Auf der anderen Seite gibt es Ansätze zu E-Democracy und die „Weisheit der Masse“, die sich etwa bei Wikipedia entfaltet und im Sinne einer Informationsgesellschaft „den fast unbegrenzten Zugang ihrer Mitglieder zu Informations- und Wissensbeständen aller Art“ verspricht (S.194). Unter „Probleme der Globalisierung“ zeigt Bleicher die digitale Spaltung, die sozial benachteiligte Menschen, Länder und ganze Kontinente aus der Wissenskultur ausgrenzt; bezüglich der „Konflikt- und Problempotenziale des Internets“ warnt sie vor Wirklichkeitsverlust, Suchtverhalten, Manipulation, Urheberrechtsverletzungen, Datenhandel, Hass- und Onlinekriminalität. Sie beschreibt die politischen Probleme der Regulierung und verweist auf die Macht der digitalen Großunternehmen, Google lehne eine Regulierung etwa ab, neoliberale Politik habe deren Machtzuwachs gefördert: „Deregulierungen ermöglichten u.a. in Großbritannien und den USA die Ausweitung des digitalen Kapitalismus bei gleichzeitig wachsender sozialer Ungleichheit. Ideologien wie der Neoliberalismus erklären diese Ungleichheit durch individuelle anstelle von gesellschaftlicher Verantwortung.“ (S.199) Ökonomismus und eingeschränkte Regulierung zeitige nicht zuletzt auch Onlinekriminalität, was große Herausforderungen an die Medienethik bringe. Denn das Internet erweise sich als Katalysator gesellschaftlicher und kultureller Dynamik in der immer mehr dominierenden Digitalisierung unseres Lebens (S.205).

Diskussion

Joan Kristin Bleicher scheut wie schon in ihrer „Poetik des Internets“ nicht die Hybris, ein in rasanter Entwicklung prosperierendes Medienfeld in seiner Gesamtheit zu analysieren und übergeht auch kritische Themen nicht völlig. Eine breite Quellenrezeption geht zuweilen mit mangelnder Rezeptionstiefe einher, so scheint Bleichers Darstellung von Felix Stalders Theorie einer Kultur der Digitalität unzulässig verkürzend: Stalders Theorie sehe diese Kultur „auf Grundlage einer einheitlichen digitalen Speicherung“ (S.23). Stalder verwahrte sich jedoch in seinem Buch gerade gegen eine Fixierung der Perspektive auf die (digitalen) Technologien und Medien (siehe Rezension von T.Barth). Stalders Prinzip der Referenzialität, ein Kern der Kultur der Digitalität, mit Mashup und Remix als ästhetische Prinzipien, scheint Bleicher so sehr überzeugt zu haben, dass sie es gleich mit zwei „Gut zu wissen“-Textboxen zu „Mashup-Ästhetik“ würdigt (S.94, 104), aber ohne Referenz auf Stalder. Bleicher selbst zeigt Mashup virtuos auf Textebene durch Remix von Textschnipseln aus ihren beiden vorgängigen Internet-Monografien im vorliegenden Band. Der Hinweis etwa auf Donna Haraway „Die Neuerfindung der Natur“ fand sich in der „Poetik des Internets“ (Bleicher 2009) auf S.174 im Kapitel „Wirkungspotentiale“ unter Wissensgesellschaft; in „Internet“ (Bleicher 2010) taucht Haraway bereits im Eingangskapitel „Rahmenbedingungen und Funktionsweisen“ auf (S.10); in „Grundwissen Internet“ 2022 bringt es Haraway sogar auf eine „Gut zu wissen“-Box zu ihrem Cyborg-Manifesto im Kapitel „Theorien, Forschungsschwerpunkte und Methoden“ unter Posthumanismus (S.26) sowie auf eine Erwähnung im Kapitel „Infrastruktur, Lebenswelt und Medium“ unter Medientheorie (S.47). Besser lässt sich die von ihr beschriebene Mashup-Kombination von „Material zu neuen Bedeutungseinheiten“ (S.104) kaum demonstrieren.

Leider bleibt politisch Brisantes an wichtigen Punkten eher weichgezeichnet (vor allem verglichen mit Stalder), das Stichwort „Datenschutz“ fehlt im Register ebenso wie „Privatheit“ und „Propaganda“. Bleichers Darstellung von Wikileaks erweckt sogar den falschen Eindruck, die Plattform wäre 2010 „aufgrund von Regulierungen“ stillgelegt worden (S.79). Damals gab es Angriffe durch Geheimdienste auf Wikileaks, die aber nur zu zeitweise eingeschränkter Aktivität führten (vgl. Rueger 2011). In den Leitmedien wurden allerdings den medial gehypten Irak- und Afghanistan-Leaks folgende Enthüllungen verschwiegen. Auch die mediale Denunzierung von Assange lässt Bleicher aus, obgleich sie nach der Untersuchung von Nils Melzer (2021) als konstruierte Hetzkampagne gelten können: Der diffamierende „Vergewaltigungsverdacht“ gegen Assange erwies sich dem UNO-Experten Melzer nach als Justizintrige. Unscharf blieb auch der Cambrigde Analytica-Skandal: Bleicher erwähnt nicht, dass Donald Trump den Internet-Manipulationen zumindest teilweise seinen Wahlsieg 2016 verdanken dürfte. Auch Bleichers Verweise auf Zuboffs Überwachungskapitalismus sind ausbaufähig, dort liegt das Potential einer völlig neuen Palette von Ordnungsmodellen des Internets, die auf diverse und stetig wachsende Kontrollmöglichkeiten reflektieren.

Fazit

Das systematisch und didaktisch durchdachte Buch stellt zentrale Aspekte der Medialität des Internets umfassend dar. Im Fokus stehen Rahmenbedingungen, historische Entwicklung und Angebotsschwerpunkte, beleuchtet werden theoretische Fragen, Ästhetik, Nutzungs- und Wirkungspotenziale des Internets sowie Regulierungsansätze. Mit seinem einführenden Charakter richtet sich das Buch primär an Studierende der Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaften, aber auch an Interessierte anderer Fachrichtungen.

Joan Kristin Bleicher: Grundwissen Internet. Perspektiven der Medien- und Kommunikationswissenschaft, utb, UVK Verlag, München 2022, 230 S., 26,90 Euro. ISBN: 9783825259099

Nils Melzer: Der Fall Assange. Geschichte einer Verfolgung, München 2021.

Gerd Rueger: Julian Assange -Die Zerstörung von Wikileaks, Hamburg 2011.

Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwchungskapitalismus, Frankfurt/NY 2018.

10/29/23
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Transhumanismus & Netzphilosophie

Thomas Barth

„Ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa – das Gespenst des Transhumanismus. Seine Priester und Auguren haben bereits prominente Forschungslaboratorien, Universitäten, globale Unternehmen und politische Institutionen besetzt.“, warnte 2017 die NZZ und hatte damit nicht ganz unrecht. Einige transhumanistische Stimmen wollen heute offenbar einer hemmungslosen Digitalisierung den mühsam erkämpften Datenschutz aus dem Weg räumen.

Der Biologe und überzeugte Eugeniker Julian Sorell Huxley prägte 1951 den Begriff “Transhumanismus” im Aufsatz New Bottles for New Wine und setzte sich zugleich als erster UNESCO-Generalsekretär und bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für humanistische Werte ein. Julians Bruder Aldous Huxley warnte dagegen schon 1932 in seiner Babies-in-Bottles-Dystopie “Schöne neue Welt” vor einer Zukunft mit biologisch fabrizierter Drei-Klassen-Gesellschaft: Genetische oder technische Intelligenzsteigerung hatte schon immer ihre Fans und gehört heute zu den Hoffnungen der neuen Bewegung.

Viele erinnern sich dabei an die LSD-selige SMILE-Revolution (Space Migration, Intelligence Increasement, Life Extension) des „Exo-Psychologen“ Timothy Leary und sei es nur aus den Pop-Conspiracy-Bestsellern von Robert Anton Wilsons Auge-in-der-Pyramide-Zyklus. Bereits im 19.Jahrhundert brachte Auguste Comte, Begründer von Soziologie und Positivismus, eine vom Fortschritt berauschte Bewegung zusammen, in der man sich z.B. von der Medizin beträchtliche Verlängerungen der Lebenszeit, wenn gar nicht Unsterblichkeit erhoffte.

Heute verstehen sich Transhumanisten als Teil einer Bewegung, die vom „Posthumanismus“ abzugrenzen ist, der nicht den Menschen selbst, sondern als eher theoretische Richtung das Menschenbild des Humanismus überwinden will. Dieses wird, anknüpfend etwa an Michel Foucault  und andere Postmoderne, mit Schattenseiten der Moderne in Verbindung gebracht: Etwa psychiatrische Entmündigung, Sexismus, Rassismus, Kolonialismus, Totalitarismus usw. Der Transhumanismus reflektiert diese Schattenseiten eher nicht, steht sogar teilweise zu tradierten humanistischen Werten und will sie auf „verbesserte Menschen“ (Enhancement), Cyborgs und Künstliche Intelligenzen ausweiten (Janina Loh 2018).

Wie religiös ist der Transhumanismus?

Die Philosophin und Theologin Anna Puzio legte aus Sicht der philosophischen Anthropologie 2022 eine scharfe Kritik des Transhumanismus (TH) vor und fragt: Wie verändern sich Mensch und Körper durch Technik und welches Menschenverständnis resultiert daraus für den TH? Als Ziele des TH markiert sie Perfektionierung, Kontrolle und Macht und ein Menschenbild, das zentral auf Information basiert. Dieses reduktionistische Menschenbild lasse den TH in die Nähe der Eugenik geraten und enthülle im TH prototalitäre Aspekte einer Ideologie, die sie mit dem Nationalsozialismus vergleicht. In scharfer Abgrenzung zum TH, aber in überraschend affirmativer Haltung zur technologischen Selbstoptimierung, entwickelt Puzio ihre Technikanthropologie mit Bezug auf den kritischen Posthumanismus und Donna Haraway.

Wie sieht Puzio das Verhältnis zur Religion: Im TH stechen zwar „religiöse Semantik und eine Fülle an religiösen Motiven“ hervor, etwa Unsterblichkeit, ewiges Leben, Heilsvorstellungen, die Beseitigung von Leid, die Möglichkeit eines entkörperlichten Daseins. Doch der Religion wird vom TH, der sich von ihr abgrenzen will, auch mangelnde Vernunft, Intoleranz und Unwissenschaftlichkeit vorgehalten (S. 54).

Die Ziele des TH verbergen sich teilweise hinter religiöser Motivik, von „gottähnlichen Fähigkeiten und himmlischen Zuständen“ reden und „paradiesische Klänge“ anschlagen, „auch wenn sich ihre Vorstellungen von denen der Religion sehr unterscheiden“ (S. 232). Anstelle einer unsterblichen Seele im Himmel trete bei einigen TH-Richtungen der „Upload“ des Geistes als Programmcode in den Computer, was Puzio als Gipfel einer Körperabwertung sieht. Der TH seinerseits bringe jedoch Körperabwertung mit Christentum und Platonismus in Verbindung, von denen er sich abzugrenzen sucht: „Die transhumanistische Sicht auf den Körper wird als harmlos abgetan, wenn Hughes sie z.B. mit Praktiken der ‚Abtötung des Fleisches‘ vergleicht: der ‚Selbstgeißelung im Katholizismus‘, der Selbstkastration in frühen griechischen und christlichen Sekten…“ (S. 258). Andere TH-Bestrebungen zielen dagegen auf die fleischliche Perfektionierung sexueller Lust zu ungekannter Ekstase transhumaner „superpersonen“: So „werde eine ’superperson‘ neue Geschlechtsorgane und mehr sexuelle Möglichkeiten mit sich bringen. Eine weibliche ’superperson‘ werde beispielsweise über mehrere Körperöffnungen verfügen“ (S. 260). Hier sieht Puzio „Vorstellungen von Männern für Männer“ und eine Instrumentalisierung des Körpers (S. 261). Aber letztlich konkretisiere sich das Menschenverständnis des TH als Anthropologie der Information, der eine metaphysische Essenz zugesprochen werde: „Die Information konstituiert im TH das Wesen des Menschen. In gnostischer Motivik soll der reine Geist vom stofflichen Körper befreit werden, der aber im TH nicht mehr Pneuma ist, sondern ‚pure Form‘, substratunabhängige Information“ (S. 266).

Ist der Transhumanismus totalitär oder neoliberal?

Die Ziele des TH sieht Puzio im Streben nach Perfektionierung, Kontrolle und Macht, die sich hinter Visionen einer „Steigerung des gegenwärtigen menschlichen Daseins“ (S. 231) verbergen. Der „Supermensch“ des TH, er könnte dem NS-Begriff vom „Übermenschen“ nahestehen? Mit der Frage: „Der Transhumanismus -eine Ideologie?“, folgt Puzio der Totalitarismus-Theorie Hannah Arendts und findet „protototalitäre Aspekte“ im TH: „Für den Nationalsozialismus bedeutet das beispielsweise, dass »nichts ›logischer‹ und konsequenter ist, als daß man […] parasitäre Rassen oder dekadente Völker eben auch wirklich zum Absterben bringt.« Der TH ist nicht in der Position, seine Visionen in Gesellschaft und Politik voll umzusetzen. Dennoch gilt auf diese Gefahr, auf die Arendt aufmerksam macht, auch hinsichtlich des TH wachsam zu bleiben. Denn denkt man die transhumanistischen Gedanken zu Ende und zieht daraus strikte Konsequenzen, dann gilt auch hier das Recht des Stärkeren, des ökonomisch Gewinnbringenden, des Produktiven oder der Maschine“ (S. 275f).

Diese Ideologie-Kritik am TH ist vielleicht etwas zu eng auf Arendts Totalitarismus-Theorie begrenzt, vergleicht den TH i.d.S. mit Stalinismus und vor allem der NS-Ideologie. Die heute nach Ansicht vieler Gesellschaftskritiker westliche Länder dominierende Ideologie ist aber der Neoliberalismus (vgl. z.B. Reimer 2023). Dieser formt maßgeblich Gesellschaft und Technologien eines Digitalen Kapitalismus, der tief in Alltag und Leben der Menschen hineinwirkt. Der Neoliberalismus wird leider nicht erwähnt, obwohl er starke Bezüge zu digitalen Technologien und Medien aufweist und mit dem TH u.a. Ziele der Optimierung, Kontrolle und Macht teilt.

Puzios engagierte Kritik am Transhumanismus und seinen teilweise überschießenden Visionen kontrastiert mit einer tendenziellen Kritiklosigkeit gegenüber heutiger Techniknutzung und Gesellschaft, so dass sich die Dissertation stellenweise fast wie ein Werbetext liest wenn Puzio schreibt: „Das neuste Model (Apple Watch 6) ermittelt sogar den Blutsauerstoffgehalt. Da sie den Schlafrhythmus erfasst und wasserfest ist, muss sie gar nicht mehr abgenommen werden. Mit der Apple Watch können Fitnessziele gesetzt und erreicht werden (…) Die Bewegungsaktivitäten lassen sich teilen, sodass man mit seinen Kontakten in einen Wettbewerb treten kann.“ (S. 306) Fraglich scheint, ob es sich dabei, wie Puzio meint, wirklich um autonomieförderliche „Technologien des Selbst“ handelt oder eher um eine (andernorts von ihr kritisierte) Kommerzialisierung des Körpers -die hier zudem mit einer neoliberalen Ideologie des Wettbewerbs unterlegt ist.

Puzio berichtet, wie vornehmlich junge Frauen heute eine Schönheits-OP unter Vorlage eines mit digitalen „Filtern“ aufgehübschten Selfies anstreben und wie auf Instagram Abmagerungswettbewerbe ein besonders knochiges Schlüsselbein belobigen. Doch auf die dort und in anderen „Social Media“-Plattformen epidemische Anorexie geht sie nicht ein. Kritikwürdig scheint ihr offenbar auch nicht, dass im Rahmen künftigen digitalen „social engineering“ Probleme wie „Finanzcrash, Klimaschutz oder revolutionäre Bewegungen“ unter Kontrolle gebracht werden sollen (S. 312). Dass hier Ökologie, Finanzregulierung und politische Unterdrückung technokratisch auf eine Stufe gestellt werden, scheint etwas problematisch. Doch soweit können wir Anna Puzio wohl ohne Probleme zustimmen: Der Transhumanismus folgt Zielen der Perfektionierung, Kontrolle und Macht und zeigt dabei zumindest bei einigen seiner Protagonisten ein reduktionistisches Menschenbild sowie prototalitäre Aspekte einer Ideologie -die aber auch Neoliberalismus heißen könnte.

Loh, Janina: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, Hamburg: Junius 2018.

Anna Puzio: Über-Menschen. Philosophische Auseinandersetzung mit der Anthropologie des Transhumanismus. transcript (Bielefeld) 2022.

Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. PapyRossa Verlag (Köln) 2023.

08/30/23
Total vernetzt - Nur wer sich anschließt wird nicht ausgeschlossen.

Rezension: Braches-Chyrek u.a. (Hg.): Handbuch Kindheit, Technik & das Digitale

Thomas Barth
Was bedeuten die rasanten medialen und digitalen Transformationen für das Leben von Kindern? Diese Frage wurde „in der deutschsprachigen Kindheitsforschung bislang wenig untersucht“ (Klappentext). Das Handbuch thematisiert zentrale Zusammenhänge und interdisziplinäre Diskurse über Gesellschaft, Technik und Kindheit mit dem Ziel, emanzipatorische Bildungs- und Lernprozesse zu fördern.
Die Herausgeber*innen kommen aus den Bereichen Pädagogik, Sozialpädagogik und Soziologie, ebenso die meisten der insgesamt 26 Beiträger*innen unter denen acht aus Digitalisierungs- oder Medienwissenschaften stammen. Charlotte Röhner und Heinz Sünker, beide emiritiert, sind Nestor*innen der deutschen Kindheitsforschung, Sünker ist zudem Adorno-Experte und sein Blick auf das Digitale geprägt von der Kritischen Theorie der freudomarxistischen Frankfurter Schule. Überwiegend aus dieser kritischen Perspektive diskutiert der erste von vier Teilen des Bandes „Technik und Gesellschaft“, also die sozialen, kulturellen, pädagogischen und politischen Folgen der Digitalisierung. „Welche neuen Zugriffsmöglichkeiten auf kindliche Subjektivität ergeben sich aus der Techniknutzung und welche Widerstandspotentiale (Adorno, Erziehung zur Mündigkeit)? Welche veränderten Konzeptualisierungsansätze von Kindheitspolitik ergeben sich?“ (Verlagstext).
Soziale Aufgaben wie Wert schätzen, Bindung schaffen, Trennung verarbeiten, Grenzen setzen, Identität und Autonomie gewinnen, sie alle unterliegen durch allgegenwärtige Digitalmedien neuen Risiken, etwa prekärer Datensicherheit, leicht zugänglichen jugendgefährdenden Inhalten oder Cybermobbing. Doch das Handbuch thematisiert auch neue Chancen der Digitalmedien. Im zweiten Teil „Digitalisierung und Mediatisierung von Kindheit“ wird die Sozialisation und Kinder als Akteur*innen thematisiert. Der dritte Teil „Digitales Konstruieren, Spielen und Handeln“ legt den Fokus auf die früher meist negativ bewerteten Computer-, Video- und heute auch Online-Spiele, sucht nach kreativen Potentialen, warnt aber auch, etwa vor unreflektiertem Konsum gewalthaltiger Spiele. Der letzte Teil „Digitalisierung und digitale Bildung in Institutionen“ nimmt Probleme und Lösungsansätze in Kitas und Schulen des Elementar- und Primarbereichs in den Blick.
Technologie, Adoption und Pflegefamilien
Prof. Rita Braches-Chyrek war 2010 Mitherausgeberin des Bandes „Kindheit in Pflegefamilien“, doch dieser Aspekt der Kindheitsforschung klingt im vorliegenden Handbuch nur in zwei Beiträgen an: 1. Die Afrikanistin Konstanze N‘Guessan streift mit „Verwandtschaft und Kindheit im Zeitalter assistierter Reproduktion – Einblicke in die ethnographische Erforschung des doing family“ das Thema Adoption und Islam. 2. Der Beitrag „Beobachtung der Beobachteten: Technologie, Schutz und Fürsorge an einem Tag im Leben von Jasmine“ von Rachel Thomson und Ester McGeeney, berichtet aus einer „alternativen Erziehungseinrichtung für Jugendliche, die keinen Zugang zur Regelschule haben“; sie beobachten dort den Medienalltag der fünfzehnjährigen Mutter Jasmine, die in einer Pflegefamilie untergebracht ist (s.u.2.).
1. Verwandtschaft, Kindheit und Technologie
Der Beitrag von N‘Guessan ist der einzige des Bandes, der nicht von digitalen Medien handelt -dafür aber biotechnologische Bezüge zum Transhumanismus aufweist, indem dessen Biologismus auf den Boden der sozialen, kulturellen und psychologischen Tatsachen zurückgeholt wird. Im Fokus stehen medizinische Technologien der assistierten Reproduktion und die kulturelle Herstellung von Verwandtschaft und Familie in verschiedenen Kulturen. Ihre Ausgangsfragen sind: „Was ist Familie und wer gehört dazu? Welche Dimensionen hat Eltern-Sein und wie wird Abstammung kulturell konzeptualisiert?“ Solche Fragen stellt die Ethnologie der „New Kinship Studies“, die seit den 1980er-Jahren die Verwandtschaftsforschung „von der Biologie befreit, die durch euroamerikanische Prägung entstanden sei.“
Verwandtschaft wird und wurde immer kulturell gemacht -und dieser Entstehungsprozess oft mit Biologismen wie „Blut ist dicker als Wasser“ verborgen, was oft schon den Status von Adoptivkindern kompliziert habe. Neue Reproduktionstechniken (NRT) lassen die biologische Simplifizierung heute vielerorts ins Schwimmen geraten. Denn es sind dabei nicht nur zwei, sondern bis zu fünf Personen im engeren Kreis einer konstruierbaren Elternschaft vorhanden: Mutter, Vater, Eispenderin, Samenspender und Leihmutter. Dazu kämen im weiteren Umfeld noch diverse Medizintechniker*innen, die etwa mit ihren Händen unter dem Mikroskop die Eizelle besamen. „NRT und Adoption konstituieren einen Möglichkeitsraum, auf den sich unterschiedlichste Akteur*innen in ihren Überlegungen und Praxen beziehen. Durch die Linse der NRT lässt sich Verwandtschaft als Ergebnis von Handlungen verstehen.“
Konstanze N‘Guessan erläutert an diversen afrikanischen und islamischen Kulturen Praktiken des Verwandt-Machens -und ist mit dieser interkulturellen Perspektive in diesem Handbuch einmalig. Wir erfahren von einem „Unfruchtbarkeitsgürtel“ in Zentral- und Südafrika, wo NRT trotz der hohen Kosten stark gefragt sind und auf andere als die euroamerikanischen Verwandtschafts-Praktiken treffen. In matrinlinearen Gesellschaften, etwa den Macao in Mozambik, können Vaterpflichten und -privilegien auf den Mutterbruder übergehen; in anderen Kulturen gibt es die „Geist- oder Frauenheirat“, wo Vater- bzw. Schwangerschaft durch Zahlung eines Brautpreises auf einen Ahnen oder eine Frau übertragen werden.
In islamischen Kulturen ist entscheidend, ob diese schiitisch oder sunnitisch sind: Bei Sunniten kann schon die Adoption verboten sein, im weniger restriktiven Schiismus bleiben Adoptivkinder zumindest von der patrilinearen Erbfolge ausgeschlossen; seit einer permissiven Fatwa von Ayatolla Khomeini sind in Iran und Libanon NRT-Kinder erlaubt und Adoptierten gleichgestellt. „Die Frage, wie ‚fremde‘ Kinder durch soziale Praktiken und diskursive Rahmungen der Familie zugehörig gemacht werden stellt sich nicht nur bei NRT-Kindern, sondern immer“, so N‘Guessan, denn Verwandtschaft sei eine „biologisch wie sozial unterdeterminierte, gestaltungsoffene wie gestaltungsnotwendige soziale Ordnung“. Damit stellt sie sich dem reaktionär-neoliberalen Mythos von der biologistisch verabsolutierten bourgeoisen Familie ebenso entgegen, wie dies mit breiterer Perspektive der afrikanische Ökonom und Kulturwissenschaftler Felwine Sarr in seinem Manifest Afrotopia tat.
2.Technologie, Schutz und Fürsorge
Thomson und McGeeney stehen mit ihrem britischen „Kinderalltagsprojekt“ in der Tradition materialistisch-feministischer Methodologie, die ihre Forschungstätigkeit eingehend selbstkritisch reflektiert und nach Möglichkeiten „nachhaltigerer Sorge-Relationalitäten“ sucht:
„Die digitalen Medien haben ganz eigene Möglichkeiten geschaffen, die auch neue Arten von erzieherischer Führung erfordern und neue Gebiet ethischer Untersuchungen eröffnen. (…) Junge Menschen in staatlicher Obhut wurden als eine besondere Risikogruppe identifiziert, einschließlich des Risikos in Bezug auf digitale Kulturen… besonders in den Bereichen Adoption und Pflegefamilien kämpfen Sozialarbeiter*innen darum, die Kinder vor der Aufnahme oder der Fortsetzung von Kontakten mit ihren leiblichen Eltern zu bewahren, wenn diese gerichtlich eingeschränkt worden war.“
Digitale Medien, besonders das allgegenwärtige Smartphone, erschweren diese Aufgabe, denn Kinder und Jugendliche verstehen es, sich der Kontrolle zu entziehen. Im Fall der einen Tag wissenschaftlich beobachteten Jasmine wird klar, dass auch sie und ihre Mitschüler*innen die ihnen auferlegten Regeln für den Mediengebrauch zu unterlaufen wissen: „Die ‚Ein-Tag-im-Leben-Methode‘ hat uns diese Art der dichten, affektiven Geometrien einfangen lassen.“ Die Forscher*innen erfahren, wie vermutlich Instagram und Snapchat von minderjährigen Müttern verwendet werden, um Babyfotos zu posten -schon deren Aufnahme wird von der Einrichtung eigentlich untersagt.
Die Konfliktsituation wird von Thomson und McGeeney aus beiden Perspektiven reflektiert: Die Schutzbefohlenen müssen einerseits „beobachtet, überwacht, geschützt und zensiert werden“, andererseits gibt es auch eine „Kinderöffentlichkeit“ mit „den Imperativen: gesehen werden, sichtbar sein, teilhaben in/an einer digitalen Kultur“. Die Autor*innen stellen fest, dass in dieser neuen Kultur „neue Arten der Subjektivität“ entstehen. „Im Kontext einer Aufmerksamkeitsökonomie können wir das Bedürfnis junger Menschen, gekannt und gesehen zu werden, nicht einfach ignorieren“. Jugendliche Medienpraxis unreflektiert „unterdrücken“ zu wollen, halten die beiden Forscher*innen „für irregehend“.
Der emanzipative Ansatz ist bei Thomson und McGeeney deutlich, doch bei der Reflexion des „Neuen“ an der „neuen Subjektivität“ ist noch Luft nach oben. Denken wir an eine 1950er-Jahre-Werbung für Dosen-Ananas: „Toast Hawaii! Da werden Ihre Nachbarn staunen!“ Foodporn auf Instagram posten ist vielleicht nur überkommene Subjektivierung in digitalisierter Werbeästhetik, die kunstvolle Beleuchtung und Belichtung von damals wird heute durch einen das Foto farblich aufpeppenden digitalen „Filter“ ersetzt.
Fazit
Die emanzipatorische Haltung ist löblich, doch leider gelingt der Transfer der Medienkritik von Adorno ff. auf die Digitalisierung durch die Bank nur ungenügend. Die zweifelhafte Referenz von Heidegger als Paten der Technikkritik überzeugt ebenso wenig wie der gelegentliche, hilflos wirkende Verweis auf neueste Ansätze wie Shoshana Zuboffs „Überwachungskapitalismus“. Dabei wäre bei Kenntnis der kritischen Diskurse zu Computer- und Internetkultur gar nicht nötig, das Rad neu zu erfinden: Der Adorno-Experte Mark Poster etwa kombiniert seit 30 Jahren Freudomarxismus mit postmodernen Ansätzen, etwa den Heidegger implizit weiterführenden Theorien von Michel Foucault, bei seiner Digitalmedienkritik.
Den meisten Beiträgen scheinen auch tiefer gehende Kenntnisse der technologischen und politischen Hintergründe der Digitalisierung zu fehlen, mit den beiden Ausnahmen des Professors für Digital Humanities (Sussex) David M. Berry und des Diplom-Informatikers Marius Melzer, der beim Chaos Computer Club ein Schülerprojekt betreibt. Bei Melzer bleibt die Warnung vor Manipulation im Internet nicht vage, sondern er führt konkret die wohl dramatischste Auseinandersetzung auf diesem Gebiet an:
„Das Beispiel Julian Assange zeigt dies deutlich: Die nach heutigem Wissensstand fingierten Vergewaltigungsvorwürfe (Melzer 2020) führten dazu, dass die vorhergegangene Wikileaks-Veröffentlichung „Collateral Murder“, die zeigte wie US-Soldaten im Irakkrieg lachend aus einem Hubschrauber auf Zivilisten und Journalisten feuerten, in Vergessenheit geriet.“ (S.114)
Die mit nur einem Satz allzu sparsame Erwähnung dieser digitalen Medienschlacht um die (nicht nur Medien-) Geschichte schreibende Enthüllungsplattform Wikileaks brachte einen gravierenden Fehler: In der Literaturliste wurde beim Quellennachweis der Vorname von N.Melzer offenbar zu M.Melzer fehlkorrigiert. Man nahm wohl ein Selbstzitat von Marius Melzer an und kannte nicht den wirklich zitierten weltberühmten Autor Nils Melzer, den UNO-Folterbeauftragten und Schweizer Professor für Völkerrecht. Nils Melzer hatte die gegenwärtige Folter des Wikileaks-Gründers Julian Assange angeprangert, den er als Opfer einer perfiden Intrige sieht. Er hatte in schockierenden Artikeln und seinem Buch „Der Fall Assange“ detailliert enthüllt, wie mutmaßlich Geheimdienste die Regierungen der USA und Großbritanniens sowie die schwedische Justiz den politisch verfolgten Assange als Vergewaltiger abgestempelt hatten. Diese Fakten wurden in westlichen Medien jedoch weitgehend vertuscht, was den Irrtum von Verlag, Lektoren und Korrekturat begründen dürfte. Somit wird dieses Handbuch selbst zu einem Beispiel gelungener Medienmanipulation im Digitalzeitalter.

Rita Braches-Chyrek, Jo Moran-Ellis, Charlotte Röhner, Heinz Sünker (Hrsg.): Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2021. 422 S., 69,90 Euro.

12/13/21

Rezension Nils Melzer: Der Fall Julian Assange

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, Piper Verlag 2021

Hermine Humboldt

Hat die schwedische Justiz Beweise gefälscht und Zeugenaussagen manipuliert, um einen Vergewaltigungsverdacht gegen Julian Assange zu konstruieren? Der UNO-Menschenrechtsexperte Prof. Nils Melzer war anfangs kein Assange-Unterstützer, aber er nutzte sein diplomatisches Mandat für eigene Ermittlungen im Fall Assange. Der verleumdete Gründer von Wikileaks wurde damit endlich rehabilitiert -doch die Enthüllungs-Plattform war nach zehn Jahren Rufmord- und Hetzkampagne aus dem Bewusstsein der Medienkonsumenten so gut wie ausradiert.

Was hat der Fall Assange mit Netzphilosophie zu tun? Der Schweizer Netzphilosoph Felix Stalder wies schon 2016 in seinem bahnbrechenden Buch „Die Kultur der Digitalität“ auf eine westliche Machtelite hin, die er als „den inneren Kern des postdemokratischen Systems“ bezeichnete, „bestehend aus den Spitzen der Wirtschaft, der Politik und der Geheimdienste“ (Stalder 2016, S.230). Der Begriff „Postdemokratie“ markiert eine Kritik an westlichen Ländern, die von einer schleichenden Entdemokratisierung und Herrschaft von Technokraten ausgeht, die sich ausgeklügelter medialer Massenmanipulation bedient.

„Die Grenzen zwischen postdemokratischen Massenmedien und staatlichen Nachrichtendiensten sind fließend. Wie inzwischen bekannt ist, bestehen zwischen beiden Bereichen personelle Kontinuitäten und inhaltliche Gemeinsamkeiten.“ (Stalder 2016, S.234)

In seinem Buch „Der Fall Assange“ bestätigt Nils Melzer die Analyse seines Schweizer Landsmanns Felix Stalder in spektakulärer Weise: Denn der Fall Assange ist zweifellos einer der größten Justizskandale die wir kennen (sollten). Den jedoch die wenigsten in voller Tragweite zur Kenntnis nehmen können, denn es ist auch ein eklatanter Fall von Medienversagen der westlichen „freien Presse“. An deren tatsächliche Freiheit kann man angesichts ihrer äußerst desolaten (Nicht-) Berichterstattung zu weiten Teilen dieser Story höchstens noch eingeschränkt glauben -wie auch der Philosoph Stalder gut begründet argumentiert hatte. 2010 wurde Julian Assange zum „Staatsfeind Nr.1“ für die USA und Großbritannien und geriet ins Fadenkreuz der mächtigsten Geheimdienste der Welt: Der CIA, NSA, FBI (und der ca. 30 weiteren US-Geheimdienste) sowie der Britischen MI5, MI6 und GCHQ. Diese Dienste warfen, so muss man annehmen, angesichts der Wikileaks-Enthüllungen ihre ganze Macht in die Waagschale. Dazu gehört auch die Macht über Massenmedien, Politik und Justiz vieler Länder -ganz offensichtlich hier der Justiz in Schweden und England.

Mit dem „Afghan War Diary“ veröffentlicht WikiLeaks 2010 das größte Leak der US-Militärgeschichte, mitsamt Beweisen für Kriegsverbrechen und Folter. Kurz danach verdächtigt Schweden WikiLeaks-Gründer Julian Assange der Vergewaltigung, und ein geheimes US-Schwurgericht ermittelt wegen Spionage. Als ihn Ecuador nach jahrelangem Botschaftsasyl der britischen Polizei überstellt, verlangen die USA sofort seine Auslieferung und drohen mit 175 Jahren Haft. Nils Melzer, UNO-Sonderberichterstatter für Folter, will sich zunächst gar nicht auf den Fall einlassen. Erst als er Assange im Gefängnis besucht und die Fakten recherchiert, durchschaut er das Täuschungsmanöver der Staaten und beginnt den Fall als das zu sehen, was er wirklich ist: die Geschichte einer politischen Verfolgung. An Assange soll ein Exempel statuiert werden – zur Abschreckung aller, die die schmutzigen Geheimnisse der Mächtigen ans Licht ziehen wollen. Dieses packende Buch erzählt erstmals die vollständige Geschichte von Nils Melzers Untersuchung. (Piper-Verlagstext)

Der UNO-Menschenrechts- und Folterexperte Prof. Nils Melzer war anfangs kein Assange-Unterstützer. Melzer ist ein Anwalt der Menschenrechte, berufen von der UNO, und er nutzte sein diplomatisches Mandat für eigene Ermittlungen im Fall Assange -angefangen bei dem angeblichen „Vergewaltigungsverdacht“ an zwei Schwedinnen, den uns die Medien seit zehn Jahren vor jeder Erwähnung von Julian Assange präsentierten. Kritiker wie der Rezensent oder der Buchautor Gerd R. Rüger haben diese Bezichtigungen niemals geglaubt und immer von einer CIA-Intrige gegen Assange gesprochen -sie wurden dafür als „Verschwörungstheoretiker“ denunziert. Nun zeigt sich, dass wir Recht hatten: Es war eine Justiz-Geheimdienstintrige gegen Assange. Denn Prof. Melzer findet, wie er entsetzt feststellen muss, manipulierte schwedische Justizakten, und schreibt in seinem Buch über „die behördliche Nötigung der beiden Frauen zur Anpassung ihrer Aussagen an das offiziell forcierte Vergewaltigungsnarrativ“ (S.149).

Wikileaksgründer im britischen Guantánamo

London, Juni 2021. Im bestbewachten Knast Ihrer Majestät, dem Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, dem „britischen Guantánamo“, wird Julian Assange gefangen gehalten. Der wohl bislang bedeutendste Journalist des 21. Jahrhunderts ist auch inhaftiert, weil er die Foltermethoden des berüchtigten US-Gefangenenlagers Guantánamo enthüllte, jenem US-Gulag also, den der ehemalige US-Präsident Barack Obama eigentlich schließen wollte. Aber nicht die Verantwortlichen in den USA, sondern Assange wurde angeklagt: wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente – gutes Recht von Enthüllungsjournalisten – und wegen angeblicher Verstöße gegen das Anti-Spionage“-Gesetz, eines Relikts aus Zeiten des Ersten Weltkriegs. Der Schauprozess dauert an, das Unrechtsregime in London hat gerade, wie erwartet, den US-Anklägern die Auslieferung des politisch Verfolgten genehmigt.

Unsere Medien ARD, ZDF usw. betreiben eine systematisch verwirrende Berichterstattung über die Der-Fall-Assange-Enthüllungen von Nils Melzer, so droht der Kern seiner Botschaft unterzugehen: Die schwedische Justiz hat 2010 gezielt Beweise gefälscht und Zeugenaussagen manipulierte, um einen Vergewaltigungsverdacht gegen Julian Assange überhaupt erst zu konstruieren.

Der UN-Sonderberichterstatters zum Thema Folter ist Schweizer, aber Nils Melzer spricht auch fließend Schwedisch ein sagenhafter Glücksfall in der Sache Assange. Melzer arbeitete sich durch die schwedischen Akten zum Fall Assange. Doch sein bahnbrechendes Fazit wollte in unseren Leitmedien kaum jemand hören. Erst mühsam kämpfte er sich durch Netzmedien (!) wenigstens an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit. Jetzt legte er ein Buch vor, das seine Arbeit akribisch beschreibt, „Der Fall Julian Assange: Geschichte einer Verfolgung“, und folgert

Der eigentliche Zweck der Verfolgung von Assange ist nicht in erster Linie die persönliche Bestrafung von Assange, sondern die Etablierung eines Präzedenzfalles mit globaler Abschreckungswirkung für andere Journalisten, Publizisten und Aktivisten, um künftig weltweit jeden strafrechtlich verfolgen zu können, der es wagen sollte, die schmutzigen Geheimnisse der Regierungen ans Licht der Öffentlichkeit zu ziehen.“ Melzer S.230

Prof. Nils Melzer kritisiert die Leitmedien. Zwar würden einige Meinungsbeiträge halbherzig Partei für Assange ergreifen und auch die Gefahr für die Pressefreiheit anerkennen, „doch kein einziges Medienhaus protestiert gegen die den ganzen Fall durchziehende Justizwillkür“ (S.312). Die Justizwillkür zeige sich in der britischen Willfährigkeit gegenüber der US-Anklage vor dem Londoner Gericht:

Schritt für Schritt wurden auch die abwegigsten Argumente der USA kritiklos bestätigt. Gleichzeitig, fast wie im Vorbeigehen, wischte Bezirksrichterin Baraitser sowohl die rechtlichen Einwände als auch die entlastenden Gutachten und Zeugenaussagen der Verteidigung ohne viel Federlesens vom Tisch.“Melzer S.318

Prof. Nils Melzer kommt in seinem Bericht, der sich wie ein Justizthriller liest, also zu Schlussfolgerungen, die sich weitgehend mit dem decken, was Assange-Anhänger seit zehn Jahren skandalisieren: Der WikiLeaks-Gründer wurde Opfer einer Intrige, einer gnadenlosen Rufmordkampagne sowie politischer Verfolgung.

Bei dieser großangelegten Intrige handelt es sich demnach um Staatsverbrechen, für die die Verantwortlichen der beteiligten Staaten – mindestens der USA, Großbritannien, Schweden und zuletzt auch Ecuador – eigentlich vor Gericht gehören würden. Gegen Assange konnten die USA vor Gericht, anders als die Londoner Richterin in ihrem Urteil behauptet, aus Melzers Sicht nichts strafrechtlich Relevantes vorweisen. In einem rechtsstaatlichen Verfahren wäre er schon lange ein freier Mann. Das läuft schließlich auf den Vorwurf der Justizwillkür hinaus.

Westliche Massenmedien als Mittäter

Prof. Nils Melzer zeigt sich in seinem Buch überzeugt, die westlichen Medien hätten sich mit ihrer willfährigen Beteiligung an der Anti-Assange-Rufmordkampagne zu Gehilfen einer perfiden psychischen Folter gemacht – er spricht von „öffentlichem Mobbing“ (S.109). Der UNO-Experte kritisiert auch das anhaltende Ausbleiben medialer Aufmerksamkeit für den Fall Assange. Würden westliche Leitmedien die Justizwillkür angemessen skandalisieren, so seine These, würde das windige Verfahren rasch eingestellt: „Denn wenn Regierungen eines fürchten, dann ist es das gebündelte Scheinwerferlicht und die kritischen Fragen der Massenmedien.“ (S.312)

Beides bleibt jedoch aus. Stattdessen greifen westliche Leitmedien Nils Melzer an, den Überbringer der unbequemen Botschaft: Der skandalösen Botschaft, dass im Westen ein Dissident gefoltert wird, von den eigenen Regierungen, nicht im feindlichen Ausland. Unsere Leit- und Netzmedien ignorieren Melzers Erkenntnisse und berichten lieber noch kleinste und selbst konstruierte Verfehlungen von Julian Assange (wie seine angeblich hungernde Katze im Botschaftsasyl) zehn Jahre mehrheitlich breitgetreten und ihn zu einem Außenseiter stigmatisiert. Rückgratlose Leitmedien sehen bei Melzer nun wohl ihre eigene Erbärmlichkeit bestätigt -von derart autorisierter Stelle, dass sie nur peinliches Schweigen darüber breiten möchten. Melzers Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen, besonders unter Freunden der Netzphilosophie.

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, (Mitautor: Oliver Kobold ), Piper Verlag 2021, 336 Seiten, 22,00 Euro. https://www.piper.de/buecher/der-fall-julian-assange-isbn-978-3-492-07076-8

02/18/19

Das ARD-Framing-Gutachten

aus Netzpolitik.org

Wir veröffentlichen das Framing-Gutachten der ARD

Die ARD hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, um die eigene Kommunikation zu verbessern. Das Gutachten wurde bisher nicht veröffentlicht, ist aber bereits Teil einer öffentlichen Debatte. Wir veröffentlichen das Gutachten, damit sich alle Beitragszahlende aus der Originalquelle informieren können und an der Debatte informierter teilhaben können.

17.02.2019 Markus Beckedahl, Leonhard Dobusch

Die ARD hat bei der Sprach- und Kognitionswissenschaftlerin Elisabeth Wehling ein Gutachten in Auftrag gegeben um sich beraten zu lassen, wie man die Vorzüge des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch Erkenntnisse der Framing-Theorie kommunizieren kann. Das Gutachten dient laut ARD als „Denkanstoß und Diskussionsgrundlage“ für interne Zwecke. (Update: Es gibt nun eine weitere Stellungnahme der ARD dazu.)

Allerdings wurde es schnell Bestandteil einer öffentlichen Debatte, weil das Gutachten mittlerweile außerhalb der ARD zirkuliert. Und gerade rechte Webseiten machen mit dem ausgewählten Zitieren aus dem Text massiv Stimmung gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und tun dabei so, als wäre diese Diskussionsgrundlage bereits beschlossene Sache einer Kommunikationsstrategie mit dem Ziel, die öffentliche Wahrnehmung zu „manipulieren“. Im Interview mit meedia.de argumentiert die ARD-Generalsekretärin Susanne Pfab, dass dies keine „Mitarbeiteranweisung“ sei, sondern eine Diskussionsgrundlage zur Sensibilisierung bei der Verwendung von Sprache und Sprachbildern. In dem Interview distanziert sie sich auch persönlich von einzelnen in dem Gutachten vorgeschlagenen Sprachbildern wie „Profitzensur“.

Zensurheberrecht nährt Manipulationsängste

Die ARD-Pressestelle begründet eine Nicht-Veröffentlichung damit, dass man es „aus urheberrechtlichen Gründen“ nicht veröffentlichen könne. Man kann von der ARD und dem öffentlich-rechtlichen System halten was man will. Aber gerade mit diese Vorgehensweise und dem Anschein von Intransparenz erweist die Anstalt der Debatte um die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einen Bärendienst, denn sie spielt damit den rechten Narrativen in die Hände, dass man es geheim halten wolle und etwas zu verbergen hätte.

Für eine öffentliche Debatte ist es aber wichtig, dass sich alle Interessierten aus der Diskussionsgrundlage informieren können. Das Gutachten wurde aus öffentlichen Geldern finanziert und sollte selbstverständlich auch nach dem Grundsatz „Öffentliches Geld, öffentliches Gut“ („Public money, public good“) allen Beitragszahlenden verfügbar sein. Damit sich mehr Menschen aus der Originalquelle informieren und an der Diskussion teilnehmen können.

Man kann nicht nicht framen

Wir veröffentlichen deshalb das Gutachten in einer PDF-Version. Von der Verfasserin des Gutachtens, Elisabeth Wehling, ist im vergangen Jahr das Buch „Politisches Framing – Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht“ im Ullstein Buchverlag erschienen. Vor zwei Jahren sprach sie auf der re:publica über „Die Macht der Sprachbilder – Politisches Framing und neurokognitive Kampagnenführung“.

Gerade wenn man sich aus der Originalquelle informieren kann, sieht man, dass die Dämonisierung nicht gerechtfertigt ist. Denn wenn es eine Einsicht des Kommunikationswissenschaftlers Paul Watzlawick gibt, die sich quasi universeller Bekanntheit erfreut, dann dass wir nicht nicht kommunizieren können. Diese Binsenweisheit gilt sinngemäß nicht nur für Kommunikation an sich, sondern auch für (Teil-)Aspekte verschiedener Arten von Kommunikation wie eben Framing. So ist zum Beispiel mit jeder Wortwahl in einem Text immer auch ein bestimmtes Framing verbunden, das beim Lesenden bestimmte Assoziationen oder Gefühle auslösen kann. Egal ob „Staatsfunk“, „öffentlich-rechtlicher Sender“ oder „gemeinsamer, freier Rundfunk ARD“ wie im Gutachten von Elisabeth Wehling, jeder Begriff löst andere Assoziationen aus, steht für ein anderes Framing.

Wenn es aber keine Kommunikation ohne Framing gibt, kann es durchaus sinnvoll sein, dominante Frames in der eigenen Kommunikation zu reflektieren. Sich dabei professionelle Unterstützung zu holen, ist ebenfalls nicht abwegig. Fragwürdig ist hingegen schon eher, wie sehr die ARD die Interpretation – das Framing – dieses Reflexionsprozesses anderen überlässt, indem sie entsprechende Dokumente zurückhält. Genau das stützt nämlich das Framing des Gutachtens als „Manipulation“, was rechte Gegner öffentlich-rechtlicher Medien genüsslich befeuern.

Update:

Elisabeth Wehling hat auf ihrer Webseite eine „Klarstellung zur aktuellen Debatte“ veröffentlicht.

Die vorgegebenen Themen und Einordnungen zu Auftrag und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen ARD wurden in Workshops (bei meiner Anwesenheit) diskutiert und im finalen Dokument auch entsprechend abgebildet. Darum finden sich auch Begrifflichkeiten darin, die keineswegs als Empfehlung anzusehen sind. Das Ergebnis dieser Workshops wurde zusammenfasst und ergänzt, sowie auf Inkohärenzen hingewiesen. Das Dokument wurde als interne Arbeits- und Diskussionsunterlage verfasst, um damit eine breite Grundlage an Optionen zu haben, was davon für eine etwaig daraus abzuleitende Kommunikationsmaßnahmen genutzt werden soll, und was jedenfalls nicht.

Das Gutachten ist jetzt bereits zwei Jahre alt. Viele vorgeschlagene Frames, die aktuell die Köpfe vieler Kritiker erhitzen, sind aber noch nie von ÖRR-Vertretern in der Öffentlichkeit verwendet worden. Auch das zeigt, dass die Errregung über das Gutachten überdreht ist.

Währenddessen zeigt die Bild-Zeitung, dass Framing gerne gegen den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk (Gerne als negativer Frame verwendet, trotzdem falsch: „Staatsfunk“) angewendet wird: „GEHEIMPAPIER: So will die ARD uns umerziehen“. Selbstverständlich ohne Link auf die Originalquelle bei uns, die könnte die Bild-Leser ja verwirren. Interessant ist die Wortwahl: „Gemeint ist das geschickte Nutzen bestimmter Wörter und Sprachbilder, um unsere Meinung zu beeinflussen. Ein Mittel aus Politik und Werbung. Kritiker nennen das Gehirnwäsche.“ Das würde die Bild-Zeitung natürlich nie machen.

Aus netzpolitik.org

Ergänzung von Netzphilosophie: Die Kosten für das Erstellen des Manuals und begleitende Workshops beliefen sich nach Angaben der ARD auf 90.000 €. Für Folge-Workshops, bei denen Wehling Mitarbeitern der ARD die Inhalte nahe gebracht hatte, wurden weitere 30.000 € gezahlt. Der Auftrag für das Manual wurde 2017 von der vom MDR gestellten Geschäftsführung der ARD erteilt (Wikipedia).

Über die Autor:innen

markus

Markus Beckedahl hat schon 2003 in der Ur-Form von netzpolitik.org gebloggt und hat zwischen 2004 bis 2022 die Plattform als Chefredakteur entwickelt. Seit 2024 ist er nicht mehr Teil der Redaktion und schreibt einen Newsletter auf digitalpolitik.de. Kontakt: Mail: markus (ett) netzpolitik.org, Presseanfragen: +49-177-7503541 Er ist auch auf Mastodon, Facebook, Twitter und Instagram zu finden.

leonido

Leonhard Dobusch, Betriebswirt und Jurist, forscht als Universitätsprofessor für Organisation an der Universität Innsbruck u.a. zum Management digitaler Gemeinschaften und Offenheit als Organisationsprinzip. Er ist als @leonido im Fediverse unterwegs und bloggt privat als Leonido sowie gemeinsam mit anderen bei governance across borders bzw. am OS ConJunction Blog und ist Mitgründer und wissenschaftlicher Leiter des Momentum Instituts sowie der Momentum-Kongressreihe. Mail: leonhard@netzpolitik.org